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Im Herbst 1907 erschien mein Büchlein »Menschen, die den Pfad verloren«, das beim Publikum eine freundliche Aufnahme fand. Das Schicksal der von mir geschilderten Menschen; Frauen, Männer und Kinder erweckte tiefe Teilnahme. Seither sind mir von verschiedenen Seiten so viele Aufforderungen zugegangen, aus meinen Erfahrungen neue Mitteilungen zu machen, daß ich mich entschlossen habe, ein zweites Bändchen folgen zu lassen. Die Namen meiner verschiedenen Schützlinge sind, wie in meiner ersten Broschüre, geändert worden. Dieses Bändchen soll gleichseitig meine schweren Kämpfe auf dem Gebiete sozialer Fürsorge schildern, den Kampf gegen den engherzigen, fortschrittfeindlichen Bürokratismus und gegen den Pietismus, welcher sich in der Dunkelheit mit aller Macht gegen jede humanitäre Bestrebung auflehnt, die nicht von der Kirche ausgeht. Die jahrelangen harten Kämpfe haben meine Gesundheit untergraben und mich gezwungen, am 1. Februar 1909, nach 6jähriger Tätigkeit, mein Amt als Polizeiassistentin in Stuttgart niederzulegen. Scheinbar haben Bürokratismus und Pietismus in diesem Kampfe gesiegt. Aber den Gedanken allgemeiner sozialer Hilfeleistung, ohne engherzige Beschränkung, haben sie nicht vernichten können. Er hat sich siegreich Bahn geschafft. In Hannover, Bielefeld, München, Leipzig, Dresden, Würzburg, Elberfeld, Nürnberg, Kiel, Freiburg i. B., Mainz sind bereits Polizeiassistentinnen zur Fürsorge der Gefangenen angestellt worden. Im Ausland folgte man dem Beispiel Deutschlands. – In Schwedens Hauptstadt Stockholm wurde ein Posten für drei Polizeiassistentinnen, in Götaborg ein solcher für eine Polizeiassistentin geschaffen. – In Wien ist eine Assistentin angestellt worden, desgleichen eine in Zürich. – Aus Norwegen, Holland, Italien und Rußland bin ich um genaue Auskunft über das von mir geschaffene Amt und um Uebernahme desselben ersucht worden. So darf ich mir getrost sagen, daß der Samen, den ich streute, tausendfach Früchte tragen wird.
Als erste Frau in Deutschland trat ich im Jahre 1903 solch ein Amt in Stuttgart an, das mir viel schwere Kämpfe, aber auch unendliche innere Befriedigung bringen sollte. Meine Pflichten bestanden, wie ich schon in der Broschüre »Menschen, die den Pfad verloren« auseinandergesetzt habe, darin, die weiblichen Gefangenen zu überwachen und nach ihrer Entlassung für sie zu sorgen. Naturgemäß erweiterten sich diese Pflichten aber sehr schnell, und Menschen aller Art wandten sich mit der Bitte um Rat und Hilfe an mich. Es ist ein schweres Amt, täglich mit verkommenen, unglückseligen Menschen zu verkehren, täglich so viel Herzeleid zu sehen und verhältnismäßig so wenig helfen zu können. »Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden.« Wie schön klingt diese Verheißung und ach, wie selten erfüllt sie sich! Die Menschen, die man so obenhin als »Verbrecher« bezeichnet, sind wie mit schweren Ketten beladen, die sie oft beim besten Willen nicht abstreifen können. In jedem von ihnen, selbst in den verstocktesten Sünder, findet man eine gute Regung, einen freundlichen Gedanken, aber das Unkraut überwuchert den guten Samen. Manchmal gelingt es ihn zu finden und ihn durch eifrige Pflege zur Blüte zu bringen. Oft aber wird er erstickt vom Unkraut und alle unsere Mühe ist scheinbar vergeblich gewesen.
Beim Durchblättern meiner Papiere werde ich an so viele Menschen erinnert, »die den Pfad verloren«, an solche, denen ich zu einem geordneten Leben verhelfen konnte, und an viele, sehr viele, die den rechten Weg nicht mehr betreten konnten oder wollten. In bunter Reihe lasse ich sie am Auge des Lesers vorüberziehen. Es ist ein Zug, fast so traurig, wie der Zug des Todes. Und doch möge man sich niemals dem Gedanken hingeben » Lasciate ogni speranza«, sondern immer an das trostreiche Wort denken: »Hast Du gerettet nur ein Menschenleben, so wachsen Deiner Seele Flügel.«