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Leberschaukunde

Die schon so oft genannte Bibliothek Assurbanipals hat uns auch eine Anzahl sehr ausführlicher Rituale für den Baru-Priester (Baru-Seher, Wahrsager) überliefert. Er hat sie genau zu befolgen, wenn es gilt, z. B. eine Leberschau vorzunehmen. Ein solches Ritual hier ganz wiederzugeben verbietet der Raum. So sei versucht, dem Leser an Hand dieser Rituale und der zugehörigen Gebete wenigstens ein ungefähres Bild von einer solchen, oft sehr umständlichen Zeremonie zu geben, denn ohne das hat uns die »Leberschau« gar nichts mehr zu sagen.

Vor allem mußte der Priester vor der Zeremonie Waschungen vornehmen, sich salben und reine Kleider anlegen. Seine Lippen, durch die der Wille des Gottes sich gegebenenfalls kundtat, mußte er mit heiligem Zedernholz und Gerste einreiben. Am Altar waren Gefäße mit geweihtem Wasser, Feinmehl, kleine Krüge mit Bier und Räucherbecken aufzustellen. Auch Wahrsageschalen mit Öl und Wasser durften nicht fehlen. Die Handlung begann mit einem Gebet des Priesters an Schamasch und andere große Götter.

Ein solches lautet z. B.:

Schamasch, Herr des Gerichts, Adad, Herr der Weissagung! Tritt ein Schamasch, Herr des Gerichts, tritt ein Adad, Herr der Weissagung, tritt ein, Sin, Herr der Kopfbinde, tritt ein, Nergal, Herr des Kampfes, tritt ein, Ischtar, Herrin der Schlacht, tritt ein, Ischkara, Herrin des Gerichts und der Weissagung, tritt ein, Geliebte des Anu! Tretet ein, große Götter! In meinem Anruf, in meiner Händeerhebung, in allem was ich tue, sei Richtigkeit!

Nach dem Gebet wird das fehlerlose Lamm, oder mehrere derartiger Lämmer an den Opfertisch geführt, und der Priester betet:

Durch dieses Lamm gewähre, daß ich eine zuverlässige Zustimmung, heilvolle Gestaltungen der auskunftgebenden Körperteile und heilvolle Gnadenerweise gemäß dem Ausspruch deiner großen Gottheit erschaue. Deiner großen Gottheit, o Schamasch, großer Herr! möge es gefallen, ein Orakel als Antwort zu geben.

Jetzt wiederholt der Priester mehrmals kurz das Anliegen, um das es sich handelt. Etwa das des Königs Asarhaddon:

Ich frage dich, Schamasch, großer Herr, ob vom dritten Tage dieses Monats Ijar bis zum elften Tage dieses Monats Ab dieses Jahres Kaschtarti nebst seinen Kriegern oder irgendein Feind, wer es auch sei, jene Stadt Kischassu erobern, in jene Stadt Kischassu eindringen, jene Stadt Kischassu mit seinen Händen ergreifen, sie in seine Gewalt bringen wird?

Oder etwa:

Ich frage dich, Schamasch, großer Herr, ob der Mann, dessen Name auf dieser Tafel geschrieben steht und vor deiner großen Gottheit niedergelegt ist, den Asarhaddon, den König von Assyrien, zu dem Amt, das auf dieser Tafel geschrieben steht, ernannt hat, Empörung gegen Asarhaddon, den König von Assyrien, und den mitregierenden Königssohn stiften wird? Wird er seine Hand gegen sie zum Bösen erheben?

Oder:

Ich frage dich, Schamasch, großer Herr, ob Assurbanipal, der König von Assyrien, von dieser Krankheit, die ihn befallen, lebend davonkommen und wiedergefunden, gerettet herauskommen wird?

Nach mancherlei genau vorgeschriebenen umständlichen Räucherungen, Streuen von Zypressenharz, Zedernholz und Gerste, Bierspenden u. a., wurde das Opfertier geöffnet und die Leberschau vorgenommen.

