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Die unglückliche Frau hatte die Tage, die seit Wendula's Verschwinden vergangen waren, wie auf die Folter gespannt zugebracht. Es trieb sie fort, als würde sie von Geistern gejagt, und das Verhängniß bannte sie an die Stelle. Vernunft, Pflicht, Instinct der Rettung riefen sie in die Heimath zurück, der unerträgliche Gedanke, zum Gegenstand allgemeinen Gespräches zu werden, Vorwürfen ausgesetzt zu sein, die Thorheit ihres Sohnes bekannt, ja vielleicht sogar das Band der Verwandtschaft das zwischen ihr und Wendula bestand, verrathen zu sehen, das Alles machte ihr ihr Verweilen in Häringsdorf zur Qual, und doch konnte sie nicht fort, konnte es nicht hindern, daß Georg rücksichtslos sie und sich dem Gerede preisgab, nicht durch Worte, Klagen oder Thränen, sondern durch die That.
Wie sie Victor geschrieben, lebte er nur noch für den einen Zweck, die ihm entrissene Geliebte wenigstens noch einmal zu sehen, sie dem kalten Grabe zu entreißen, ihr die letzte Ruhestätte dort zu bereiten, wo sie die kurzen seligen Stunden ihres vergänglichen Glückes im süßen Vergessen aller irdischen Trübsal und Kümmernisse verlebten. Er bot die halbe Einwohnerschaft Häringsdorfs auf, den See zu untersuchen, er selbst leitete das Unternehmen; mit der Morgendämmerung ging er hin, um abgespannt, bis zum Tode erschöpft, Abends zu seiner Mutter zurückzukehren.
Was half ihr das Bemühen, gleichgültig vor den Augen der Leute zu erscheinen, zu thun, als ginge das Ereigniß sie nichts an, wozu vermochte sie es über sich, auch nicht einmal mit den Augenlidern zu zucken, wurde das Wort »Selbstmord« in ihrer Gegenwart ausgesprochen, sie führte Keinen damit irre. Die Wahrheit wurde so ziemlich errathen, obgleich bis dahin Niemand etwas von dem Liebesverhältniß des jungen Mannes mit dem schönen trotzigen Kinde aus der Försterei geahnt hatte, und obgleich auch jetzt nur der Vermuthung ein Feld, wenn allerdings auch ein reiches geöffnet war.
Frau Artefeld's verschlossene Miene schwieg hartnäckig. Georg sprach nur durch sein gebrochenes Wesen, durch den rastlosen Eifer, die Leiche aufzufinden, und auch im Försterhause wurde die traurige Geschichte nicht in Worte gekleidet. Selbst Frau Wallner's Widerwille gegen Wendula war gebrochen, Reue und Gewissensangst kehrten statt dessen in ihr Herz ein und machten sie dem Gebot Friedrich's, der Stillschweigen verlangte, gehorsam.
Der Tod Wendula's hatte auf jeden Einzelnen im Försterhause einen furchtbaren Eindruck gemacht. Friedrich war dem tiefsten Schmerze hingegeben, Rosette all' den Anfällen von Verzweiflung, denen eine so reizbare, leicht bewegliche Natur, die nie gelernt hat, irgend eine Empfindung zu zügeln, verfällt, sobald ein wirkliches Leid und Elend an sie herantritt, hier um so lebhafter empfunden und geäußert, als sich Reue in den Kummer mischte. Frau Wallner betäubte die Stimme des Gewissens durch Lobeserhebungen, die sie der Verstorbenen zollte, und durch Rückerinnerung an jeden Beweis gegebener und empfangener gegenseitiger Zuneigung, wagte dies aber nie in Gegenwart Friedrichs zu thun, zu dem sie überhaupt auf einmal mit scheuer Miene hinsah und ihm ganz unwillkürlich einen Respect zollte, der ihr sonst fern gelegen. Er war aber auch anders gegen sie, nicht unfreundlich oder hart, aber so ernst und sicher in seinem Wesen und Benehmen, daß sie auf einmal fühlte, jetzt würde er Herr im Hause sein, obgleich noch kein Wort, das einem Befehl glich, über seine Lippen gekommen, obgleich er herzlicher, inniger mit Rosetten sprach als jemals.
Für Letztere war Adelens Gegenwart eine wahre Wohlthat. Wie himmelweit ist doch Freundschaft, die nichts zu theilen weiß, als die oberflächlichen Freuden der Welt, von jener verschieden, die in den Tagen der Trübsal wie ein helfender Engel uns zur Seite steht. Noth lehrt beten, Noth lehrt aber auch Freundschaft und Liebe erkennen, das ist der Segen, der aus der Noth emporwächst, und das Erkennen dieses Segens oder auch nur das Ahnen desselben war der Sonnenstrahl, der sich aus dem dichten Gewölk emporzuringen strebte, das auf dem Försterhause lag. Es hatte noch Keiner den Muth, hinaufzuschauen, Kummer, Reue und Gewissensangst lagen zu schwer auf den gedrückten und geängstigten Herzen, um auf ein künftiges Glück auch nur hoffen zu können, aber machte es sich nicht in der Gegenwart schon geltend, lag es nicht in dem ängstlichen und doch zutrauensvollen Suchen Rosettens nach ihres Mannes Herzen, nach seinem Trost, seiner Hülfe, seinem umschlingenden Arm? Lag es nicht in der Weichheit, Milde und Kraft zugleich, mit der er jedes Wort aufnahm, jeden Blick verstand, jede Thräne abzutrocknen versuchte und die eigene um Wendula herzhaft zurückdrängte?
