Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Zweiter Band
Berthold Auerbach

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Fünfzehntes Kapitel.

Der Frühling zog ein mit Lerchensang und Finkenschlag und mit neuen Pariser Moden. Die Damen der Residenz waren glücklich, an Hut und Shawl und Gewand der schönen blassen Königin, die sich jetzt öffentlich zeigte, ihr Kleiderideal abnehmen zu können.

Die Königin fuhr aus. Neben ihr saß Gräfin Irma, ihr gegenüber Walpurga mit dem Kinde.

»Laß dich's nur nicht verdrießen,« sagte die Königin zu Walpurga, »wenn du wieder daheim sein wirst.«

Irma sagte lächelnd, sie sprach zum erstenmal in Walpurgas Beisein französisch, daß die Oberhofmeisterin lehren würde: es hieße die Vornehmheit verleugnen, wenn man sich um ein Wesen kümmert und danach fragt, was aus ihm wird, nachdem es seine Dienste geleistet.

Mit einer Kühnheit, die selbst ihre beiden Gönnerinnen stutzig machte, sagte Walpurga: »Das Gute hat's wenigstens, wenn ich wieder daheim bin, daß man mich nicht zu einem Taubstummen macht.«

»Wie meinst du das?«

»Ich mein', daß man daheim in meinem Beisein nichts spricht, was ich nicht verstehe.«

Irma suchte sie zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Walpurga war bereits in jener heimatlosen Umzugsstimmung, die ebenso anspruchsvoll als schwer zu befriedigen ist. Sie fühlte sich nirgends mehr daheim. Sie sah es den Menschen an, wie sie bald leben würden ohne sie und man hatte sie doch so sehr verwöhnt.

Der Aerger, den das Französischsprechen Irmas jetzt zum Ausdruck gebracht, hatte einen tiefern Grund: eine Nonne von noch jugendlichem Ansehen aus der französischen Schweiz war in die Hofhaltung des Prinzen eingeführt; sie verstand kein Wort Deutsch, das war Bedingung bei ihrer Annahme: der Prinz sollte zuerst französisch sprechen lernen.

Walpurga verkehrte mit der Fremden, wie wenn sie beide stumm wären: sie war nicht wohlgestimmt gegen die große schöne Gestalt mit der französischen Haube, vielmehr im tiefsten Herzen eifersüchtig. Was geht die Welsche das Kind an? Ja sie war manchmal bös auf das Kind selbst.

»Du wirst auch bald französisch parlieren, daß ich dich nicht verstehe« – konnte sie zu ihm sagen, wenn sie mit ihm allein war und sah ihn dabei mit bösem Blick an! Gleich aber rief sie wieder: »Verzeih mir! O Gott, es ist doch gut, daß ich jetzt die Tage an den Fingern abzählen kann, bis wann ich heimkomme.«

Mamsell Krämer erklärte Walpurga, daß nun für den Kronprinzen auch eine Kammer gebildet werde.

»Er hat ja schon Kammern genug,« sagte Walpurga.

Immer wieder hatte Mamsell Kramer die schwere Aufgabe, Walpurga die Hofsitten zu erklären und diese ließ sich die Namen mehrmals wiederholen; denn da hieß es: der Kronprinz erhält eine Aja –

»Aja? was ist das für ein Wort? Das kenn' ich nicht.«

»Es heißt eben Prinzenerzieherin. Und wenn sie vier Jahre alt sind, bekommen die königliche Hoheit wieder neue Beamte und so immer fort, wie sie älter werden, und allemal von höherem Rang.«

»Ja, kann mir's schon denken,« meinte Walpurga, »nur immer andre Menschen und immer andre Schlösser! Du armes Kind,« sagte sie zum Prinzen. »Eines ist doch gut: daß dir deine Augen und deine Glieder angewachsen sind; sie thäten dir sonst auch alle paar Jahre andre anschaffen.«

Walpurga gab sich indes zufrieden, als sie erfuhr, daß Frau von Gerloff, eine Dame vom dienenden Adel, bisher erste Kammerfrau der Königin, zur Aja ernannt worden sei. Walpurga kannte sie längst und sagte zu ihr:

»Wenn man mich gefragt hätte, wem man meinen Prinzen übergeben soll, da haben Sie meine Hand drauf, es wäre mir auch am liebsten gewesen, daß er in Ihre Hände kommt. Jetzt seh' ich wieder, wie gut und gescheit unsre Königin ist; sie gibt ihre liebste Freundin von sich und gibt sie ihrem Sohn.«

Walpurga glaubte, Frau von Gerloff noch mancherlei Lehren geben zu müssen, wie der Prinz zu behandeln sei; die gute Dame nahm die Lehren ohne Widerrede an. Auch als die Königin mit ihrer zweiten Kammerfrau, der Madame Leoni, dazu kam, glaubte Walpurga ihre Befriedigung kundgeben zu müssen, wie brav es sei, daß man den Prinzen der Frau von Gerloff übergebe.

