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Dug

Für R. S. G.
Von Dorette Hanhart

Dugs Jugend verlief im Umkreis von Menschen, deren launenhafte Handlungen sich nach dem Augenblick richteten. Was heute gut geheissen wurde, hiess am andern Tag böse; auf Zärtlichkeiten folgte grösste Gleichgültigkeit; Belehrungen an das heranwachsende Kind über Zweck und Notwendigkeit des Daseins wurden durch eigene selbstische Taten wertlos gemacht. Dug sehnte sich nach ebenmässiger Dauer und wurde doch von dem Karussellspiel mitgerissen. Ein Gefühl der Blutleere plagte sie; unnötiger Kräfteaufwand um nichts machte sie oft vor Wut schäumen. Dann schwor sie sich, die Fesseln zu zerreissen, aus dem entnervenden Umkreis zu fliehen. Stiess sie aber wieder auf jene zärtliche Gefühlswelle, so fehlte ihr der Mut dazu. Ewig hungernd öffnete sie sich wie eine Blume dem Tau; sie nahm den Augenblick als unverrückbar und warf sich ihre ehemalige Härte vor. Sie weinte vor Schwäche und Glück und kam sich dabei irgendwie, kaum wahrnehmbar, verächtlich vor in ihrem Wunsch nach völligem Vergessen. Dieser missachtete Stolz rächte sich beim nächsten Auftritt um so grausamer.

Aber erst ihre Anstellung als Bibliothekarin in einer andern Stadt brachte sie aus dem gefährlichen Umkreis. Sie hatte vorerst Mühe, sich an die frische Luft zu gewöhnen. Der Zickzackweg vieler Jahre war ihr bereits geläufiger als die gerade Strasse. Man fand sie nicht einfach und offen genug. Ihr erstes Misstrauen wechselte allzu rasch mit strömender Offenheit. Nahm man diese nicht an, wie sie erwartete, zog sie sich traurig zurück.

Da begegnete sie Weissmann. Er kam täglich in die Bibliothek, weniger, um dort zu arbeiten, als sie bei ihrer Beschäftigung zu sehen. Das Mimosenhafte dieses scheuen Wesens rührte ihn. Als er sie beim Verlassen des Gebäudes wie zufällig auf der Treppe begegnete und ein Gespräch anknüpfte, betrachtete auch sie ihn wie erwachend. Er war gross und breitschultrig; helle Augen standen erwartungsvoll in einem klugen Gesicht. Dieser rasche Blick überstrahlte eine vorzeitige Neigung zu Behäbigkeit. Ja er machte den Eindruck, als wollte er um jeden Preis abgesteckte Pfähle überrennen. Und gerade dies gefiel Dug ausserordentlich gut. Man musste sich unbedingt versucht fühlen, diesen kühnen Augen zuzustimmen; andern Teils lockte es nicht minder, sich in den Schutz des besonneneren Menschen zu begeben. Als sie zur Haustüre heraus traten, regnete es. Dug besass keinen Schirm. Christoph Weissmann öffnete zufrieden lachend den seinen. Er erwies sich von beträchtlicher Grösse und Dug fühlte sich darunter geborgen auf eine neue Weise. Sie gingen zusammen bis vor ihre Haustüre. Am andern Abend sahen sie sich wieder und so jeden Tag. Sie sprachen nicht viel von sich und hatten doch das Gefühl, sich ausgezeichnet zu kennen. Es kam Dug selbstverständlich vor, dass sie sich so gut verstanden. Sie gewann dadurch ein strafferes Lebensgefühl; die Hinfälligkeit eigenbrötlerischer Leiden machte sie nachdenklich. Etwas anderes spürte sie ebenfalls stark. Christoph Weissmann wuchs zu einem Teil ihres Lebens. Sie erfuhr es eines Tages erschreckend klar.

Ihr Freund verreiste für einige Tage. Die erste Zeit verlief für Dug in einer gleichmütigen Freude auf das Wiedersehen. Sie ging auf die Bibliothek, arbeitete mit Lust, abends schlenderte sie durch die belebten Strassen. Alles gefiel ihr. Der ehedem ewig brennende Durst nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit wich der Freude am Zuschauen. Sie sah in dieser Zeit keine Bekannten. Sie wünschte nicht von ihren frohen Gedanken abgelenkt zu werden. Aber am sechsten Tage nach Weissmanns Abreise – sie hörte in dieser ganzen Zeit nichts von ihm – erwachte sie in der Nacht unter einem schweren Druck. Etwas hatte sie gestreift. War es ein Traum? Ihr Herz klopfte wie ein Hammer. Allmählich erriet sie, was sie auf heftige Weise erschreckt. Es war das Urgefühl grenzenloser Verlassenheit. Wo weilte Christoph? Weshalb wusste sie es nicht? Besass sie kein Anrecht auf Vertrauen? Sie hatte wohl Gefühle in sich genährt ohne fremdes Zutun. Nichts gab ihr das Recht dazu. Blüten und Blumen wuchsen aus eigenem gehätscheltem Boden. Sie versank immer gleich ins Grundlose.

Sie fühlte sich traurig und verzagt und wünschte Christoph nie mehr zu sehen. Gleich darauf ersehnte sie inbrünstig sein Kommen.

Am andern Tag erschien er bei ihr. Er nahm ihre beiden Hände und zog sie zum Fenster. Es dämmerte stark. Dug wollte das Licht einschalten, aber Christoph gab ihre Hände nicht frei. Er sagte rasch und wie beiläufig, dass er sich in seiner Vaterstadt verlobt habe. Von weit her erreichte sie seine Stimme. Sie sah auch, wie seine Lippen sich bewegten. Ein Eckzahn war vorgeschoben. Weshalb fand er wohl keinen Raum, überlegte sie. Christoph hatte sich verlobt. Nun ja, man verlobte sich eben eines Tages. Das lag im Lauf der Welt. Die Blumen in jenem Gefäss schienen ihr abscheulich verwelkt. Sie musste sie sogleich wegwerfen. Sie wollte einen Schritt nach jener Richtung hin tun; eine schwere Unbeweglichkeit lähmte sie. Erst in diesem Augenblick hatte sie richtig verstanden. Warum erzählte er ihr früher nie von dem Mädchen, das er liebte? Eine brennende Scham würgte. Sie sah sich mit Blitzesschnelle wie in einem Spiegel. Durchforschte sich Zug um Zug. Liess sie nicht allzu oft ihre Gefühle für diesen Mann durchblicken? Feindseligkeit gegen sich und ihr verratenes Innere machte sie wach. Ihre Hand lag noch immer in der seinen. Sie machte sich mit einem Ruck frei, drehte das Licht an und legte in ihr äusseres Tun gleichgültige, wenn auch zitternde Gewöhnung.

Weissmann sagte schlicht: »Ich möchte Ihnen heute alles erzählen.«

Sie zog ihren kleinen Lehnstuhl aus dem Bereich der Lampe; er stand am Fenster. Die ganze Zimmerbreite lag zwischen ihnen. Seine Worte tönten seltsam dürr. Es war die Geschichte einer Jugendliebe. Sie lag weit zurück. Zähigkeit für das verpfändete Wort ersetzte das Zuströmen neuer Gefühle. Jenes Mädchen, von Ehrgeiz für sich und den zukünftigen Mann besessen, hatte anfeuernd hinter seinen Studien gestanden. Alles, was diesen nicht diente, dünkte sie verächtlich. Sie schien keine Jugend zu kennen. Was sie von ihrem Lehrerinnengehalt erübrigen konnte, wanderte in die Reisekasse für den zukünftigen Kunsthistoriker. Sie kleidete sich beinahe dürftig und besass wegwerfenden Spott für die Freude gleichaltriger Mädchen an weichen, schönen Stoffen. Sie fand sich wert genug, auch so geliebt zu werden. Lehnte sich Christoph Weissmann zu Zeiten auf gegen die Vergewaltigung jedes Lebensgefühls, so schaute sie ihn mit prüfenden Augen an und sagte ruhig: »Du kannst doch tun, was dir gefällt.« Am andern Tag brachte sie ihm ein längst gewünschtes, wertvolles Buch mit prachtvollen Kunstblättern. Nebenbei erwähnte sie auch, dass die Kasse die Reise nach dem Orient für sie beide in kurzem ertrage. Er bewunderte ihre Ausdauer und sehnte sich nach Wärme.

Als er in eine andere Stadt übersiedelte, kam kein Wort des Bedauerns über ihre Lippen. Es musste eben so sein; sich zu grämen bedeutete Kraftverschwendung. Beim Abschied übergab sie ihm die entzückende kleine Bronze, eine Tänzerin, die sie einst zusammen in der Auslage eines Händlers bewundert.

Ihre Briefe kamen regelmässig. Christoph las sie ruhigen Blutes. Er beantwortete sie gewissenhaft, die Zigarette im Mund. Einmal sah er in dem Schaufenster eines Luxusgeschäftes ein Spitzentuch. Er bekam Lust, etwas Überflüssiges, Frauliches zu kaufen. Seine Hand griff in das feine Gewebe. Zu Hause angelangt, kamen ihm Bedenken. Marta würde es nie umlegen. Kaum schlüge sie einmal das Seidenpapier auseinander, um es anzusehen. Er schickte es nicht ab. Dann lernte er sie, Dug, kennen. Er stockte, kam auf sie zu. Sein Mund bebte.

Sie war ganz anders. Sie schlug ihm eine Brücke von der bis dahin schmucklosen, dürftigen Welt zu all den Dingen, mit denen er sich beschäftigte. Er nahm die Säfte des neuen Bodens in sich auf. Wohl erwies es sich als gefährlich. Ja, und er erlag der Gefahr. Als ihm dies bewusst wurde, reiste er in seine Heimatstadt, um mit Marta zu reden. Nur sie konnte ihn frei geben. Sie besass sein Wort. Konnte es nicht anders sein, so wollte er es auch halten. Zum erstenmal in seinem Leben sah er Marta weinen. Er sah nieder auf ihren schmächtigen Rücken. Das übereinfache Kleid erzählte von Einschränkungen seinetwegen. Aus dem gescheitelten Haar schimmerten vereinzelt graue Fäden. Er sagte zu ihr, dass er zu überwinden trachte. Bevor er abreiste, machten sie ihre Verlobung bekannt.