Er und Rosette waren doch glücklicher mit einander, als Frau Artefeld und Georg, denn dieser hatte sich, wenn auch nicht im Zorn, so doch in tiefer Betrübniß, ja fast in Schreck abgewendet von seiner Mutter, und sie verstand das Suchen und Finden eben so wenig, wie sie das Festhalten verstand. Er war gut und sanft, er küßte ihr die Hand, wie er's gewohnt war, und behandelte sie mit der Ehrerbietung, zu der sie ihn erzogen hatte, aber seine Seele war nicht mehr dabei und sein gebrochenes Herz wußte nichts davon.
Es war ihr vielleicht oft, als müsse sie ihn an ihr Herz drücken, und die Sehnsucht dort zu ruhen mochte ihn gleicherweise schmerzvoll durchglühen, aber es war ja dasselbe Herz, das Wendula in den Tod getrieben, das durfte weder Ruhe bieten, noch vermochte er es, Trost dort zu suchen.
So lebte Jeder für sich, oder vielmehr es schleppte Jeder sein Dasein durch die unendlich langen Stunden hin, in die man das Leben eintheilt, ohne doch ein Zeitmaß durch sie zu haben, denn sie fliegen und schleichen, stürmen mit uns fort und tragen uns sanften, ebenen Schrittes, und zeigen uns nur, daß es kein anderes Zeitmaß giebt, als dasjenige, mit dem wir von innen heraus den fliehenden Stunden Gewicht zu verleihen, ihnen Bedeutung abzugewinnen verstehen.
Sie hatten wohl Bedeutung für die Beiden, schwere, vollgewichtige Bedeutung, aber welche?
Georg, der bisher nur wie ein glückliches, harmloses Kind in der Gegenwart gelebt, sah allen Schimmer derselben auf einmal in's Grab gesunken, in ein feuchtes, kaltes Grab, das seinen Blick in die Tiefe riß, ihm dort ein blasses, holdes Bild zeigend, dessen einst so lebenswarmes Auge den gegenwärtigen Augenblick erleuchtet, seine Zukunft durchstrahlt hatte. Finster und dunkel lag diese jetzt vor ihm.
Und Frau Artefeld? Für sie hatte es kaum je eine Gegenwart gegeben, nur eine Vergangenheit und Zukunft, und aus der einen heraus hatte sie für die andere gelebt. Nun fühlte sie aber gerade jetzt nichts als die Gegenwart, die bleierne, schwere Gegenwart, die sie mit eisernen Klammern festhielt, sie zum Müßiggang verdammte, während Arbeit und Thätigkeit allein noch den Glanz und die Ehre der Vergangenheit für die Zukunft retten konnte.
Dachte sie wirklich noch an zu erreichende Ziele, glaubte sie wirklich noch an die eigene Macht, an die Wirksamkeit ihrer kräftigen Hand, da der Schlag, den sie rücksichtslos geführt, auf ihr Haupt zurückgefallen war?
Freilich, ein Ziel hatte sie erreicht. Das Mädchen, das sie hatte entfernen wollen, war fort, für immer fort, das Band, das zu zerreißen sie, kein Mittel gescheut, war zerrissen, im Kampfe mit den Menschen hatte sie gesiegt, aber sie hatte nicht sagen können: bis hierher und nicht weiter.
Die losgelassenen Dämonen der Willkür, der harten Selbstsucht, der kleinlichen List vernichteten das Opfer, über das sie nicht ein Todes-, über das sie ja nur ein Verbannungsurtheil gesprochen, und dieses vernichtete Opfer, dieser frühe und nicht beabsichtigte Tod war es nun, der sie mit gespenstischen Armen umfing, der sie an die Stelle bannte, während Hülfe und Rettung für sie nur in der Ferne zu hoffen war. Dieser schwer erkaufte Sieg bestätigte nur, all' ihrer Berechnungen spottend, ihr Verderben.
Erkannte sie die allmächtige Hand, die den Kampf aufgenommen im Namen der Schwachen, der Unterdrückten, der Besiegten, die den entsendeten Pfeil weit über das Ziel hinausgeführt, um ihr, die ihn rücksichtslos durch die Lüfte gesendet, die Kurzsichtigkeit ihres Blickes, die Ohnmacht ihres Armes zu beweisen?
Die leichten Fußstapfen im Sande, die der Wind in der nächsten Secunde verweht, die der erste beste Wanderer, ahnungslos darüber hinschreitend, verwischt, die des Meeres Wellen, vom Sturm über das Ufer gejagt, für immer fortspülen, diese leichten, kleinen, unbedeutenden Fußstapfen, Gottes Auge sah sie und ein Gottesurtheil heftete sich an ihre Spur.
Als der junge Mann ihnen folgte, hingerissen von dem kindlichen Uebermuth jugendlicher Lebenslust, da griff er zuerst unwissentlich in das Verhängniß ein, das lange seine unsichtbaren Fäden gesponnen, um die Hoffahrt und Herrschsucht, den Weltsinn und das übermüthige Selbstbewußtsein einer Frau, die an sich selbst mehr glaubte wie an die über ihr waltende Allmacht, in das eigene Netz zu verstricken und der eigenen Ohnmacht zu überführen.
Von dem kleinen, aber an göttlicher Weisheit und himmlischer Liebe reichen Buch, von der Bibel aus, die als Richard's einstiges Eigenthum die Herkunft seiner Tochter ihrer einzigen natürlichen Beschützerin in dem Augenblick offenbarte, als diese ihr herzlos das nicht einmal aus Gnade gewähren wollte, was jene als Recht zu fordern hatte, von dem Buch aus fiel da nicht ein Lichtstrahl auf jene unbedeutenden, verlachten, als wesenlos geschmähten Fußstapfen? Stellten sie nicht der göttlichen Allmacht auf's Neue ein Zeugniß aus, waren sie nicht, wie Wendula gesagt, unter den Millionen ähnlicher Spuren, die ungesehen auftauchen und verschwinden, eine jener Zufälligkeiten, die der Himmel erkoren, irgend einem tief verborgenen Zweck zu dienen?
