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Der kleinen wandernden Gesellschaft auf Rügen hatte das Leben während dessen seine hellste Lichtseite enthüllt und sie mit Allem überschüttet, was den Ausflug nach dem reizenden Eilande im Meer zu einer jener vollkommen gelungenen Unternehmungen machte, an der auch das finsterste Auge nichts Dunkles zu erblicken vermocht haben würde.
Das Wetter, sonst so leicht ein Störenfried auf Reisen, zeigte eine so günstige Laune, daß diese kaum durch die frohe Stimmung der Reisenden übertroffen werden konnte. Jeder Einzelne der kleinen Gesellschaft, in seiner Art durch die Schönheit der Insel bezaubert, fühlte sich zu den besten, freundlichsten Empfindungen der Seele hingerissen und trug zu dem allgemeinen Wohlbehagen bei, ohne es durch eine Aufopferung eigener Wünsche und Neigungen erkaufen zu müssen. Wie verschieden auch die Geistesfunken und die Lichtblitze des Herzens sein mochten, die vom Sonnenschein dieser genußreichen Tage geweckt zu einem glanzvollen Strahl der Freude zusammenströmten, ein Jeder sonnte sich in demselben, ein Jeder reflectirte das empfangene Licht und machte es so wieder zu allgemeinem Eigenthum.
Ob wohl je in wenigen Tagen so viel gelacht und gescherzt, so viel liebkosende, bewundernde Worte verschwendet, so viel kindische Dinge gedacht und gesprochen worden waren, als bei dieser Wanderung durch Rügens Fluren? Und das Alles geschah mit solcher einfachen Natürlichkeit, innerer Frische und ungekünstelter Empfindung, daß es zum wahren Herzensopfer auf dem Altar des Frohsinns wurde.
Wie rüstig Vater Teckels kurzer Trab war, obgleich sein corpulentes Frauchen nicht ganz leicht an seinem Arm hing, wie ihm zu Muthe war, als habe er Flügel an seinen krummen, kurzen Beinchen, und wie sein Beispiel den gravitätischen Hannibal zu ganz außergewöhnlichen Sprüngen hinriß, wie er sie selbst in seiner Jugendzeit, wo er laut Familientradition ein rechter Sausewind gewesen, kaum gewagt hatte; wie Röschen und Lorchen trotz aller physischen Hindernisse zephyrleicht den Rugard hinanstürmten, oder durch die Säle des Jagdschlosses eilten, höchlich amüsirt, dabei trotz der sommerlichen Hitze Filzschuhe anziehen zu müssen, oder wie sie die Hunderte von Stufen durch die Felsen in Stubbenkammer an's Meer herunterstolperten, um überall die Ersten zu sein, und dann, immer von Victor und der Miß längst überholt, mit jubelndem Lachen begrüßt und mit Neckereien überschüttet wurden, die sie in der ersten halben Stunde nicht beantworten konnten aus Mangel an Athem und Mangel an Witz, das war Alles so hübsch und lustig, daß es nirgends und durch Nichts übertroffen werden konnte.
Richter und seine Frau dankten es sich immer gegenseitig, daß sie diese Reise gemacht, Jeder dem Andern das volle Verdienst zuschreibend und durch die Empfindung der Dankbarkeit den empfangenen Genuß noch erhöhend. Lorchen war so vergnügt, wie sie es ohne ihren blonden Candidaten, der jetzt ein Prediger geworden war, nur sein konnte. Arm in Arm mit der Schwester gehend, genossen Beide die reizende Gegenwart und träumten unter Erröthen und Lachen von der Zukunft. Sie plapperten unaufhörlich, laut und leise, drehten dabei die Troddeln ihrer Mantillen mit einer ihren Nasen gefahrdrohenden Schnelligkeit im Kreise umher, fingen jeden Satz mit »weißt Du, Röschen,« und »weißt Du, Lorchen,« an, und wenn die Eine eine tiefsinnige oder poetische Bemerkung über das trautste Eiland oder das liebe Papachen und Mamachen oder das himmlische Mädchen, die Miß, über die einzigen Muschelchen am Strande oder den koddrigen Sand gemacht, so sagte die Andere gewiß: »Du hast, recht, Duchen,« und empfing im entgegengesetzten Fall dafür auch das ihr zukommende »Du hast recht,« mit irgend einem Liebeswort und dem dazu gehörigen unvermeidlichen chen.
Die Schwestern waren unzertrennlich, sie theilten Worte, Blicke und Empfindungen; ihr Entzücken, ihre Freude war gemeinschaftlich, ja gemeinschaftlich ließen sie auch den Plaid der Mama in's Wasser fallen, als bei der Ueberfahrt über den Jasmunder Bodden ein gemeinschaftlicher Anfall von Enthusiasmus sie zu gleicher Zeit veranlaßte, ihn los zu lassen und während dessen die Hände zu einem staunenden und kräftigen Ineinanderschlagen zu verwenden, eine Action, durch die sie gleichfalls gemeinschaftlich ihr Entzücken über die Ueberfahrt ausdrückten.
