Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Dreingabe

Novelle von Jakob Schaffner

Als der Kaufmann Irwin Schaffold, ein Mann um die fünfziger Jahre, eines Morgens aufwachte, fand er, dass es nicht so war wie sonst. Er setzte sich im Bett aufrecht und suchte zu ergründen, worin die Wolke bestand, die er plötzlich über seinem Leben hängen sah; als ob man ihm die Aufgabe gerade für diesen Augenblick gestellt hätte, so gehorsam sass er da und grübelte. So viel war sicher, dass sich über Nacht eine unbestimmte Traurigkeit in Besitz seines Herzens gesetzt hatte. Da es Zeit war, seinen Tag anzufangen, brachte er für jetzt nicht mehr heraus. Aber er erhob sich so mutlos, dass er sogar seufzte, und dass seine Frau, die im Nebenbett genussreich und üppig geschlafen hatte und gerade rosig wie ein Kind erwachte, ihn träge gähnend fragte, was er denn habe. Da erschrak er und murmelte irgend etwas, worauf er baden ging.

Im Bad überschlug er seine gegenwärtige Lage. Sie war nicht besorgniserregend. Das Geschäft stand gut. Etwas Ärgerliches hatte sich in den letzten Tagen weder ereignet, noch stand etwas bevor. Das Wetter war so schön, wie man es wünschen konnte. Die Sonne schien ins Badezimmer, als er trotzdem, als ob er misstraute, den Vorhang ein wenig zurückzog. Sie schien nachher auch ins Frühstückszimmer, wo die braune Holztäfelung leuchtete wie ganz altes, dunkel gewordenes Gold. Der Diamant an seinem Finger – Diamant war sein Glücksstein – warf kühne klein Blitze in allen Farben, solange seine weissen, etwas kurzen Hände über dem Frühstück walteten. Das Essen schmeckte ihm eigentlich auch. Er wusste also wirklich nicht, was mit ihm los war. Zudem zeigte sich seine Frau, ein ruhiges, bequemes, beinahe noch schön zu nennendes Wesen, knapp anfangs der vierziger Jahre, gerade heute so wohlgestimmt, wie es morgens nicht immer der Fall war. Lachend erzählte sie ihm, wie er heute Nacht im Schlaf so eifrig geblökt habe, dass er gar nicht zu erwecken gewesen sei; schliesslich hätte sie gedacht: »Lass ihn, er wird auch wieder aufhören!« und sich auf die andere Seite gedreht. Ob er denn an einem schlechten Gewissen leide? Gewiss gehe er heimlich auf verbotenen Wegen. »Aber dazu bist du nicht der Mann, mein kleiner Guter!« erklärt sie ihm noch scherzend. »Lass du das nur und bleibe brav bei mir.« Dazu legte sie ihm ein appetitlich geschmiertes Butterbrötchen auf den Teller, und sie selber sah so anziehend und verlockend aus in ihrem spitzenbesetzten tomatenfarbenen Morgenrock, dass er sie ganz entgeistert anstarrte und sich verschluckte, was ihn in die angenehme Lage versetzte, angelegentlich und lange husten zu können. Er lief sogar ein wenig bläulich an, und sie klopfte ihm mit ihrer schönen weissen Hand den Rücken. Nachher wischte sie ihm auch noch spasshaft bedauernd den Schweiss von der Stirn. Und endlich war er froh, dass es auf einmal stark auf neun Uhr zuging und er sich davon heben konnte.

Nein, auch das war kein guter Tagesbeginn. Wie kam sie nur so ganz unvermittelt auf ein solches Gespräch? Er war ja so erschrocken, dass er noch jetzt ein Zittern in der Gegend seines Herzens spürte. Zugleich schien er kalte Hände zu bekommen, wenigstens überkam ihn das Bedürfnis, sie beide tief in die Hosentaschen zu vergraben. Vorher jedoch verfing er sich im Vorplatz mit dem Fuss in einen Teppich und stürzte beinahe hin. Das machte ihn vollends ängstlich. Mit dem traurigen und bedrückten Herzen, das er aus dem Schlaf mitgenommen hatte, stieg er langsam und vorsichtig die zwei Treppen hinunter, da leider auch gerade der Fahrstuhl nicht ging. »Auch das noch!« dachte er beunruhigt. »Seltsam!« Sonst wandte er sich überall aufgeklärt, bald lächelnd, bald eifernd, gegen den Aberglauben, aber es gab doch im Leben Augenblicke, wo man selber nicht wusste, was man sagen sollte. Als er auf die Strasse trat und sich umsah, fand er: »Es ist überhaupt alles seltsam, wenn man's so richtig betrachtet. Das Leben lässt sich nur wirklich geniessen, wenn man nichts Auffälliges daran findet.« Zudem war es ihm jetzt, als hätte es diese Nacht mehrere Male ganz deutlich und abgemessen irgendwo mit einem harten Finger geklopft, so: Eins – einszweidrei! wie nach einem Telegrammsystem. Er hatte zwar weiter geschlafen, aber jetzt glaubte er, dass er sich ganz genau erinnerte, und auch ein gewisses – Grauen wäre wohl zu viel gesagt – aber ein Angstgefühl war wieder da, nun, eben die Unruhe, die ihn heute erfüllte. Wahrscheinlich täuschte er sich auch nicht, wenn er dachte, dass ausserdem sein Name genannt worden war, wie in einer Unterhaltung, bei welcher man sich über ihn verständigte.