Aber nun setzte zwischen Christoph und Dug jenes Erleben ein, das kaum diese brennende Eindringlichkeit angenommen hätte, wenn ihm nicht von vorneherein eine nahe Grenze gesetzt worden wäre. Sie beschlossen an jenem Abend, unter dem Eindruck gegenseitiger Verantwortlichkeit stehend, sich für eine gewisse Zeit zu meiden. Jedes würde sich allein rascher an das gewendete Schicksal gewöhnen. Nach wenigen Tagen schon löste sich aus dem Dunkel des Hausflurs Christophs Gestalt, als Dug die Treppe der Bibliothek herunter kam. Er sagte, dass er eben in der Nähe zu tun gehabt und den Zufall benütze, um sich nach ihrem Ergehen zu erkundigen. Nein, ohne Umschweife, er habe jeden Abend an jener Ecke gestanden, um sie wenigstens von weitem zu sehen. Ob sie denn nicht wie ehedem zusammen speisen wollten? Dug besass nicht die Kraft, nein zu sagen. So setzten sie sich auf die Terrasse des kleinen Gasthauses am See und erzählten sich von den letzten, ausgeschöpften Tagen. Legten sie sich am Ende nicht nutzlose Leiden auf? Steckte nicht ein grosses Stück Feigheit dahinter? Ja, bestimmt verhielt es sich so, von nun an wollten sie der Gefahr ins Gesicht schauen, alles andere erschien ihnen schwächliche Flucht.

Dieser Abend machte sie beinahe glücklich. Zu zweit fühlten sie sich stärker. Sie glichen zwei Kindern, die im Dunkel standen, von der gleichen Furcht ergriffen. Seit diesem Tage sahen sie sich wieder wie ehedem. In ihrer freudigen Erlöstheit glaubten sie sich ihrer sicher und bedenkenlos schlossen sie sich von neuem zusammen.

An einem Samstag rüsteten sie sich zu einer Bergbesteigung. Zum erstenmal geschah es, dass sie eine längere Zeit des Beisammenseins vor sich sahen. Ein ungewohnt aufregendes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Der Zug steckte voll Ausflüglern; es war staubig und warm. Bei dem lauten Gebaren der Mitfahrenden fühlten sie sich noch mehr aussenstehend, in einen Kreis eingeschlossen, dessen Bedeutsamkeit nur ihnen klar war. Sie sassen beide am Fenster; Wälder und Seen flogen an ihnen vorbei; der Tag begann unsäglich schön.

»Ich möchte immer so dahin fahren«, sagte Dug verträumt. Weissmann überflog mit raschem Blick ihre Gestalt und fand sie in ihrer dunklen Jacke und der weissen Bluse hübsch und anmutig. Ihr hellbraunes Haar flog leicht und lockig um die Schläfe. An einer kleinen Station stiegen sie aus. Der Zug mit den lauten Bergsteigern fuhr weiter. Das Ziel ihrer Wanderung war für Dugs Kräfte bemessen. Heute wollten sie ein kleines Berghäuschen erreichen, das Ferienheim von Bekannten, einige Stunden dort rasten, um tags darauf den Sonnenaufgang auf dem Gipfel des Berges zu geniessen.

Sie gingen durch ein schluchtähnliches Tal, das sich mehr und mehr verengerte. Ein schmaler Streifen Wasser wand sich seinen Weg durch Steine und Geröll. Frischer Höhenwind kam ihnen entgegen. Es dunkelte bereits, als sie die Hütte aufschlossen. Christoph und Dug ergötzten sich an dem puppenhaften Unterschlupf. Da es kühlte, begann der Mann sogleich Feuer zu machen. Sie setzte sich neben den Herd und schaute zu, wie er in einer Pfanne Suppe aufsetzte. Das Holz knisterte und die Flammen huschten über sein sorgliches Gesicht. Um seinen Hals lag ein buntes Tuch, die blaue Tuchjacke stand offen über dem Hemd. Etwas Bedächtiges lag in seinen Bewegungen; es machte den Anschein, als bereite ihm jede Handreichung ein besonderes Vergnügen. Nun kostete er von der Suppe, warf etwas Salz dazu und sagte zufrieden: »Bald wirst du dich sättigen können, Dug.«

Die Petroleumlampe brannte. Sie sassen sich gegenüber in der Stube. Sie hatten zusammen den Tisch gedeckt und diese gemeinschaftliche Beschäftigung erfüllte sie beide mit einer stillen Freude. Dug war längst satt, als ihr Freund immer noch langsam und hingebungsvoll seinen Hunger stillte. Sie stützte die Arme auf den Tisch, ihr Oberkörper lag darauf und neigte sich nach vorn. Sie wünschte, dass diese Stunde nie vergehen würde. Nachher traten sie vor das Haus. Die Nacht dunkelte, der Mond schien, so dass die Berge ringsum leuchteten in ihrer milchigen Weisse. Die Sterne aber ertranken in einem verwirrenden silbernen Gefunkel. Christoph legte den Arm um ihren Hals. Ergriffenes Staunen, auflösen jedes Erdgefühls, machte sie beide stumm.

»Mir ist, als wäre ich nun Zeit meines Lebens unfähig eines bösen oder kleinen Gedankens«, sagte er leise. »Ob mein Leben diese oder jene Wendung nimmt, was schadet es im Grunde? Es kommt auf mein Bewusstsein an, ob es auf diese Weise in mir lebendig bleibt, immer bleiben wird. Ich liebe dich, Dug, und so wie ich nicht aufhören werde, das Gefühl für das Lebendige in mir zu schirmen und zu hegen, so lange wirst du in mir sein. Du bist so stark in mir wie irgend ein Teil meines Ichs, also kann ich dich auch nie verlieren.«

Dug küsste die Hand, die nah an ihrer Wange lag. Sie fühlte Tränen in sich aufsteigen, Tränen des vollkommenen Glückes. Sie sagte: »Es kann nicht mehr werden, als es ist. Ich vergehe vor Seligkeit, es bedrückt mich nicht der Schatten einer Schuld und nicht ein Hauch von Trauer. Wie einfach mir alles erscheint, du selbst hast es gesagt, auch ich bin bereits ein Teil von dir, du bist längst in mir, wir brauchen keine weitere Begegnung. Sie hat stattgefunden und wird nie mehr zu lösen sein. Denn kann man die Herkunft verschiedener Gewässer in einem See noch voneinander halten?«

Später sprachen sie auch von Marta. Die Gelöstheit ihres Herzens machte sie gut und grossmütig. Sie wetteiferten gemeinsam, das Wesen der Fernen aufs schönste zu umkleiden. Besonders Dug wurde nicht müde, deren unentwegte Art zu bewundern und sie erregte sich leidenschaftlich, als Christoph eine Bemerkung machte, die sie für Marta als kränkend empfand.

»Es ist Schlafenszeit«, sagte Christoph, »um fünf Uhr müssen wir unterwegs sein.«

Dug trat in einen kleinen Schlafraum. Die Türe zu einer zweiten Kammer stand offen. Christoph, der den Riegel vor die Haustüre geschoben, trat zu ihr. Er überflog die Lagerstätten; das Wort, das ihm auf den Lippen gelegen, blieb ungesprochen. Eine heisse Welle überflutete ihn. Er befand sich mit Dug allein; diese Hütte gehörte ihnen. All das Vorhergehende, diese Gespräche beim Wandern und eben vor dem Hause, bedeuteten einen neuen Beweis ihrer Einstimmigkeit. Der erste Schritt des heutigen Tages hatte bereits in dem Bewusstsein ihrer Verbundenheit begonnen. Seine Blicke ruhten auf dem Mädchen. Sie sass auf einem Stuhl an der Wand und löste ihre Schuhe. Die Haare fielen ihr über die Stirn und der entblösste Nacken bot sich seinen Augen schmal und kindlich dar. Noch hatte sie kein Wort mit ihm gewechselt, seitdem sie diesen Raum betreten. Fühlte sie eben so brennend wie er zurückgedämmte Sehnsucht aus trügerischem Schlafe erwachen? Er musste es wissen. Er beugte sich zu ihr nieder und sagte mit einer fremden Stimme: »Lass mich dir helfen, Dug.«

Sie hob den Kopf, ihr Gesicht war sehr bleich. Mit einer hilflosen Bewegung liess sie die Arme sinken. Er streifte ihr die Schuhe von den Füssen. Seine Hände zitterten, als er nun auch die Knöpfe ihrer Jacke öffnete. Durch den feinen Stoff der Bluse schimmerte Hals und Brust. Sein Gesicht schien nicht minder bleich als das ihre, als er ihr auch diese aufriss und mit einem Laut aus Qual und Seligkeit vermischt, seinen Kopf an ihrer bebenden Nacktheit verbarg.

*

Als Dug am Sonntagabend ihr Zimmer betrat, lag ein Eilbrief für sie bereit. Man rief sie nach Hause zu ihrer schwer erkrankten Mutter. Sie wunderte sich nicht über dieses Zusammentreffen. Kleines Leid, kleines Glück, lag nicht im Schosse dieser Tage. Sie packte in einer lautlosen Trauer den Koffer und erbat sich telephonisch ihren Urlaub. Christoph sah sie nicht mehr. Sie versagte sich den brennenden Wunsch, von ihm Abschied zu nehmen. Fröstelnd sass sie am frühen Morgen im Zug, der sie wegtrug aus dem Bereich eines kurz geschauten, aber tief erlebten Schicksals.