Sie waren unzertrennlich, ebenso die Miß und Victor, wenn diese auch nicht in jedem Augenblick und in so seltsamer Weise ihre Freude zeigten.
Kann es denn aber für zwei Menschen, die sich täglich, stündlich lieber gewinnen, die es in jedem Augenblick mehr erkennen, daß sie zu einander gehören und sich die Bestätigung dieses Glückes gegenseitig aus den Augen lesen, kann es für Solche etwas Reizenderes geben, als der freie, von jedem conventionellen Anspruch erlöste Verkehr, inmitten einer schönen, reichen, zur Freude und Bewunderung auffordernden Natur?
Der Zauberbaum der Poesie, von dem selbst Lorchen einige grüne Zweige für ihr Album gepflückt, als vor zehn Jahren ihr glatt gescheitelter blonder Freund sie zum ersten Mal durch seine Brillengläser ansah, überschüttete das Meer und den Wald, die Felder und Höhen mit Blüthen, und jedes einzelne rief dem jungen Paare die heitere Botschaft ihrer glücklichen Liebe zu.
Der Schlaukopf der Familie, Röschen, hatte es übrigens herausgebracht und Lorchen vertraut, daß, wie sie sich ausdrückte, der Musikus und die Miß bei dem Concert des Lebens von einem Notenblatt läsen, ein Vergleich, den Lorchen gleich in ihr Tagebuch schrieb, in welchem sie die Geistesblüthen der begabteren Schwester zu sammeln pflegte, ob für den Candidaten, ob für die Nachwelt, ob als Hausschatz einer künftigen Familie, mochte sie wohl selbst nicht wissen.
Lorchen hatte es erst gar nicht glauben wollen, daß Herr König wirklich die Miß liebe. Sie hatte auch ihre Beobachtungen gemacht und ein verfängliches F, das Victor mitunter in den Sand malte, war von ihr auf die überseeische Cousine bezogen worden. Aber auch für dies verrätherische und bedenkliche F, bei dem Röschen einen Augenblick stutzte, fand der erfinderische Kopf derselben schnell eine Erklärung, und die Annahme, daß es kein F, sondern ein Violinschlüssel sei, war schlagend genug, Lorchen von dem Glauben zurückzubringen, daß Victor's Herz ein »ausgewandertes« sei. Röschen fand vollen Glauben, wenn sie sagte:
»Herr König und Ellen lieben sich, ich weiß das. Ich will ein Paar Liebesleute erkennen und wenn sie in meiner Gegenwart kein Wort mit einander sprechen. Ich habe darin meinen Instinct, wenn auch keine Erfahrung.«
Es ist wahr, aus Erfahrung konnte Röschen ihre Weisheit nicht schöpfen. Sie war nie in der Lage gewesen, einen Liebhaber zu ihren Füßen zu sehen, ihre zärtlichen Gefühle hatten die engen Räume des Hauses nur verlassen, um sich wie ein Regenbogen über den ganzen Horizont zu spannen, Allen, aber nicht einem Einzelnen hell in die Augen zu leuchten. Es half mit, den Ruf ihres Verstandes in der Familie zu begründen, daß sie ihr warmes Herz so unangefochten durch die Wogen des Lebens brachte, ohne es in denselben zu verlieren oder zu erkälten, während es doch nur ein glückliches Naturell war, das sie von Wünschen zurückhielt, zu deren Erfüllung es ihr wenigstens an allen äußeren Ansprüchen gebrach. Von jeher hatte sie gesagt: »Ich heirathe nicht, ich bleibe bei Vaterchen und Mutterchen, Ihr sollt sehen, ich halte Wort.«
Aber wenn auch selbst frei von verliebten Thorheiten, hatte sie doch ein unsagliches Interesse daran, sie aufzuspüren und zu beobachten. Sie war immer die Erste gewesen, die es bei ihren drittehalb Dutzend Freundinnen gemerkt, wann ihre Stunde geschlagen. Sie hatte es auch Lorchen gesagt, als der Candidat Feuer fing. Sie sah es an der weißen Kravatte, an dem starken Verbrauch des Haaröls, merkte es an dem rothseidenen, in Moschus-Essenz getauchten Taschentuch. Sie sagte es dem ahnungslosen Schwesterchen auf den Kopf zu, daß ihr alle diese Zeichen gälten, und fachte, dadurch die verborgene Flamme in dem jungen Herzen an. Es gehörte aber doch gewiß viel Klugheit dazu, eine Liebe schon zu merken, ehe sie noch vorhanden ist, besonders wenn man sich selbst so unberührt von dieser süßen Leidenschaft gehalten hat. Seitdem war ihre Entscheidung in Liebessachen für Lorchen immer eine in letzter Instanz.