Nun, das war die Nacht. Jetzt herrschte der neue Tag. Er blieb stehen und steckte sich eine Zigarette an, wie um sich deutlich zu machen, dass eine Sache nicht die andere Sache sei. Aber ein kleines Misstrauen gegen diesen Tag sass ihm doch wie ein winziger gesalzener Haken im Fleisch. Er fühlte sich gewarnt, und seine Augen gingen wachsam überall herum, während er wie immer den Weg zum Geschäft grundsätzlich zu Fuss machte. Er schlug dabei einen kleinen Umweg durch den Park ein, und sobald er unter den Bäumen war, begann er mit dem Tiefatmen. Einmal lief eine Amsel ganz nahe vor ihm über den Weg von einem Buschdickicht ins andere – schnell und wild wie eine Ratte, so dass es ihm richtig auffiel. »Sogar eine Amsel kann etwas Unheimliches an sich haben!« dachte er verwundert. Dann legte er aber die runden weissen Fäuste vor die Brust und begann seinen Dauerlauf, den Kopf zurückgeworfen, die Brust frei und alle Glieder locker und gelöst, soweit das bei seiner leichten Verfettung gelang. Es gab da ziemlich einsame Wege, auf denen einem selten ein Mensch entgegenkam, und wenn schon, so wusste ja jeder Bescheid, da alle Welt heute an ihrer Ertüchtigung arbeitete. Es war sogar Pflicht eines jeden, um die Nation wieder auf die Höhe zu bringen.

Im übrigen legte er nicht viel Wert darauf, durch Ungewöhnlichkeiten hervorzustechen. Sein Taufname Irwin war vielleicht das Auffälligste an ihm, und für den war er nicht verantwortlich. Sonst tat und unterliess er, was ihm, wie er dachte, nach Stand, Vermögen und Bildung zukam. Er war Teilhaber an einem gutgehenden Seidengeschäft, das ihm abwarf, was er sich irgend vernünftigerweise wünschen konnte. Längst hätte er sich seines altgewordenen Kompagnons entledigen können, um den Verdienst künftig allein zu haben, aber dann hätte er auch das Risiko allein tragen müssen, und er sagte still und umsichtig: »Sorgen sind Vorboten des Todes, und den soll man sich so fern als möglich halten. Wenn alle nach diesem Grundsatz handelten, so sähe es auf der Erde vergnüglicher aus.« Vielleicht hatte er damit sogar recht. Sicher wäre es schwer, zu beweisen, dass die Menschen mit ihren Riesengeschäften und mit ihren gigantischen Interessen gesünder oder glücklicher geworden seien. Er aber vergass keinen Augenblick, dass seine Mutter, eine Tochter aus uraltem Kaufmannsgeschlecht, gemütskrank gewesen, und dass sein Vater, ein Untenherauf, ein unerbittlicher Arbeiter und Sparer, verhältnismässig früh am Herzschlag, an den Folgen von Arterienverkalkung, gestorben war. So hatte er hauptsächlich für ein gemütliches, warmes Nest gesorgt, und er sorgte immer weiter dafür, indem er Bilder, Kissen, Teppiche, Lampen, Nippes, neue Grammophonplatten, Vorhangstoffe und schönes Geschirr herbeischleppte. »Man muss gegen die Hinfälligkeit kämpfen!« sagte er und nahm es nicht übel, wenn seine Frau über den unnützen Tand redete. Manchmal dachte er: »Da sollte sie sehen, wie es bei Edith aussieht.« Aber zu andern Zeiten durchblitzte es ihn dunkel und ahnungsschwer: »Wenn sie davon erführe, wie würde sie es ertragen?« Dann tat er einen scheuen und reuevollen Blick über die vertraute, eindrucksvolle Gestalt. »Ihr Tod würde es sein!« sagte er überzeugt, und für den Rest des Beisammenseins war er zerstreut und unruhig. Gab es vollends im Gespräch etwas, das halbwegs auf ihn und sein Geheimnis passte, so konnte es sein, dass ihm der Schweiss ausbrach. Aber wenn er mit Edith im Restaurant bei einem guten Essen und bei einer Flasche edlem Wein sass, hatte er keine Angst.

Jetzt machte er also seinen Morgendauerlauf durch den Park, tief atmend, wie er es bei einem Lehrer der Gymnastik gelernt hatte, gesammelt und ganz auf den Zweck eingestellt. Federnd schnellte er sich dahin, die Knie klar nach vorn gestossen, nicht bloss so ein wenig gehüpft, den Kopf mit den wasserblauen Augen zurückgeworfen, und während er durch den geöffneten Mund atmete, glänzten einige goldene Zähne in der Morgensonne. Das Blau, das in den Augen zu fehlen schien, weshalb sie eigentlich immer einen leicht verängstigten Eindruck machten, fand sich dünn verteilt in den leicht geäderten Wangen und in den Lippen, die ein zur Mücke zurückrasiertes Schnurrbärtchen zierte, und die ganze zielbewusst in Schwung gesetzte Erscheinung im grauen Anzug mit peinlich gebügelten Hosen und neuen braunen Halbschuhen schien auszurufen: »Jetzt nur Vertrauen und Mut!« Die Vögel des Parkes umsangen ihn. Die Sonnenstrahlen schienen ihn zu kosen, wie sie überhaupt die Glücklichen lieben. Eine totgetretene Kröte auf dem Weg machte ihm schon nicht mehr einen so grossen Eindruck, obwohl er sie auch nicht gerade gerne bemerkte. Ganz so frisch wie sonst beim Laufschritt fühlte er sich übrigens nicht, aber die Tage sind verschieden, und deshalb gibt es diese Übungen, damit ein nicht mehr junger Mann sich stets wieder in die Hand bekommt. Gut durchpulst und mit Sauerstoff erfüllt kam er ins Geschäft. Aber sobald er die Räume betrat, war die Beklemmung wieder da, und still machte er sich an die Arbeit; der ganze Aufwand war umsonst gewesen. »Es stimmt was nicht!« sagte es wieder in ihm. Und dann deutlicher: »Etwas wartet auf dich!«

