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Immer wieder fand ich in hiesigen und auswärtigen Zeitungen diverse Annoncen: »An Kindesstatt abzugeben«. Wie viel Weh bergen diese drei trockenen Worte! Da sucht ein Dienstmädchen aus dem Elsaß ihr zweites unehelich geborenes Kind, das sie nicht ernähren kann, zu verschenken. Es ist ein zartes elendes Geschöpfchen von 1 Jahr, mit so großen traurigen Augen, als ob es schon sein ganzes Elend begreife. –
Eine Kellnerin sucht ein gutes Plätzchen für ihr neuntes uneheliches Kind. Von seinen Geschwistern sind nur noch zwei am Leben. Nur Gott weiß es, was aus den anderen geworden ist. –
Ein verwitweter Hausierer will drei seiner Kinder, die ihm im Wege sind, abgeben. –
Eine Prostituierte droht ihr neugeborenes Kind umzubringen, wenn es ihr nicht aus den Augen geschafft wird. –
Eine zum zweiten Male verheiratete Frau, will ihren geliebten fünfjährigen Sohn aus erster Ehe einer braven Familie schenken, weil dem Stiefvater das arme Kind ein Dorn im Auge ist. –
Eine Rabenmutter, welche für ihr an englischer Krankheit leidendes Kind mehrmals vergeblich das Geld für die Annonce in den Zeitungen ausgegeben hatte, sperrte das unglückliche Geschöpf schließlich ein und ließ es verhungern.
Eine andere Rabenmutter mißhandelte ihren unehelich geborenen, in seiner Entwicklung zurückgebliebenen achtjährigen Sohn unmenschlich. Obwohl Polizei und Stadtmission von dem Fall Kenntnis hatten, wurde weder gegen dieses Weib eingeschritten, noch ihm sein unglückliches Opfer entrissen. Endlich erlöste es der Tod von seinem qualvollen Martyrium. Als es schon längere Zeit friedlich in der Erde ruhte, wurde es plötzlich infolge einer anonymen Anzeige ausgegraben, und da man an dem kleinen Skelett noch die Spuren schwerer Mißhandlungen erkennen konnte, kam das entmenschte Weib ins Gefängnis.
Wieviele Tausende von Mark fließen doch alljährlich den »Kinderrettungsvereinen« zu, und wieviel Kindermartyrium könnte verhütet werden, wenn diese Vereine, ohne Rücksicht auf »Würdigkeit« oder »Unwürdigkeit«, auf guten oder schlechten Leumund der Eltern, ein solches Kind seinen Peinigern abnehmen würden!
»Kindermartyrium im 20. Jahrhundert« könnte ich über meine trockenen amtlichen Berichte schreiben, welche die von mir behandelten Kinderfälle betreffen. Wenn man dann noch bedenkt, wie unzählige Fälle von an Kindern begangener Grausamkeit gar nicht zur Anzeige kommen, wie unzählige Kinder von ihren Peinigern langsam zu Tode gemartert werden, ohne daß den unglückseligen kleinen Geschöpfen irgend eine Hilfe naht, dann vermeint man in einer der von Dante so lebhaft geschilderten Höllenstationen zu sein und möchte sich mit Schaudern von diesen düsteren Bildern abwenden.
Eine zwölfjährige Italienerin wurde nachts 4 Uhr auf dem Stadtpolizeiamt eingeliefert, weil sie ganz verlassen durch die Straßen lief. Es stellte sich heraus, daß sie schon von mehreren Männern verführt worden war, anscheinend auf Veranlassung ihrer eigenen Mutter. Diese hält sich, wie Anita angibt, mit ihrer vierjährigen Schwester z. Zt. in Ulm auf, arbeitet ab und zu in einer Fabrik, vertrinkt aber den ganzen Verdienst. Der Vater kam als Arbeiter von Italien nach Deutschland, starb aber schon vor mehreren Jahren. Die älteste achtzehnjährige Tochter der Familie ist schon als fünfzehnjähriges Mädchen Mutter geworden und wurde damals von der Mutter verstoßen. Ein älterer Bruder ist verschollen. Anita wurde von mir in die Erziehungsanstalt »zum guten Hirten« nach Untermarchtal gebracht. Bald darauf wurde ihre Mutter gang betrunken aufgefunden, erklärte sich bereit, mir die vierjährige Tochter Maria zu überlassen, welche ich, Dank der Unterstützung des hochwürdigen Bischofs von Rottenburg und des katholischen Italiener-Geistlichen in Stuttgart, der Erziehungsanstalt in Heiligenbronn übergeben konnte. Die Mutter, die eine ganz liederliche Person ist, kam noch mehrmals, stets betrunken, zu mir, um sich nach ihren Kindern zu erkundigen, und soll dann Aufnahme in einem neugegründeten Italienerinnenheim in Württemberg gefunden haben.