Welch eine Quelle neuen Vergnügens war es nun für die Schwestern, das Pärchen zu beobachten, ohne doch zu thun, als bemerkten sie das Mindeste. Welche erstaunlichen und tiefen Forschungen stellte Röschen an, wie lauschte Lorchen den Offenbarungen, die ihr eine zehnjährige Praxis nicht gebracht und die alle der Schlaukopf errieth. Welche beredten Blicke tauschten sie mit einander aus, wie traten sie sich auf die Füße und stießen sich verstohlen mit den Ellbogen an, wenn Victor oder die Miß, ohne es zu ahnen, wieder einen Beitrag zu den Lectionen in der Seelenlehre gaben, über die Röschen ihrer Schwester Vorträge hielt, wie konnten sie es gar nicht erwarten, daß eine Aussprache erfolgen solle, und wie gutwillig gaben sie dem Pärchen Gelegenheit dazu, indem sie sich immer außerhalb der Gehörweite hielten, ein jedes Gespräch, das Victor oder Ellen mit ihnen anknüpfen wollte, kurz abbrachen und immer dafür sorgten, die Eltern auf Naturschönheiten aufmerksam zu machen, die im Rücken des Liebespaares zu bewundern waren.
Nun war aber zufällig eine Aussprache schon erfolgt, noch ehe Röschen sich bewogen fühlte, sich der Liebenden in dieser Weise anzunehmen, und ihr Bemühen war nun auch wieder nichts als eine neue Quelle der Heiterkeit für Viktor und die Miß, die sich höchlich über die guten, lieben, einfältigen Geschöpfe und über die Bärengrazie amüsirten, mit der sie Amor in's Handwerk zu pfuschen versuchten.
Trotz aller Aufmerksamkeit war dem Schlaukopf doch ein gewisser Moment entgangen, ein Sonnenuntergang am Meeresstrande, wo Wellen und Himmel sich in glühendem Kuß vereinigten und der Wind, der leise über die See strich, den Segen dazu sprach.
Da faßte Victor Ellen's Hand.
»Darf ich es Dir denn nicht endlich sagen, daß ich Dich liebe?« fragte er.
»Wer hat es Dir denn gewehrt?« fragte sie lächelnd dagegen.
»Ich weiß es selbst nicht,« entgegnete er, »Rücksicht auf die Pläne und Wünsche einer Wohlthäterin, die Furcht, einem Freunde einen Schatz zu rauben, eine immer wieder auftauchende Bedenklichkeit, als könne man mich falschen Spieles beschuldigen –«
»Thorheit!« unterbrach sie ihn, »was gelten Rücksichten, Furcht und Bedenklichkeiten in der Liebe! Die spricht nur vom Herzen zum Herzen und soll keine Anderen und nach nichts Anderem fragen. Wenn Du mich lieb hast und ich Dich, wen kann es kümmern, als uns allein und den Himmel, der sich über uns wölbt?«
Weiter konnte sie in dem Augenblick nicht sprechen, denn Vater Richter mahnte an den Heimweg, und Lorchen kam, ihnen zu erzählen, daß die Sonne untergegangen und daß dies ein sehr hübsches Schauspiel am Meere sei, eine eben so unbestreitbare, als interessante Wahrheit.
Aber nun sie es sich einmal gesagt, daß sie einander lieb hatten, nutzten sie die Minuten, es sich zu wiederholen, ja, sie fanden sogar Gelegenheit, sich im Rücken ihrer Reisegesellschaft und angesichts des Himmels zu umarmen, und gerade weil der Augenblick im Fluge erhascht und erfaßt werden mußte, galt das Glück, das er gewährte, um so höher.
Sie hatten aber auch viel Ernstes mit einander zu sprechen über ihre eigene wie über die Zukunft Georg's, dessen Lieblingsangelegenheit Victor um so schwerer auf dem Herzen lag, als die seine ein so glückliches Ziel gefunden hatte.
Allerdings beruhigte ihn Flora's Versicherung sehr, daß sie den Mittheilungen ihres Oheims zufolge keineswegs die reiche Erbin sei, für welche sie in den Augen der Welt galt. Zu schnell und in zu gewagter Weise hatte Thomson seinen Reichthum gewonnen, um nicht auch in dem kühnen Glücksspiel die härtesten Verluste befürchten zu müssen, versagte das Schicksal ihm seine fernere Gunst.
