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VIII.

»Verachtet von den Großen, von den Kleinen heiß geliebt –
»Sagt, ob es für das Neue einen andren Weg wohl giebt?
»Verraten von den als Wache Berufenen am Tor –
»Sagt, steigt nicht immer wieder die Wahrheit empor?
»Erst wie ein leises Sausen im Sommerkorngefild –
»Das dann zum mächtigen Brausen durch Waldesdickicht schwillt,
»Als Meeresdonnerrollen zum Schluß die Welt durchdröhnt
»Und siegend alles, alles gewaltig übertönt. (Björnson.)

Vielleicht klingt es anmaßend, wenn ich das schöne Gedicht von Björnson hier zitiere, aber immer wieder geht es mir durch den Kopf und das gibt mir neuen Mut, wenn ich verzagen möchte an der guten Sache, für die ich mein Leben einsetze, wenn die Flügel meiner Seele erlahmen wollen, wenn ich, ach, so oft, mich falsch verstanden sehe, »verraten von den als Wache Berufenen am Tor«.

So viele Liebesbeweise gerade von denen, die die Welt verachtet, wurden mir in der schweren Zeit zu Teil, daß mein Glaube immer aufs Neue gestärkt wurde.

Ein armes Dienstmädchen, das ich bei einer guten Herrschaft untergebracht hatte, erfuhr von meiner Krankheit und benutzte einen freien Nachmittag, um mich im Krankenhaus zu besuchen und mir Wein und Blumen zu bringen.

Gleich ihr kamen viele Andere, sogar eine von unseren ganz Unverbesserlichen, die zwar nicht in sich gehen, aber mir doch eine Flasche Himbeersaft als Zeichen ihrer Teilnahme bringen wollte.

Ganz von Reue erfüllt, besuchte mich ein wegen Gewalttätigkeiten vielfach bestrafter junger Mann, auf dessen Besserung ich kaum zu hoffen gewagt hatte und teilte mir mit, daß er mir viel Schlechtes nachgesagt hätte. Jetzt, da er von meiner Krankheit und meinem Rücktritt vom Amt gehört hatte, schlug ihm das Gewissen und er empfand seine Undankbarkeit, denn er war wirklich durch mich auf einen besseren Weg gekommen. Er bat mich sehr, ein kleines Geschenk als Zeichen von ihm anzunehmen, daß ich ihm sein Unrecht nicht nachtrage.

Auch eine Kellnerin empfand Reue darüber, daß sie mich eine Zeitlang vielfach verläumdet hatte, weil ich ihr einmal zu streng ins Gewissen geredet hatte. Alle bedauerten aufrichtig, daß ich nicht mehr in meinem Amt, in dem sie mich kennen und lieben gelernt, tätig sein konnte.

Sehr interessant sind die verschiedenen Briefe meiner weiblichen und männlichen Schützlinge, die mir Trost zusprechen. Da schrieb mir ein alter Bekannter, der wiederholt wegen Diebstahls und Unterschlagung im Gefängnis war, seit einigen Tagen erst wieder nach längerer Zeit die Luft der Freiheit atmete und in Herbergen und Kneipen von seinen »Kollegen« über meine Verfolgungen gehört hatte:

»Beste Schwester Henny!

