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Ein Breslauer Arzt, der jetzt schon lange tot ist, pflegte öfter eine sonderbare Begebenheit zu erzählen, die ihm selbst begegnet war und auf alle, die es hörten, einen unheimlichen Eindruck machte. Wollte man das, was er sagte, bezweifeln, so erwiderte er regelmäßig, er sei doch ein gebildeter Mann und keineswegs zum Aberglauben geneigt.
Als er noch ein junger Arzt war, wohnte er auf der Scheltniger Straße, und als ihn einmal seine Praxis bis in die späte Nacht außer dem Hause gehalten hatte, kehrte er, sehr ermüdet, erst spät abends in seine Wohnung zurück. Wie er so die Straße entlangschreitet, da merkt er, daß ein Mensch ihm gegenüber auf der anderen Seite der Straße immer gleichen Schritt hält. Das fällt ihm auf, und er hält inne, der andere bleibt ebenfalls stehen. Als er zu ihm hinüberblickt, sieht er, daß der Mensch ihm vollkommen gleicht, denselben Rock trägt, denselben Hut aufhat und genau dieselben Bewegungen macht wie er selbst. Er geht wieder, der andere ebenfalls, er greift sich an den Kopf, ob er noch bei Sinnen sei, der andere tut dasselbe. Er fängt an zu laufen, der andere läuft ebenfalls. So kommen sie an den Eingang des ehemaligen Wintergartens. Da sieht er, wie der andere quer über die Straße auf das alte Häuschen zugeht, wo er (der Doktor) bei einer Witwe wohnte. Er sieht, wie er den Schlüssel aus der Tasche zieht, die Haustür aufschließt, wieder zuschließt, und er hört ihn die alte gebrechliche Treppe hinaufsteigen. Er tritt gegenüber auf die Straße und sieht, wie der andere in seinem eigenen Zimmer Licht anstreicht und wie es hell wird. Da steht ein Baum gegenüber, den ersteigt der Doktor, um zu sehen, was in seinem Zimmer vorgeht. Die Wirtin ist eingetreten und bringt ihm das Abendbrot, als wäre er es selbst; er plaudert mit ihr, und als sie zur Tür hinausgeht, ruft er ihr noch nach, wann sie ihn wecken solle. Er sieht, wie der Mann sich entkleidet, sich in sein eigenes Bett legt und das Licht auslöscht.
Das alles kam dem Doktor höchst unheimlich vor, und wenn er auch nicht an einen Spuk dachte, so glaubte er doch, es könne am Ende auf sein Leben abgesehen sein. Einige Häuser zurück wohnte ein Freund von ihm, und er beschloß, diesen aufzusuchen und bei ihm zu übernachten. Etwas anderes zu unternehmen, dazu war es schon zu spät in der Nacht, und er zu müde – und auch irgendwie zu zaghaft. Der Freund behielt ihn natürlich mit Freuden bei sich; dem erzählt er nun die ganze sonderbare Geschichte. Beide denken, der andere Tag werde schon eine Aufklärung bringen. Er brachte sie auch. Früh am Morgen, sie lagen beide noch im Bette, kommt des Doktors Wirtin ganz aufgeregt herübergelaufen zu dem Freunde, pocht lebhaft, und als er öffnet, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen: »Um Gottes willen, denken Sie doch, der Doktor ist erschlagen! Die Decke ist in der Nacht heruntergebrochen und auf ihn gefallen!« »Beruhigen Sie sich, liebe Frau«, sagte der Freund, »der Doktor ist bei mir! Wollen Sie ihn sehen?« »Aber scherzen Sie doch nicht«, sagte sie, »ich habe ja gestern abend mit ihm gesprochen, als ich ihm das Abendbrot brachte. Heute früh wollte ich ihm den Kaffee ins Zimmer tragen, da sah ich, daß die Decke unten lag und gerade auf seinem Bette. Er ist tot, alle Leute im Hause sagen, der Doktor ist erschlagen.«
Da mußte wohl der Doktor selbst hervortreten in seinem Nachtgewande, um die erregte Frau zu beruhigen. jetzt konnte sie nicht mehr im Zweifel sein, es war der Doktor wie er leibte und lebte – aber die Sache selbst blieb dunkel und rätselhaft. Wer war der Mann gewesen, mit dem sie gestern abend gesprochen hatte? Als man die Trümmer der Decke wegräumte, fand man natürlich das Bett leer. Ohne diesen merkwürdigen Vorfall wäre der Doktor ein Kind des Todes gewesen.