Es war geschehen, das Glücksrad rollte unaufhaltsam bergab, und er griff nach jedem Mittel, es in seinem Sturz zu hemmen. Es war noch ein Act der Fürsorge für die Nichte, die sein Leichtsinn zur Bettlerin gemacht, daß er sich beeilte, die projectirte Heirath mit Georg zu Stande zu bringen, ehe die zerrütteten Verhältnisse der Braut zu Tage kämen. Er fand die Handlungsweise so natürlich, daß er Flora's Weigerung, sich seinem und der Großmutter Beschluß zu unterwerfen, am leichtesten durch Darlegung des ihn dabei leitenden Motivs zu erschüttern hoffte. Wie Frau Artefeld in Georg, hatte er sich in Flora verrechnet. Wie Georg's Seele sträubte sich auch die ihre gegen die ihr zugemuthete Täuschung, und es hätte des goldreinen Schildes der Liebe bei Beiden nicht bedurft, sie vor unredlicher Handlung zu schützen.
»Gottlob, daß es so ist!« sagte Victor, als sie ihre Mittheilung geendet, »ich hoffe, Frau Artefeld beruhigt sich nun über das Scheitern ihres Projectes, und mein Glück wird durch keinen zürnenden, vorwurfsvollen Blick von ihr, die doch einmal meine Wohlthäterin ist, getrübt. Ich wollte nur, wir könnten Wendula in den Besitz des Vermögens bringen, das sie bei Dir voraussetzt, denn ich sehe sonst keinen Weg, das arme Kind in das stolze Haus der Artefeld zu führen.«
»Gold öffnet den Eingang, und eine Dornenhecke sperrt den Ausgang ab,« sagte Flora gedankenvoll, »und doch weiß ich Welche, die lieber durch die Dornen brachen, als in der kalten Atmosphäre lebten, in der die Hüterin des Hauses das goldene Scepter schwang. Wer weiß, ob es sie nicht auch einmal hinaustreiben wird aus dem goldenen Hause auf den dornigen Weg, denn es giebt eine Vergeltung, und sie hat Manches gethan, was Strafe verdient. Es widerspräche der Gerechtigkeit Gottes, ließe er sie glücklich sein bis an's Ende, sie, die Keinem, der um sie war, ein Glück gestattete.«
»Flora,« unterbrach Victor sie ernst, »könnte Dir das eine Genugthuung sein, bedarfst Du einer solchen, selbst für das Deiner Mutter zugefügte Leid?«
»Nein, nein,« entgegnete das Mädchen hastig, »verzeih! Mag sie ihr Glück behalten bis an's Ende, ich beneide es ihr nicht«
»Ihr Glück?« wiederholte Victor, »worin besteht es denn? Hat es sie je einen Augenblick froh gemacht? Ach, Flora, die Gerechtigkeit Gottes liegt ganz wo anders als da, wo wir sie im Allgemeinen suchen. Wir Menschen arbeiten uns Gesetze der Moral aus und ersinnen Strafen, einen Fehl dagegen zu verhüten und zu rächen, Gott pflanzte das Gewissen in unsere Brust und läßt uns ernten, was wir gesäet haben. Das ist seine Gerechtigkeit. Giebt es eine natürlichere, eine gerechtere und unvermeidlichere Strafe für willkürliche Nichtachtung aller Herzensrechte, als die tiefe Herzenseinsamkeit, die Folge dieser Willkür ist? Es müssen wenigstens Zwei sein, die ein Glück theilen, es im gleichen Lichte sehen, für Einen allein giebt es keins, da giebt es nur Schimmer und Tand.«
Victor und Flora kamen überein, ihre Verlobung, sowie auch Flora's Herkunft, jetzt nur noch so lange geheim zu halten, bis sich Georg's und Wendula's Schicksal würde entschieden haben. Obgleich Beide wußten, wie frei Georg gehandelt, wie wenig er eine Verpflichtung für Flora anerkannt und wie durchaus einflußlos ihre Entschlüsse, ihr Schicksal auf seine Handlungsweise, sein Empfinden war, wollten sie doch seiner Mutter noch jeden Scheingrund zu einem Vorwurf rauben.
Das Geheimniß war zudem so süß, wozu vor der Zeit den Schleier lüften, wozu täppischen Händen das Hineingreifen in die verhüllende rosige Wolke eher gestatten, als es durchaus nöthig war? Ja, es war vielleicht der unwiderstehliche Zauber, die Macht dieses Geheimnisses, was Victor und Flora veranlaßte, durch immer neue Vorschläge zu Ausflügen ihren Aufenthalt auf Rügen zu verlängern, ohne Georg's zu gedenken, ohne für etwas Anderes zu leben als für den Augenblick, oder gar im Vollgenuß eigenen Glückes Betrachtungen anzustellen und Entschlüsse zu fassen, die nur zum Zweck haben konnten, Anderen im Namen der Vernunft ein gleiches Glück zu bereiten.