Beinahe zu seiner Enttäuschung brachte aber die Morgenpost nicht den kleinsten Ärger. Es lief im Gegenteil alles wie am Schnürchen, noch nie hatte er einen glatter und befriedigender verlaufenden Tag gesehen, geschäftlich gesprochen. Keine Ware musste wegen Fehlern zurückgenommen werden. Niemand wurde falsch und schlecht bedient. Den ganzen Tag kamen und gingen die Frauen aus allen Ständen. Sie traten ein mit leeren Händen und begehrlichen Augen, verliessen den Laden mit gestillten oder doch beschwichtigten Süchten und mit kleineren und grösseren Paketen; die grossen häuften sich zur Zustellung in der Botenstube. Er lächelte in rätselhafte Augen hinein. Ungezwungene leichte Berührungen mit gepflegten, duftenden weissen Händen ergaben sich, und es machte ihm nichts, dass die Hände nicht immer gerade die strengsten Besitzerinnen hatten. Es war Mai. Aus dem draussen schwebenden Sonnenglanz brachten die Käuferinnen gute Laune mit. Sie machten fast durchweg einen freigebigen Eindruck und schienen bereit zu sein, heute viel geschehen zu lassen.

Wer eine Frau richtig liebt, liebt die Frauen, und Schaffold im besonderen liess sich heute noch freudiger als sonst von einem Gefühle tragen, als ob er allen für die eine dankbar zu sein hätte. Aber die helle Regung hatte schwarze Schwingen, und sein Herz, obwohl mild überleuchtet, blieb dunkel und fühlte sich schwer an. Ausserdem, wen meinte er eigentlich mit der einen? Edith oder seine Lebenskameradin? Daneben war alles so schön und ungewöhnlich. Irgendwie erschien er sich ausgezeichnet, um nicht zu sagen, auserwählt, und aus dem gestaltlosen Kummer entwickelte sich sozusagen eine Art von Festlichkeit, die ihn veredelte. Für die Witze und interessanten Photos seines Kompagnons hatte er heute keinen Sinn. »Sie müssten doch endlich davon genug haben!« sagte er schliesslich zu ihm. – »Ach, so, elegisch?« erwiderte der andere. »Wissen Sie, mein Lieber, woher Elegie beim Mann kommt? Vom schlechten Magen. Von Natur schwach oder überfressen. – Man kann sich auch am Leben überfressen. – Trinken Sie einen Kognac. Guten Morgen.« Schaffold zuckte die Achseln.

Lange stand er dann vor dem Bild seiner Mutter, das seinen grossen Schreibtisch im Bureau schmückte, und besprach sich mit ihrem Geist. Einmal, bei einer Wendung, er wusste nicht, wie das geschehen war, stiess er sich scharf die Stirne an die Kante der von selbst hinter ihm aufgegangenen Schranktür. Seltsam angefochten starrte er in das leere dunkle Innere hinein. »Wie ein Sarg«, murmelte er und machte schnell zu. Etwas später sagte man ihm, dass die jüngste Verkäuferin, die krank gemeldet war, ganz schnell an Diphtherie gestorben sei, gerade vor einer Stunde. Es war die hübsche Liddy, die er eine Zeitlang als etwaige Freundin ins Auge gefasst gehabt hatte, um dann mit Rücksicht auf die Geschäftsmoral davon abzukommen. »Hättest den Tod geliebt!« dachte er jetzt. Das Vorkommnis hinterliess ihm eine peinliche Vorstellung. Ziellos strich er noch eine Weile in den hintern Räumen des Geschäftes herum. Dann prüfte er seine Erscheinung vor dem Spiegel im Bureau, wusch die Hände, gab sich zwei Spritzwolken Kölnisches Wasser aus dem Flakon, und als er sich umwandte, bemerkte er im halbdunklen Winkel neben dem Fenster gegen den Hof hin eine Gestalt, die seinem Blick einen Moment standhielt und dann verschwand. Er hätte nicht einmal sagen können, wie sie aussah; wie im Traume wusste er nur, dass also wirklich auf ihn gewartet wurde. Gefasst kehrte er der Ecke seinen Rücken, und noch etwas tiefer deprimiert, aber ruhig und würdig verliess er das Geschäft.