Es giebt keinen Zufall, denn es giebt keine Willkür in dem göttlichen Regiment, und was wir Zufall nennen, ist nur Wirkung von Ursachen, die unserm menschlichen Auge verschlossen sind, weil nicht wir es waren, die sie heraufbeschworen, oder die wir nicht erkennen wollen, weil sie uns einer Schuld überführen.
Es mag vielleicht Keinem leicht werden, eine Schuld einzusehen, sie offen und rückhaltlos Gott zu bekennen und den Menschen in so weit wenigstens, daß man sie durch Thaten zu sühnen sucht. Je selbstbewußter ein Mensch dahinschreitet, um so schwerer muß die Hand der Allmacht auf das Haupt fallen, das sich demüthigen soll. Echtem Stolz ist Demuth nicht fern, aber der Hochmuth muß zu Boden geschlagen werden, und dennoch, wie kerzengerade steht oft solch' geschlagener Hochmuth noch vor den Augen der Menschen da!
Auch der Haltung Frau Artefeld's war nichts anzusehen, ja, kaum hätte man hinter der Starrheit ihrer Züge einen Kummer vermuthen können, und so wurde Vater Reimer fast irre, als er vor ihr stand und sie ihn, unwillig über die Störung, in einem ihrer Empfindung entsprechenden Tone nach feinem Begehr fragte.
»Sie heißen Artefeld und sind aus Breslau, wo Sie ein reiches Handlungshaus haben, oder giebt's noch Andere dort, die denselben Namen führen?«
»Nein,« antwortete sie kurz.
»Sie haben einen Sohn gehabt, der nicht Kaufmann werden wollte und deshalb fortging, nicht?« fuhr der alte Mann, durch ihre sichtliche Ungeduld nicht irre gemacht, fort.
»Wer sind Sie, was gehen Sie meine Familienverhältnisse an? Es ist, so viel ich weiß, kein Zusammenhang zwischen ihnen und den Häringsdorfer Fischersleuten,« entgegnete sie abweisend.
»Doch,« sagte der Alte, »denn ich, Vater Reimer, wie sie mich hier heißen, war ein Freund Robert Arnold's oder Richard Artefeld's und stehe hier in seinem und seiner Tochter Wendula Namen.«
Bis er seinen Namen nannte, war Georg ein theilnahmloser Zeuge der Unterhaltung geblieben. Der Name Reimer elektrisirte ihn, er sprang auf. Als jener Wendula nannte, griff er nach des alten Mannes Hand und drückte sie zwischen den seinen mit einer Wärme und Innigkeit und einem so unverkennbaren Ausdruck kindlicher Ehrerbietung, als sei es ein unsaglicher Trost, Dem Liebe und Ehrfurcht zu erzeigen, für den ihr Herz Beides in so reichem Maße empfunden.
Halb verlegen und halb auf's tiefste gerührt, darauf brennend, dem jungen Manne die Botschaft von Wendula's Rettung zu bringen, und doch die Wirkung einer so plötzlichen Mittheilung fürchtend und sie deshalb noch zurückhaltend, machte Vater Reimer sich los und fuhr, zu Frau Artefeld gewendet, fort:
»Ihr Sohn, denn daß er es war, weiß ich aus seinem eigenen Munde, lebte hier am Schmollensee als Förster. Er war ein lieber, braver, rechtschaffener Mensch, und das Schicksal hatte ihm ein reiches Maß Glück, aber ein noch reicheres an Trübsal zugemessen. Fast Alle, die er lieb hatte, starben vor ihm dahin. Er meinte, ihm fehle der Segen der Mutter und daher komme alle seine Trübsal. Ich will nichts darüber sagen, denn ich kann's nicht wissen, warum er ihm entzogen wurde und weshalb er nichts thun konnte, ihn wieder zu erringen, aber wenn ich auf eins meiner Kinder erzürnt gewesen, und es hätte den Muth und den Willen nicht gehabt zu kommen und zu sagen: Vater, sei wieder gut! und es wäre darüber gestorben, die grauen Haare risse ich mir einzeln aus dem Kopf aus Gram und Reue, daß ich ein so harter Vater gewesen, meinem eigenen Kinde das Vertrauen aus der Brust genommen und die Hartnäckigkeit hineingepflanzt zu haben. Doch er ist nun todt, und es lohnt nicht über seine und Anderer Versäumniß während seines Lebens zu sprechen. Kann denn aber die Liebe, die ihm genommen wurde, nicht nun seinem Kinde zu Gute kommen, seiner verlassenen, verwaisten Tochter? Der Verstorbene hat es in meine Hand gelegt, das Kind, das von seiner Herkunft nichts wußte, von dieser zu benachrichtigen, wenn sie reif sei, eine Entscheidung über ihre Zukunft zu treffen, oder früher, wenn's noth thäte. Ich meine aber, es thut noth jetzt.«
Frau Artefeld war nicht im Stande zu antworten. Georg sagte mit leisem Seufzer:
»Ach, es ist zu spät jetzt! Wißt Ihr es denn nicht, armer alter Freund, daß Wendula todt ist? Einmal hat Eure Hand sie dem Fluthengrabe entzogen, als sie ein Kind war, sie hat es mir erzählt, warum schickte Euch Gott nicht, als ein zweites Mal ihr Verhängniß sie dorthin zog!«
»Einer Rettung dieser Art bedurfte sie nicht, Gottlob!« sagte Vater Reimer. »Sie hat ein starkes, reines, kindliches Herz und das schützte sie vor verzweiflungsvoller That. Mich aber führte Gott auf ihren Pfad, als sie rathlos dastand, und das Asyl, das sie suchte, konnte ich ihr geben. Wendula lebt und, was besser ist, sie wollte leben.«
Mit sprachlosem Entzücken vernahm Georg die Botschaft Er vermochte weder ein Wort der Freude, noch eine Frage hervorzustammeln, er hielt nur des alten Mannes Hand noch fester umschlungen, und durch die Thränen hindurch, die seinen Augen entflossen, strahlte ein Jubel, eine Wonne, eine Andacht, die mehr ausdrückten, als Worte es je vermocht haben würden.