Sie stürzte sich in ihren Pflichtenkreis mit einer Aufopferung, die ihrer seelischen Angespanntheit entsprach. Jede kleinste Lockerung hätte sie als Unrecht empfunden. Einmal schrieb Christoph, dass er in wenigen Tagen nach Hause reise. Aus seinen Worten sprach tiefste Niedergeschlagenheit; er fühlte sich in Unrecht verstrickt. Dug verwies ihm Reue und Kleinmut; ihre Verbundenheit war aus keinem Zufall gewachsen. Es galt seinen Taten gegenüber stark zu bleiben und sich nicht an einem Gefühl zu vergreifen, das in einer Sternennacht kristallhell aufgeleuchtet.

Sie verdoppelte ihre Kräfte und wurde nicht müde, sich Christophs innerer Zerrissenheit anzunehmen. Ihr Wunsch, den geliebten Mann zu seinem späteren Leben tauglich zu machen, drängte sie zu einer derartigen Entselbstung, dass Weissmann annehmen musste, Dugs inneres Gleichgewicht sei keiner Gefahr ausgesetzt. Von da an wurde er ruhiger. Zudem fesselte ihn eine berufliche Angelegenheit aufs engste, und aus dem verwirrenden Brausen des Blutes und seelischen Bindungen erhob sich kühl sein Daseinswille. Seine Briefe verloren in der Folge den Zug von Ratlosigkeit. Dug, ihrer wahrsten und brennendsten Aufgabe enthoben, suchte sich in körperlichen Leistungen zu ermüden. Ihre Mutter verwehrte ihr in ihrer ungeduldigen Genesungszeit dieses masslose Ausgeben der Kräfte nur schwach. Die Folgen blieben nicht aus. Dug erkrankte an Brustfellentzündung und als sie nach vielen Wochen aufstehen konnte, war es nur deshalb, um in ein Sanatorium verbracht zu werden. Als man ihr zum erstenmal eingelaufene Briefe überreichte, lag darunter die Vermählungsanzeige von Christoph Weissmann und Marta Heim.

*

Einige Jahre später lernte Dug Johannes kennen. Ihre müde Schwermut zog ihn an, weil er sie an sich nicht kannte. Da mochte eine Vergangenheit Zeichen hinterlassen haben. Es lockte ihn, diese zu entziffern. An einem Abend – Dug war zu jener Zeit Sekretärin eines Arztes und deshalb ungleich beschäftigt –, kam sie später als gewöhnlich nach Hause. Sie bewohnte mit Elinor eine kleine, neuzeitliche Wohnung. Ihre Freundin war Lehrerin an einer höhern Mädchenschule und beide wünschten von ihrem Zusammensein gänzliche Unabhängigkeit.

Als Dug ihr Wohnzimmer betrat, sass Johannes am Schreibtisch.

»Elinor liess mich hinein«, sagte er flüchtig aufblickend, »sie ist ausgegangen. Ich hütete die Wohnung.«

»So«, sagte Dug und ging hinüber ins Badezimmer. Sie fühlte sich müde und abgespannt und wäre lieber allein gewesen. Sie wusch sich Gesicht und Hände, fuhr mit der Bürste über die Haare. Einen Augenblick besann sie sich, ob sie sich umziehen sollte. Nein, überlegte sie schnell, das sieht zu wichtig aus, zu absichtlich auch. Johannes will immer etwas erraten; so junge Pädagogen mit medizinischem Einschlag sind stolz auf ihre Schlüsse. Ich will bleiben wie ich bin.

»Soll ich Tee aufstellen für Sie«, rief Johannes. Dug lächelte. Es überraschte sie immer noch, dass junge Leute so selbstverständlich dies und jenes taten, ihre fortschrittliche Einstellung auf diese Weise betonten.

»Ja, bitte.«

Und nun besann sie sich doch nochmals ernstlich, ob sie sich hübsch machen wollte. Johannes Einfall, Tee für sie zu kochen, rührte sie. Aber sie öffnete die Türe und ging wie sie war zu ihrem Gast.

»Ich weiss nicht, was Sie speisen wollen, Dug. Soll ich Eier kochen und wie viele?«

Johannes steckte den Kopf aus der Küche.

»Es ist nett, wie Sie für mich sorgen«, sagte das Mädchen beinahe dankbar. »Doch kommen Sie nur. Ich nehme ein Butterbrot und dazu eine Orange. Sie halten doch mit? Wo bleibt Ihr Gedeck?«

»Nur Tee für mich, und Zigaretten bitte, wenn Sie haben.«

Später fragte Dug: »Was haben Sie denn geschrieben, ehe ich kam?«

»Wollen Sie es hören, Dug? Ein Anfang, ich weiss noch nicht zu was. Ich möchte einmal einen Roman schreiben, wissen Sie, aber ich bekomme vorläufig nichts als Fetzen in die Hand.«

»Wie alt sind Sie, Johannes?«

»Vierundzwanzig.«

»Das ist wenig, um einen Roman zu schreiben. Ich bin siebenundzwanzig, Johannes, und wenn ich überhaupt zum Schreiben begabt wäre, fühlte ich mich beinahe noch zu jung dazu.«

»Drei Jahre mehr, was bedeutet das, Dug!«

»Es bedeutet sehr viel. Ich bin eine Frau. Die Jahre einer Frau zählen doppelt. Doch nun lesen Sie.«

Johannes zog ein schmales Stück Papier aus der Tasche.

»Gerecht sein, heisst leer und leidenschaftslos sein. Eine Sache überschauen, Ärmster, du bist zu Ende gekommen damit. Sehne ich mich etwa nicht zurück zu jenen brennenden Leiden, zu tobendem Aufruhr? Selbst zur Erbitterung, zur zornwütigen Trunkenheit? Wie wehrte ich mich einst dagegen. Ach wir verstehen den Sinn alles Lebens erst viel später.« – »Das ist alles, Dug.«

»Es ist sehr viel. Sie hätten es am Ende Ihres Lebens nicht weiser sagen können. Wie kommen Sie dazu, so etwas zu wissen, jetzt schon?«

»Vielleicht schwammen diese Sätze in Ihrem Zimmer und ich brauchte sie nur einzufangen.«

Dug wurde rot.

»Sie hätten also Netze ausgelegt bei mir? Was wollen Sie eigentlich, Johannes? Sie müssen es mir ganz aufrichtig sagen.«

»Will ich denn etwas? Sie sprechen oft so sonderbar. Mir kommt es vor, als stellten Sie sich in einer bösen Laune ausserhalb des Lebens und betrachteten es mit zugekniffenen Augen. Und nun sage ich zu Ihnen dasselbe: Sie sind zu jung dazu.«

Dug, plötzlich weich und müde, die Haltung vergessend, die sie Johannes gegenüber meist annahm, mit kindlichem Gesicht:

»Ich mag es gerne, wenn Sie so mit mir sprechen. Nur dürfen Sie nicht an mir herumrätseln. Das verpflichtet beinahe zu einer Vergangenheit. Ich habe nichts Besonderes aufzuweisen. Mir genügt schon, dass es mir nicht gelang, meine Erfahrungen ohne lästige Überreste ordentlich und sauber auf eine Kette aufzureihen. Ah, zurück? Guten Abend, Elinor.«

An jenem gleichen Abend, Dug suchte etwas in der Truhe, in der sie Schriftstücke, Tagebücher und Briefe aufbewahrte, fiel ihr ein Blatt Papier in die Hand. Zum erstenmal seit vielen Monaten wollte sie einen Blick darauf tun. Sie fühlte sich heute ferner und deshalb stärker. Es war ein Brief von Weissmann. Sie überflog die erste Seite, kam nicht weiter, denn schon wieder regte sich in ihr die unverwundene, alte Qual. Wenn die Menschen ahnten, was ihnen durch eine grosse Liebe bevorsteht, sie würden ihr Herz hart machen wie Stein. Dug hatte das Empfinden, dass sie wohl imstande wäre, diesen Schmerz zu ertragen, dass das, was sie quälte und zwar ununterbrochen hartnäckig verfolgte, wenig zu tun hatte mit dem blossen Verzicht auf eine Liebe. Nein, was sie beinahe nicht ertrug, auch jetzt nach vielen Jahren noch nicht ertrug, wurzelte in der Erkenntnis, dass der seelische Hochflug zweier Menschen unter einem nächtlichen Sternenhimmel sich als so vergänglich erwies wie irgendetwas. Schon die Tatsache allein, dass sie sich mit ihren Gefühlen auseinandersetzen musste, fand sie beinahe so schlimm, wie wenn sie über die Grösse der verausgabten Werte streiten wollte.

Während sie die Truhe hastig abschloss, überlegte sie nochmals mit der nörgelnden Sucht, festzunageln, ob nicht doch die Heirat Christoph Weissmanns ihren hartnäckigen Schmerz nähre. Nein, nein, das war es gewiss nicht und in diesem Augenblick spürte Dug, dass ja dies ein Kinderspiel bedeutete gemessen am andern.

*

Johannes las vor. Er tat es mit einer verdunkelten, seltsam eindringlichen Stimme.

»Dieses rosa getönte Geschirr vor mir mit den Hyazinthen ist erst seit heute so unbegreiflich schön. Auch vor dem Fenster das weiche Februargrau. Am Morgen versuchen die Vögel zu singen. Bald ist es März. Die Erde braun und weich. Blumen kommen aus dem Boden. Dann kann ich nicht mehr an Vergangenes denken. Habe keine Zeit dazu. Muss umher gehen, horchen, schauen. Wandern, Menschen treffen; ja dann habe ich genug zu tun vom Morgen bis zum Abend. Vielleicht auch vom Abend bis zum Morgen. Es ist nur einmal März im Jahr. Und wenig Jahre lebt ein Mensch. Ich mag es nicht, wenn man von Sternen spricht und ihrer Bahn. Wie kann ein Mensch es wollen mit seiner Mückenbestimmung. Meine Freundin liebt die Blumen und die grüngoldenen Käfer und vor allem die Schmetterlinge. Sie findet deren Dasein schön von Anfang bis zum Ende. Und kürzer als die Jahre einer Frau. Daran gemessen bleibt uns Zeit, noch vieles zu tun. Wenn auch in Eile. Eile ist nicht dasselbe wie Hast. Diese ist unvollkommen und fehlerhaft, jene aber kann wie ein leichtes Fieber alles eindrucksvoller erscheinen lassen. Es liegt Rhythmus darin, eine drängende Notwendigkeit. Nur was sein muss, von innen heraus kommt, ist schön.«

Johannes liess das Blatt sinken.