»Sie wären auch ganz gut gewesen,« sagte sie zu Madame Leoni, »ganz gewiß! Aber unsre gute Königin kann doch nicht ihre beiden Hände weggeben.«

Madame Leoni lächelte dankend, obgleich sie sich gekränkt und ihre Zurücksetzung als Bürgerliche fühlte; doch das erste Gebot des Hoflebens heißt: nie verdrossen sein!

Der Prinz in seinem Kindesschlummer ahnte nicht, welche Eifersüchteleien sich bereits an seiner Wiege geltend machten.

Walpurga legte sich allmählich ihre Sachen zum Einpacken zurecht und zu manchem Stück sagte sie: man sieht dir's nicht an, daß auch Herzblut an dir klebt.

Der Leibarzt hatte befohlen, daß Walpurga manchmal den Prinzen verlassen mußte, damit er sich allmählich an ihre Abwesenheit gewöhne.

In den ersten Tagen ging Mamsell Kramer mit ihr durch die Straßen, aber dieser Gang wurde der Kastellanin sehr schwer, denn Walpurga wollte vor allen Kaufläden stehen bleiben, und wo sie einen Mann oder eine Frau in einer ihrer Heimatstracht ähnelnden Kleidung sah, wollte sie auf sie zugehen und fragen, woher sie seien und ob sie nicht ihren Mann und ihr Kind und ihre Mutter kennten; Mamsell Kramer war dieses Führeramtes bald müde, sie ließ Walpurga manchmal allein gehen und gab ihr die eigene Uhr mit, damit sie zur bestimmten Zeit zurückkomme. Das Hauptvergnügen Walpurgas war, bei der Wachtparade zu sein und das Ziel ihres Weges war meist vor das Thor; da ging sie die Straße hin, die in ihre Heimat führte! das tröstete sie, und sie dachte oft, wie es war, als sie da herfuhr. Wie Jahrzehnte lag ihr die Zeit dazwischen und sie mußte sich immer zwingen, wieder umzukehren; sie stand oft und horchte, sie meinte, sie höre die Stimme ihres Kindes in den Lüften. Welches Kindes? Ihr Herz war geteilt und sie eilte zurück zu dem Prinzen. Es war doch gut, daß er so ruhig auf dem Arm der Französin saß, aber sie war bös darüber und lachte triumphierend, daß er zu ihr verlangte, sobald er sie gewahrte.

»Ja, du bist eine treue Seele,« sagte sie dann. »Wenn die Mannsleute gut sind, sind sie weit besser als die Weibsleute. Dein andrer Vater, mein Hansei, ist auch gar brav, übermorgen kommt er und du gibst ihm eine Hand wenn er kommt. So!«

Walpurga merkte wohl, daß die adelige Dienerin außer sich war über ihre Art, mit dem Prinzen umzugehen, und daß Mamsell Kramer viel zu thun hatte, strenge Befehle zurückzuhalten, aber um so toller und übermütiger spielte sie mit dem Prinzen.

»Also merk dir's,« fuhr sie fort, »ich hab' dir mich selbst zum Verschmausen gegeben; die andern geben dir doch nur, was aus der Küche kommt; wir zwei sind eins und ... und übermorgen kommt mein Hansei, dann geh' ich heim, und wenn du einmal groß bist, mußt du mich besuchen, und wenn Kirschenzeit ist, brocke ich dir die schönsten Kirschen, und mein Hansei geht mit dir auf die Jagd und trägt dir die Flinte, und da schießest du einen großen, großen Hirsch, und ein Reh und eine Gemse, und die braten wir, und dann stecke ich dir einen Strauß auf den Hut, und dann fahren wir miteinander über den See, und ich geb' dir einen Kuß, und dann sag' ich dir ade!«