Auch Frau Artefeld war tief erschüttert. Dieses: Wendula lebt! war auch für sie ein Ruf der Gnade, der ihr eine Last vom Herzen nahm, wenn er dasselbe auch nicht zu jubelnder Freude zu erwecken vermochte, wie das ihres Sohnes. Nur mit Sträuben empfing sie selbst vom Himmel Gnade, denn diese Gnade war ja der schlagendste Beweis ihrer Niederlage.
Es lag noch tief inneres Widerstreben in dem Tone, mit dem sie den alten Mann nach dem näheren Zusammenhang seiner Nachrichten fragte.
Vater Reimer mußte nun erzählen, Georg nahm ihm förmlich die Worte von den Lippen.
»Hin, augenblicklich hin zu ihr!« Mit diesem Ruf wurde Vater Reimer's Mittheilung beantwortet, aber ein bittender Blick auf die Mutter erflehte zugleich deren Zustimmung. Sie gab sie mit dem bittern Gefühl, daß sie sie geben müsse, wollte sie wenigstens noch den Schein mütterlicher Autorität retten.
Hatte sie es denn immer noch nicht begriffen, daß Liebe, und nichts als Liebe, Grundlage aller Autorität ist, und doch appellirte Georg nur an dieselbe, als er mit bebender Stimme sagte:
»Nicht wahr, Mutter, jetzt segnest Du meinen Bund mit Wendula, sie ist ja Richard's Tochter und hat auf doppelte Liebe Anspruch!«
Mit dem zunächst abgehenden Dampfschiff fuhren sie ab. Vater Reimer begleitete sie an Bord, es für sich zurückweisend, mit ihnen hinüber zu fahren und Zeuge des Glückes zu sein, das er zum Theil geschaffen hatte.
Georg bekam eine genaue Anweisung, wo Wendula zu finden sei, er trennte sich mit Thränen des Dankes von dem alten Manne; sein Glück, sein Hoffen war hell genug, selbst die strenge Miene seiner Mutter ein wenig aufzuklären und gegen den Dünkel zu kämpfen, der die Scham und Reue auf ihrer ehernen Stirn den Blicken der Welt ebenso verhüllen sollte, wie sie selbst noch ihre Augen vor ihnen schloß. Dann wurden die Anker gelichtet, wirbelnder Rauch, schwarz aus der Esse kommend, vergoldet vom Sonnenstrahl sich in weiße, nebelhafte Schleier auflösend, führte seinen Elfenreigen um das tanzende Schiff auf, die Wellen rauschten lustig dazu, auf dem Schiff herrschte überall reges Leben und buntes Treiben – der sonnenhelle Himmel fand überall ein Fleckchen, das seine Strahlen erheiterten, hier ein lachendes, junges Auge, dort ein altes, jugendlich fühlendes Herz, die reine Stirn eines Kindes oder das goldglänzende Haar eines jungen, blühenden Mädchens.
Das Meer wogte im goldenen Wiederschein, und Georg's Herz war nun vollends nichts als reflectirtes Licht. Nur seiner Mutter Stirn heiterte sich nicht auf, und der bittere Zug um die zusammengepreßten Lippen, der zu sagen schien: es ist Alles verloren! fand keinen Widerspruch in dem starr blickenden Auge, das, auf einen Fleck geheftet, nichts von all' dem Sonnenschein sah, der ihr doch von allen Seiten zujubelte: es ist nichts verloren, wenn das Herz gerettet ist!
Sie kamen in Putbus an. Georg war viel zu ungeduldig, erst nach einem Wagen zu gehen, er bot der Mutter den Arm, und zu Fuß legten sie den Weg zurück, zu Fuß und mit so beflügelter Eile, als es Frau Artefeld's gemessenes Wesen und ihr inneres Widerstreben gegen das ihr bevorstehende Wiedersehen nur immer zuließ.
Georg hatte sich den Weg genau beschreiben lassen, mit dem Instinct des Herzens erkannte er das Häuschen, das seinen Schatz barg. Hatte er doch auf der ganzen Fahrt nichts vor Augen gehabt, als die von Obstbäumen beschattete ländliche Hütte am Ende des Bogenganges von Wein, umgeben von üppigen Blumenbeeten, die Fenster eingerahmt von dunkelm Epheu, so ernst und traurig und so schön, wie das dunkle Haupt des schwergeprüften jungen Kindes, dem er Glück bringen, von dem er Glück empfangen wollte.
Ihm war, als müsse ihm das Herz vor Jubel springen, als er das Häuschen wirklich vor sich sah, im Sturm riß es ihn hinein, aber die Mutter hing schwer an seinem Arm. Er vermochte es noch, seine Schritte zu zügeln, aber als er die Klinke der Thür ergriffen, da war es vorbei mit aller Rücksicht und Selbstbeherrschung, er ließ die Mutter los und stürzte in's Zimmer.