»Sie sind weiss Gott ein Dichter, Johannes.«

»Noch nicht, Dug. Aber ich werde einer. Durch Sie …«

»Wieso durch mich?«

»Wie können Sie fragen, Dug, Sie, die soviel vom Leben verstehn. Ich liebe Sie doch.«

Er sagte es beinahe unwillig. Dug darauf:

»Lesen Sie die Stelle nochmals: … und wenig Jahre lebt ein Mensch. Haben Sie das auch schon empfunden? Ich glaubte, das wüsste man erst nach einem ganz bestimmten Erlebnis.«

Sie sah auf. Johannes schwieg. Da erhob sie sich, trat hinter seinen Stuhl:

»Sie lieben mich also, Johannes? Glauben es zu tun?«

»Ja, ja,« sagte er heftig, beinahe böse, »warum glauben Sie mir denn nicht?«

»Weil … Doch, ich glaube Ihnen. Sie haben recht. Das Leben ist kurz. Und ohne Liebe ein Nichts.«

»Dug, Dug.« Johannes griff nach ihren beiden Händen und wühlte sein Gesicht in ihre Höhlung.

Gibt es Beziehungen zwischen Menschen, die über eine Stunde hinaus vollkommen ehrlich sind? Die menschliche Natur müsste einfacher sein, um sich die ungestörte Sauberkeit zu bewahren. Dug sah ihren Irrtum eigentlich in dem Augenblick ein, als Johannes sie zum erstenmal küsste. Es war angenehm, sie gestand es sich ein, aber es erschütterte sie nicht. Eine Frau, die Küsse empfängt, ohne sich ihrer Weiblichkeit bewusst zu werden, sollte ihren Gefühlen näher auf den Grund gehen. Die Sehnsucht nach Liebe lebte in Dug viel eindeutiger als ihre Liebe selbst. Die Liebe hiess nicht Johannes, sie hiess weiss Gott immer noch Christoph. Jenes Erlebnis hielt sie fest, weil der natürliche Ablauf im unrichtigen Augenblick abgelenkt wurde. Sie konnte sich davon nicht befreien, weil es nicht ausgeschöpft war. Dug hing im Leeren. Konnte man es ihr übelnehmen, dass sie wieder einmal Fuss fassen wollte? Nein, das durfte man billigerweise nicht. Sie war doch jung, musste den Versuch machen, mit sich und der Welt ins Geleise zu kommen. Die Menschen um sie herum lebten alle besser als sie. Elinor zum Beispiel bewegte sich wie eine kleine Sonne; strahlte, überstrahlte, zog an, hatte ihre Freude an vielen Dingen. Sie war nicht im geringsten leichtfertig, aber von einer sinnlichen Bewegtheit, um die man sie beneiden konnte.

Eben hörte Dug, wie ihre Freundin nach ihr rief. Sie ging hinüber, die Türe war nur angelehnt, Elinor lag auf dem Ruhebett, sehr blond, mit einer bräunlichen Haut und eindeutig hellen Augen.

»Dug«, sagte sie, »wenn sich heute meine Schülerinnen mit ein paar Worten nicht ergreifen lassen, hänge ich meinen Beruf an den Nagel.«

»Mit was für Worten?« fragte Dug.

Elinor hob ein grünes Bändchen vom Boden und schlug es auf.

»Sommer war's, mitten im Tag, an einer Ecke des Zauns«, las sie.

Neben dem Bett hing der Tennisschläger, zwei Hanteln lagen auf dem Tisch. Elinor besass einen straffen, schmalen und durchgearbeiteten Körper. Aber sie las Jacobsen und sie liess sich davon hinreissen. Dug stand am Fenster, blickte hinaus auf den zarten Rasen. Sie sagte abgewandt:

»In deinem Leben sind wohl keine Reste; alles sauber, blank, aufgeräumt, an Ort und Stelle …«

»Sommer war's … wie meinst du, Dug?«

Elinor liess das Buch sinken. »Keine Reste?«

Sie erhob sich, zog den Rock glatt, sah an sich nieder.

»Warum fragst du?«

»Weil ich dich beneide.«

»Um meine kahlen Wände?«

Eine Schärfe in der Stimme liess Dug den Kopf wenden. Elinor stand vor dem Spiegel und fuhr sich mit der Puderquaste über das Gesicht. Sie schien bereits wieder vollkommen gleichmütig.

»Kahle Wände! Ach, das meinte ich doch nicht.«

»Nun, Dug, man hat entweder das eine oder das andere. Beziehungslosigkeit, ein Leben ohne Spannung aber auch ohne Kummer, oder man ist tief verstrickt nach der einen oder andern Seite, vielleicht nach beiden. Seltsam weich und bodenlos versinkend, vielleicht ertrinkend, um Leben kämpfend … nein, Dug, beklage dich nicht.«

Elinor bürstete ihr Haar, sah geradeaus in den Spiegel.

»Was macht Johannes?«

»Er schreibt zusammenhanglose, aber vollkommene Sätze.«

»Armer Junge! Aus unglücklicher Liebe zu dir natürlich.«

»Unglücklich? …«

»Ja, Dug, und du musst es ihm sagen.«

Elinor griff nach ihrer kleinen Mütze.

*

Dug war längst nicht mehr bei jenem Arzt. Sie lebte in einer andern Stadt, fern von Elinor. Und Johannes war auch aus ihrem Leben verschwunden. Sie arbeitete wieder in einer städtischen Bibliothek, im Zwielicht dämmriger Räume, im seltsamen Geruch aufgestapelter Bücher. Ihre kleine Wohnung befand sich diesmal über einem ziehenden Fluss. Das Wasser zog unermüdlich unter ihrem Fenster vorbei. Dieser Anblick erinnerte sie an ihr eigenes Leben. Auch dieses ging vorbei; auch das ertrank im grossen Wasser der Ewigkeit.

Eines Tages bekam sie einen Brief von Christoph Weissmann. Er weile in der Nähe und beabsichtige, Dug zu besuchen. Sie müsse nun endlich einmal seine Frau kennenlernen. Dug kam es vor, als würden Dämme in ihr umgestossen. Christoph sehen, nach diesen langen Jahren wiedersehen, zum erstenmal seit jener Sternennacht! Ihr schwindelte. Die Bangigkeit der Erwartung war verwirrend süss, gemessen an der jahrelangen Leere. Am Abend vor der Begegnung erprobte sie nochmals ihre Kraft am Lesen einiger Briefe. Es waren nicht sehr viele; alle noch vor der Heirat geschrieben. Was nachher kam, zählte nicht. Diese kurzen Mitteilungen von unterwegs tönten nicht frei, schienen verkrampft und bewirkten in Dug jene Schwermut, die sie nicht los wurde. Sie löste die Klammer, die die Blätter zusammenhielt. Las irgendwo: »Wie, wenn das, was vor mir liegt, eine Trennung für immer bedeutete? Dass man sich trennen kann, fassest du es? Du wirkst in mir in deiner sanften Fraulichkeit wie Maria, die Gottesmutter, und wenn ich gläubig wäre, läge ich Tag und Nacht auf den Knien vor ihrer lieblichen Gnade und ich wüsste nicht, wem meine Sehnsucht gälte. Ich werde dich mir bewahren, Dug; meine Liebe zu dir retten, auch dann, wenn andere Kräfte wirksam werden.«

Dann: »Eine solche Verschwendung von tausend Ausstrahlungen, die niemandem gehören als dir. Lieben, Dug, aus Ferne und Trennung heraus, ist Ohnmacht, vergebliches Bemühen, gehört zu werden. Ich bin heiser vom Schreien, ermattet vom Flüstern deines Namens ohne Ende. Ich kann nicht mehr. Es sei, die Liebe bette sich um. Ich muss aus dem herrlichen Pferd Leidenschaft ein folgsames Haustier machen.«

Wieder krampfte sich Dugs Herz zusammen. Aber in ihre Bewegtheit mischte sich etwas anderes. Es lag Hoffnung in dem Morgen. In ihrem Fall gab es nichts anderes, als hochherzig sein. Sie musste sich an Dinge halten, die ihre Wahrheit tief eingebettet in sich trugen.

Der Besuch hatte sich auf fünf Uhr angesagt. Dug arbeitete während der Mittagspause, um abends frei zu sein. An diesem Tag fielen die ersten Flocken. Dug, die heute alle äusseren Erscheinungen mit ihrem innern Zustand zusammenbrachte, sah darin ein gutes Zeichen. Dieser erste, wenn auch spärliche Schnee würde vieles zudecken, so wie auch Christophs Kommen eine neue Beziehung schuf. Die letzten Jahre musste sie vergessen. Ach, sie tat es gerne. Aufs neue glauben dürfen an die geheimen Kräfte in sich und anderer, mehr brauchte sie nicht. Um vier Uhr war sie frei. Auf dem Heimweg kaufte sie von jenen Kuchen, die Christoph damals bevorzugte. Seine Lieblingszigaretten lagen bereits zu Hause. Für Marta standen Blumen bereit.