Das Kind lachte von ganzem Herzen, als ihm Walpurga so in die Augen hineinsprach, und dann legte es sein Köpfchen an ihre Wangen und Walpurga rief:

»Mamsell Kramer, Mamsell Kramer, er kann schon küssen, er hat mir einen Kuß gegeben! Ja, du bist ein rechtes Mannsbild und ein Königssohn auch, die fangen beizeiten an.«

Alle Liebe, die sie zu dem Kinde hatte, wollte sie ihm in diesen letzten Tagen noch kundgeben und sie that es in Zuneigung und in Haß, denn sie wollte auch der Französin zeigen, wie unendlich lieb sie und das Kind einander haben; zu solcher Liebe wird es die Welsche doch niemals bringen, und dann begann sie wieder zu singen:

An dem Weidenbaum
Stehst du, weinest kaum,
Mit der Welle zieh' ich fort.

So lang die Weid' wird grün,
So lang die Wellen ziehn,
Siehst mich nimmer hier am Ort.

Der Knabe plauderte und lachte immer dabei, und Walpurga beteuerte gegen Mamsell Kramer, sie lasse sich darauf köpfen, daß er schon alles verstehe.

»Und nicht wahr« – sagte sie dann mit einem zornigen Blicke auf die Französin – »nicht wahr, die Sprache, die kleine Kinder haben, ist doch in allen Ländern gleich; die Franzosen kommen auch nicht mit Welsch auf die Welt?« Und wieder sang und sprang sie und küßte das Kind; es war, als müßte sie all ihre Trauer zusammendrängen und all ihre Lust in einen festgebundenen Strauß geben.

»Du schadest dem Kind, du regst es zu sehr auf,« suchte sie Mamsell Kramer zu beruhigen.

»Das schadet ihm nichts, der hat gute Säfte im Leib, den kann keine Französin mehr verderben!«

Walpurga war in einer widerspruchsvollen Unruhe. Sie hatte doch schon lang gewußt, daß das Verhältnis gelöst wird und die Lösung so oft gewünscht und gehofft! nun aber, da sie eintrat, war alles Peinliche, das sie in diesem Leben empfunden, nicht mehr da, und sie meinte, sie könne nicht mehr allein leben, es würde ihr immer etwas fehlen, auch die Plage und Unruhe, und es ist ja immer alles wieder so gut geworden. Auch daß die andern sie so leicht ziehen lassen, thut ihr weh. Und das Kind, das Kind! Warum hat es nicht den Verstand, daß es plötzlich zu reden anfängt und sagt: Vater und Mutter, ihr dürft das nicht thun, ihr dürft mir meine Walpurga nicht wegnehmen? Jetzt sind andre Meister über das Kind. Was werden sie mit ihm machen? Warum soll sie nicht mehr dreinreden und sagen dürfen: so und so muß es sein? Sie hat es genährt von seinem ersten Lebenstag an, und Tag und Nacht waren sie beisammen – wie soll's nun Tag und Nacht werden und sie sind nicht mehr beisammen?

Es lag eine tiefe Bitterkeit in den Worten, als Walpurga, nachdem sie zu nacht gegessen, dem Kinde die leere Schüssel hinhielt und sagte:

»Siehst du? ich bin auch so eine ausgegessene Schüssel.«

Und dann wollte sie wieder nicht schlafen; sie wollte keine Minute versäumen, wo sie noch bei dem Kinde sein und es ansehen konnte, und wenn sie doch einnickte, wachte sie plötzlich erschreckt auf; sie hatte im Traum Kinder schreien hören, in der Ferne am See und hier neben sich, und sie meinte, sie stände allein mitten drin und müßte sich zerteilen, dort sein und hier sein, und dazwischen hörte sie die Kuh, wie sie schrie und an dem Stricke riß, wie damals, als sie am Gartenzaun angebunden war; Walpurga sah sie ganz deutlich, und die Kuh hatte so große Augen und schnaubte sie an, so heiß ... Wenn sie sich die Augen gerieben, war alles wieder still, und sie besann sich, daß sie nur geträumt hatte.

Es war am letzten Tage vor der Abreise. Walpurga bereute es schwer, daß sie Hansei nicht früher hatte kommen lassen; er hätte recht gut einen Tag dableiben können, und sie hatte dann einen Menschen, der ihr die Hand entgegengestreckt hätte zum Willkommen, während sie jetzt die Hand immer nur zum Abschied zu geben hatte.