3 Kinder, 2 Knaben von 5 und 7 Jahren und ein achtjähriges Mädchen, konnte ich in der letzten Zeit meiner Stuttgarter Amtstätigkeit gut unterbringen. Der fünfjährige Ludwig K. war bei seinen eigenen Eltern sehr schlecht versorgt. Nachbarsleute zeigten an, daß beide Eltern den ganzen Tag fort seien, den Knaben einsperren und hungern ließen. Besonders die Mutter hasse das Kind. Ich begab mich in die Wohnung der K.'schen Eheleute, die sich in einem entlegenen Viertel 4 Treppen hoch befand und aus einem kleinen Zimmer bestand. Der Vater, ein noch junger, auffallend elend aussehender Mann, saß am Fenster und hustete. Die Frau verschwand sofort, als sie mich und meinen Begleithund erblickte. Der Knabe versteckte sich ängstlich in der Küche; er war sehr mager und hatte eine kranke Gesichtsfarbe. Als ich den Mann höflich von dem Zweck meines Besuches unterrichtete, wurde er sehr ungehalten. »Das sind alles Verleumdungen«, schrie er, »wir brauchen keine Polizei, um nach unserem Jungen zu sehen; wenn Sie nicht sofort –« ein heftiger Hustenanfall unterbrach ihn. Diesen Moment benutzte ich, um ihm in aller Freundlichkeit klar zu machen, daß ich nicht Polizeibeamtin im eigentlichen Sinne des Wortes sei, sondern sehr viel Liebe für Kinder habe und so gerne helfen möchte, wo eines von ihnen in Not sei. Das beruhigte ihn offenbar, und so gestand er mir, daß der Knabe vorehelich geboren und bisher bei fremden Leuten in der Kost gewesen sei. Seine Frau, obwohl sie die rechte Mutter des Kindes wäre, könne es gar nicht leiden. Er selbst liebe den Jungen und würde ihn gerne wieder zu der Familie zurückbringen, wo er es so gut gehabt habe, aber die Leute verlangten 5 Mk. Kostgeld monatlich. Das könne er nicht zahlen. Er sei gelernter Schlosser, habe aber jetzt die Schwindsucht, könne nichts mehr arbeiten, beziehe Invalidenrente von monatlich Mk. 13.80 und verdiene nur ab und zu abends noch etwas mit Harmonikaspielen in den Wirtschaften. Seine Frau gehe zuweilen waschen und putzen, aber so viel dürfe sie nicht von Hause fort, weil er pflegebedürftig sei. Der Arzt habe ja gemeint, lange könne es mit ihm nicht mehr dauern, und da wollten sie sich die kurze Zeit schon noch einschränken. Seine einzige Sorge sei der Junge. Wenn er sich nicht vor Gott fürchtete, so würde er sich, die Frau und das Kind erschießen, das wäre die beste Lösung, aber es sei halt doch eine schwere Sünde. »Aber gelt«, schloß der arme Mensch, »Sie sagen der Polizei nichts davon, wir sind ja schon gestraft genug!« Ich schlug ihm vor, den kleinen Ludwig für Rechnung meiner Unterstützungskasse zu den Bauersleuten zurück zu bringen, bei denen er es so gut hatte. Beide Eltern gingen mit Freuden darauf ein. Ganz besonders froh darüber war aber Ludwig. Er erhielt die Erlaubnis, sofort zu mir »zum Besuch« in meine Wohnung zu kommen und vorerst bei mir zu bleiben, bis Bescheid von seinen früheren Pflegeltern eintraf. Er erzählte mir dann, daß die Mutter gedroht habe, ihm nichts mehr zu essen zu geben, wenn der Vater erst mal tot sei, und jetzt passe er jeden Tag auf, ob der liebe Vater sterbe. Da wollte er dann schnell weit, weit fort laufen und den lieben Gott bitten, daß er einen Engel schicke, der ihn in den Himmel zu seinem Vater hole. »Weißt du, Tante«, schloß er dann tiefsinnig, »vielleicht hat es dem lieben Heiland leid getan, daß ich so oft Kopfweh vor Hunger hatte und manchmal den ganzen Tag eingesperrt war. Die Engel haben vielleicht so viel im Himmel zu tun, daß sie keine Zeit hatten, um mich zu holen, und deshalb hat der liebe Heiland wohl Dich zu mir geschickt.« Ich küßte den lieben, kleinen Jungen und bin ganz glücklich, daß ich diesem kleinen Dulder hatte helfen können. Schon nach wenigen Tagen durfte ich ihn zu den braven Bauersleuten bringen. Ich fürchte aber, daß gar bald sein Wunsch in Erfüllung geht, und ihn ein Engel in den Himmel holt, denn die ärztliche Untersuchung ergab, daß beide Lungen angegriffen sind und der zarte Körper des Kindes durch mangelhafte Ernährung sehr gelitten hat. Sein sterbender Vater brauchte nicht mehr lange zur Belustigung des Publikums die Nächte im Wirtshaus Harmonika zu spielen. Der Tod brachte ihm bald Erlösung von seinem Leiden.