Wendula war allein in demselben. Mit dem Rücken der Thür zugekehrt saß sie da. Sie wendete sich bei dem hastigen Oeffnen der Thür langsam um, einen Augenblick stand sie wie versteinert, aber dann, mit einem lauten, gellenden Schrei stürzte sie in Georg's Arme.
Seit sie von ihm getrennt war, und obgleich es ihrem Willen nach eine Trennung auf Nimmerwiedersehen sein sollte, hatte sie doch an nichts gedacht als an ein Wiedersehen. Mit Schmerz und Qual hatte sie daran gedacht, und dennoch mit heimlichem Herzklopfen und mit im Geist unwillkürlich nach ihm ausgestreckten Armen.
Wie tief auch ihr Stolz verwundet gewesen, wie sie sich auch bemüht hatte, aus ihm einen Panzer zu schmieden für das noch viel tiefer verwundete Herz, jetzt, wo Georg wirklich vor ihr stand, nichts als Liebe, Seligkeit des Wiedersehens, wonniges Glück auf seinem Antlitz, da war es aus mit allen künstlichen Vorsätzen, da war es die Wahrheit, nur die Wahrheit, die den Sieg augenblicklich errang.
Der beleidigte Stolz schwand dahin, mit ihm die erzwungene Zurückhaltung. Da wußte sie nichts mehr von der erfahrenen Unbill, da war nicht ein Schatten von Groll oder Vorwurf mehr in ihrem Herzen, die Majestät der Liebe riß sie hin zu unbedingter Huldigung, und jubelnd, schluchzend, nichts empfindend als Freude, himmlische Freude, sank sie in des Geliebten Arme.
Es war ein Anblick, Himmel und Erde zu erfreuen, als sie einander so umschlungen hielten, weinend, sich küssend, sich nur loslassend, um selig einander anzuschauen und sich nur fester zu umschlingen, abgebrochene Worte des höchsten Entzückens stammelnd.
Sie hatten Alles um sich her vergessen; sie sahen nicht, wie die Frau des Gärtners leise hervortrat, erst verwundert, dann die Wahrheit ahnend, andächtig, mit gefalteten Händen eine Secunde stehen blieb und dann leise, nicht nur die Stube, sondern das Haus verließ, als dürfe auch nicht von Weitem das heilige Glück eines solchen Wiederfindens belauscht werden.
Sie sahen auch nicht das immer mehr erbleichende Antlitz Frau Artefeld's, die Schweißtropfen auf ihrer Stirn, die krampfhaft zusammengepreßten Hände derselben.
Ein furchtbarer Schmerz durchzuckte das Herz der durch die Ereignisse der letzten Tage in allen ihren Lebensbedingungen und Ansprüchen vielfach verletzten Frau. Sie hatte Alles zusammenbrechen sehen, was aufzubauen und zu erhalten der höchste Zweck ihres Lebens gewesen. Ihr Reichthum war dahin, ihr Name bezeichnete eine gefallene Größe, ihre Absichten wurden durchkreuzt, ihre Pläne vernichtet, ihre Berechnungen scheiterten eine nach der andern. Ihre Macht sah sie gebrochen, ihre Herrschaft über Menschen und Verhältnisse zu Boden geschlagen von einer Macht, vor der auch der Stolzeste in die Kniee sinken muß, fühlt er ihre zwingende Hand auf seinem Haupt. Aus dem Grabe sendeten die Todten Zeugen für das Unrecht, das sie einst von ihr erfahren. Elisabeth's Tochter wendete sich kalt von ihr ab, ihre Befehle verhöhnend, Richard schickte sein Kind, sie des einzigen ihr noch gebliebenen Gutes zu berauben.
Mit einer nicht zu beschreibenden Qual sah sie Georg in des Mädchens Armen. Ihn, ihren Liebling, ihn, für den sie gearbeitet, gestrebt, den sie geliebt hatte wie Keinen, ihren Sohn, ihr einziges Kind mußte sie einer Andern dahingeben, und nicht einmal freiwillig, aus Herzensdrang, nein, gezwungen und wider alle Vernunft und Klugheit Dem Herzen, das ein Recht hatte, ihr zu zürnen, ja vielleicht sie zu hassen, dem Herzen gab sich das seine hin.
Vernichtender Spott des Schicksals! Im Rausch der Liebe vergaß er ihre älteren, ihre heiligeren Rechte, in den Armen des Mädchens vergaß er die Mutter. Kein Blick, kein Wort flog zu ihr, kein Schlag seines Herzens galt ihr, vergessen, ganz vergessen stand sie da, sie, die doch, seit sein Auge das Licht zuerst gesehen, keine andere Sorge gekannt hatte als die um ihn.
Sie hatte ihn verloren. Es gab ein Glück für ihn, das sie nicht geschaffen, bei dem sie überflüssig dabeistand. Sie war keine Mutter, die selbstsuchtlos liebt, in der Theilung des Herzens sah sie eine Beraubung, nicht eine Vermehrung seiner innerlichen Schätze, ein Glück, das außer ihr bestand, tastete das ihre an. Eine furchtbare Eifersucht zerriß ihr Herz, ein Gefühl der Einsamkeit, der Armuth durchschlich sie, noch viel peinvoller als der niederdrückende Kummer, als die quälende Angst der letzten Tage.
Da entwand sich Wendula plötzlich den Armen Georg's.