Als er aus dem Haus trat, tat er gewohnheitsmässig einen tiefen Atemzug, und zugleich richtete er den Blick, der den ganzen Tag ein gesperrt gewesen war, in die Weite und Tiefe, so weit es die Strassenlänge gestattete. Darauf, sozusagen mit einem kleinen Schluchzen, das so viel hiess wie: »Es gibt immer noch Trost!« schwang er ihn zur Himmelshöhe hinauf, um ihn in den blauen Abgründen vollends frisch und hell zu baden. Aber dabei entdeckte er ein hoch und geheimnisvoll dahinziehendes Flugzeug, das wohl gerade von einer weiten Reise heimkehrte. Wunderbar vergoldete ihm die tiefgehende Sonne Rumpf und Flügel, so dass es aussah wie ein übersinnliches Wesen, und wie eine überirdische Stimme klang das tiefe ferne Surren zu ihm herab. Aber schon wurde ihm der Ton unheimlich, er wusste wieder nicht, wie. Gleichsam im Traum verwandelte er plötzlich seine Bedeutung; alles wurde ängstlich, und die ferne Stimme erinnerte ihn an das Gespräch in der Nacht, worin sein Name laut geworden war. Auf einmal fiel ihm ein: »Dort fliegt vielleicht der Tod dahin!« Schnell wandte er die Augen nach der Strasse. Elegante Autos glitten in sausendem Tempo dicht an ihm vorbei, so dicht, dass, wenn er die Hand ausstreckte, er sie bestimmt blutig zurückziehen würde. Ja, was diese Wunderdinge umblitzte und umschnob, war die Schönheit der Gefahr. Er nickte schwermütig und drehte das Wort um: »Gefahr der Schönheit!« Auch das schien ihm tiefsinnig zu sein. Dann sagte er laut: »Eigentlich spukt der Tod durch alle diese Strassen und über die Plätze!« Wieder glaubte er die Gestalt von vorhin zwischen zwei Wagen auftauchen zu sehen, aber schon war sie wieder weg, und er schüttelte den Kopf.

Mit einem gewissen Edelmut, der den Schwermütigen eigen ist, und der bewies, dass er eben nicht ein reiner Hypochonder war, schüttelte er alles von sich ab und überlegte, dass man heute abend wieder einmal nach dem Lunapark gehen könnte, um unter Lampions und Sternen im Freien zu essen, zu trinken und tanzen zu sehen. Vielleicht tat man selber den einen oder andern Schritt mit Edith, das brachte das Blut noch besser in Wallung als der Dauerlauf. Nur nach Hause musste er dann telephonieren, dass er mit Otto ein wenig bummeln gehe. Er trat in die nächste öffentliche Fernsprechzelle und erledigte das kleine Arrangement. Solch eine Stimme am Telephon klang doch wie aus einer andern Welt, als ob eines von beiden gestorben und ins Jenseits abgegangen wäre. Und wer war es nun von ihnen beiden, er oder seine Frau? »Es ist gut«, sagte sie mit ihrer bequemen und selbstversicherten Redeweise. »Trink nur nicht zuviel.« Wie anständig von ihr, dass sie ihm alles glaubte. Man sollte eigentlich kein Gewissen haben, wenn man leben wollte, wie die meisten leben. Ob sie wirklich nicht auch immer über ihr Gewissen hinweg steigen mussten? Er hätte es gern gewusst, aber er wagte nicht, mit einem seiner Freunde davon anzufangen. »Jedenfalls muss sie in den nächsten Tagen ein Stück besonders schöne Seide für ein neues Kleid bekommen!« beschloss er.

Nun aber kehrten sich alle seine Gedanken und Empfindungen der Freundin zu. Ausserdem begegneten ihm wieder so viele herzerfreuende Frauengestalten, dass es ihm jetzt, umgekehrt als vorhin, war, als müsste er Edith für ihre Geschlechtsgenossinnen danken. Denn er liebte das Mädchen wirklich. Es gab da Eigenartigkeiten an ihr, die waren wahrhaftig nicht nichts. Ach, hole doch der Teufel die Hoffart des Geistes! Er wurde jetzt trotzig. Er bellte wider. Ein Anflug von Gottlosigkeit kam über ihn. Ein wenig ruchlos sagte er: »Heute ist heut. Und wer hat es so eingerichtet? Ich jedenfalls nicht. Und den wollte ich sehen, der mir das Mädchen aus den Zähnen risse! Überhaupt, dreinreden kann mir bloss der, der weiss, was ich weiss, und der tut es gerade nicht, weil ich das selber bin. Siehst du.« Eine Art von geistigem Schnippchen folgte diesen frechen Worten. Und da er weder gehemmt noch knickerig war, so beschloss er, dem Gefühl einen festen Ausdruck zu verleihen, zumal er gerade das Schaufenster eines Geschäftes für Galanteriewaren bemerkte. Interessiert trat er herbei, um vorerst die Ausstellung zu mustern, in der Erwartung, durch sie auf eine Idee zu kommen. In der Tat eräugte er eine grüne Tasche, die wahrscheinlich raffiniert zu dem grünen Seidenkleidchen Ediths passen würde, und indem er das feststellte, fiel es ihm selber auf, wie bewegt und offen er heute war, sogar geradezu gefährlich offen. Die Tränen schossen ihm in die Augen vor Ergriffenheit, während ihm das liebe, leichte, hübsche Kind so recht deutlich vor Augen trat in seinem zerbrechlichen Leichtsinn und in seiner Unschuld bei allem Mangel an Sittenstrenge. Sein Herz gewann solch eine wertvolle Schwere, dass er seufzte, und vor Vorausahnungen des Glückes, das ihn wieder erwartete, wurde er trauriger, als er im Laufe dieses traurigen Tages je gewesen war. Geradezu eine Art von ahnungsvoller Düsterkeit kam über ihn, und verwirrt ging er in das Geschäft, um das Täschchen zu kaufen.