Der zweite Knabe, den ich bald darauf untergebracht habe, ist der achtjährige Artur W. Wiederum waren es Nachbarsleute, die zu mir in meine Sprechstunde kamen und mich baten, mich des Kindes anzunehmen. Die Mutter sei vor einem Jahr gestorben. Der Vater, ein Arbeiter, habe vor einigen Monaten wieder geheiratet, und da die zweite Frau selbst drei Kinder habe, sei ihr dieser Knabe sehr im Wege. Er werde täglich mißhandelt und müsse Hunger leiden, ohne daß der Vater Einspruch erhebe. Da durch die ärztliche Untersuchung des Knaben festgestellt wurde, daß dieser tatsächlich über Gebühr geschlagen wurde, und die Ernährung eine sehr mangelhafte war, fragte ich den Vater, ob er bereit sei, mir das Kind ganz zu überlassen. Er war sofort damit einverstanden diese Last los zu sein, welche sehr störend auf seinen häuslichen Frieden wirkte, und erkundigte sich in keiner Weise, was ich mit dem Knaben, der sehr gerne mit mir ging, anfangen wollte. Ich verschaffte mir zunächst die Adresse der Mutter der verstorbenen Frau. Diese war mir sehr dankbar, daß ich ihren Enkelsohn aus den Händen seiner Rabeneltern befreit hatte. Sie war aber selbst sehr arm und konnte den Knaben nicht zu sich nehmen. Deshalb brachte ich ihn zuerst in das Asyl Zoar und konnte ihn dann infolge Annonce im Evangelischen Sonntagsblatt unentgeltlich in einer guten Familie auf dem Lande unterbringen. Er fühlt sich dort sehr wohl, und als ich ihn vor einigen Tagen besuchte, und seine lieben Pflegeeltern einen Extra-Kuchen zu dieser Gelegenheit gebacken hatten, sagte er: »Du darfst von mir aus schon emal kommen und bei uns eppes rechts zu essen kriegen, aber dös sag ich dir, bring nicht noch mehr Kinder her, das leid i net.«
Das dritte der von mir in der letzten Zeit untergebrachten Kinder ist die achtjährige Aloisia W. Von einer katholischen Schwester wurde ich auf das Kind aufmerksam gemacht. Es hatte eine brave, stamme Mutter und wurde bis zu seinem 6ten Jahre gut erzogen. Dann starb die Mutter, und der Vater, ein notorischer Trunkenbold, heiratete ein liederliches Mädchen, das ebenfalls trank und die Kinder ganz vernachlässigte. Die älteren Kindern sind nun schon in Stellung, aber die kleine Aloisia ging fast zu Grunde bei dieser schlechten Behandlung. Ich schrieb sogleich an eine Dame nach Sigmaringen, die mir vor anderthalb Jahren mitgeteilt hatte, daß sie geneigt sei, ein katholisches Mädchen, nicht unter 6 Jahren, an Kindesstatt anzunehmen. Die Antwort der Dame war, daß der Herr nach 11jähriger, kinderloser Ehe ihr jetzt ein eigenes Töchterchen bescheert habe und daß sie daher die Kleine nicht mehr annehmen könne. Eine Stuttgarter gute katholische Familie, die sich auch bereit erklärt hatte, ein Mädchen in diesem Alter mit ihrem eigenen Töchterchen zu erziehen, schrieb mir ganz empört, daß sie doch nicht »solches Kind«, aus »solcher Familie«, mit ihrem eigenen Kinde erziehen wollten. Endlich fand ich dann in Gmünd durch Vermittlung eines meiner treuesten Mitarbeiter vom Vincentius-Verein, der sich in herzlichem Erbarmen der Kleinen annahm, eine rechtschaffene kinderlose Familie, und die kleine Aloisia ist jetzt an Kindesstatt angenommen und erbt einmal einen großen Bauernhof.
Wegen Gewerbsunzucht festgenommen wurde die Schlossersehefrau Karoline T. Es ist dieselbe, welche vor anderthalb Jahren in meiner Sprechstunde mit einem 6 Monate alten Kinde erschien, mich bat, dasselbe einen Augenblick zu halten während sie etwas auf der Polizei zu erledigen hatte und – verschwand. Ich übergab damals das Kind, einen kräftigen, braunen Jungen, dem Städtischen Armenamt. Die Eltern waren bald gefunden. Sie brachten das Kind in ein Asyl, von wo sie es aber bald wieder holen mußten, weil sie kein Kostgeld zahlten, und jetzt ruht das arme Wesen längst auf dem Friedhof. –
Ein gleiches Los hat wohl die 14tägige Elisabeth K. getroffen, welche mir ihre Mutter, die mehrfach vorbestrafte Prostituierte Adele K. nach ihrer Entlassung aus der Hebammenschule in mein Amtszimmer heimlich auf den Tisch legte. Ich zwang Adele K. damals das Kind auf das Armenamt zu bringen. Von dort wurde es auch untergebracht. Als sie aber die Kosten zahlen sollte, schickte sie ihren Zuhälter, welcher das arme Geschöpf wohl irgend einer Engelmacherin brachte oder ihm selbst dazu verhalf, ein Engel zu werden; denn Adele und ihr Zuhälter verschwanden bald ohne das Kind aus Württemberg. Seither muß ich beim Anblick solches ungeliebten Geschöpfchens denken: »Warte nur, balde, ruhest du auch!« Wie nützlich wäre doch ein großes Findelhaus, in dem jedes Kind, ohne daß nach seiner Herkunft gefragt würde, Aufnahme finden könnte! Welcher Segen müßte auf solchem Werke ruhen! Wie viele kräftige, liebliche Kinder, die jetzt jämmerlich dahinsiechen, könnten dadurch gerettet und zu braven Menschen erzogen werden!