»O Gott, warum bist Du gekommen?« stöhnte sie schmerzlich, »ich hatte schon von Allem Abschied genommen, was das Leben an Glück und Seligkeit verheißt, ich war schon todt für Alles, nun muß ich auf's Neue leben, um noch einmal zu sterben. O Georg, nun ich Dich wieder habe, wie soll ich's anfangen, Dich zu lassen?«
»Das sollst Du auch nicht,« entgegnete er tief bewegt, »Du bist jetzt mein für immer, wir verlassen uns nun nicht mehr.«
»Wir müssen es dennoch,« seufzte sie, und dann plötzlich in ihren Mienen wie in ihrer Stimme den Ausdruck tiefen Grolles annehmend, fuhr sie leise, aber mit bestimmtem, festem Tone fort: »Deine Mutter und ich gehören nicht zusammen, ich könnte eher in den Tod gehen, als unter das Dach ihres Hauses.«
»Wendula!« sagte Georg vorwurfsvoll, »Du weißt nicht, von wem Du sprichst.«
»Doch, ich weiß es,« entgegnete sie, ging dann auf Frau Artefeld zu, und wenige Schritte von dieser entfernt stehen bleibend, mit einer Hoheit in ihrer Haltung und einem flammenden, aber niedergehaltenen edlen Unwillen in Blick und Miene, als sei sie die richtende Nemesis selbst und vom Himmel entsendet, ihr Amt unter den Sterblichen auszuüben, fuhr sie zu dieser gewendet fort: »Ich weiß es, daß Sie meine Großmutter sind, ich wußte es schon, als Sie, Sie selbst das Verbannungsurtheil über mich aussprachen, als Sie mit unbarmherziger Strenge das Band zerrissen, das Georg und mich umschlungen hielt, als falscher Stolz und selbstsüchtige Liebe Sie gegen ein aufblühendes unschuldiges Glück in die Schranken rief. Was ist das für eine Mutterliebe, die ihres Kindes Glück an dem eigenen Stolz mißt, und was für ein Stolz, der die Lüge nicht scheut, um zu seinem Ziel zu gelangen?«
Sie hielt einen Augenblick inne. Mit schreckensbleichem Gesicht trat Georg auf sie zu.
»So darfst Du nicht vor meiner Mutter stehen, o Gott, so nicht!« stöhnte er; »die Palme solltest Du bringen, nicht das Schwert«
»Laß mich,« sagte Wendula mit so feierlichem Ernst, daß Georg unwillkürlich zurückwich wie vor einem unabweisbaren Gebot. »Ich spreche nicht für mich, ich verfechte nicht meine Sache, ein Todter legt mir die Worte in den Mund, und die Todten sprechen die Wahrheit. Wehe denen, die sie nicht hören können!«
Frau Artefeld sah die Redende mit festem, sicherm Blick an, sie fühlte ein leises Beben ihre Glieder überfliegen, aber sie richtete sich nur höher auf, dem Todesstreich trotzend, der die erschütterte Seele bedrohte.
Sie wies Georg, der sich ihr nahen wollte, mit einer Handbewegung zurück, aber sie sprach kein Wort. Verzweifelnd sank Georg auf einen Stuhl und bedeckte sein Gesicht mit den Händen, Wendula fuhr mit demselben feierlichen Ernst fort:
»Ich wußte es neulich schon mit unumstößlicher Gewißheit, welches Recht ich an Ihren Schutz hatte, aber bis an der Welt Ende wäre ich lieber geflohen, als in die Arme gestürzt, die sich nie meinem Vater geöffnet haben, als an das Herz, das ihm verschlossen geblieben war. Ich habe seitdem mehr von Ihnen erfahren. Meines Vaters Leben liegt enthüllt vor meinen Blicken, seine freudenarme Jugend, die bitteren Kämpfe, die ihn in die Verbannung trieben, der tiefe, unheilbare Zwiespalt, der ihn bis an sein Grab verfolgte. Er war nur ein Opfer der herzlosen Berechnung, die Geld und Gut über die heiligsten Güter des Lebens erhob, nur ein Opfer der falschen Lebensauffassung, des verkehrten Pflichtgefühls, das eine von den Menschen überkommene Erbschaft höher schätzte, als das von Gott anvertraute Gut kindlicher Seelen. Wie er in die Verbannung, wurde ein anderes Herz in Verzweiflung und Tod gejagt, und beide, meines Vaters getrübtes Leben wie seiner Schwester früher Tod, klagen das Herz an, das ihn verstieß und sie verkaufte. O Georg,« wandte sie sich plötzlich mit weicherem Tone an diesen, »ich sage es noch einmal, warum bist Du gekommen? Wir müssen uns ja doch trennen. Meines Vaters Grab liegt zwischen Deiner Mutter und mir!«
Georg stand auf.
»Gieb mir Deine Hand,« sagte er, »ich führe Dich hinüber. Vergieb ihr die bitteren Worte, Mutter,« wendete er sich dann bittend an diese, »vergieb es dem kindlichen Eifer, womit sie, den Vater von Schuld zu entsühnen, das Maß fremder Verschuldung übertrieb. Rufe sie zu Dir, liebe Mutter, zeige ihr, daß Du ein Herz hast, daß es sich nur selbst ein Leid auferlegte, als es ihren Vater von sich ließ, sage ihr doch auch, denn Deinem Alter muß sie es glauben, sage ihr, daß ein Todter keinen Groll mit hinübernimmt, daß ein seliger Geist uns von dorther, wo die Liebe waltet, kein Gebot des Hasses zuruft, daß wir sein Andenken schmähen und uns selbst herabwürdigen, glauben wir uns berufen, das Erbtheil des Hasses anzutreten.«
Aber Frau Artefeld antwortete nicht Der Kampf, der in ihrem Innern tobte, sich aber durch nichts als die Todtenblässe ihres Antlitzes verrieth, war noch nicht entschieden, ihre Lippen blieben geschlossen, die Arme gekreuzt, man hätte sie für aus Stein gehauen halten können.