Eventuell noch eine zweite und dritte Schlachtung und Öffnung eines Lammes »von fehlerlosem Fleisch und fehlerlosen Formen«, nachdem vorher noch ausdrücklich gebetet worden war:

Verhüte, daß irgend etwas Unreines den Ort der Wahrsagung berühre und verunreinige.
Verhüte, daß das Lamm deiner Gottheit, das zu beschwören ist, mangelhaft und untauglich sei.
Verhüte, daß bei der Umstürzung des Lammes (zum Schlachten) es durch das Opfergewand oder das Obergewand ungültig gemacht werde, durch etwas, das man gegessen, getrunken oder berührt hat.
Verhüte, daß aus dem Munde des Baru-Priesters, deines Knechtes, die Antwort voreilig entschlüpfe.

Dann setzt sich der Wahrsagepriester vor Schamasch auf den Richtstuhl, um ein wahres und gerechtes Urteil (aus den verschiedenen Teilen der Leber) zu geben.

» Dann werden die großen Götter, Schamasch und Adad, die Herren der Opferschau, die Herren der Entscheidung zu ihm treten, eine Entscheidung für ihn fällen und eine wahre Antwort geben

Es folgen weitere Opferungen von Brot, Honigmus, Bier, Streuen von Salz, Räucherungen, Gebete usw.

Es war uralte babylonische Anschauung, daß Schamasch, der Sonnengott, »den richtigen Zustand der Eingeweide im Leibe des Schafes hervorbrachte«. Er »schrieb selbst im Leibe des Opferlammes das Orakel auf. Er »ließ in den Eingeweiden vertrauenswürdige Vorzeichen aufschreiben«. Noch der Prophet Ezechiel (21, 26) schildert in einer Vision, wie der König von Babel, um sich Orakel zu beschaffen, »die Leber beschaut«. Solche Leberschau finden wir ferner bei den Hethitern und den Etruskern, Eingeweideschau bei den Griechen und Römern, kurz, in der ganzen alten Welt, außer in Ägypten. Die Eingeweide galten als der Sitz der Empfindungen, und bei den Babyloniern war die Leber ein Hauptstück der Eingeweide, die mit dem Herzen zu den Hauptorganen des Lebens gehört. Bei den Israeliten sind die Eingeweide der Sitz des Lebens. Im ähnlichen Sinne ventre heute noch bei den Franzosen, und das japanische Harakiri will sagen: Lies in meinen Eingeweiden, ich bin unschuldig. Oder: Sieh du, ich bin schuldig, ich richte mich mit eigner Hand. Nach dem Gesetz der Entsprechung ist die Schafsleber ein Mikrokosmos, in dem sich der Wille Gottes ebenso kundtut wie im Makrokosmos. Man liest ihn in den Sternen, man liest ihn in der Schafsleber, die nach dem Urteil der heute dafür allein noch sachverständigen Tierärzte in ihrem ganzen Bau besonders kompliziert ist und die größten Verschiedenheiten aufweist.