Es waren übrigens doch immer nur Tage zu gewinnen und zuletzt nicht mehr zu widersprechen, als Richter und seine Frau die Rückkehr nach Häringsdorf als nothwendig aussprachen, da ihre selbst gegebene Ferienzeit ablief und Richter es an der Zeit fand, zu seinen Geschäften zurückzukehren
So war denn der Morgen der Abreise bestimmt, der letzte Nachmittag in Putbus da, und die Wagen zu einer letzten Spazierfahrt standen vor der Thür, obgleich drohende Wolken am Himmel heraufzogen und mit um so bedenklicheren Blicken von Vater Richter betrachtet wurden, als Hannibal Gras gefressen und es sich zuweilen nach einem solchen Ereigniß begeben hatte, daß die Wolken sich in Regen entluden. Man versteht aber die Kunst des Reisens schlecht, wenn man sich durch eine Regenwolke von einem projectirten Ausflug abhalten läßt, und so war diese denn auch keineswegs schuld daran, daß die kleine Gesellschaft noch zögernd im Zimmer verweilte und die Wagen auf sich warten ließ.
Man wartete auf Röschen, die seit Stunden schon fort war, um ihr Album durch eine der Zeichnungen zu bereichern, in denen sie einst, mit Hülfe ihrer Phantasie, Ansichten von Rügen zu erkennen hoffte; man wartete aus Victor, der eben Briefe erhalten und sich zur Lesung derselben auf sein Zimmer zurückgezogen hatte.
Vater Richter fing schon an ungeduldig zu werden und auf Röschen zu schelten, was nur die gewöhnliche Wirkung auf seine Frau hatte, ihr harmloses, freundliches Gesicht noch harmloser und freundlicher zu machen, trotz seiner Behauptung, daß ihre Verwöhnung der Sünderin an der Nachlässigkeit derselben schuld sei. Er steigerte seinen künstlichen Zorn auch nur, um zu verbergen, daß er Lorchens Besorgnisse theilte, die in dem längeren Verweilen der Schwester alle möglichen und unmöglichen Fährlichkeiten ahnungsvoll voraussah.
Während er auf das trautste Kind schalt, das sonst gar keinen Fehler hatte als den, daß es bei der Ausübung seiner Talente Alles um sich her vergaß und alle Beurtheilung der Zeit verlor, trippelte er mit seinen kurzen Schrittchen im Zimmer hin und her, wobei die Miß ihm mit ihren lustigen Augen und Hannibal mit seiner ganzen schwerfälligen Person folgte, und trat alle Augenblicke an's Fenster und spähte auf den Weg hinaus.
Da trat Victor eilfertig ein. Er sah sehr erregt aus, und ohne an Flora's Incognito oder ihr Verhältniß zu ihm zu denken oder es zu berücksichtigen, sagte er hastig:
»Es geht noch heut ein Dampfschiff nach Swinemünde ab, kannst Du mich dorthin begleiten, Flora? Deine Großmutter ist in Häringsdorf, sie schreibt an mich, sie braucht Hülfe, Trost, mehr als sie es eingestehen will, Dein Verschwinden beunruhigt sie, wir könnten ihr wenigstens die Unruhe von der Seele nehmen.«
Eine beistimmende Geberde seiner Braut war die Antwort, das nicht zu beschreibende Erstaunen auf den Gesichtern der Anderen heischte jedoch eine weitere Erklärung.
»Flora Eisenhart und meine Braut,« sagte er, auf die vermeintliche Miß deutend, »alles Uebrige nachher.«
Es würde ihm auch im Augenblick Keiner zugehört haben, selbst wenn er hätte Erklärungen geben können und wollen, denn Flora lag schon in den Armen ihrer älteren Namensschwester und Tante und wurde aus diesen nur entlassen, um an Herrn Richters breite Brust und an Lorchens bräutliches Herz gedrückt zu werden, das kaum weniger zärtlich für sie schlug, als für ihren schüchternen Verlobten.
»Geahnt habe ich es nicht, welches Recht Du an meine Liebe hattest, Du liebes Kind,« sagte Flora Richter, »obgleich es mir ein paarmal, besonders als Du zuerst mit Victor zusammenkamst, so schien, als umgebe Dich ein Geheimniß; aber auch ohne es zu ahnen, habe ich es Dir eingeräumt. Warum aber dies Geheimniß? Trautest Du Deinen nächsten Verwandten nicht?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte,« sagte die Angeredete halb lachend, halb in Thränen, »aber zu Euch gekommen bin ich ja nur, weil ich keinem Andern so traute wie Euch, bei keinem Andern Schutz suchen mochte.«
»Schutz? Du hast also des Schutzes bedurft?« sagte Herr Richter und öffnete noch einmal die Arme.