Edith würde heute wohl nicht billig wegkommen, und es war unsicher, ob er mässig sein würde. Im Gegenteil, es war in ihm wie vor einem gewaltigen, unerwarteten Ausbruch, und dazu, als hätte dieser Ausbruch sein ganzes Leben hindurch auf ihn gewartet. Etwas Unersättliches stieg in seinem Schlund auf, als möchte er trinken und trinken ohne Aufhören, und sein Ich wollte zugleich ausströmen und ausströmen, bis er tot hinstürzte. Denn hatte es nicht die ganze Nacht geklopft, und war nicht sein Name genannt worden? Er wollte schon gehen, da fiel ihn noch einmal der Trotz an, und er kaufte nun gerade noch ein Necessaire, von dem Stück für Stück aus reinem Gold war, wenn auch nur leicht und flüchtig, aber alles zusammen erschien ihm so hold und ausschweifend, so edithisch, dass er nun ernstlich erschüttert zahlte und den Laden verliess. »Im Laster ist etwas Heiliges!« dachte er wie flüchtend, »man kann sich hineinretten. Man sollte als armer, verlorener, sterblicher Mensch überhaupt nur Laster treiben.« Begeistert und sehr ernst vor Blasphemie bemerkte er gar nicht, oder es fiel ihm nicht auf, dass er zu dem grünen Täschchen eine Dreingabe bekommen hatte, die er mit aus dem Laden hinaus nahm, ohne dafür zu danken. Er wusste zuerst nicht einmal, worin sie bestand, bloss dass er sie erhalten hatte, flog ihn als Ahnung an, und er merkte es eigentlich nur daran, dass er wieder düsterer wurde. Er brauchte den Gegenstand auch nicht zu tragen, denn wunderbarerweise ging er von selber mit, oder er schwebte neben ihm her, jedenfalls begleitete er ihn über den Platz, auf dem in den Parkanlagen der Flieder blühte, über dem auf einer ausgrünenden Kastanie eine Amsel sang – träumerisch huschte ihm die Amsel von heute früh wieder durch den Kopf –, wo in grossen Beeten Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht lachten, und schon waren Goldregen und Weigelien zum Aufbrechen bereit.

Man konnte sagen, die Amsel schrie aus vollem Halse, und er sah sogar in der niedergehenden Sonne ihre Augen funkeln; es machte einen angriffslustigen und ein wenig bösen Eindruck. Ja, wer bewies einem, dass solch eine Amsel nicht direkt ein dämonisches Geschöpf aus einer andern Welt sei? Man hatte sich an die Nachbarschaft nur gewöhnt, und die Zoologen hatten sie sogar klassifiziert! Beiläufig entdeckte er übrigens, dass die Dreingabe, die er zur grünen Tasche bekommen hatte, ein Sarg war, ein schwarzer, braun geränderter Sarg, der, immer auf diese geheimnisvolle Weise, ihn begleitete wie etwa ein zugelaufener Hund, und der bereits still, unaufdringlich und unabwendbar zu ihm gehörte. Er wunderte sich nicht einmal gross darüber. Einen Blick tat er auf die Leute, die ihm begegneten, um zu sehen, ob es ihnen auffiel, aber niemand machte den Eindruck; sämtlich sehen sie aus, als ob sie alles, was sie bemerkten, in der Ordnung und nicht weiter aufregend fänden. Das gab ihm von neuem zu denken, nicht so, dass er wieder ängstlich oder niedergeschlagen geworden wäre, obwohl auf einmal das Licht um ihn her abnahm und es auf merkwürdige, sozusagen nicht atmosphärische Art kühler wurde. Auch war das Licht nichts Optisches mehr, es war bestimmt etwas Überirdisches. Eine kleine Beklemmung, die ihn ja immerhin heimsuchte, empfand er sozusagen dichterisch, und die musikalisch gesteigerte Traurigkeit umwob ihn wie ein altes Lied, in das man sich versenkt, obwohl man keinen Moment vergisst, dass es nur ein Lied ist, aber jedenfalls ist es auch Schönheit.

Er kam nun in eine etwas abgleitende Strasse, in der er eigentlich nichts zu suchen hatte, in die ihn auch früher der Weg selten oder sogar nie geführt hatte. Doch hatte dies fremde und abgewendete Gesicht, das sie zeigte, damit nichts zu tun; es war wieder eine jenseitige Erscheinung. Aufmerksam und äusserst aufnahmebereit blickte er um sich, um nichts zu versäumen; ihm schien, als ob er sich in einer Stadt auf dem Mond befände. Aus den Querstrassen blies ein wundersam und etwas aufschreckend pfeifender Wind, dessen Unsichtbarkeit hier auffällig wurde, und auch das Hörbare war irgendwie unwirklich und nicht für ihn berechnet; er kam sich bereits wie ein Eindringling vor. Aber der Sarg, der ihn weiter begleitete, diente ihm wie eine Art von Pass oder Ausweis, und man liess ihn, Irwin, auf sich beruhen, obwohl seine Absätze, wie er selber empfand, sehr störend und grob auf das Pflaster klopften.