Aus den erhaltenen Ritualen ersehen wir jedenfalls, daß oft ein gewaltiger kultischer Apparat in Bewegung gesetzt wurde mit Reinigungen, Gebeten, Opfern, Räucherungen, neuen Gebeten, neuen Opfern, neuen Räucherungen, Spenden verschiedenster Art, Kniebeugen, Aufstehen, Hymnen. Sich-auf-den-Boden-werfen, Sich-wieder-erheben usw., bis es endlich zur Schlachtung und Leberschau kam. Offenbar sollte der Wahrsagepriester und der das Orakel Begehrende durch das alles allmählich in eine bestimmte seelische Verfassung gebracht werden (worauf auch der letzte, hier kursiv wiedergegebene Satz in dem Ritual hinweist), der wir später bei den Mysterien wieder begegnen, was wir heute als eine Art somnambulen Zustand bezeichnen würden, als Ersatz für den Natursomnambulismus, den es nicht mehr gab, einen Zustand, der noch heutigen Sensitiven möglich ist. Menschen vor vier bis sechs oder noch mehr Jahrtausenden konnten im Durchschnitt selbstverständlich leichter als heutige rationalistisch-materialistisch bestimmte Menschen einen solchen somnambulen Zustand erreichen und damit Fähigkeiten frei machen, die ernsthaft zu studieren erst heutige Naturwissenschaftler wieder versuchen. Beachtenswert und auffallend ist dabei auch, daß fast alle brauchbaren und nicht gewerbsmäßigen Sensitiven von heute ausgesprochen religiöse, also nicht rein rationalistische Naturen sind. Jedenfalls stimmt es sogar einen so durchaus modern-rationalistisch gerichteten Gelehrten und Spezialisten für die Religion Babyloniens wie Morris Jastrow nachdenklich, daß die Leberschaukunde als Wissenschaft in Babylonien unwidersprochen durch Jahrtausende in höchstem Ansehen stand, was ein in der Geschichte der Menschheit jedenfalls außerordentlich seltenes Phänomen darstellt, so daß am Ende, wie Jastrow meint, doch etwas dran gewesen sein müsse. Was, wissen wir heute allerdings nicht oder nicht mehr. Es zu erfahren, ist für uns Heutige schon deshalb nicht mehr möglich, weil die Leberschaukunde ähnlich wie die babylonische Astrologie sich bald ausgesprochen »wissenschaftlich« gebärdete und damit für unsere wissenschaftlichen Ansprüche ungenießbar wird.

Die Fülle der Leberschautexte wuchs im Laufe der Jahrtausende ins Ungemessene. Ihre Sammlungen in der Bibliothek Assurbanipals und aus noch jüngeren Zeiten sind so umfangreich und zahlreich, daß man die Einzeltexte aus ihnen nur noch mit Hilfe besonderer Kataloge auffinden konnte. Und wegen der Verschiedenheit der Schafslebern gehört der Unterricht über die Leberschau in den Priesterschulen offenbar zu den schwierigsten Lehrfächern. Deshalb hat man schon früh Modelle der Leber aus Ton zu Lehrzwecken hergestellt, um den Unterricht zu erleichtern. Rechts ist ein solches Tonmodell einer Schafsleber zu Unterrichtszwecken abgebildet. Es stammt aus einem babylonischen Tempel, und die Schriftzüge weisen auf die Hammurabizeit (2000 v. Chr.). Es wurde 1889 in Bagdad für das Britische Museum durch Kauf erworben.

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Die Oberfläche ist durch Kreuze und Querlinien in etwa fünfzig Teile eingeteilt, von denen jeder sich auf eine die Vorzeichen angehende Inschrift bezieht. Da wir leider den Text zu diesen Inschriften nicht kennen, sind sie bis jetzt noch nicht völlig erklärt. Auch die auffallenden Löcher an bestimmten Stellen weisen wohl auf bestimmte, uns unbekannte Textstellen hin. Die Leberlappen, die Gallenblase, die zwei Ansätze am oberen Lappen, der processus pyramidalis, wie er heute noch an Kosmisches anklingend in der Medizin heißt, und der processus papillaris, sind deutlich zu erkennen.

Der Zögling mußte nach solchem Modell also zunächst die Leberschaukunde theoretisch studieren. Nach Meißner sah der Leberschauer von der Schwanzseite in die geöffnete Bauchhöhle und beschaute zuerst die Leber, Galle und die dazu gehörenden Eingeweide im Tier und nahm sie dann heraus, um sie genauer zu studieren. Dann wurde die Eingeweidefläche so herumgedreht, daß die Teile, die in der Bauchhöhle nach hinten lagen, jetzt nach vorn kamen. Dann wurden die Kennzeichen der Leber notiert und die günstigen mit den ungünstigen in ihrer Bedeutung abgewogen. Überwogen die günstigen, war das Orakel günstig, überwogen die ungünstigen, war es natürlich ungünstig, hielten sie einander die Waage, »soll man auf das Glück des Orakels nicht vertrauen«.