Je mehr die Uhr vorrückte, um so heftiger spürte sie eine wachsende Unruhe. Sieben Jahre! Das bedeutete eine lange Zeit. Fand er sie wohl alt und verblüht? Dug drängte ihr Gesicht nah an den Spiegel, durchforschte aufmerksam Zug um Zug. Ihre grauen, langwimprigen Augen mochten dieselben sein. Christoph fand sie schön; ihn rührte daran ihre scheue, morgendliche Erwartung. Die Stirn rundete sich hoch. Der Mund war blass; ja sehr kräftig sah sie überhaupt nicht aus. In den letzten Jahren schien sie eher noch schmäler geworden. Und dann, mochte er wohl ihr braunes Kleid? Grün konnte er nie leiden, daran erinnerte sie sich gut. Er verabscheute diese Farbe, fand sie eindeutig beziehungslos. Sie trug während der ganzen Zeit nur ein einzigesmal ein grünes Kleid und dies beinahe aus Gram. Aber es machte ihr wenig Freude, ja sie verspottete sich selbst wegen ihres schlechten Gewissens. Wirklich, sie lebte all die Zeit hindurch so, wie wenn sie seine Frau gewesen; hielt sich in Äusserlichkeiten auch an Dinge, die auf irgendeine Weise mit Christoph zusammenhingen.

Und er, was tat er? Er überliess sie all die Jahre sich selbst. Nein, jetzt wollte sie nicht daran denken, man durfte keine Gerechtigkeit fordern. Wo käme man sonst hin. Sie musste sich an jene Stunden halten, da er sie am meisten geliebt. Alles messen, wägen, führte zu Forderungen, die nur elend machten. In jedem Leben kränkte man einen Menschen eines andern wegen. Wenn sie an Johannes dachte, war ihr auch nicht sehr wohl zumute. Armer Johannes! Auch er machte solche Stunden durch, und wenn es vielleicht auch nur wenige waren. Sie genügten zu einer kleinen, vielleicht auch grossen Lebenserfahrung. Ganz unklar und beschämt spürte sie, dass sie sich darum nicht weiter kümmern konnte. Das Gefühl erwies sich nur als mildtätig und hellsichtig, wo es mitschwang. Wie unheimlich rasch gab es nicht mehr an.

Dug stand und wartete. Es schlug fünf Uhr vom Münster. Nun mussten sie gleich da sein. Christoph war immer sehr pünktlich gewesen. Der Fluss rauschte heute stärker zu ihr herauf, oder meinte sie es nur? Sie liebte ihn auf jeden Fall, im Augenblick ganz besonders. Dug hielt ihm ihre Bangnis entgegen, ihre quälende Unruhe. In seinem Spiegel schrumpfte alles zusammen. Das wollte sie eben; sie hatte sich schon oft an diesen mächtigen Burschen gehalten, wenn sie ihren Kummer oder eine Freude übertrieb. Er wandelte alles zu seinem richtigen Mass. Fanden sie sich wohl aus in diesen winkligen Gassen? Weissmanns letzte Mitteilung wurde ihr von ihrem alten Wohnort nachgeschickt und sie hatte ihm darauf nur kurz ihre Übersiedlung gemeldet.

Wieder schlug es vom Turm. Und zur gleichen Zeit gab die Flurglocke an, laut und schrill. Dug spürte ihre Hände eiskalt. Die Knie zitterten in einer plötzlichen Schwäche. Es ist doch alles nicht wichtig, suchte sie sich zu beruhigen auf dem Weg zur Türe. Und nun, beim Durchschreiten des nur kleinen Ganges, erfuhr Dug mit einemmal, mit einer ganz eindeutigen Schärfe, dass aus dem Besuch dieser zwei Menschen nichts Gutes entstehen konnte. Es war etwas Gewolltes, mit dem Verstand Erdachtes. Und noch etwas anderes fühlte sie so rasch aufblitzend wie die Vision eines Ertrinkenden. Diese Frau, die zu ihr kam, verachtete sie. Sie kam zu ihr wie eine überlegene Feindin in Begleitung ihres angetrauten Gatten. Dug hatte diese heimliche Feindschaft schon einmal zu spüren bekommen. Einst schrieb sie Marta einen Brief. Es waren hinreissende Worte gewesen einer bis zur Weissglut angewachsenen Opferung des Herzens. Sie wollte diese Frau gewinnen, um einer Freundschaft zu dreien einen Boden zu schaffen. Würde Marta ihre Zuneigung annehmen, dachte sie, so wäre sie imstande, in Christoph nur noch den Freund zu erblicken. Martas Antwort auf dieses Bekenntnis hätte niederschmetternder nicht sein können. Sie bestand aus einigen trockenen Worten. Es lag weder Hass noch irgendein starkes Gefühl darin. Nein, diese Antwort war in der dürftigsten Verstandesküche diktiert. Sie umging mit Absicht alles, was nur im entferntesten eine Beziehung andeuten konnte. Dug verwand diese Erfahrung damals nur mühsam, und doch war es ihr geglückt, sie in den letzten Tagen zu vergessen. Wie sie nun aber den Schlüssel umdrehte, fiel sie von neuem über sie her mit einer heftigen Gewalt. Aber im hintersten Winkel ihres erschreckten Herzens kauerte immer noch eine letzte verzweifelte Hoffnung, der uneingestandene Glaube an ein Wunder. Dies gab ihr die Kraft, ihre ersten Begrüssungsworte ohne sichtbare Verwirrung anzubringen. Der Gang war nicht sehr hell. Sie sah nur verschwommen die Gesichter der Angekommenen. Christoph schien breiter geworden und deshalb wirkte er beinahe noch grösser. Marta Weissmann, eine ebenfalls grosse, hagere Frau, entledigte sich stumm ihres Mantels.

»Nun, Dug«, sagte Christoph, sich schwer in einen der alten Stühle niederlassend, »wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

Dug, den Teekocher in der Hand, machte eine zustimmende Gebärde nach seiner Seite. Frau Weissmann setzte sich neben ihren Mann und unterzog das Zimmer wortlos einer eingehenden Musterung. Wie wenn sie in einer Ausstellung wäre, dachte Dug gekränkt.

»Nehmen Sie Zucker?« fragte sie gleich darauf ihren Gast und hielt ihm die gefüllte Tasse hin.

»Ja, bitte.«

Die schmalen Lippen öffneten sich kaum, aber sie richtete jetzt ihre kalten, blauen Augen auf Dug, schaute ihr prüfend zu, wie diese rasch und froh über die Beschäftigung, ein niederes Tischchen vor die Besucher schob.

»Wie steht es, Christoph«, wandte sie sich nun an ihn, »immer noch eine Träne Milch und keinen Zucker?«

Sie versuchte, ihrer Frage ungezwungene Leichte zu verleihen.

Ehe der Mann Bescheid geben konnte, fiel ihm die Frau ins Wort.

»Längst nicht mehr. Bitte Zucker, zwei Stücke. Mit der ungesüssten Marotte hat er längst aufgeräumt.«

»Ach so … Nun ja, man ändert seinen Geschmack.«

Dug sagte es sehr leise und zog ihren Lehnstuhl ein bisschen näher zum Ständer, worauf der Teekessel stand.

»Es ist hübsch bei dir«, liess sich Christoph vernehmen.

»Ein altes Haus, ich mag es auch. Ich bewohne es noch nicht lange.«

»Nun«, sagte Frau Weissmann, »alte Häuser besitzen zweifelsohne ihren Reiz, aber man sollte mit diesen Brutkästen von Staub und Bazillenträgern doch aufräumen.«

»Ich spürte bis jetzt noch nichts von Gefahr«, sagte Dug mit einem dürren Lächeln.

»Sehr blühend sehen Sie aber nicht aus, nicht wahr, Christoph?«

»Oh, ich finde nicht schlecht. Dug besass immer eine zarte Farbe.«

»Zart? Eher ein wenig kränklich. Sie waren doch ziemlich leidend?«

»Vor vielen Jahren«, schnitt Dug kurz ab.

Eine verlegene Stille herrschte.

Dann rief Christoph, nach dem Gebäck greifend: »Ach, Dug, wie hübsch. Das sind ja meine Lieblingskuchen. Ich ass sie lange nicht mehr.«

Er schaute herzlich zu ihr hinüber.

»Ich entdeckte sie heute zufällig«, log Dug. In Wahrheit hatte sie sich sehr bemüht darum. Auch Frau Weissmann bediente sich.

»Gut, gewiss, vielleicht etwas schwer. Mit Vorsicht zu geniessen.«

Diesen Versuch, witzig und scherzhaft zu sein, schätzte Dug wenig. Das ist also Marta Heim, dachte sie. Eine Frau ohne jeden weiblichen Reiz, auch ohne den Reiz der Hässlichen. Denn sie kann nicht gut sein, oder dann muss sie mich masslos hassen.

»Wie meinst du, Christoph? Ach so, meine Arbeit? Ja, ja, ganz angenehm, die Stadt auch, gewiss, ich bin zufrieden.«

Nun hatte sie ihn ohne Zweifel beruhigt. Oder brauchte es dies gar nicht? Sie forschte in seinem Gesicht. Ja, ihr erster Eindruck im Flur blieb bestehen, auch die Züge schienen etwas schwerer geworden. Menschen, die sich auf Lebzeiten eingerichtet, innerlich und äusserlich, bekamen oft so ein sattes Aussehen. Ein bisschen Hunger prägte ein Gesicht anders, besonders um Augen und Mund. Ich wollte, er hungerte, dachte Dug.

»So, im Ausland. Ja, ich bekam einmal eine Karte. War es schön?«

Frau Weissmann entgegnete: »Schön ist nicht das richtige Wort. Der Zweck dieser Reise lag wo anders. Es war fruchtbar. Übrigens schickten wir Ihnen drei Karten, Fräulein.«

»Ja, das ist wohl möglich. Ich erinnere mich nicht so genau.«

Mit einer ansteigenden Heftigkeit fügte sie hinzu: »Karten sagen mir nichts. Ritschratsch und in den Papierkorb damit. Also Christoph, Privatdozent bist du nun?«

»Vorläufig, ja.« Er rauchte und schaute an den beiden vorbei ins Leere.

»Ein Übergang bloss«, liess sich seine Gattin wieder vernehmen. »Tüchtig wie mein Mann ist, kann er nicht übersehen werden.«

»Gewiss nicht.« Dug bestätigte es mit einem körperlichen Schwächegefühl.