Übrigens begegnete ihm nun keine Menschenseele mehr. Auch das fand er in Ordnung. Es verschaffte ihm eine kleine, doch gut zu habende Bangigkeit, und zugleich machte es ihn stolz, es erhob ihn wieder vor seinen eigenen Augen, ohne dass er sich über die Auszeichnung besonders auf hielt. So kam er an das Ende der Strasse, wo es überhaupt nicht weiter ging. Eine Mauer erhob sich quer dazu, deren Art oder Bestimmung nicht auszumachen war, und an der Mauer erwartete ihn seine Geliebte, Edith mit den schlanken Beinen und den kleinen festen Brüsten. Aber sie war in ein ungewohntes, langes, graugelbes Gewand gehüllt und kauerte in einer geradezu mythischen Haltung am Fuss der Mauer, so dass er sich unbestimmt an die scheusslichen hockenden nordischen Gestalten erinnert fühlte, die Mephisto, im zweiten Teil des »Faust«, in einer Felsenhöhle auf treibt. Von einer derselben leiht er die Maske, um nachher die schönen Griechinnen darin zu erschrecken. Es war mehrere Jahre her seit der berühmten Aufführung, aber die Szene hatte ihm einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Plötzlich sah er, dass es die Erscheinung war, die in der Ecke des Bureaus auf ihn gewartet hatte. Doch schon verwandelte sich alles wieder märchenhaft.

Gerade hatte er mit ein paar launigen, gefühlvoll witzigen Worten nach seiner Art Edith das Täschchen im Karton überreicht, und Edith hatte es auch entgegengenommen. Aber das war alles so eigentümlich verwischt. Das Täschchen leuchtete plötzlich, von selber ausgewickelt, mit seiner grünen Seide in dem Zwielicht auf. Er erfuhr auch nicht, wie sie eigentlich das Geschenk aufnahm, weil nun seine Aufmerksamkeit auf den Sarg gelenkt wurde, der auf der Erde Platz genommen hatte. Der Deckel hatte sich davon abgehoben. Das leere wartende Innere tat sich auf. Und Edith sagte: »Jetzt hineinspaziert, mein Lieber. Du wirst sehen, es ist ganz nett –!« Die Stimme war bekannt aber zugleich fremd, wie wenn sie hinter einer Maske oder Larve hervor käme, so dass Irwins Blick den Sarg verliess und sich auf seine Gesellschafterin richtete. Das war zwar noch die hübsche, verständige Edith, gar nicht flatterhaft oder habgierig, sehr geeignet für die Beiseiteschaffung von Vermögenswerten, aber es war sie zugleich nicht mehr, denn in ihren immer lachbereiten Zügen erschienen nun die Umrisse eines Totenkopfes, mit einer lederartigen, trockenen Haut überzogen, und während er noch schaute und staunte, erkannte er, dass er sich dem Tod selber gegenüber befand. Der letzte freundliche Anklang an das Weiblich-Geschlechtliche verflog, und ganz geschlechtslos, trocken, gerecht und pedantisch, ein wenig roh und grob, doch auch seltsam gutmütig und nachsichtig hatte er den berühmten und gefürchteten Zeitgenossen aller Generationen und Epochen vor sich.

»Also jetzt hineinspaziert«, sagte er noch einmal und nun ganz mit der Stimme des Todes, die etwas pfeifend Wehendes hatte, etwas Schneidendes und Schmerzhaftes, wie eine Stimme ohne Luftröhre und Kehlkopf, und an die Stimme in der Nacht erinnerte sie ihn auch, aber wieder klang es auch gut zuredend und sogar vernünftig. Gerade versank der letzte Funke des Blickes in die Augenhöhlen zurück, und es starrte ihn das blicklose letzte Geheimnis des Abgrundes so faszinierend überzeugend an, dass er, trotz der grossen Betretenheit, die ihn nun überkam, wieder geruhig und gefasst blieb. Noch einmal sah er nach dem Sarg, der jetzt unpersönlich und wie in sich versunken dastand und nur wartete – ohne Geist, ohne ein belebtes Selbst, ein entlarvter Betrug denn wie dichterisch und eigenartig hatte er sich bei Irwin eingeführt! –, und ihn wandelte eine stille, leicht bittere Verachtung gegen ihn an. Doch begriff er, dass alle Bedeutung sich in die fahle Gestalt an der Mauer vereinigt hatte, und die stieg nun so sagenhaft und urweltlich auf, dass er auch dem Sarg zu verzeihen vermochte. Folgsam-ernst wie ein Knabe sagte er: »Ja, ja, ich will ja schon, wenn es so ist.« Er wandte die Augen wieder ganz dem Tod zu, und nach Überwindung einer Schüchternheit fügte er noch bei: »Versprich mir nur, dass ich nicht sehr leiden muss –!« Er fühlte wohl das Kleine und Feige in der Bitte, aber er war jetzt in der Lage, auf alle Eitelkeit zu verzichten; zudem, wie übermächtig gross stand diese Gestalt da, der er in die Falle gelaufen war, und wie flüchtig unbedeutend war ein Menschenleben. Da brauchte man sich seiner Schwächen wohl nicht mehr zu schämen. Vertrauend blickte er dem Tod in die leeren Augenhöhlen; da er sich nicht wehrte, da er keinen Widerstand gegen die Todesgewalt leistete, so würde ihm sicher diese Rücksicht zugebilligt werden. Aber darin irrte er sich.

»Nichts da!« pfiff und wehte es ihm entgegen; ein gewisses Heulen war auch in der Stimme. »Hineinspaziert. Ich kann mich auf keine Bedingungen einlassen.«

Irwin wunderte sich, wie eine hehre Gestalt so geradezu und rustikal sprechen konnte, und das sogar, ohne an Achtung zu verlieren. Das erbitterte ihn nun deutlicher. »Jeder hat die Vorstellungen und Manieren seines Standes!« dachte er trübe verwundert. Und wie hatte er immer für Humanität und Liberalismus gekämpft seit seinen ersten Anfängen. »Aber man strandet stets an den grossen Mächten, die inhuman und krass absolutistisch sind.«

»Ich gehe nicht hinein«, versetzte er trotzig und verstimmt, »wenn du mir das nicht versprichst. Für dich ist das eine Kleinigkeit. Man muss doch auch billigdenkend sein. Was hast du davon, wenn ich gequält werde?«

Der Tod schüttelte den schrecklichen Kopf.

