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Es war im Jahre 1407. Die Appenzeller, ein derbes, tüchtiges Schweizer Bergvölklein, hatten sich mit anderen Städten in der Schweiz und im Rheintal zusammengetan und bedrängten Schlösser und Städte des Bodenseegebietes. Schließlich waren sie bis in die Nähe von Bregenz vorgedrungen und berannten und beschossen Stadt und Festung, die dem Grafen Rudolf von Montfort gehörte. Der oberschwäbische Adel, durch den etwaigen Fall der Stadt selbst aufs ärgste bedroht, schloß auf Betreiben des Grafen von Montfort einen Schutz- und Trutzbund und bildete den sogenannten »Sankt-Georgen-Schild«, der gegen die Schweizer zu Feld ziehen wollte. Ungeduldig warteten Graf Montfort und der Rat der Stadt auf das Herannahen des Ersatzheeres.
Inzwischen hatten die Führer der Appenzeller vom Heranrücken der Ritterschaft Mitteilung erhalten und waren in einem Gasthaus zu Rankweil zusammengetreten, um sich bei verschlossenen Türen zu beraten, wie sie dem drohenden Kampf mit den Rittern zuvorkommen könnten. Nach langer Beratung kamen sie überein, Bregenz zu überrumpeln und die Bürger der Stadt zu einem Bündnis gegen den stolzen schwäbischen Adel zu zwingen.
Man bestimmte hiezu den St.-Hilarius-Tag.
Die ganze Beratung war ziemlich lebhaft und lärmend vor sich gegangen, da sich die Eidgenossen in der Stube allein und unbelauscht glaubten. Erst als sie sich von ihren Sitzen erhoben, um wieder zu ihren Leuten zurückzukehren, bemerkte einer hinter dem großen Ofen eine anscheinend schlafende Frau. »Hallo«, rief er, »Kameraden, wir sind belauscht worden, tötet die elende Verräterin!«
Fluchend und schreiend drangen die Männer auf die Frau ein. Diese aber suchte den Verdacht zu entkräften und wehrte die Wütenden ab. »Nein, nein«, rief sie, »ich habe nicht gehorcht; ich habe geschlafen. Todmüde bin ich vor längerer Zeit ins Haus gekommen, die Wirtin hat mir dieses Plätzchen hier eingeräumt«
Nicht ganz davon überzeugt, daß die Frau die Wahrheit spreche, ließen die rauhen Männer von ihr ab, doch mußte sie schwören, keinem Menschen ein Wort von dem zu sagen, was sie in der Stube vernommen habe. Dann stieß man sie unter wilden Drohungen vor die Tür hinaus. »Im Stall ist dein Platz!« schrie ihr einer noch nach, »und wehe dir, wenn du nur ein Wort zu einem Menschen sagst!«
Einen Moment horchte die Frau noch auf den Lärm, der aus der Wirtsstube ins Freie drang und immer mehr anzuschwellen schien, warf einen suchenden Blick in die Runde, ob nirgends das Gesicht eines Wächters auftauche, und war dann im Nu um die Ecke verschwunden. Alle Kräfte einsetzend, lief sie durch die tiefverschneite Winterlandschaft, nur von dem Gedanken getragen, den Schweizern zu entfliehen und rechtzeitig den bedrohten Bregenzern die Nachricht von dem bevorstehenden Überfall zu bringen. Die eisige Kälte drang ihr durch Mark und Bein, ein grimmiger Wind drohte ihr den Atem zu nehmen, aber ohne Unterbrechung lief sie weiter, bis sie fast am Ende ihrer Kräfte die Stadt erreichte. Keuchend kam sie zum Rathaus und schleppte sich erschöpft die Stufen empor zu Ratsstube hin, wo gerade der Stadtrat versammelt war.
Ohne sich von den Ratsdienern aufhalten zu lassen, drang sie in den Ratssaal ein und wärmte sich am Feuer. Entrüstet und verwundert über dieses sonderbare Verhalten, schüttelten die Stadtväter die Köpfe, und der Amtmann rief ihr zornig zu: »Weib, bist du von Sinnen? Wie kannst du dich unterstehen, hier einzudringen! Was starrst du wie eine Verrückte das Feuer dort an?«
»Herr«, antwortete, nach Atem ringend, die Frau, »ich komme aus Rankweil. Da ich durch einen furchtbaren Eid verpflichtet bin, keinem Menschen ein Wort von dem zu sagen, was ich dort gehört habe, will ich dem Feuer da erzählen, was ich mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen habe.« Und sie berichtete, zum Kamin gerichtet, ausführlich und laut, was sich in der Wirtsstube zu Rankweil zugetragen hatte.
Staunend hörte der versammelte Rat diese wichtige Nachricht, und der Amtmann fragte, als sie geendet hatte, um ihren Namen. »Ich heiße Guta«, sagte sie, »und alles nennt mich die alte Guta.«
Sofort benachrichtigte man den Grafen von Montfort, und dieser schickte einen Eilboten an die Ritter vom Sankt-Georgen-Schild mit der Bitte, mit größter Eile zu Hilfe zu kommen. Der Hilferuf des Grafen hatte Erfolg. Achttausend Mann, Ritter und Knappen, rückten am Sankt-Hilarius –Tag zur Rettung der Stadt Bregenz heran, und die siegessicheren Schweizer wurden, anstatt die Stadt zu überrumpeln, durch die unvermutete Herankunft des Ersatzheeres selbst überrascht und erlitten eine völlige Niederlage. Sie wurden vernichtet, nur drei von ihnen entkamen.
Nun erst fand man Zeit, die mutige Frau zu fragen, welche Belohnung sie sich wüsche. »Nichts anderes«, antwortete die Retterin der Stadt, »als Nahrung und ein Dach über dem Kopf mein Leben lang. Und außerdem sollen die Nachtwächter der Stadt von Martini bis Lichtmeß jede neunte Abendstunde mit dem Ruf anzeigen ,Ehret die Guta!«'
Dieser Wunsch des armen Frauenzimmers wurde in der Stadt Bregenz, der die mutige Tat der furchtlosen Frau großes Unglück erspart hatte, durch Jahrhunderte treu befolgt. »Ehrguta, Ehrguta«, erscholl es noch bis vor wenigen Jahrzehnten, wenn der Nachtwächter die neunte Stunde ausrief.