Auf einmal spürte sie Christophs Augen sehr eindringlich, wie in Erstaunen auf sich ruhen. Dieser Blick kam von weit her, war wie geladen von einer raschen Wärme und dem Gewicht der Erinnerung. Aber bei einer Bemerkung seiner Frau zerstob alles wieder, als wäre es nicht gewesen. In Dug stiegen Tränen hoch. Sie machte sich am Fenster zu schaffen, kein Mensch durfte sie weinen sehen. Später, später, sagte sie sich, wenn diese schreckliche Stunde vorbei.

Eine Weile sprach man von diesem und jenem. Die allgemeine Spannung glättete sich. An Stelle des innern Aufruhrs, auch der Erschütterung, trat eine dünne Beziehungslosigkeit, die sich im zufälligen Gespräch erschöpfte. Musste man um dieser Wortfetzen willen sieben Jahre Bitterstes erleiden, dachte Dug in einer wachsenden Trauer. Alles, was sie selbst zu diesem Gespräch beitrug, kam ungeschickt aus ihrem Munde. Je mehr sie dies spürte, um so unaufhaltsamer zerbröckelte jede Sicherheit in ihr. Diese zwei Menschen redeten so klar, sie waren von keiner Gefühlswelle bedrängt. Sie wussten beide, was sie wollten. Sie aber wusste es auf einmal nicht mehr. Sie empfand nur den einen brennenden Wunsch nach Alleinsein.

Aber nun ereignete sich etwas Schreckliches. Man sprach von einer Bilderausstellung in dieser Stadt, von deren Besuch das Ehepaar eben kam. Es befanden sich einige Bilder in der Sammlung, Arbeiten eines jungen Malers, den Dug zufälligerweise kannte. Frau Weissmann, die von Malerei einiges verstehen mochte, zerpflückte die Werke dieses jungen Künstlers auf eine lächerlich machende Weise. Von den dünnen, schmalen Lippen tropften klug gewählte Worte. Sie rundeten sich beinahe zu einem beabsichtigten Feuerwerk von witzigen Einfällen, die einen unbeteiligten Hörer unterhalten konnten. Dug, der die Bilder bis jetzt gleichgültig gewesen, sah auf Christophs Gesicht ein wohlgefälliges Schmunzeln. Sie verlor plötzlich alle Fassung.

»Ich finde es sehr wohlfeil, ein Kunstwerk zu zerpflücken«, begann sie mit einer vor Aufregung zitternden Stimme.

»Wer im Umkreis von Kunst lebt, muss Stellung dazu nehmen«, sagte Frau Weissmann sehr gemessen. Sie war die Stärkere, Dug fühlte dies. Das machte sie nur noch verzweifelter. Ich werde dieser Person jetzt dann die Türe weisen, dachte sie bebend, ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen.

»Sehen Sie, liebes Fräulein, (Dug schloss vor Ekel die Augen) wenn ein Maler eine Figur darstellt in dieser Haltung – und nun erhob sie sich und brachte ihren langen, eckigen Körper in jene Stellung, das heisst in eine ganz lächerliche und übertriebene Lage –, so wirkt das eben geschmacklos.«

Christoph lachte schallend. Jetzt wurde Dug totenbleich. Sie sagte mühsam, alle Beherrschung fallen lassend: »Geschmacklos ist das Bild nicht, aber Sie. Ich finde es unanständig, das ehrliche Wollen eines aufrechten Künstlers auf diese Weise zu entstellen.«

»Ach so …« Frau Weissmann verzog den Mund. »Sie stehen diesem Kunstjünger wohl nahe. Dann bitte entschuldigen Sie.«

Dug sprang auf. Ihre Blässe wandelte sich zu einem glühenden Rot.

»Frau Weissmann, eine solche Anspielung verbitte ich mir.«

»Mit welchem Recht? Es wäre ja durchaus nicht das erstemal, dass Sie in eine fragwürdige Beziehung verstrickt sind.«

Und diesmal ohne jede Maske, ebenfalls voller Hass: »Einen Mann, der nicht mehr frei ist, belästigt man nämlich auch nicht. Zum Glück gibt es noch Leute, die sich beizeiten auf ihre Pflicht besinnen.«

»Was?« Dugs Augen weiteten sich in einer schrecklichen Pein.

Und nun fühlte sie auf einmal, dass in ihr Entsetzliches vorging. Wer war sie denn, dass man es wagte, auf diese Weise mit ihr zu reden? Sie schaute sich hilfesuchend um. »Christoph«, flüsterte sie beinahe scheu.

Christoph stand mit über der Brust verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen. Er hatte längst aufgehört zu lachen.

»Marta«, sagte er, über Dug hinwegsehend, »seid ihr denn alle beide toll? Was braucht ihr euch zu schmähen und zu beschimpfen? Das ist ja nicht mit anzuhören. Weine nicht, Dug«, sagte er zu dem Mädchen, das beim Fenster auf die Knie gesunken war und, den Kopf auf dem Gesimse, fassungslos schluchzte. »Wir wollen gehen, es ist am besten für dich.«

Dug hörte Schritte des Aufbruchs. Sie spürte, wie jetzt jemand bei ihr stehen blieb. Eine Stimme, Frau Weissmanns Stimme, sagte:

»Ich kam nicht hierher, um Sie zu kränken. Ich hätte überhaupt nicht kommen sollen. Solche Versuche misslingen meist. Beruhigen Sie sich doch bitte. Es tut mir wirklich leid.«

Dug nickte, ohne den Kopf zu heben. Ja, nun war auch das zu Ende. Eine Türe fiel irgendwo ins Schloss. Nun war sie allein. Aber da, nochmals Schritte, diesmal ganz nahe. Eine Hand strich über ihren Kopf. Christoph musste zurückgekehrt sein.

»Dug, liebe, arme Dug«, hörte sie ihn sagen. »Quäle dich doch nicht so. Es war schrecklich dumm von mir, zu kommen. Man sollte die Vergangenheit ruhen lassen.«

Dug hatte sich erhoben. Ihr Gesicht war ganz entstellt von Tränen. Die Glieder hingen an ihr wie Blei.

»Ja«, sagte sie kaum hörbar. »Lebe wohl.«

Sie blieb in der Mitte des Zimmers stehen und schaute Christoph nach, der mit gebeugtem Rücken zur Türe ging.

Dug lag auf ihrem Bett. Es war Nacht. Das Gefühl letzter Vereinsamung machte sie beinahe leblos. Sie weinte längst nicht mehr. Ihre Trauer konnte sich auf keine Weise mehr äussern. Aus ihrem erstarrten Gesicht schauten blicklose Augen nach der Zimmerdecke. Die Stille wäre vollkommen gewesen ohne den Fluss. Der freilich rauschte wie vordem, und er würde es immer auf die gleiche Weise tun. Er kannte kein Erbarmen mit dem Geschöpf. Auch die Uhr tickte wie jeden Tag. Nein, nichts hatte sich in ihrer Umgebung verändert. Die Zeit ging nicht schneller und nicht langsamer ihretwegen, sie kümmerte sich nicht um ein krankes Herz. Sie ging darüber hinweg und man sagte von ihr, dass sie jeden Schmerz heile. Möglich, andere Leiden, aber nicht die ihren. O nein, sie fühlte sich zu tief getroffen, am Lebensnerv verwundet. Und Dug sah mit peinlicher Schärfe alle die Vorgänge vor sich. Sie spürte nochmals die Erwartung vor dem Besuch, diese heimliche, jahrelange Hoffnung auf diese Begegnung. Sie war bange gewesen, gewiss, aber bereit, den leisesten Grad von Gefühlswärme aufzufangen. Sie wusste sich frei von Verstockung, aber man musste ihr ein Lächeln zeigen, eine kleine Gebärde der Freundlichkeit und Liebe. Und dann, ja was kam dann? Auf dem beinahe unpersönlichen Gesicht des Mannes lag nicht die kleinste Spur einer Erinnerung. Es zeigte auch nichts von gewollter Schutzmaske, ach, wie hätte sie selbst diese allem andern vorgezogen. Er brauchte sie wohl nicht einmal, hatte gar nichts mehr zu verbergen. Sprach mit ihr, wie mit irgend jemandem. Auch später, als die Frau ihre Pfeile abschoss, einen um den andern, da stellte er sich nicht vor sie hin. Die Ruhe seiner Seele schien ihm vor allem wichtig. Nicht das kleinste Gefühl für die ehemals Geliebte liess ihn zu einer raschen Handlung, einem unbesonnenen Wort hinreissen. Die Ergriffenheit schien in ihm erstorben. Die Frau wenigstens hasste sie. Diese Abneigung war die Wirkung eines erkannten, starken Empfindens von seiten ihres Mannes. O ja, der Hass überdauerte die Liebe; er brannte noch lichterloh, als die Asche jener andern Glut längst erkaltet.

Dug erinnerte sich schamvoll jedes einzelnen Wortes, das zwischen ihnen gefallen. Wie zwei wütende, ergrimmte Gegner waren sie aufeinander losgegangen. Nur helle Verzweiflung brachte es fertig, sich auf diese Weise zu vergessen. Es war scheusslich, an all das Hässliche zu denken, das wie ein trüber Satz aus den untersten Tiefen an die Oberfläche gestiegen. Und das blieb nun bestehen ein ganzes Leben lang. Das leiseste Empfinden für Sauberkeit und Würde musste sich dagegen auflehnen. Zu ihrem Schmerz um den unwiederbringlichen Verlust des Freundes gesellte sich das widerwärtige Empfinden einer menschlichen Niederlage.

Und Dug kam es weiss Gott vor, als wäre der frühere Zustand ein beneidenswerter gewesen, gemessen an diesem Zusammenbruch. Vor einigen Stunden noch litt sie um eine Beziehung, die mitten aus einem grossen Gefühl heraus abgeschnitten wurde. Von Schuld konnte da keine Rede sein. Das Leben hatte eben eingegriffen und diese Liebe unterbunden. Der Gram spielte sich im Innern allein ab. Jetzt aber war es anders. Jetzt hatte sie selbst etwas zerstört, mit einigen Hieben hatte sie das Beste ihres ganzen Daseins zertrümmert. Sie, die einstmals den Sieg ihres Herzens über ihre eigenen Wünsche gefeiert – sie hatte einen nächtlichen Sternenhimmel zum Zeugen gehabt –, sie stand jetzt da wie irgendein keifendes Weib, gehässig und verabscheuungswürdig. Nun besass sie nichts mehr, nicht einmal den vollkommenen Schmerz. Er musste sich mit seiner geplagten Schwester, der Reue, fortan vermengen.