Heute früh wurde ich von der Staatsanwaltschaft wieder freigelassen. Es ist dies wohl das erste Mal, daß man meinen Angaben Glauben schenkte. Wie ich erfahre, sind Sie krank gemacht worden. Es tut mir leid um Sie, daß Sie der Arbeit müde geworden sind, jedoch glaube ich immer noch, daß Sie nach Ihrer Genesung doch keine Ruhe haben, bis Sie wieder sozial wirken können oder eine richtige Frauenrechtlerin werden. Werden Sie bald wieder gesund, Schwester Henny, und lassen Sie es sich nicht zu Herzen gehen, wenn neidische Menschen Ihre Arbeit und Handlungen herabsetzen. Ich habe es in meinem Leben schon erfahren, daß gerade solche Individuen, die am Anfang den Mund nicht zum Schweigen bringen können, im Ernstfall nicht auf der Zeugenbank, sondern im Zuhörerraum zu finden sind. Dies alles sind nur kleine Hindernisse auf Ihrem Lebensweg, denn Sie haben bewiesen, daß Sie zu arbeiten verstehen, und solchen Persönlichkeiten ist der Sieg immer gewiß, wenn er auch zuweilen in unabsehbarer Feme am Horizonte schwebt. Sie waren immer bestrebt, uns Gutes zu tun. Ich will Ihnen nicht schmeicheln, das liegt mir fern, aber was ich sage, ist doch bezeichnend für Ihren Charakter, den man bestrebt ist in den Schmutz zu ziehen. Gestern wurde ich wegen Verdacht eines Einbruchdiebstahls wieder auf die Polizeiwache gebracht. Wie ich da unter so vielen Lumpen sitzen mußte, habe ich an Sie gedacht und Sie bedauert und bewundert, daß Sie jahrelang freiwillig unter solchen Lumpen gelebt und gewirkt haben. Werden Sie nun bald gesund, ich will Ihnen auch öfters schreiben.

In dankbarer Hochachtung
Ihr
Ludwig B....«

Ludwig B. hat allerdings besondere Veranlassung, mir dankbar zu sein. Bei einer seiner Einlieferungen beichtete er mir, daß er 6 Monate in einem badischen Gefängnis wegen Diebstahls gesessen habe. Er habe dem dortigen Gefängnisgeistlichen erzählt, daß ich in wirklich mütterlicher Weise für jeden Bedürftigen, Weib, Mann oder Kind sorge. Einige Tage darauf, als der Vorstand des Gefängnisses mit einem fremden Besucher an seine Zelle kam, habe er die Herren davon sprechen hören, daß die Stuttgarter Polizei-Assistentin eine interessante Broschüre herausgegeben habe. Der Vorstand des Gefängnisses habe darauf auf B. gezeigt und gesagt: »B. ist auch oft auf der Stuttgarter Polizei gewesen.« Dann habe er ihn gefragt: »Kennen Sie die Stuttgarter Polizeischwester?« B. habe diese Frage natürlich bejaht »und«, fügte er hinzu, als er mir dieses Intermezzo erzählte, »ich war sehr stolz darauf, eine Bekannte zu haben, von der man sogar in den ausländischen Gefängnissen anerkennend spricht. Seit der Zeit wurde ich in diesem Gefängnis mit viel mehr Hochachtung behandelt.« Als Ludwig B. mich besuchen wollte und meine Sekretärin ihm mitteilte, daß ich keine Besuche empfangen dürfte, erzählte er ihr, er habe in einer Zeitung gelesen, daß ich es nicht verstanden hätte, im Verkehr mit den meiner Obhut Anvertrauten » die richtige Grenzlinie« zu ziehen. Er habe hierauf eine Berichtigung an diese Zeitung gesandt, des Inhalts, daß die Gefangenen gerade deshalb Vertrauen zu mir haben, weil sie keine Grenzlinie, wie bei den Arbeitern der Inneren Mission, bei mir empfinden, und daß gerade hierin die Erfolge meiner Rettungsarbeit zu finden seien. –

Auch verschiedenen Mädchen, die früher im Gefängnis waren und durch mich in Rettungsanstalten kamen, sprachen mir in langen Briefen ihr lebhaftes Bedauern darüber aus, daß mir für mein jahrelanges Wirken in dieser Weise gedankt wurde und versprachen mir, mich jetzt gerade doppelt in ihr Gebet einzuschließen.

So kommen fast täglich neue Liebesbeweise. Ueberall bestrebt man sich, auch mein Werk zu fördern oder in meinem Sinne zu wirken. Noch ist es »ein leises Sausen im Sommerkorngefild«; vielleicht kommt aber auch für das, was ich wollte, die Zeit, so daß die Welt davon gleich »Meeresdonnerrollen« erfüllt wird. Bin ich selbst dann auch längst vergessen, was liegt daran! Bleibt nur eine Spur von meinen Erdentagen, so habe ich doch nicht umsonst gelebt und gekämpft!


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