»Ja, aber jetzt habe ich meinen besten und eigentlichen Schützer gefunden,« antwortete Flora Eisenhart, mit freudestrahlenden Blicken auf Victor deutend; dessenungeachtet sich aber doch nochmals in die geöffneten Arme Richter's schmiegend, fuhr sie freundlich fort: »Nächst ihm seid Ihr mir aber die Liebsten auf der Welt, Du, Onkel Richter, und Tante Flora und die einzig lieben, guten Mädchen. Bei Euch habe ich zum ersten Mal seit meiner Kindheit wieder das Gefühl gehabt, irgendwo zu Hause zu sein.«
»Gottchen, Gottchen, und was haben wir denn für sie gethan!« sagte Herr Richter.
»Ihr habt mich lieb gehabt, kann man einem Menschen Besseres geben?« fragte Flora Eisenhart dagegen.
»Und nun will Der sie uns nehmen, nun wir sie kaum gefunden haben!« drohte Vater Richter zu Victor hin; »aber wie ist mir denn, soll nicht Georg die Cousine heirathen? Kinder, Kinder, wie werdet Ihr es anfangen, etwas zu thun, was Frau Artefeld nicht will, und den armen Jungen, den Georg, um solche Braut bringen? Herr König, Herr König, Nichte Florchen, habt Ihr das schon bedacht?«
»Alles bedacht,« sagte Flora.
»Und Alles nachher zu erläutern,« unterbrach sie Victor.
»Vorläufig nur die Erklärung, die dieser Brief giebt, er enthält traurige Dinge. Ach Flora,« wandte er sich an seine Braut, »Du wirst nicht mehr sagen: soll sie glücklich sein bis an's Ende? Man möchte vielmehr fragen, warum muß ihre Strafe zugleich ihm, dem armen, unschuldigen Jungen, das Herz brechen?«
Dann entfaltete er ein eben empfangenes Schreiben der Frau Artefeld und las wie folgt:
»Du mußt augenblicklich zurückkommen, Victor. Traurige Nachrichten, die man mir von Breslau nachgesendet, rufen mich dorthin. Es bricht viel auf einmal über mich herein. Der Bankerott und dass schmähliche Entweichen Mr. Thomson's bringt meinem Hause die größte Gefahr, veranlaßt vielleicht auch meinen Sturz. Flora Eisenhart, zu deren Empfang ich mich mit Georg nach Hamburg begeben wollte, entzieht sich meinem Schutz, und Gott weiß, wo sie umherirrt, meinen Georg finde ich in die unwürdigsten Verhältnisse verstrickt, und meine Bemühungen, ihn denselben zu entreißen, führen, mir zum Hohn und Trotz, den Tod des jungen Mädchens herbei, dem es gelungen war, sein kindisches Herz und seine unreife Phantasie zu berücken.
Gott verzeihe denen, die diese wahnsinnige Liebe entstehen sahen und nichts thaten, sie zu verhindern!
Das Mädchen, von dem ich rede, hat sich in den Schmollensee gestürzt, bis jetzt bietet Georg noch vergebens Geld und Kräfte auf, die Leiche dem selbstgewählten Grabe zu entreißen. Er will nicht fort, ehe es ihm nicht gelungen, und ich kann nicht länger bleiben, es ist auch vielleicht für mich nichts mehr zu retten als mein guter Name.
So sehr Dich also auch der Kreis der mir feindlich gesinnten Personen, in dem Du Dich jetzt bewegst, fesseln mag, erweise mir den Dienst und komme Den zu überwachen, der, wenn Du es früher gethan hättest, vielleicht vor großem Leid und Unrecht hätte bewahrt werden können.«
Der Brief war zu Ende. In tiefem, betrübtem und erschrockenem Schweigen standen die Zuhörenden. Es waren der schmerzlichen Eindrücke fast zu viel, um einem derselben Worte geben zu können.
Die stolze Frau, die weder vor Menschen noch vor Gott das Haupt gebeugt, sah man darniedergeschmettert und doch sich noch wehrend vor dem Fall oder wenigstens dem Eingeständniß desselben, das hoffnungsvolle Dasein Georg's in der Blüthe vergiftet und Wendula – schaudernd wendete sich der Blick ab von der Nacht der Verzweiflung, die eine so unheilvolle That heraufbeschworen hatte.