Und Dug spürte, dass ihr nichts, nicht einmal der Tod helfen würde. Man konnte nur sterben, wenn man mit sich im reinen war. Die Unordnung ihres Innern zwang sie zu einem qualvollen Dasein.

*

Der Bibliothekar, unter dem Dug arbeitete, war ein angenehmer Mann von mittleren Jahren. Die grauen Haare standen dem jungen, lebendigen Gesicht ausserordentlich gut. Man glaubte sie ihm eigentlich nicht, sie wirkten wie eine ausgelassene Laune. Er hatte etwas von einem grossen Knaben an sich neben aller beruflichen Tüchtigkeit. Die Jungenhaftigkeit bestand in einer steten Neugierde auf das Leben. Was er in die Hand nahm, schien äusserst wichtig. Für diesen Menschen gab es weder gross noch klein.

Einst sassen sie zusammen in einem neu eingerichteten Speisehaus. Doktor Brennwald musterte alles. Er ging umher, klopfte die Wände ab, unterzog die Tischgeräte einer genauen Prüfung. Gleich darauf waren es die Blumen auf dem Tisch und zuletzt Dug selbst.

»Nun, Fräulein Dug, Sie sind in der letzten Zeit ein bisschen schmal geworden. Ermüdet Sie die Arbeit zu sehr?«

»O nein.«

Sie errötete nach ihrer Art rasch und heftig. Brennwald tat, als bemerke er es nicht. Er studierte die Speisekarte. Aber ganz plötzlich sagte er:

»Meine Frau kommt dieser Tage zurück. Ich habe einige Freunde eingeladen. Es wird Musik gemacht. Lieben Sie Musik, Fräulein Dug?«

»Ja, gewiss.«

»Nun, wollen Sie dann nicht ebenfalls dabei sein? Wir sind doch eigentlich zwei gute Kameraden, nicht wahr? So Tag um Tag zieht man am gleichen Karren. Meine Frau würde sich bestimmt sehr freuen.«

Die erste Regung in Dug drängte zur Abwehr. Sie mochte nirgends hingehen; seit Monaten lebte sie wie hinter Mauern. Aber nun drängte ihr Vorgesetzter von neuem sehr herzlich:

»Sagen Sie nicht nein, kommen Sie.«

Er lachte sein junges Lachen.

»Gut«, nickte Dug. »Ich weiss zwar nicht, was ich unter Menschen tue.«

»Das wollen wir Ihnen dann schon sagen, Sie junge Einsiedlerin.«

Dug ging hin. Frau Brennwald bemühte sich liebenswürdig um sie. Die Menschen, die sie traf, schienen ihr insgesamt von einer beneidenswerten Gelöstheit. Die Musik tat ihr wohl. Später tanzte man. Dug hatte zu lange in ihrer Einsamkeit gelebt, dass nicht ihre andersgerichtete Art aufgefallen wäre. Menschen, die von irgend etwas heftig angerührt sind, wirken meist sehr stark auf ihre Umgebung. Sie verschmähen die Umwege, fallen wie ein Lot beinahe senkrecht in die Tiefe. Es schien, als ob es alle darauf abgesehen hätten, sie zu verwöhnen, irgend etwas an ihr gutzumachen. Bot sie einen so verhungerten Eindruck? Rasches Misstrauen stand auf und verschwand. Ach nein, sie wollte heute vergnügt sein.

Ihr Vorgesetzter holte sie zum Tanzen. Wie nett er war. Wie hübsch er lachte. Und auch die andern zeigten sich ohne Ausnahme ausserordentlich angenehm. Doktor Brennwald sagte:

»Das dunkelrote Kleid steht Ihnen sehr gut. Jetzt weiss ich erst, was ich für eine verführerische Mitarbeiterin habe.«

Er scherzte mit der beifälligen Herzlichkeit von Menschen, die alles haben, was sie brauchen, und darüber hinaus freigebig zu sein vermögen.

»Und dann«, fuhr er listig fort, »wo haben Sie sich in aller Eile Ihre gute Gesichtsfarbe gekauft? Diese heimliche Bezugsquelle müssen Sie mir verraten.«

»Ich muss wohl sehr übel ausgesehen haben, dass Sie so mit mir sprechen.«

»Ach, dummes Zeug, ich denke, wir haben alle bessere und weniger gute Zeiten. Das ist ganz natürlich.«

Nun, damit ging sie nicht ganz einig, und nachdem sie sich von ihrem Begleiter, Felix Weisshaupt, vor der Haustüre verabschiedet, sagte sie vor sich hin: Weissmann, Weisshaupt … seltsam, wie einen etwas verfolgen kann. Weiss? Warum nicht ebensogut schwarz? Warum nicht irgendein Name? Ihr Herz klopfte einen Augenblick in alter Unruhe. Sie entkleidete sich rasch und löschte das Licht. Nun wollte sie schlafen.

Einige Tage nach jenem Abend erhielt Dug einen Brief. Sie suchte die Unterschrift, las den Namen Felix Weisshaupt und musste sich zuerst besinnen, wer das überhaupt sei. Was sie zu hören bekam, erstaunte sie über alle Massen. Dieser Mann, von dem sie bloss eine flüchtige Erinnerung besass, dessen Züge sie sich nur noch schwach vorstellen konnte, sprach von dem tiefen Eindruck, den sie auf ihn gemacht. Ob er sie nochmals sehen dürfe? Seine Zeit sei kurz bemessen, in einer Woche fahre er wieder zurück nach Lyon. Der Ton dieses Briefes war ungeschminkt herzlich. Er bediente sich Wendungen, wie Kaufleute sie gerne gebrauchen. Aus den Worten schälte sich nun auch langsam sein Gesicht, regelmässige, bis zur Plumpheit kräftige Züge mit einem Ausdruck von kaltem Scharfsinn. Ja, Dug hatte sich an jenem Abend eigentlich gewundert, wie scheinbar gute Freunde Weisshaupt und ihr Vorgesetzter waren. Sie schienen ihr so gegensätzlich, nicht leicht zu vereinen. Der eine gab sich nach aussen hin so unbeschwert und losgelöst, im Innern – das wusste Dug recht genau – war er gar nicht leicht durchschaubar; da mochte allerhand verborgen ruhen. Der andere wirkte ernst und gemessen, beinahe von einer leicht pedantischen Förmlichkeit. Er besass eine runde Lebensanschauung, die man fassen konnte. Wusste Dug denn dies so genau? Sie hatten doch nur den Heimweg zusammen gemacht. Das genügte. Eine Natur wie Dug, seit ihrer Kindheit gewohnt, sich auf Menschen einzustellen, spürte sofort, wo sie sich leichter oder rascher zum andern hintasten musste. Bei Weisshaupt bedurfte es einiger Umwege; sie ahnte seinen innern Bau von dem ihrigen sehr verschieden. Und nun dieser Brief! Dug sass im Lehnstuhl, in dem Christoph damals gesessen. Die kleine Wohnung über dem Fluss kam ihr heute mehr denn je wie ein Vogelkäfig vor. Sie war so lustig eingebaut, in einer altertümlichen Laune hingeklebt. Es gab Zeiten, da schien sie ihr zu schwanken, wenn der Wind mit aller Gewalt daran rüttelte. Zu schlafen getraute sie sich dann nicht vor Furcht. Menschen konnten doch unendlich allein sein. Und diese andere, nackte, allen sichtbare, beinahe brutale Vereinsamung war zu Zeiten nicht weniger grausam als die von Gott eingesetzte Einsamkeit der Kreatur.

Warum sollte sie Herrn Weisshaupt nicht sehen? Er reiste ab in wenigen Tagen; wahrscheinlich würde sie ihm ihr ganzes Leben nicht mehr begegnen. Sie gefiel ihm. Man hatte ihr dies noch nicht sehr oft zu verstehen gegeben. Einmal ja, aber dies musste sie vollkommen vergessen. Und man vermochte dies am besten in Gesellschaft von Menschen, die einen angenehm fanden. Ja, sie wollte diesem Kaufmann aus Lyon ein paar Worte schreiben. Einige Tage hindurch schwebte es immerhin wie Erwartung in der Luft.

Sie verabredeten sich zu einem gemeinsamen Nachtessen und nachher würden sie bei Dug den Kaffee trinken. Nun sassen sie sich gegenüber, ein bisschen verlegen und ungewohnt. Herrn Felix Weisshaupt plagte das Empfinden, als habe er sich in dem Brief überschwenglich primanerhaft ausgedrückt. Er versuchte diesen Eindruck wettzumachen, indem er sich zu einer förmlichen Haltung zwang. Sein grauer Anzug mit dem unauffälligen Muster sass ihm wie angegossen. Die Wäsche war tadellos. Durch die nicht sehr dichten, aber gepflegten Haare zog sich schnurgerade der Scheitel. An der linken Hand sass ein Siegelring. Alle diese Dinge trug er wie ein Mann, der eine gewisse Würde und Untadeligkeit zu schätzen weiss. Warum machte dies Dug ein wenig ungeduldig? Das Auffallende lag ihr auch nicht, nein, ihre eigene Sicherheit taugte nicht viel. Es gab überhaupt wenig Frauen, die es lange ertrugen, abgesondert zu stehen. Und dennoch kam es ihr plötzlich unnütz vor, dass sie diesem fremden Mann gegenüber sass, sich mit ihm über die Wahl der Speisen unterhielt und dass sie ihm nachher für den hübschen Abend danken musste. Warum liess sie sich darauf ein? Nur deshalb, weil er sie angenehm fand? Ja, war sie denn in ihrer Selbstachtung so gesunken, dass sie dies dankbar und verpflichtend empfand?