Am 18. Juli 1908 wurde mir von Rabbiner Kirchenrat Dr. Kroner zur Fürsorge die Familie Silberstein aus Budapest überwiesen. Philipp Silberstein, von Beruf Schneider, zuletzt in Wien ansässig, wollte mit seiner hochschwangeren Frau und 3 Kindern im Alter von 7½ Jahren, 2 Jahren und 11 Monaten nach Paris reisen, wo er sich früher schon mehrere Jahre aufgehalten hatte. Er hoffte dort ausreichenden Verdienst zu finden. Das Reisegeld von Budapest nach Paris hatte er sich von Station zu Station zusammengebettelt. Er ist seiner Abstammung nach Ungar, sie Rumänin. Auf der Reise bekam die Frau nachts in der Nähe von Stuttgart plötzlich Wehen. Die Familie mußte in Stuttgart den Zug verlassen. Die Frau wurde per Sanitätswagen nach der Hebammenschule gebracht. Der Mann blieb die Nacht mit den 3 Kindern auf der Straße, ging am Morgen mit ihnen in einen Gasthof allerniedersten Ranges, wo er aber wegen des Geschrei's der Kinder und besonders wegen ihres Schmutzes und Ungeziefers sogleich wieder auf die Straße gesetzt wurde. Nun begab er sich auf das Rabbinat, erhielt dort eine Unterstützung und eine »Empfehlung« an mich. Ich versorgte ihn und die Kinder mit Nahrung und Kleidung und sandte sie mit einer »Privathelferin« auf das Städt. Armenamt. Der dortige Beamte ging »polizeimäßiger« vor. Er verlangte einen Blick in die Börse des Silberstein zu tun, und als er darin einen Hundertmarkschein entdeckte, wurde die Aufnahme in das Armenhaus abgelehnt. Silberstein bat dann um Aufnahme seiner 3 Kinder in das Kinder-Asyl Zoar, was ihm aber von der Vorsteherin abgeschlagen wurde. Auf die Polizei zu mir wollte er jetzt nicht mehr zurückkehren, sondern suchte im strömenden Regen für sich und die vor Kälte und Müdigkeit zitternden Kinder ein anderes Obdach. Endlich erklärte sich eine mitleidige Frau, die S. auf der Straße angesprochen hatte, bereit sie bei sich aufzunehmen. Sie stellte aber die Bedingung, daß die siebenjährige Esther, deren Kopf, Hals und Ohren von Läusen ganz zerfressen waren, zuerst in das Kinderhospital zur Heilung komme, S. ging auf diese Bedingung ein, und der Arzt erklärte ihm, daß es einige Zeit dauern könne, bis das kleine arg zugerichtete Mädchen wieder ganz gesund wäre.
Die Geburt des vierten Sprößlings ging indessen nicht so schnell wie erwartet vor sich. Er hatte offenbar gar keine Eile, das irdische Jammertal zu betreten. Als am 22. d. M. noch nichts seine baldige Ankunft verkündigte, lief Frau Silberstein, welche inzwischen nichts von Mann und Kindern gehört hatte, heimlich von der Hebammenschule fort, obwohl sie offene Füße hatte, und der Arzt ihr erklärte, daß das Verlassen der Anstalt mit Lebensgefahr für sie verbunden sei. Die Angst, daß ihr Mann sie hilflos in der Fremde zurücklassen könnte, überwog alle Vernunftgründe. Sie kam zu mir auf mein Büro und ich ließ an alle Polizeistationen telephonieren, damit der kleine rothaarige Ungar möglichst bald herbeigeschafft würde. Endlich wurde er gefunden. Die Frau erklärte sich nun bereit in die Hebammenschule zurückzukehren, wurde dort aber nicht mehr aufgenommen. Aus Angst, daß sie in meiner Kanzlei niederkommen könnte, telephonierte ich an den Herrn Rabbiner und bat dringend, mir die Fürsorge für die Familie Silberstein wieder abzunehmen. Es erschien ein Abgesandter von ihm, und wir setzten nun gemeinsam Mann, Frau und die beiden jüngsten Kinder in den Zug nach Karlsruhe, wo die Frau im jüdischen Krankenhause – wie mir gesagt wurde – bestimmt Aufnahme finden würde. Da die kleine Esther vom Kinderhospital noch nicht entlassen werden konnte, verpflichtete ich mich nach ihr zu sehen und sie, sobald sie wieder ganz hergestellt sein würde, nach Karlsruhe zu bringen.
Einige Tage nach der Abreise der Familie erhielt ich zu meiner Bestürzung aus Chalons-sur-Marne die Mitteilung, daß Frau Silberstein im Jüdischen Krankenhaus in Karlsruhe nicht aufgenommen worden sei und sich jetzt auf dem Wege nach Paris befinde. Dieser Nachricht folgte bald eine solche aus Paris mit der Adresse Silbersteins. Die arme Frau habe endlich im Hospital St. Antoine Aufnahme gefunden und sei von einem Knaben glücklich entbunden worden, das 2jährige Kind liege schwerkrank in einem Kinderhospital und das jüngste von 1 Jahr, welches sich damals ins Stuttgart bei dem Herumirren aus der Straße im strömenden Regen stark erkältet hatte, ruhe bereits auf dem Friedhof.
Die kleine Esther konnte jetzt vom Kinderhospital entlassen werden. Da Silberstein mir geschrieben hatte, daß er das Kind nicht von Stuttgart abholen könne, schrieb und telegraphierte ich sofort, daß ich das Kind bis zur französischen Grenze senden werde, von wo aus er es abholen müsse. Ich brachte die Kleine auf die Bahn, hing ihr ein Schild mit der Adresse ihres Vaters und der meinigen um und übergab sie dem Schaffner zur Fürsorge.