Endlich sagte Flora Eisenhart, zu dem ersten Eindruck zurückkehrend:
»Herr Gott, auch jetzt noch hat sie Anklagen für Andere, sieht sie die eigene Schuld nicht ein!«
»Kindchen, Kindchen, halt! Sie ist unglücklich!« wehrte Vater Richter der Entrüstung des Mädchens. »Jetzt keinen Tadel über sie, jetzt nur daran denken, wie ihr geholfen werden kann!«
»Wir wollen Alle Herrn König begleiten,« sagte Lorchen.
»Ja, das wollen wir,« stimmte ihre Mutter bei. »Wir wollen für den Fall der Noth zur Hand sein, aber unvorbereitet dürfen wir ihr nicht vor die Augen treten. Es könnte sie nur verletzen, uns jetzt zu sehen.«
Vater Richter trippelte wieder unruhig in der Stube hin und her, dann sagte er zu Victor:
»Können Sie es nicht veranlassen, daß sie bei dem Sohn bleibt und mir ihre Angelegenheit überläßt? Ich habe Erfahrung und ruhiges Blut, weiß auch, was Recht und nöthig in solchen Fällen ist. Sie will Keinen zu kurz kommen lassen, das ist respectabel, das heißt, es ist natürlich,« setzte er rasch hinzu, sich erinnernd, daß auch er einst so gehandelt habe und daß sein Lob wie Selbstlob aussehen könnte – »sie will Keinen zu kurz kommen lassen, darauf würde ich volle Rücksicht nehmen, aber ich könnte zugleich ihr eigenes Wohl besser als sie selbst im Auge haben, denn ein kummervoller Mensch denkt am wenigsten an seinen Vortheil. Wer weiß, ob es so schlimm mit ihr steht, Frauen verlieren leicht den richtigen Maßstab in dergleichen Dingen. Gottchen, Gottchen, wenn sie mich doch zu ihrem Geschäftsführer machen wollte!«
Victor schüttelte bedenklich den Kopf.
»Ich könnte ihr auch anders als mit gutem Rath helfen,« fuhr Richter fort, »ich stehe jetzt anders da als damals, wo ich ein armer Buchhalter war. Wollte sie mich nur als Schwiegersohn anerkennen, dann würde sie sich vielleicht entschließen, sich von mir helfen zu lassen.«
»Hier, Flora muß für uns bitten!« sagte Flora Richter, auf ihre Nichte deutend. »Sie kann es am besten, sie ist jetzt bei uns gewesen, wir geben ihr den Auftrag, für uns um Verzeihung zu bitten. Das Andere kommt nachher. Es wird ihr aber wohlthun, jetzt, wo sie so tief gebeugt ist, wo sie, ohne daß sie eine Selbstanklage, einen Selbstvorwurf eingesteht, doch Beides empfindet, es wird ihr wohlthun, sich an der Verzeihung aufrichten zu können, die sie uns gewährt.«
»Aber was soll sie Euch denn verzeihen?« fragte Lorchen, die den Gedankengang der Eltern nicht verstand.
»Herzensseelchen, das ist ja ganz gleich, es soll ihr ja nur geholfen werden,« erklärte Vater Richter.
»Ich habe Vaterchen gegen ihren Willen geheirathet,« fuhr seine Frau in der Erklärung fort, »bereut habe ich es nie, aber ich will es mir herzlich gern jetzt verzeihen lassen, wenn sie den Schwiegersohn zu ihrem eigenen Nutzen und Frommen anerkennen will.«
»Machen Sie nicht solch ungläubiges Gesicht, bestes Mannchen,« sagte Herr Richter zu Victor gewendet. »Es kann doch immer ein Versuch gemacht werden, sich ihr zu nähern. Will sie nicht darauf eingehen, so müssen wir es auf andere Weise versuchen, ihr nützlich zu sein. Es ist nicht schwer, ihr ein X für ein U zu machen, es ist vielfach geschehen. Ich hab's zwar nie gethan und auch nicht gelitten, wo ich es verhindern konnte, aber diesmal würde ich es. Erschrick nicht, Frauchen, daß Du solchen Banditen zum Mann hast.«
Flora Richter schien durchaus nicht erschrocken, sie ergriff die Hand ihres Mannes und küßte sie mit der Ehrfurcht eines Kindes.
In dem Augenblick kam auch Röschen von ihrem Ausflug zurück, athemlos und erhitzt vom raschen Gehen, und auf dem Gesicht eine ganze Liste von Neuigkeiten. So groß aber auch die Lust zur Mittheilung sein und was sie auf ihrem einsamen Spaziergange erfahren haben mochte, die Neugier war noch größer, denn daß auch hier sich irgend etwas Wichtiges ereignet haben mußte, sah der Schlaukopf ja mit dem ersten Blick den Gesichtern an.