»Ließ es Gott geschehen, daß Sie triumphiren über uns Alle, die wir unschuldig sind,« begann Wendula auf's Neue, »steht Ihr Haus glänzend da auf den Trümmern menschlichen Glückes, sind Ihre Berechnungen geglückt, nun, er wird wissen, warum er das Elend und die Ungerechtigkeit und den Triumph zuließ. Er wird Sie treffen, wenn es ihm an der Zeit ist. Ohnmächtig stehen wir vor ihm da, und das stolzeste Werk unserer Schöpfungen sinkt vor seinem Hauch in den Staub. Nicht von einem Tage zum andern können wir unser Loos mit Gewißheit bestimmen. Wer heut steht, kann morgen fallen, und den Sinkenden hebt er mild empor. Er führte meinen Vater einem reinerem Glück zu, als Ihr Reichthum ihm je hätte gewähren können, er wird wissen, warum er mich dem Tode entriß, mich einem freudenarmen Leben zu erhalten.
Ja, einem freudenarmen Leben,« fuhr sie schwermüthig fort, »denn dunkel und öde liegt es vor mir, aber es wird doch leichter zu tragen sein, als Ihr entsetzlicher Triumph!«
Bis dahin hatte Frau Artefeld mühsam ihre Fassung, ihre unveränderte Haltung behauptet, obgleich sie, während Wendula sprach, kaum zu beschreibende Qual litt. Sie bebte innerlich unter den Vorwürfen des Mädchens, zitterte vor dem Flammenstrahl aus Wendula's Augen. Sie rang während der ganzen geschilderten Scene mit dem Entschluß, die Anklage zurückzuschleudern, dem heißen Zorn zu begegnen mit kaltem, verachtendem Hohn, aber vergebens. Grell und vernichtend stand die Wahrheit vor den Augen der unglücklichen Frau, und die Ueberzeugung, die ihr sonst jederzeit die Waffen in die Hand gegeben, die Ueberzeugung von ihrem Recht ließ sie im Stich.
Tausend Stimmen in ihr riefen: »Du bist die Schuldige; das Mädchen hat recht. Du hast ihres Vaters Jugend der kindlichen Freuden, Du hast ihn des Vaterhauses beraubt, Du hast ihn in die Verbannung getrieben, an seinen Irrthümern bist Du schuld, für seinen Zwiespalt hast Du zu büßen. Du zerbrachst das Herz Deiner Tochter, auch ihr Unrecht fällt auf Deine Seele, ihr früher Tod wird verzeichnet in Deinem Schuldbuch.
Alles, was Du vorbedacht, Alles, was Du gethan, geleitet hast, ist fehlgeschlagen. Spott verdienen Deine Berechnungen, Verachtung ist Dein Theil, Armuth, Niedrigkeit Dein künftiges Loos!«
Und Wendula sprach von Triumph! Ja wohl, entsetzlich war der Triumph! Der Hohn, der Spott dieses Wortes fiel in ihre Stimmung hinein, wie Schwertschlag auf ein verwundetes Haupt.
Es war zu viel für ihre Kraft und Selbstbeherrschung. Ihr war zu Muthe, als müsse sie sterben, sie öffnete die Lippen, als wollte sie sprechen, aber kein Ton entrang sich ihrer geängstigten Brust. Eiskalt schlich ihr der Tod zum Herzen, es wurde ihr schwarz vor den Augen, aber als stütze sie sich in diesem Moment des schwindenden Bewußtseins noch instinctiv auf ihre eigene Kraft, so dachte sie nicht einmal daran, einen Hülferuf zu versuchen, so streckte sie nicht die Hand nach einer Stütze aus, sondern auf der Stelle, auf der sie stand, sank sie lautlos zu Boden.
Aber was Georg's Bitten nicht vermocht, was vielleicht eben so wenig durch ein Wort der Liebe aus dem Munde seiner Mutter zu erreichen gewesen wäre, das bewirkte das lautlose Zusammensinken derselben.
Von den ausgebreiteten Armen der Lebenden hätte sich Wendula vielleicht in unbesiegtem Zorn abgewendet, aber zu ihr, der Geschlagenen, zu ihr, die der Tod gezeichnet, auf deren bewußtlosem Haupt Gottes Hand ruhte, zu ihr stürzte sie ohne Besinnen, ohne Zögern hin. Der Tod spricht eine Sprache, die nicht falsch zu deuten, der eben so wenig zu trotzen ist; an den Pforten des Grabes hört alles menschliche Zürnen auf, vor dem Gericht Gottes verstummt menschliches Urtheil, und der Blick, der Andere zürnend traf, flüchtet in sich hinein, das Wort, das fremde Schuld verurtheilt, sagt zitternd zu der eigenen Seele: »Bist Du selbst ohne Fehl, so hebe den Stein auf!«
Wendula kniete neben der Ohnmächtigen, stützte ihr Haupt mit ihren umschlingenden Armen, das kalte Gesicht derselben mit ihren warmen Thränen benetzend. Der tödtlich erschrockene Georg verlor dennoch die Besonnenheit nicht, er hob die Mutter auf und trug sie auf ein Bett, er wollte fort, einen Arzt zu holen, da trat Victor ein.
Er hatte gehofft, an einer Scene der Freude Theil zu nehmen, er unterbrach eine von stummer Angst und bedeutungsschwerer Geschäftigkeit. Mit wenigen Worten verständigten sich die Freunde, und während Victor es nun unternahm, nach einem Arzt zu eilen, überwachte Georg mit steigender Sorge alle die vergeblichen Versuche, die Bewußlose in's Leben zurückzubringen.