Sie ging durch die Straßen und sah hinauf zum blauen Himmel – der stand auch über ihrer Heimat. Sie kam durch die kleine Gasse, in welcher Doktor Gunther wohnte; sie las das Schild am Hause und ging hinein. Ein Diener führte sie in das Wartezimmer des Leibarztes; hier saßen und standen viele Kranke, Männer, Frauen und Kinder. Walpurga sagte dem Diener, wer sie sei; alle Anwesenden schauten sie staunend an. Sie wurde sofort außer der Reihe hineingerufen; sie sagte, daß sie bloß gekommen sei, um Abschied zu nehmen. Gunther gab ihr den Bescheid, sie solle, bis die Sprechstunde vorüber sei, im Garten auf ihn warten. Sie ging hinab. Frau Gunther saß auf der Gartentreppe, sie rief die Bäuerin zu sich, und als sie hörte, wer sie sei, sagte sie, daß sie hier warten könne. Walpurga setzte sich, Frau Gunther arbeitete weiter und sprach kein Wort. Sie hatte ein entschiedenes Vorurteil gegen die Amme; ihr Mann hatte oft von deren Eigentümlichkeiten erzählt und Frau Gunther sah darin viel volkstümliche Koketterie, die aus der Naivetät einen künstlichen Aufputz macht, und das Aussehen Walpurgas widersprach dem nicht.

»Du gehst wieder heim?« fragte endlich Frau Gunther; sie wollte doch nicht unwirsch sein.

Walpurga erwiderte, wie glücklich sie sein werde, wieder daheim zu sein.

Frau Gunther schaute auf. Sie war eine von jenen Naturen, die es als ein Glück betrachten, von einem Vorurteil erlöst zu werden, und im weiteren Gespräche fand sie nun, daß Walpurga sich allerdings dazu hatte bringen lassen, ihre starke und eigentümliche Art noch gewaltsam zu steigern, daß aber eben dies sie auch davor bewahrt habe, sich in dem neuen Dasein zu verlieren.

Nun sprach ihr Frau Gunther zu, sich ja recht im Herzen zu fassen, und wenn sie heimgekommen sei, nicht alles mit dem Leben im Schlosse zu vergleichen und sich dadurch unglücklich zu machen.

»Sind Sie denn auch schon einmal in der Fremde gewesen, daß Sie das alles so wissen?« fragte Walpurga.

Frau Gunther lächelte. »Ich kann mich in dich hinein denken.« Immer mehr aus dem Herzen Walpurgas heraus sprach sie ihr zu.

Sie führte sie in die Stube, und als Gunther herabkam, traf er Walpurga auf der Freitreppe, wie sie das vaterlose Enkelchen auf dem Schoße hielt.

»Nun kennst du auch meine Frau,« sagte Gunther.

»Ja, aber zu spät.«

Auch Gunther redete nun Walpurga zu, sich recht zu fassen in der Heimat, und er als Eingeborner des Gebirges gab ihr im voraus Bilder des Willkommens und wußte sie gar heiter darzustellen.

Gunther sagte, daß er sie noch einmal im Schlosse sehe, und seine Frau reichte Walpurga die Hand mit den Worten:

»Sei wieder gut daheim.«

»Ich will deiner Mutter auch noch was Gutes schicken,« schloß der Arzt. »Sag ihr, sie soll an den jungen Studenten denken, der damals, als sie Braut mit deinem Vater war, auf der Kirchweih beim Freihof mit ihr getanzt. Ich schicke dir heut noch sechs Flaschen Wein, die soll sie zum Andenken an mich trinken, aber nicht zuviel auf einmal.«

»Ich sage Dank für meine Mutter und mir ist jetzt schon, wie wenn ich den besten Wein getrunken hätt',« schloß Walpurga; »meine Gräfin Irma hat recht gehabt, die hat immer gesagt: die Frau Gunther, das wär eine Frau für dich. Nun wünsch' ich, daß Sie bis zu Ihrer letzten Stunde so wohl leben mögen, wie Sie mir wohlgethan haben.«

Man erwiderte nichts auf die Erwähnung Irmas.

Gestärkt und gehoben kehrte Walpurga ins Schloß zurück.


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