Am folgenden Tage kam an das Stadtpolizeiamt ein Telegramm:
»Esther Silberstein hilflos hier. Bitte abholen. Grenzpolizei. Deutsch-Avricourt.«
Nach Rücksprache mit dem stellvertretenden Amtsvorstand reiste ich sogleich nach Deutsch-Avricourt. Die Kleine war, als sich niemand dort einfand, um sie abzuholen, nach Französisch-Avricourt gesandt worden, und als auch dort niemand erschien und sie mit ihrem großen Schild und einem Körbchen Proviant ganz verlassen auf dem Bahnhof stand, wieder nach Deutsch-Avricourt zurückgeschickt worden. Dort übergab sie nun die Grenzpolizei einem Bahnwärter, welcher mit seiner Frau und einem 6jährigen Söhnchen in der Nähe des Bahnhofes im Bahnwärterhäuschen wohnte. Der Bahnwärter und der Polizist brachten mir die Kleine auf die Bahn, und nachdem ich alle entstandenen Unkosten bezahlt hatte, reiste ich sogleich mit ihr nach Paris ab. Sie wollte gar nicht mit mir zu ihren Eltern reisen, sondern flehte mich an, sie bei den lieben Bahnwärtersleuten zu lasten. So schön hätte sie es noch nie im Leben gehabt und bei den Eltern gefiele es ihr gar nicht. Wie gerne hätte ich den Wunsch des armen Kindes erfüllt, aber meine Pflicht war zuerst ihre Eltern aufzusuchen. Der Vater, dem ich unsere Ankunft telegraphiert hatte, war wider Erwarten zu unserem Empfang in Paris auf dem Bahnhof erschienen. Er gab an, er hätte schließlich schon das Geld zur Reife gehabt, aber er sei in so gedrückter Stimmung gewesen und dann habe er gedacht, irgend wer würde ihm schon sein Kind bringen, ohne daß er Kosten und Scherereien damit hätte. Er habe bei der Pariser Polizei seine Adresse angegeben und 3 Frs. deponiert, damit sie ihm das Kind zuführen könne, wenn es ihr mal übergeben würde. Da er mir sagte, daß er die kleine Esther nicht bei sich aufnehmen könne, beschloß ich, sie zu den »Enfants assistés« zu bringen, früher »Enfants trouvés«, d. h. »Findelhaus«. Er wollte sie jedoch die Nacht zu sich nehmen, um am folgenden Morgen mit ihr feine Frau im Hospital St. Antoine zu besuchen. Von dort wollte er zu mir in das Hotel kommen und mit mir die kleine Esther in das Kinderheim bringen. Am folgenden Tage erschien Silberstein pünktlich bei mir, aber ohne sein Kind. Auf meine Frage, wo die kleine Esther wäre, erwiderte er, er habe sich nicht mit ihr »abschleppen« wollen, habe sie am Bett seiner schwerkranken Frau im Hospital stehen lassen und sich aus dem Staube gemacht. Da die Pflegerinnen des Hospitals die Kleine ja nicht dort behalten könnten, so sei es selbstverständlich, daß sie die Kleine bereits bei den »Enfants-assistés« abgeliefert hatten. Er sei nun seinem Versprechen gemäß pünktlich zu mir gekommen und wolle mir vorschlagen, daß wir zusammen die Kleine besuchen. Eigenartig berührt von dieser merkwürdigen Lebensphilosophie, begab ich mich sogleich mit dem liebevollen Vater in das Kinderheim. Auf unsere Anfrage wurde uns erwidert, daß die Kleine vom Hospital St. Antoine aus tatsächlich einige Stunden vorher übergeben worden sei und sich als Nr. 6633 im Kinderdepot befinde. Sie war sehr erstellt uns zu sehen, bat mich aber wieder, sie doch in das Bahnwärterhäuschen nach Deutsch-Avricourt zurückzubringen. Dort sei es viel schöner als in Paris, Budapest, Wien und Stuttgart und allen anderen Orten, die sie bis jetzt gesehen habe. Es wurde beschlossen, daß sie vorerst unentgeltlich im Kinderheim bleibe, bis Frau Silberstein wieder gesund sei, und der Familienvater in der Lage sei, die Seinen zu, nähren.
Das Asyl hat mir sehr gut gefallen. Eheliche und uneheliche Kinder, welche von ihren Eltern, bezw. ihrer Mutter, nicht versorgt werden können oder ihren Angehörigen aus irgend einem Grunde im Wege sind, werden, um den Kindsmord zu verhüten oder diesen amen Kindern ein trauriges Los zu, sparen, unentgeltlich aufgenommen und erzogen. Es ist in diesem Falle nicht nötig, Angaben über Name und Stand zu machen. Von diesen Kindern, den enfants abandonnés (verlassenen Kindern), werden durchschnittlich täglich 10 in dem Pariser Asyl aufgenommen; größtenteils sind es unehelich geborene Kinder im Säuglingsalter. Sie erhalten alle eine weiße Halskette mit Nummer, das einzige Erkennungszeichen. Ueber die Folgen dieser Kindesabgabe belehrt ein großes Plakat, das an mehreren Stellen des Hauses in großen Buchstaben angeschlagen ist.
Administration générale de l' Assistance publique à Paris.
Avis aux personnes ayant l'intention d'abandonner leurs enfants.