Endlich kam der Arzt Sein Ausspruch lautete zwar nicht hoffnungslos, aber ließ einen traurigen Ausgang fürchten.
Ein Schlagfluß hatte stattgefunden. Die angewendeten Mittel gaben der Leidenden zwar im Laufe des Tages die Besinnung, aber weder den völligen Gebrauch der Glieder, nach die Sprache wieder. Wie eine Todte lag sie da, nur tiefe Seufzer verriethen, daß sie lebte, nur in den Blicken sprach sich ein Bewußtsein davon aus.
Georg und Wendula verließen die Kranke nicht einen Augenblick, auch Flora Richter gesellte sich zu ihnen mit ihrem Rath, ihrer Erfahrung und ihrem Willen, der Leidenden wie ihren Pflegern beizustehen, wenn sie auch die Vorsicht gebrauchte, sich der Kranken selbst nicht zu zeigen, ihr jetzt noch die Aufregung des Wiedersehens zu ersparen.
Wie schnell war das lachende Gärtnerhaus in eine Stätte der Trauer verwandelt worden! Mit freundlicher Bereitwilligkeit hatten die Besitzer desselben eingewilligt, die Kinder einstweilen zu entfernen, um jeden Lärm, jede Unruhe aus dem Wege zu räumen, sie selbst zogen sich auf den beschränktesten Raum zurück, der Kranken und deren Angehörigen die übrigen Zimmer einräumend. Flora Richter und Flora Eisenhart schlugen gleichfalls ihre Wohnung dort auf, Herr Richter, Victor, Röschen und Lorchen kamen wohl hundertmal des Tages, nach dem Befinden der Kranken zu fragen.
In Sorgen und Angst schlichen die Stunden dahin, und doch fehlte es auch in ihnen nicht an lichten Momenten Flora Richter brachte sie hauptsächlich hinein mit ihrem ruhigen Gottvertrauen, ihrer unzerstörbaren Hoffnung, ihrer Vernunft und Umsicht und dem immer mit der sichersten Ueberzeugung ausgesprochenem Satze: »Gott hat in noch viel schlimmeren Lebenstagen geholfen, er kann es auch hier thun.« Von ihr holte sich Georg Trost und Hoffnung, zu ihr flüchtete Wendula mit ihrem trotzigen und reuigen Herzen, lauschte mit Thränen und Entzücken den Erzählungen derselben von ihres Vaters Jugend, lernte von ihr es vereinigen, die irrenden Menschen auch in denen zu erkennen, die zu lieben, zu ehren unser Glück, unsere Pflicht ist, und dennoch die Pietät nicht verletzen, die, während sie an den Irrthum glaubt, das Urtheil darüber einem Höheren anheimstellt.
Wendula liebte, ehrte und betrauerte ihren Vater nicht weniger innig, seit sie wußte, daß er nicht mit den richtigen Waffen gegen das Mißgeschick und ihm zugefügte Unrecht gekämpft, daß er freilich keine warmherzige, liebevolle, hingebende Mutter gehabt, daß er aber auch nichts gethan hatte, das Herz, das sich der Liebe verschloß, durch verdoppelte Liebe zu bezwingen.
Sie sah es nicht mehr für ihre Kindespflicht an, seinen Groll in ihr Herz aufzunehmen – der Groll wagt sich von selbst nicht an ein Sterbebett, aber es war ja nicht allein von zu bekämpfendem Groll die Rede, es galt, zu lieben für sich und den Vater, der dahingegangen war, ohne die Versäumniß nachholen zu können.
Wendula bat innig zu Gott, ihr Herz der Liebe zu öffnen.
Einen ähnlichen, wenn auch viel leichteren Kampf hatte Flora Eisenhart zu bestehen. Auch sie hatte nie in Liebe an die Großmutter denken können, aber in ihr Herz war der Groll nicht so gewaltsam hineingedrängt worden. Bei ihr galt es vielmehr, Gleichgültigkeit und schlechte Meinung zu überwinden.
Aber noch einmal, wer steht denn gleichgültig an einem Sterbebett, wer wagt ein Urtheil da, wo Gott nahe ist, den Stab zu brechen oder in Milde zu verzeihen?
Auch Flora hatte keine andere Bitte, als die um Genesung der Kranken, und Georg's Auge, das anfänglich schon zu ihr emporgeblickt, als er ihre wahre Herkunft erfuhr, hatte nicht mehr nöthig, das ihre zu fliehen, aus Angst, einem Blick zu begegnen, der den Sohn verletzen könne.
Gottlob, der Liebe ist nirgends der Weg versperrt, in Hütten und Paläste dringt sie ein, wo Trauer und Freude weilt, überall findet sie ihre Stätte; es giebt kein Unrecht, ja keine Schmach, zu denen sie nicht warmherzig herabsteigen könnte, um Milde an ihnen zu üben Nichts ist so schwer, daß Liebe es nicht vollbrächte, nichts so finster, daß sie es nicht zu erhellen vermöchte. Wem sie ihre Flügel nicht zu geben vermag, dem reicht sie wenigstens die Hand, und wer diese nicht zu fassen versteht, dem wirft sie von Weitem den helfenden Stab zu.
Im Gärtnerhause entfaltete sie aber, trotz Leid und Kummer, trotz Reue und Sorge die Flügel, und es war etwas in jedes Einzelnen Herzen, das allem Weh trotzte. Es war ein Band, das sie Alle umschloß und da, wo es zu reißen drohte, durch Hoffnung festgehalten wurde. Sie hatten Alle einander lieb, so verschieden sie auch dachten, so verschiedene Wege sie auch gingen Es fehlte nur die Mutter, die Kette zu schließen und das Bündniß zu segnen.