Wonach aber beurteilte man das Günstig oder Ungünstig beim Studium der Leber? Ein Beispiel mag hier genügen. Wir wählen auszugsweise ein solches, das den Pyramidalfortsatz (processus pyramidalis) behandelt, wie er auf der abgebildeten Tonleber deutlich sichtbar ist.

Ist der Pyramidalfortsatz wie ein Löwenkopf, so werden die Diener des Herrschers ihn bedrängen.
Ist der Pyramidalfortsatz wie ein Löwenohr, so wird der Herrscher ohne Nebenbuhler sein.
Ist der Pyramidalfortsatz wie ein Löwenohr und dessen Kopf gespalten, so werden die Götter dein Heer an der Grenze verlassen.
Ist der Pyramidalfortsatz wie ein Löwenohr und darüber eine Vertiefung, so werden die Götter dein Heer an der Grenze verlassen.
Ist der Pyramidalfortsatz wie ein Löwenohr und dessen Rückseite rechts zerstört, so wird das Feindesheer ohne Nebenbuhler sein.
Ist der Pyramidalfortsatz wie ein Löwenohr und dessen Rückseite links zerstört, so wird das Heer des Herrschers ohne Nebenbuhler sein.
Ist der Pyramidalfortsatz wie eine Ochsenzunge, so werden die Generäle des Herrschers abtrünnig werden.
Ist der Pyramidalfortsatz wie ein Schafskopf so wird der Herrscher Macht ausüben.
Ist der Pyramidalfortsatz zur Hälfte wie ein Ziegenhorn gebildet, so wird der Herrscher über sein Land ergrimmt sein usw.

Dieses eine Beispiel zeigt schon zur Genüge, daß die »Leberschau« (wie die Astrologie) eine Wissenschaft, ja eine Scholastik geworden ist, nicht weniger knifflig und spitzfindig als die unseres Mittelalters, und man kann an jedem Text beobachten, wie sich diese Wissenschaft auf dem Gesetz von den Entsprechungen aufbaut. »Entspricht« der Makrokosmos (die große Welt) dem Mikrokosmos (der kleinen Welt) und umgekehrt (so daß der Makrokosmos auch als der große Mensch bezeichnet werden kann), was in den ältesten Zeiten der alten Welt eine Überlieferung aus natursichtigen Zeiten gewesen sein mag, so entspricht jetzt bei der Leberschau schon die Form des Pyramidalfortsatzes als Löwenkopf einer Palastrevolution und dergleichen.

Aber die Assyriologen sagen uns nicht, was dies Gesetz von den Entsprechungen eigentlich zu bedeuten hat. Vielleicht, weil es ihnen bei ihren Spezialstudien nicht aufgefallen ist, daß dasselbe von dem Augenblick an, wo es keine Natursichtigkeit mehr gibt, in aller Magie und Mystik, nicht nur des Orients, sondern auch des Abendlandes, auch im Mittelalter und in der Neuzeit seine Rolle spielt. Es ist sozusagen zu einem Axiom aller Geheimwissenschaften geworden. Wenden wir uns deshalb zu unserer Belehrung an einen der besten und hellsten Köpfe unter den Geheimwissenschaftlern der Gegenwart, der Medizin studiert hat, ein fanatischer Materialist war, um dann sein Damaskus zu finden, den Pariser Arzt Dr. Gérard Encausse, der unter dem Namen Papus alle weiten Gebiete der »verhüllten« (okkulten) Wissenschaften mit riesigem Wissen und großem Scharfsinn beackert hat, wobei noch zu bemerken wäre, daß er sich zu den »Martinisten« rechnet, die sich nach Claude de Saint-Martin (1743-1801) nennen, einer religiösmystischen Bewegung innerhalb der französischen katholischen Kirche, die zu ihren Vätern Paracelsus, Agrippa, Tauler, Eckart, Swedenborg und vor allem auch Jakob Böhme zählt und bis zu den Gnostikern, namentlich Valentinus, zurückgreift. Wo immer Papus auf das Gesetz von den Entsprechungen zu sprechen kommt, kämpft er vor allem gegen die Anschauung, als habe Entsprechung irgend-etwas mit Ähnlichkeit zu tun. Dieser Kampf ist für ihn um so wichtiger, als ihm nicht der deutsche Ausdruck Entsprechung, sondern nur der französische, Analogie, zur Verfügung steht, der schon rein sprachlich viel mehr an Ähnlichkeit anknüpft als der deutsche, Entsprechung.