Conséquences de l' abandon d'un enfant.
1) ignorance absolue du lieu de placement.
2) absence de toute communication même indirecte avec l'enfant
3) nouvelles de l'enfant données tous les 3 mois seulement et indiquant uniquement s' il est mort ou vivant
4) en cas de demande de retraite de l' enfant Obligation de rembourser tout ou partie des frais de son entretien; justification de ressources suffisantes et de moralité
Loi du 27. Juin 1904.
Generalverwaltung der öffentlichen Unterstützung in Paris.
Bekanntmachung für Personen, welche die Absicht haben, ihre Kinder zu verlassen.
Folgen des Verlassens eines Kindes.
1) Der Unterbringungsort wird keinesfalls mitgeteilt.
2) Jede auch die indirekte Verbindung mit dem Kinde ist ausgeschlossen.
3) Nur alle 3 Monate wird eine Mitteilung gegeben und auch nur darüber, ob das Kind lebt oder tot ist.
4) Im Falle das Kind zurückverlangt werden sollte, wird Erstattung sämtlicher oder eines Teils der Unterhaltungskosten verlangt, ferner Ausweis über genügenden Lebensunterhalt und sittliche Führung.
Gegen 800 enfants abandonnés stehen unter der Fürsorge der Assistance publique. Sie werden auf das Land in Kost gegeben; monatlich wird Frs. 30. – Kostgeld für ein Kind bezahlt.
Wer sich nur in augenblicklicher Notlage befindet oder aus einem anderen Grunde vorübergehend ein oder mehrere Kinder ohne Entschädigung gut versorgt wissen will, darf die Kinder in das Depôt des Asyls bringen. Diese Kinder bleiben in der Regel im Hause selbst, das sehr geräumig und schön eingerichtet und von einem großen Garten umgeben ist. Für die Säuglinge sind Ammen angestellt. Bei den im Depot abgegebenen Kindern müssen die Personalien angegeben werden. Als Erkennungszeichen tragen hier die Knaben eine blaue und die Mädchen eine rote Kette mit Nummer.
Wie unsagbar viel Kinderelend wird durch diese wohltätige Einrichtung alljährlich verhütet!
Um es aber den armen Müttern, die ihre Kinder lieben, zu ermöglichen, sie bei sich zu behalten und das Band zwischen Mutter und Kind nicht gewaltsam zu zerschneiden, gibt es dort noch eine andere vorzügliche Einrichtung, welche ebenfalls gleich beim Eintritt in das Haus durch große Plakate bekannt gemacht wird.
Moyens d' éviter l' Abandon d' un enfant.
Les mères qui n' ont pas les moyens d' élever leurs enfants, mais ne veulent pas les abandonner, sont informées qu' un secours de premier besoin peut leur être alloué immédiatement et que d' autres secours peuvent leur être attribués par le Service des Enfants secourus, 3 avenue Victoria.
1) soit qu' elles allaitent leurs enfants
2) soit que sans les allaiter, elles les gardent auprts d' elles
3) soit qu' elles les placent en nourrice.
Um das Verlassen eines Kindes zu verhüten.
Die Mütter, welche nicht die Mittel haben ihre Kinder zu erziehen, sie aber nicht verlassen wollen, werden in Kenntnis gesetzt, daß ihnen sofort als erste Hilfe eine Unterstützung bewilligt werden kann und daß ihnen weitere Unterstützung im Bureau der Enfants secourus, 3 avenue Victoria, gegeben werden kann.
1) sei es, daß sie ihre Kinder stillen.
2) sei es, daß sie diese, ohne sie zu stillen, bei sich haben.
3) sei es, daß sie sie in ein Kosthaus geben.
Als ich am 25. August nach Stuttgart zurückkehrte, fand ich viel Arbeit, besonders viele Akten betreffend Kinderverwahrlosung und Mißhandlung in den Vororten Stuttgarts, durch deren Eingemeindung meine Arbeit ganz bedeutend vergrößert wurde. Ueberall Bilder des Elends, der Not und Sorge, Bitterkeit und Mutlosigkeit und infolgedessen die Verwahrlosung der Kinder oder gar ihre Mißhandlung.
In einer Arbeiterfamilie in Ostheim hatte der Mann längere Zeit keine Arbeit. Jetzt verdiente er zwar täglich 4 Mk., aber die Leute hatten viele Schulden. Da sie die auf Abzahlung angeschafften Möbel und Betten nicht bezahlen konnten, war ihnen alles genommen worden. Weder Bett, noch Tisch oder Stuhl war in dem großen Zimmer zu sehen. Einige schmutzige, übelriechende Betten lagen auf der Erde. Würmer und anderes Getier krochen daraus hervor. Die beiden Kinder von 1½ Jahren und 3 Monaten waren ganz vernachlässigt, das jüngste war zum Skelett abgemagert.