»Es ist nicht zu machen. Wir spielen hier kein Theater. Also lass das Reden.«

Diese Stimme begann nun fürchterlich zu werden. Trotzdem zuckte und bebte in Irwins Seele eine machtlose aber redlich leidenschaftliche Liebesbeflissenheit oder gar Liebessehnsucht in Richtung auf die schreckliche Gestalt, und er wäre masslos glücklich gewesen, wenn die gewaltige Erscheinung hätte mit ihm nett sein wollen, er wäre ihr sogar selig und unaussprechlich gehoben in die Arme gefallen. Statt dessen nahm eine solche Enttäuschung von ihm Besitz, dass er hätte weinen mögen, aber er zog es vor, spöttisch, ja, sogar höhnisch zu werden. Immerhin war er doch nicht irgendwer. Man hatte ihn nicht daran gewöhnt, mit sich wie mit einem Bettler oder auch einem gewöhnlichen Arbeiter, einem Proletarier reden zu lassen.

»Ein solches stures Verhalten macht nirgends einen guten Eindruck«, erklärte er, indem er gereizt auf das grüne Täschchen blickte. »Man muss geschäftlich sein. Man muss sich rangieren, besonders dann, wenn man sieht, dass der Partner im Grund willig ist. Herrgott, man muss den Leuten doch die Entschlüsse erleichtern. Irgendwie muss man den Fortschritt der Psychologie auch in den äussersten Grenzposten des Lebens zu spüren bekommen, sonst hat alles keinen Sinn mehr.«

Ärgerlich und beunruhigt scharrte er mit der Spitze seines modischen neuen Halbschuhs auf dem Boden. Wirklich kam seine ganze Philosophie ins Wanken, und er wurde jetzt ernstlich böse. Eine kleine Pause entstand.

»Ich will dir was sagen«, hörte er dann den Tod noch einmal reden. »Steig immer hinein. Tu so, als ob ich dir das Versprechen gegeben hätte. Das Weitere wird sich finden. Es ist mein letztes Wort.«

Wirklich schien der Furchtbare verlegen zu werden. Flüchtig kam es Irwin vor, als schämte er sich dieses krämerhaften Todeskandidaten, und die Gefahr focht ihn an, einem noch Furchtbareren in die Hände zu fallen. Aber schnell und stolz schüttelte er die Anwandlung von sich ab, und im Gegensatz dazu nahm er jetzt seine Worte so hoch als möglich. Die Einsamkeit und die Welt Verlorenheit um ihn herum hatten inzwischen noch zugenommen. Eine fast sichtbare Kälte brach herein, die aber mit keinem Thermometer gemessen werden konnte. Es wurde so still, wie es vielleicht nur am Nordpol ist, und nachgerade war nichts mehr zu sehen als die fahle wilde Gestalt und die Holzkiste am Boden, die sich umsonst bemühte, ein feierliches Aussehen anzunehmen. Nur lächerlich und verärgernd wirkte sie bei diesem Mangel an gehobener Stimmung.

»Ach so, du hast wohl Rücksicht zu nehmen«, spottete er ehrlich erbost. »Du hast jemand zu parieren. Du bist kein souveräner Herrscher. Es ist wohl ›Gott‹, vor dem du dich kuschen musst, was? Na, mir ist's egal. Wenn du nicht willst, wie ich will, so will ich auch nicht, wie du willst. Weisst du, was?« Und jetzt steigerte er sich geradezu in einen hohnvollen Übermut. Sollte man denn wirklich gleich auf alle Menschenrechte und auf seine Geistfreiheit verzichten!? »Weisst du, was? Du kannst mir den Buckel hinunterrutschen. Ich gehe wieder. Du hast es nötig gehabt, die Gestalt meiner Edith anzunehmen, um mich vertraulich zu machen. Daraus sehe ich, dass alles ein angelegter Betrug ist. Es ist sowieso bekannt, dass du die Guten und Gerechten am meisten heimsuchst, weil sie Sinn für Anstand und Billigkeit haben, während dir die Bösen das Leben schwer machen. Schon Salomo wusste das. Schön dumm sind wir. Leb wohl, Bauernfänger. Ein andermal wieder. Ich werde jetzt unter den Menschen für Aufklärung sorgen. Gegen diesen Trick sind wir noch nicht genug versichert –!«