Papus geht vom Unterschied zwischen Geheimwissenschaft und moderner Wissenschaft aus. Für erstere ist alles Sichtbare eine Manifestation des Unsichtbaren, sie beschäftigt sich also mit dem Sichtbaren, um das Unsichtbare aufzudecken. Die moderne Wissenschaft hingegen befaßt sich nur mit dem Sichtbaren, mit den Erscheinungen (Phänomenen), den Tatsachen (Fakten) als solchen, ohne sich um die metaphysischen Beziehungen, um das Unsichtbare, zu kümmern. Die Methode der modernen Wissenschaft, um das Sichtbare, die Erscheinungen, die Phänomene zu erkennen und zu erklären, beruht auf Beschreibung, Vergleichung und Beobachtung. Die Methode der Geheimwissenschaften, die ja aus dem Sichtbaren das Unsichtbare aufdecken will, beruht auf der »Entsprechung«. Sie beobachtet, vergleicht und beschreibt wie die moderne Wissenschaft, aber nicht um des Beobachtens und Beschreibens willen, sondern um vom Sichtbaren aus »Entsprechungen« zum Unsichtbaren zu gewinnen. Die moderne Wissenschaft hat es mit dem riesigen Reich der Fakten zu tun und gelangt durch ihren Vergleich zu Gesetzen, welche diese Tatsachen regieren. Die Geheimwissenschaft aber dringt von den Gesetzen durch »Entsprechungen« zu den Prinzipien vor. Wir haben also das unendliche Reich der Tatsachen, das begrenztere Reich der aus ihnen abgeleiteten Gesetze (sekundäre Ursachen), zwei Welten, die die moderne Wissenschaft bearbeitet, und eine dritte Welt, das noch viel begrenztere Reich der Prinzipien (primäre Ursachen), welche die Geheimwissenschaften nach dem Gesetz der Entsprechungen zu gewinnen suchen. Drei Welten: Fakten, Gesetze, Prinzipien. Als so ein Prinzip, durch Entsprechung gewonnen, gilt das »Gesetz der 3«, nachdem aus dem Gegensatz von 1 zu 2 die 3 wird. Einige Beispiele: Aus Licht und Finsternis (Gegensatz) wird das Halbdunkel, die Dämmerung, die von beiden etwas hat. Aus Mann und Weib (Gegensatz) wird das Kind, das von beiden etwas hat. Aus Säure und Base das Salz, aus Positiv und Negativ das Neutrale, aus dem gasförmigen Zustand und dem festen Zustand der flüssige, aus Anziehen und Abstoßen das Gleichgewicht, aus Wärme und Kälte das Laue.

Ordnen wir diese Beispiele einmal unter den Rubriken aktiv, passiv und neutral (s. Tabelle rechts).