Eine andere Familie lebte im Armenhaus zu U., hatte dort 2 kleine dunkle Zimmer und mußte für ihre Verpflegung selbst sorgen. Der Mann war Trinker, arbeitete nichts. Die hochschwangere Frau mit großem Kropf lag schwerkrank zu Bett; sie hatte 2 Knaben von 4 und 5 Jahren. Der Kleinere litt an der englischen Krankheit, war verkrüppelt und idiotisch, konnte weder gehen noch sprechen und lag ganz vernachlässigt in seinem Bett. Die Gemeindeschwester hatte bis jetzt ab und zu nach der Familie gesehen und dann veranlaßt, daß der Armen-Arzt hinkam, der die Überführung der Frau und des jüngsten Kindes in das Bezirkskrankenhaus für dringend notwendig erachtete. Der Mann widersetzte sich dieser Anordnung. Wenn er betrunken heimkam, prügelte er die schwerkranke Frau. Im Auftrag der Polizei brachte ich mit einem Schutzmann Frau und Kind per Sanitätswagen in das Krankenhaus und beantragte für beide Kinder Fürsorge-Erziehung.
Eine vor kurzem zugezogene Familie wurde angezeigt, daß sie ihre Kinder ganz verwahrlosen lasse. Der Mann war Arbeiter, die Frau Wäscherin und Putzerin. Sie hatten 9 Kinder; die älteste 14jährige Tochter, welche in Abwesenheit der Eltern den Haushalt führte und die Geschwister beaufsichtigte, war schwachsinnig, ihr 12jähriger Bruder taubstumm. Die Familie hatte zwei Zimmer in einem baufälligen Häuschen, das sie zwangsweise verlassen sollten. Der ganze Haushalt und die Kinder waren sehr schmutzig. Es herrschte bitterste Armut.
Die 8jährige Elise H. hatte den Hang zum Fortlaufen. Sie blieb Tag und Nacht fort, wurde eines Nachts von einem Schutzmann auf einer Treppe schlafend gefunden und auf die Polizei gebracht. Die Mutter hatte wegen Diebstahls im Gefängnis gesessen, der Vater war Kutscher und wegen Tierquälerei und Körperverletzung bestraft. Obwohl der Fall dem Gemeinde-Waisenrat bekannt war, behielt dieser das Kind nur »im Auge«! Dieses hatte nun den Eltern eine größere Geldsumme entwendet und war wieder verschwunden. Wohin sie ihre Schritte gelenkt hatte, konnte bis jetzt nicht ermittelt werden.
Die 11jährige Lina K. war die Tochter des Schreiners K., welcher wegen Diebstahl, Unterschlagung und Körperverletzung längere Zeit im Zuchthaus gesessen hatte. Seine Frau wurde von ihm derart mißhandelt, daß sie mit Lina davonlief. Sie starb vor einem Jahr und ließ Lina ganz verlassen zurück. Ihr Pfleger und Onkel, ein notorischer Säufer, nahm sie zu sich. Seine Frau war tot; er lebte mit einer liederlichen Kellnerin, welche die Kleine ganz vernachlässigte und ihr nichts zu essen gab, sodaß sie auf den Bettel angewiesen war. Schließlich erklärte sich eine Nachbarin, Frau W., bereit Lina zu »erziehen«. Frau W. war wegen Gewerbsunzucht vorbestraft, stand im Verdacht Engelmacherei zu treiben und wollte die Kleine offenbar zu unsittlichen Zwecken verwenden. Das Stadtpfarramt des betreffenden Distrikts machte Anzeige. Nach heftiger Scene mit der Frau wurde mir die Kleine übergeben und für Rechnung meiner Unterstützungskasse in ein Erholungsheim gebracht. Sie war sehr blutarm und bedurfte sorgfältiger Pflege. Ich habe Fürsorge-Erziehung für sie beantragt. Sie fürchtete sehr, zu ihrem Vater zurückkehren zu müssen und erzählte, daß er Frau und Kinder nur zu Schlechtem angehalten habe; er selbst sei nach seiner Erzählung auch so erzogen worden. »Wir waren 8 Geschwister«, habe er immer gesagt, »und jedes mußte etwas heimbringen, um den Haushalt zu unterstützen, mußte betteln oder stehlen. Brachten wir nichts mit, so wurden wir festgebunden und jämmerlich durchgeprügelt. So war es zu meiner Zeit. Heutzutage wollen die Kinder aber nichts mehr schaffen.«
O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!
Aus einem christlichen Kinderheim brachte eine Schwester ein 4jähriges Bübchen auf die Polizei, das der Anstalt vor 2 Jahren von seinen Eltern, Arbeitersleuten, übergeben worden war. Das erste Jahr habe der Vater pünktlich das Kostgeld bezahlt. Im letzten Jahre habe er Ausreden gebraucht, seine Frau sei krank, er habe noch 2 Kinder u. s. w., und gebeten, die Anstalt möchte sich doch noch gedulden. Jetzt habe er gar geschrieben, seine Frau sei gestorben, Krankheit und Begräbnis hätten soviel gekostet, er könne beim besten Willen seinen Verpflichtungen nicht nachkommen. Nun sei ihnen aber die Geduld gerissen, und da der Vater in Stuttgart lebe, übergäben sie hiermit einfach das Kind der Polizei, die möge dafür sorgen. Das Bübchen weinte und schrie und klammerte sich an die Schwester an: »Nicht dableiben, Angst, Angst«, rief es. Kommissar B. erklärte der Schwester, daß sie dem Vater das Kind bringen müsse; die Polizei sei kein Findelhaus. Ich machte der Scene aber ein schnelles Ende, indem ich zur großen Erleichterung der Schwester das Bübchen auf den Arm nahm und mich bereit erklärte, es vorerst unentgeltlich zu versorgen. Die polizeilichen Erkundigungen über den Vater ergaben, daß dieser sich zur Zeit in großer Notlage befand. Die Mutter des Kindes war nach der Geburt des jüngsten Kindes schwerkrank und ist vor einigen Wochen gestorben. Für zwei Kinder von 2 Jahren und 6 Monaten mußte der Mann Kostgeld zahlen, und die lange Krankheit der Frau hatte auch viel Geld gekostet.