»Vaterchen, Mutterchen, Lorchen!« Mit den Worten kam sie hereingestürzt, aber dann folgte ein Stehenbleiben, ein verwundertes Umsichschauen und die hastige Frage: »Was ist los?« während ein Victor und die Miß streifender und dann auf Lorchen gerichteter Blick zu fragen schien: »Ist's richtig mit den Beiden?«
»Mit uns Beiden ist's richtig,« lachte Flora Eisenhart, die Frage in Röschens weit geöffneten Augen lesend, »aber das ist noch nicht Alles. Ich bin nicht nur Victor's Braut, ich bin auch Deine Cousine, Flora Eisenhart, und mache als solche meine verwandtschaftlichen Rechte an Dein freundliches Herz geltend.«
»Cousine Flora? Ei wo!« sagte Röschen, aber dann öffnete sie ihre Arme, um für eine ziemlich lange Weile die Gestalt ihrer neuen Verwandten unter ihrer Spitzenmantille und den darunter wogenden Gefühlen verschwinden zu lassen, ließ sie dann los, um sie noch einmal mit aller Kraft an sich zu drücken, und als sie mit diesem Zeugniß für die Elasticität von Flora's Gliedmaßen, die wirklich unzerbrochen aus dieser Umarmung hervorgingen, zufrieden, beendigte sie mit einigen sehr energischen Küssen auf Flora's Lippen und Wangen diesen Act der Anerkennung verwandtschaftlicher Rechte.
»Hab' ich's nicht immer gesagt, daß mit ihr etwas Besonderes los sein mußte, hab' ich nicht?« wendete sie sich an Lorchen.
»Ja, Du hast, kluges Seelchen,« bestätigte diese die Vorahnungen des Schlaukopfes, die um so eher eingetroffen waren, als sich Röschen nie herbeigelassen hatte, sich näher über die Art der Vermuthung auszusprechen, wahrscheinlich um die Möglichkeit des Eintreffens nicht unnütz zu erschweren, »ja, Du hast, aber Du weißt noch lange nicht Alles.«
»Und will es auch jetzt nicht wissen, jetzt müßt Ihr mich erst hören. Denkt Euch, wer hier ist!«
»Theodor?« rief Lorchen. Das arme Ding dachte an den Candidaten.
»O Gott nein, o nun hab' ich Dir eine vergebliche Freude gemacht,« sagte Röschen bedauernd. »Nein, nein, Georg und das hübsche junge Mädchen aus der Försterei.«
»Wendula?« rief Victor erstaunt aus.
»Was schreibt denn die Großmama da, daß sie todt sei?« setzte Flora Eisenhart hinzu.
»Todt? Sie ist so lebendig, wie ich selbst,« behauptete Röschen, »aber nein, so lebendig nicht, denn sie sieht so blaß aus, daß ich sie erst gar nicht wiedererkannte. Sie saß vor dem reizenden kleinen Gärtnerhäuschen, an dem wir nie vorbeigehen können, ohne es zu bewundern, ich habe es auch gezeichnet, ich werde es Euch nachher zeigen. Ja, da saß sie neben dem alten Frauchen, das uns immer so freundlich grüßt, aber als ich stehen blieb und sie anrief, wurde sie erst noch blasser, dann dunkelroth und stand auf und lief in das Haus hinein. Es war nur wegen der Spazierfahrt, daß ich ihr nicht nachging, aber ich dachte, ich wollte es Euch erst sagen und dann wieder hingehen, denn wissen möchte ich doch, weshalb sie hier ist.«
»Aber Georg?« unterbrach Victor den Redestrom der Erzählerin.
»Ja, Georg muß mit dem Dampfschiff angekommen sein, er kam auf dem Wege daher und hatte eine alte Dame am Arm, die sehr stattlich und stolz, aber auch so blaß aussah, als sei sie krank, und auch Georg war ganz verändert. Ich sah ihn nur von Weitem, aber ich erkannte ihn gleich und blieb stehen, weil ich natürlich glaubte, daß er unsertwegen hierher gekommen sei, und ihm den Weg zeigen wollte, aber, siehe da, während ich noch wartete, bog er nach dem Gärtnerhäuschen ein und war in demselben verschwunden, ich weiß nicht wie. Ich aber lief hierher, um Euch nur rasch Alles zu erzählen und mit Euch zu berathen, was zu thun sei.«
Alles Berathen schien jedoch unnütz, denn Victor hatte schon seinen Hut in der Hand und war an ihr vorbeigestürmt, ehe sie noch ihre Rede geendet.
»Er wird die Lösung des Räthsels bringen,« sagte Flora Eisenhart beruhigend zu Röschen, auf deren gutem, ehrlichem Gesicht unverkennbar einige Enttäuschung zu lesen war, »bis er wiederkommt, laß uns Dir erklären, welch ein doppeltes Recht wir hatten, über Deine Nachrichten erstaunt und erfreut zu sein.«