Dann würde alles, was senkrecht unter aktiv, passiv und neutral steht, einander »entsprechen«, was, wie deutlich erkennbar, nichts mit Ähnlichkeit zu tun hat, denn 1 »entspricht« zwar dem Licht, der Säure, dem Männlichen und 2 zwar der Kälte, Base, Dunkelheit usw., aber ähnlich ist das einander nicht.

aktiv passiv neutral
1 2 3
+ -
Wärme Kälte Lau
Positiv Negativ Neutral
Säure Base Salz
Anziehung Abstoßung Gleichgewicht
Licht Dunkelheit Dämmerung
Männlich Weiblich Kind
Gasförmig Fest Flüssig

Der christliche Theosoph ordnete der Tabelle dann noch ein:

Vater Sohn Heiliger Geist
Osiris Isis Horus

Der Astrologe:

Sonne ☉ Mond ☽ Merkur ☿

Der Alchimist:

Gold Silber Quecksilber usw

Es ist aber ohne weiteres klar, daß zwischen den drei Rubriken nicht nur senkrecht (von oben nach unten und unten nach oben) »Entsprechungen« bestehen, sondern auch von links nach rechts und rechts nach links (waagerecht) mancherlei »Beziehungen«. Ein Kind benötigt einen Vater und eine Mutter, das Gleichgewicht Anziehung und Abstoßung. Den ersten Satz versteht jedermann, den zweiten jeder Gebildete. Wenn aber ein Geheimwissenschaftler dies Gesetz so ausdrückt: 8 benötigt ein + und ein -, oder gar so: (+) + (-) = ∞, so wird ihn nur noch der Okkultist verstehen. Schreibt dieser 1 + 2 = 3, so hat auch der Volksschüler nichts dagegen einzuwenden, denn er weiß nicht, daß das bei ihm einen anderen Sinn hat als beim Geheimwissenschaftler. Schreibt der Astrologe aber: ☉ + ☽ = ☿ oder sagt der Alchimist: Unser Zwitter (Neutrum) ist das Kind des Goldes und des Silbers, so hält ihn jeder Rationalist für verrückt, was, wie wir sehen, so ohne weiteres denn doch nicht zutrifft.

Wenn der Zahlenmagier oder die Kabbala sagt: die 4 führt 1, 2 und 3 in die Einheit zurück, so versteht das kein gewöhnlicher Sterblicher und hält es deshalb für Unsinn. Blicken wir aber auf die Tabelle der vorigen Seite und fragen z. B., welches die Einheit sein könnte, die Vater, Mutter und Kind umschließt, also »in die Einheit führt«, so antwortet jedermann: die Familie.

1 2 3 4

Die Familie (4) ist in der höheren Reihe also wieder eine 1 (männlich, aktiv, positiv), die in Bezug gebracht zu einer neuen 2 (also 5), die weiblich, passiv, negativ ist, zu einer neuen 3 (also 6) wird, eine neue 3 (6) zustande bringt, einen Stand, eine Klasse, die zu einer neuen Einheit, einer neuen 4 (7) führt: die Gesellschaft usw.

Zahlenmäßig drückt das Magie und Kabbala so aus: 1 + 2 + 3 + 4 = 10, was jeder Schüler billigt, aber für die Magie ist 10 = 1 + 0 = 1, was magische Addition heißt, die der einfache ABC-Schütze nicht versteht, weil er sie nicht lernt. Dazu käme dann noch die magische Reduktion, die alle mehrziffrigen Zahlen durch Addition auf eine einziffrige Zahl zurückführt. Bei der Zahl 666 geschieht das z. B. so: 6 + 6 + 6 = 18. 18 = 1 + 8 = 9. Also ist die Zahl 666 = 9. – 7 ist in der späten Theosophie gleich 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 = 28 = 2 + 8 = 10 = 1 + 0 = 1, also wieder die 1 einer höheren Reihe.

