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Hoch oben in den Bergen Tirols lag vorzeiten eine reiche, blühende Stadt, die hieß Tannen-Eh'. Gute, glückliche Menschen lebten darinnen und führten ein wahrhaft paradiesisches Dasein. Es gab keinen Zank und Streit, keine Übeltäter waren zu fürchten. Recht und Treue, Wohltun und Gottesfurcht herrschten in der Stadt, und ewiger Frieden lächelte den Bewohnern. Auch das Bergwild hatte seine Ruhe, niemand verfolgte es; Haustiere und Alpenpflanzen, Früchte und Beeren boten den Menschen reichliche Nahrung. Es gab keinen Unterschied zwischen reich und arm. Wer mehr sein eigen nannte, teile ungebeten mit dem Minderbemittelten. So ging es lange Zeit, und der Segen des Himmels lag über der Stadt.
Aber im Lauf der Zeit änderte sich dieser glückliche Zustand. Der wachsende Reichtum erweckte in vielen die Sucht nach Gewinn; damit aber breiteten sich Geiz, Habsucht und Neid aus, und in ihrem Gefolge schlichen sich Elend und Not in die Stadt ein und befielen gar manche rechtschaffene Bewohner.
Zum Stolz gesellte sich bald der Übermut, und die Reichen und Mächtigen faßten in einer Versammlung einen frevelhaften Beschluß. Sie sprachen: »Wir wollen einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel hineinragt, damit unsere Stadt bekannt und berühmt werde bei allen Völkern der Erde. In den Turm wollen wir eine Glocke hängen, deren Schall weithin über die Täler und Berge erklingen wird. Diese Glocke soll aber nur für uns ertönen, die wir Reichtum, Macht und Ansehen in Tannen-Eh' genießen, bei Taufe, Hochzeit und Begräbnis; sie soll unseren Ruhm verkünden weithin in die Ferne. Für die Armen wollen wir sie nicht läuten lassen; denn die haben weder Ehre noch Ansehen und sind zu nichts brauchbar.«
Die Armen beschwehrten sich über diese nichtswürdige Behandlung, aber die reichen Herren überhörten hochmütig alle Klagen und ließen dem armen Volk ihre Verachtung fühlen. Da kam die erste Mahnung des Himmels. Kälte und Frost taten unter den Feldfrüchten großen Schaden und führten zu einer Mißernte. Im Herbst brach eine Hungersnot aus. Die armen Leute litten unsäglich, die Reichen aber verschlossen Truhen und Vorratskammern, schwelgten weiter und hatten nur Spott und Hohn für die Hungernden übrig. Sie sollten nur sterben, meinten sie grausam, das sein das beste für die Hungerleider, da kämen sie gleich in den Himmel; auf Erden seien sie doch nur unnütze Fresser. Und viele Leute starben aus Hunger dahin.
Da begann es zu schneien. Der Schnee fiel immer dichter und höher, er reichte bis an die Fenster, ging bis an die Dächer empor, selbst über die Dächer hinaus, und die Menschen wußten sich keinen Rat mehr. Da läuteten sie die Glocke, um Hilfe aus dem Tal herbeizurufen. Aber der Schall drang nicht durch das dichte Gestöber, kein Mensch vernahm den Notruf der Glocke, niemand kam den Bewohner von Tannen-Eh' zu Hilfe. Nur der Schnee fiel weiter, noch dichter, ohne Ende und hüllte die einst glückliche Stadt in ein weites, nie weichendes Leichentuch. Niemand sah mehr eine Spur von Tannen-Eh' und seinen Bewohnern. Nur der riesige Turm wies, von glitzerndem Eis überglast, wie eine mächtige Silbernadel zum Himmel empor, woher den Frevlern die Strafe gekommen war. Diese eisumstarrte Felsnadel erhebt sich über den Ötztaler Fernern, und das ewige Eis des Weißkugelgletscher bedeckt unter seinen wuchtigen Massen die ehemals blühende Stadt »Tannen-Eh'«.
Ein längst schon verklungenes Lied hat lange die Kunde von der im Schnee begrabenen Stadt im Land bewahrt:
In der Stadt Tannen-Eh'
O weh! – O weh!
Fällt der Schnee
Und apert (taut auf) nimmermeh'.