Noch vieles andere und Treffende hätte er ihm sagen können. Aber den Rest drückte er in einem zornigen Fusstritt aus, den er dem Sarg versetzte, und mit einem überlegenen Lachen über dessen hohlen, hölzernen Aufschrei hob er sich davon. Er war in seiner gerechten Wallung nicht einmal gespannt darauf, was der Tod nun an Gegenmassnahmen aufbringen werde, doch bemerkte er nicht ungern, dass dieser ihn, wie es schien, ruhig davongehen liess. Da liess er sich nicht blöde finden, sondern schritt rüstig aus. Schon kehrte ihm das Gefühl von seinen federnden Muskeln zurück und die erfrischende und auf richtende Vorstellung seiner durchtrainierten guten Haltung. O, noch war man nicht so weit, dass man sich auf Gnade und Ungnade ergeben musste. Mangel an Gerechtigkeit und Billigkeit verstimmt. Man befand sich nicht mehr im mythischen Zeitalter, in welchem die rohe Willkür herrschte. Gewiss, das Leben war noch immer ein Märchen, aber wohl verstanden, unter Ausschluss des ungerechten bösen Zauberers. Alle Achtung vor den Naturgesetzen, aber selbst die mussten sich Besänftigungen und Milderungen gefallen lassen. Ein wenig beunruhigte es ihn, dass er immer noch nicht wieder Menschen sah. Die Strasse kam ihm jetzt länger vor als vorher. Aber da tauchte gerade ziemlich weit vorn eine erste Helligkeit auf. »Aha, die Lichter des Lebens!« dachte er erfreut. Wenn es ihm nicht zu knabenhaft vorgekommen wäre, so hätte er die Fäuste vor die Brust genommen und einen kleinen Laufschritt angesetzt. Jetzt zuckte ein farbiger, holder Flammenschein auf, und eine Rakete fuhr frohsinnspendend in die Luft, wo sie in hundert köstliche Funken zerstob. »Der Lunapark!« sagte er zu sich. »Da ist heute Feuerwerk und – ach richtig, Krönung der Schönheitskönigin.« Schöne Frauen in dünnen Trikots geisterten ihn versprechend aus der Ferne an. »O Königin«, ging es ihm sinnreich durch den Kopf, »das Leben ist doch schön.«

Nun kam sogar ein kleines Wippen in seine Füsse. Schon schien es ihm, dass er sich mit der Stadtgegend wieder auskenne, da geschah ihm etwas ganz Seltsames und Unerwartetes, aber es war genau so selbstverständlich wie überraschend. Ohne dass er etwas in seinem Rücken vernommen oder sonst gemerkt hätte, brach eine harte, grobe, knöcherne Faust von hinten in seinen Brustkorb ein, ganz einfach und wortlos, aber ungeheuer überzeugend. Ein tiefer, weher, sozusagen endgültiger Schmerz durchzog ihn. Etwas unsäglich Gemeines und Rücksichtsloses ging mit ihm vor, ohne allen Respekt und unter einer direkt stupiden Beiseitesetzung seiner Verdienste und gerechten Ansprüche.

Zuerst blieb er tödlich überrascht stehen und horchte nur nach innen, wo dies Unerhörte in seinem Eingeweide geschah. Dann wandte er, unter der ersten vagen Erkenntnis, den Kopf zurück, ohne irgend etwas oder jemand zu bemerken. Bloss die öden Umrisse des Sarges an der Mauer hinten sah er, aber der Raum dazwischen war vollkommen leer. Nein, er war nicht ganz leer. Wie spottend und unaussprechlich grün schwebte das Täschchen in seiner Nähe in der freien Luft, und seine Haare begannen sich leise aufzurichten. Er begriff, dass er es mit dem Tod verspielt hatte, nicht einmal sehen liess er sich mehr von ihm. Das tat ihm aufrichtig leid, denn er hatte die frechen und herausfordernden Worte ja wirklich nicht so ernst gemeint. Er war doch eine liberale Natur.

Furchtbar verlassen und gedankenlos von der Bestürzung über diesen Ausgang beladen, kehrte er endlich um und nahm still den Weg zum Sarg zurück. Noch einmal kam ihm alles überirdisch vor. Noch einmal hörte er den Wind aus den leeren Nebengassen pfeifen. Noch einmal und stärker als bisher sah er das Licht der Welt abnehmen. Ein unabsehbares Bedauern, er wusste nicht mehr, worüber und weshalb, umgab ihn wie ein Meer, in dem er nun »spurlos«, wie eine Stimme in ihm sagte, unter gehen sollte.

Gerade bemerkte er mit seinem getrübten Augenlicht noch den Sarg. Mit der letzten Kraft, von einer wunderbaren und vernichtenden Müdigkeit niedergezogen, stieg er hinein. Eigentlich war er darauf gefasst, noch einen Fauststoss oder einen Fusstritt zu bekommen, und mit einem letzten kümmerlichen Aufatmen stellte er fest, dass man die Tragik seiner Menschlichkeit zu achten schien. Und während ihn eine verwirrte, schwermütige Scham überblühte, als ob alle Gemeinheiten und die letzte grosse Niederlage seines Lebens Blumen zu treiben begännen, bettete er sich gütlich seufzend in sein letztes Gehäuse, das ihm nun nicht mehr so dumm und hölzern, sondern schon ein wenig wohnlich vorkam. So hatte er sich als kleiner Knabe, nachdem genug Faxen und Umstände von ihm gemacht worden waren, auf das endgültige Machtwort in sein Gitterbettchen gefügt.

Erschüttert faltete er die Hände. Noch einmal konstatierte er, dass dies Verfahren zwar roh sei, aber dass es doch nicht einer gewissen Gutmütigkeit und Grösse entbehre. Dann wurde es ihm bitter im Mund. Der kalte Schweiss brach ihm aus. Ein Weinen, das noch aufkommen wollte, verkloste sich in seiner Kehle. Die hehre Gleichgültigkeit der ewigen Gesetze, die über ihn hinweg zog wie eine kalte, wild sausende Wolke, erlebte er nicht mehr, sie hätte sonst vielleicht sein Selbstgefühl noch einmal beleidigt.


 << zurück weiter >>