»Selig sind die Barmherzigen« – wie selten findet dieses Wort doch die richtige Erfüllung!
Eine sehr schmerzliche Erfahrung habe ich mit Frau Günther gemacht. Sie wurde in letzter Zeit mehrfach wegen Gewerbsunzucht eingeliefert, ist jetzt von ihrem Manne geschieden, der die beiden Knaben seiner Mutter zur Erziehung übergeben hat. Nun hatte sie außerehelich ein Mädchen geboren – Vater unbekannt – das sie mir mehrmals zum Geschenk anbot. »Mit dem Kind haben Sie gewiß Glück«, versicherte sie, »es ist an einem Sonntag geboren, und Sie sehen ja auch, wie schön es ist.« Die Kleine war zwar gar nicht schön, sondern blaß und unterernährt, wie alle diese kleinen unwillkommenen Weltbürger, aber das hätte mich gewiß nicht abgehalten, sie, wie so viele andere Kinder, unentgeltlich zu übernehmen. Ich glaubte aber, daß die Mutterliebe, die Frau Günther offenbar für dieses »Sonntagskind« zu hegen schien, sie von der Liederlichkeit abhalten würde, schenkte ihr einige Kinderwäsche und erlaubte ihr, mich öfters mit der Kleinen zu besuchen. Nach einigen Tagen kam sie wieder und erzählte, daß eine reiche Dame aus England das Kind um Mk. 800.– kaufen wolle, aber es dürfe niemand erfahren, wohin es komme. Ich sagte ihr sofort, daß ich an diese englische Dame nicht glaube, sondern vermute, daß sie das Kind bei Seite schaffen wolle, daß ich aber sofort der Staatsanwaltschaft Anzeige erstatten würde, wenn das Kind verschwände. Dann begab ich mich sofort zu der Hausfrau der G., um über die Ernährung und Behandlung der kleinen Pauline Erkundigungen einzuziehen und das arme bedauernswerte Geschöpf event. sofort zu mir zu nehmen. Der Distriktsschutzmann, den ich auf dem Wege traf, sagte mir, ihm habe die Günther erzählt, daß ein Arzt aus der Schweiz ihr schönes Kind um Mk. 600.– kaufen wolle, sie wolle es sich aber noch mal überlegen. Die Hausfrau der G. gab an, daß diese ihr früher die Kleine tagsüber zur Beaufsichtigung gegeben habe, wenn sie in die Fabrik ging. In letzter Zeit sei das schlechte Weib aber nur noch der Liederlichkeit nachgegangen, habe das Kind einfach eingesperrt und hungern lassen. Da höre man es nun immer vor Hunger jämmerlich schreien. Ich erklärte mich bereit, die Kleine sofort zu übernehmen, doch hatte gerade an diesem Tage Frau Günther das Kind mitgenommen, offenbar um zu betteln und durch den Anblick des halbverhungerten Geschöpfchens das Mitleid zu erwecken. Als ich am folgenden Tag zu der Günther kam, hatte sie das Kind ihrer in der Nähe von Stuttgart wohnenden Mutter gebracht. Nach 2 Tagen suchte ich die Mutter auf. Sie sagte mir, ihre Tochter habe ihr das Kind schwerkrank gebracht und »um in nichts hineinzukommen« habe sie es gleich in das Kinderspital getan. Als ich in das Hospital kam, wurde mir mitgeteilt, daß die kleine Pauline Günther einen schweren Darmkatarrh gehabt habe und wenige Stunden nach ihrer Einlieferung in das Spital gestorben sei. Eine unnatürliche Todesursache sei nicht nachzuweisen. –
Als ich vom Kinderspital in mein Büro zurückkehrte, tiefbetrübt, daß ich, von falschen Erwägungen ausgehend, dieses unglückselige Geschöpf vor dem Martyrium nicht bewahrt hatte, sah ich im Schaufenster einer Buchhandlung das bekannte liebliche Bild von Richter: »Der Schutzengel«, zwei Kinder darstellend, die sorglos an einem Abgrund spielen. Hinter ihnen steht ein Engel, der seine Arme schützend über sie breitet und darunter finden sich die Worte: »Er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen.« »Armes, kleines Sonntagskind«, dachte ich da voll Wehmut, »dich hat kein Schutzengel vor deiner grausamen Mutter gerettet, weil die Gründung eines Findelhauses, wo ihr amen kleinen Enterbten liebreiche Aufnahme hättet finden können, als ein Institut zur Förderung der Schlechtigkeit Eurer liederlichen Mütter von unseren modernen Christen angesehen wird. Diesem Gedanken, der im Grunde nichts weiter als eine haltlose Anschauung ist, die durch Euer Martyrium täglich widerlegt wird, diesem Gedanken werdet Ihr geopfert. Für die Sünde Eurer Eltern, für ihre Schlechtigkeit, für ihre Not, ihr Elend, läßt man Euch so jämmerlich büßen!«
Das war mein letztes Erlebnis als Polizeiassistentin.