Die Magie sagt ferner: Da 4 = 10 und 7 = 10, so ist auch 4 = 7. Da aber 10 = 1 + 0 = 1 ist, so »entsprechen« 4 und 7 einander, und 4 und 7 sind auf zwei höheren Reihen = 1. Wie die Familie (4) und die Gesellschaft (7) auf zwei höheren Stufen dem Männlichen (1) entsprechen. Dies wenige wird genügen, um dem Leser verständlich zu machen, weshalb die Zahlen nicht nur auf den Mathematiker, sondern auch auf den Theosophen von Urzeiten an bis in unsere Gegenwart einen so ungeheuren Reiz ausgeübt haben und noch ausüben.

Nachdem aber erst einmal durch senkrechte Tabellen »Entsprechungen« aufgefunden waren und sich unter ihnen, auch waagerecht gelesen, Beziehungen ergeben hatten, studierte die Geheimwissenschaft nach dem Gesetz der »3« (»Die Dreizahl glänzt überall im Universum, und die Monade ist ihr Prinzip«, Zoroaster) die »Drei Welten« auf solche Entsprechungen und Beziehungen hin. So entstanden neue und immer neue Entsprechungstabellen für das Studium der Zugelassenen (Initiierten). Claude de Saint-Martin z. B. zeichnete eine Tabelle zum Studium und zur Meditation für seine Schüler so auf:

Gott Mensch Universum
Gott Gott in Gott selbst Der Mensch in Gott Das Universum in Gott
Mensch Gott im Menschen Der Mensch in sich selber Der Mensch im Universum
Universum Gott im Universum Das Universum im Menschen Das Universum in sich selber

Seit dem Kampf der römischen Kirche gegen die Gnosis und die Gnostiker war alles, was sich mit derlei Sachen befaßte, im Abendland so verpönt und die Beschäftigung damit so gefährlich, daß sich namentlich die Alchimisten, wie schon erwähnt, mit Hilfe der Entsprechungstafeln für jeden, der diese nicht kannte, ganz unverständlich ausdrückten und so als harmlose Narren zumeist der Verfolgung entgingen. Z. B. so (mit Hilfe des »Pythagoräischen Dreiecks«):

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Da die Zahlen das Gesetz von den Entsprechungen am reinsten enthüllten, so war man namentlich seit Pythagoras in den Geheimwissenschaften sicher, gerade mit ihrer Hilfe die Prinzipien des Unsichtbaren erkennen zu können (Kabbala). Jedenfalls hat der Leser jetzt hoffentlich eine Ahnung davon bekommen, daß ein guter Verstand nicht nur zur Ausübung jeder rationalistischen Wissenschaft, sondern auch zur Zahlenmagie wie zum Studium aller Geheimwissenschaften gehört.

Wir gingen von der babylonischen »Leberschau« aus und sahen, wie sie, aller Natursichtigkeit bar, in einer dunklen Erinnerung an einstiges Wissen versuchte, mit dem aufglimmenden Licht des Verstandes uralte Erleuchtung wiederzugewinnen. Es war ein erster, unsicher tastender Versuch der Wissenschaft, die noch in den Kinderschuhen steckte und immer wieder danebengriff, indem sie Entsprechungen mit Ähnlichkeiten verwechselte, und wo die Erscheinungen solche nicht freiwillig zeigten, die Ähnlichkeiten in sie um jeden Preis hineingeheimniste. Wir sahen dann, wie im Laufe vieler Jahrhunderte nicht nur das, was wir heute Wissenschaft nennen, sondern auch alle Geheimwissenschaft vom wachsenden Verstand immer mehr profitiert hat. Es spricht nicht gerade für den erleuchteten Geist der Gegenwart, wenn sie um jener ersten, gewiß recht kindlichen Versuche der Wissenschaft im alten Babel willen heute auch noch alles ignoriert, was die »Geheimwissenschaft« seitdem, vom Wachstum des Verstandes nicht weniger profitierend als jedermann, an Einsichten gewonnen hat.

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