»Auf Ihre Gesundheit!«

Felix Weisshaupt hob das fein geschliffene Glas. Aus seinem Gesicht war plötzlich die vorsichtige Kühle verschwunden. Und Dug fand die Gebärde hübsch, mit der er sein Glas dem ihrigen näherte. Sie musste sich hüten, jede Lebensäusserung unter die Lupe zu nehmen. Ihre Bedenklichkeiten von vorhin dünkten sie verschroben. Allzu feinverästelte Empfindungen kluppte man am besten ab.

»Ich freue mich so, dass Sie gekommen sind.«

»Der Abend damals bei Brennwalds war reizend.«

Dug wusste nichts anderes zu sagen, als an jene Begegnung zu erinnern.

»Nicht wahr?« Felix Weisshaupt bot ihr das Brot hinüber. »Es ist immer hübsch dort, das letztemal aber ganz besonders.«

Frauen, die alles hören, jede Anspielung sofort erfassen, geben sich in ähnlichen Fällen den Anschein, als verstünden sie nichts. Auch Dug war so. Wieder einmal hatte ein Jäger ein Wild aufgespürt, er verfolgte seine Fährte, und wenn er sich auch noch so leise und vorsichtig heranpirschte, so bewegte sich dieses Wild auch nicht ungeschickt. Es wich aus, machte unerwartete Wendungen, plötzlich stand es ganz wo anders und der Weidmann hatte seine liebe Not, die gute Richtung immer wieder zu finden. Werden die Menschen nie müde, dieses Spiel zu spielen?

Nein, das tun sie nicht und Felix Weisshaupt hatte seinen besondern Grund, es ernsthaft in Gang zu bringen. Denn in zwei Tagen reiste er weg und er hatte sich nun einmal etwas in den Kopf gesetzt. Ja, er verfolgte seine ganz bestimmten Pläne. Nun, noch lag ein ganzer Abend vor ihm, es blieb ihm noch Zeit für manches. Diese anmutige Dug lud ihn zu sich ein nach Hause. Man musste mit dem scheuen Vögelchen vorsichtig umgehen; er tat am besten, vorläufig nicht allzu persönliche Dinge anzurühren. Und dabei durfte man das Essen nicht vergessen, man speiste scheint's nicht nur anständig in Frankreich; auch der Wein konnte sich sehen lassen.

»Bitte, Fräulein Dug.«

Er schenkte ihr das Glas zum zweiten Male voll. Auch Dug fand alles vorzüglich, und sie wusste nicht, aus welcher Tiefe plötzlich eine Melodie in ihr auftauchte … Si tu ne m'aimes pas, je t'aime … Wo hatte sie das schon gehört? Der Wein stieg ihr wohl in den Kopf; er wirkte in ihr wie ein dünner Nebel, der einmal stieg und Löcher riss, dann wiederum leicht und behende alles zudeckte. »Si tu ne m'aimes pas, je t'aime …« Ja, wen liebte sie denn? Weiss…mann, ach nein, der war ja weg, er würde nie mehr in ihrem Leben eine Rolle spielen. Weisshaupt hiess er, er sass ihr gegenüber, ein netter, guter Mensch.

»Wie meinen Sie? Noch mehr? Nein, nun ist es wirklich genug, ich werde sonst vollkommen beschwipst, und wer wird uns den Weg weisen?«

Es regnete. Er nahm ihren Arm. Wie hübsch, dass nur er einen Schirm bei sich trug. So plauderte es sich viel besser. Dug fand, dass er ihren Arm viel zu hoch hielt im Bestreben, sie gut zu stützen. Es ermüdete so. Sie wagte nichts zu sagen. Herr Weisshaupt war nicht viel grösser als sie. Er zeigte sich auch nicht ganz so schlank, wie es zu seiner Grösse gepasst. Dick konnte man ihn keineswegs nennen, aber warum hielt er sie nur wie in einem Schraubstock? Es musste ein bisschen komisch ausschauen. Ach, die Wirkung des feinen, goldenen Weines schien bei ihr bereits verflogen zu sein. Sie nörgelte wieder, während ihr Begleiter ahnungslos in einer gehobenen Laune von diesem und jenem sprach. Es wäre für sie beide besser gewesen, wenn es nicht geregnet, wenn Herr Felix Weisshaupt nicht ihren Arm genommen und wenn sie nicht unter einem gemeinsamen Regenschirm gegangen. Und nun wusste sie plötzlich wieder, von wem sie jene Wortfetzen schon einmal gehört. Von Christoph natürlich. »L'amour est enfant de Bohème; il n'a jamais, jamais connu de loi.«

Dummes Zeug, das Gesetz war etwas sehr Gutes. Man brauchte es zum leben. Sie und alle Frauen bedurften seiner. Liebe ohne Schutz! Gott behüte einen davor. Sie brachte nichts als Kummer. Sie setzte sein Opfer den schlimmsten Anwürfen aus. Kein Mensch konnte so etwas ertragen.

»Gleich sind wir da, Herr Weisshaupt. Gibt es in Lyon auch so etwas Altväterisches wie diese Gasse? Nein, nun müssen Sie mich wirklich loslassen, sonst kann ich die Türe nicht aufschliessen.«

Weisshaupt dachte, ihr durch den Gang folgend: Wie kann ein Mensch in solch einem alten Hause leben, ein Wesen wie Dug, die so hübsch lacht und in allem so unerfahren ist. Man sollte sie so bald wie möglich wegnehmen.

Später stand er, die Zigarette in der Hand am Fenster. Er wartete, wartete darauf, dass Dug etwas sagen würde. Die Stille in diesem Zimmer war vollkommen. Warum sprach sie nicht? Fiel es ihr so schwer, auf eine klare Frage eine eben so klare Antwort zu geben? Was hielt sie hier zurück in diesem kleinen Zimmer, bei dem auf die Nerven gehenden Rauschen dieses Flusses? Und zum erstenmal dämmerte es in ihm, dass in jedem Menschen undurchsichtige Stellen ruhen, die man so leicht nicht durchschaut.

Und Dug? Sie sass in ihrem kleinen Stuhl mit geschlossenen Augen. Da stand sie also auf einmal vor einer Entscheidung. Wurde sie überrascht davon? So ganz aus blauem Himmel kam die Frage wohl nicht. Vielleicht hatte sie gleich nach Empfang jenes Briefes diese Möglichkeit erwogen, natürlich nicht so klar und deutlich, so wie sie auch mehr gefühlt als bewusst Weisshaupts Wunsch nach dieser Zusammenkunft Folge geleistet. Es war ihr nie möglich gewesen, aus einer Überlegung heraus irgend etwas zu tun. Nein, sie musste den Augenblick erleben, er gab ihr erst das Richtige ein. Sie besass nur die Hellsichtigkeit des Instinktes. Welch seltsamer Abend! Alle diese Stunden hindurch fühlte sie sich an einem nur losen, dünnen Gefühlsfaden gehen. Hin und wieder sprang sie eine kleine Ungeduld an, wie man sie Menschen gegenüber leicht empfindet, die man schon lange kennt und die einem nie ganz nahe gestanden. Und plötzlich weiss sie. Die Erkenntnis kommt ihr mit einem Schlag. Sie, die einen Menschen mit der vollkommenen Hingabe eines jungen Herzens liebte und erkennen musste, dass dieses stärkste Gefühl immer weniger wurde, immer mehr zerfiel, sie soll sich für den Rest ihres Lebens einem Empfinden anvertrauen, einer bloss achtbaren Zuneigung? Wenn jenes andere nicht mehr taugte, wie konnte sie diesen geringen Einsatz wagen? Ihre tiefe Lebensungläubigkeit wird ihr eindeutig bewusst. Nein, nicht Felix Weisshaupt zwang sie, ihr Dasein in diesem Winkel allein weiterzuleben, auch Christoph Weissmann hätte heute, wenn er mit der gleichen Frage an sie gelangt, dieselbe Antwort bekommen. Sie liebte niemanden. Die tiefgehende Erfahrung alles Vergänglichen hatte sie leergebrannt.

»Dug«, kam es fragend vom Fenster.

Sie sagte leise: »… es tut mir so leid …«

»Nein?« »Nein.«

*

Elinor lebte in Paris; sie war verheiratet. Liebte sie denn immer noch Jacobsen? O ja, sie gehörte zu denen, die in ihrem Innern eine dunkle Blume zärtlich hegen. Sie besass zwei kleine, hübsche Mädchen, mit denen sie jeden Morgen turnte und denen sie abends, wenn es dunkelte, Märchen erzählte. So war Elinor. Eines Tages hiess sie die Kinder allein spielen. Sie sass über einen Brief gebeugt, den sie in der Frühe erhalten. Sie hatte ihn nun bereits viele Male gelesen und die Bedrückung wollte nicht weichen. Die hellen Wände ihres Zimmers, die grossen Fenster, durch die das Sonnenlicht strömte, die hohen Stimmchen ihrer kleinen Mädchen aus dem Nebenzimmer, bedeuteten etwas unwahrscheinlich Lebendiges, gemessen an der tiefen Schwermut, die Dugs Worte umstand.

»Elinor«, hiess es da, »dieses untrügliche Wissen über mein kleines, brüchiges Schicksal, das ist wohl das traurigste. Andere können sich belügen, sich etwas vormachen – o herrliches Geschenk – ich aber vermag nicht einmal das. Da liege ich in der Nacht und es ist kein barmherziges Geräusch um mich. Hin und wieder gibt eine Glocke an, aber die vertieft noch den Eindruck des Alleinseins. Ich sehe mein Leben vor mir, Elinor, weiss, dass alles vergeht, alles ausgelöscht wird; das Gesetzmässige daran ist nicht zu übersehen. Ich habe auch nichts dagegen einzuwenden. Der Tod ist das wenigste. Aber der Weg bis dahin, Elinor, diese lange, öde Strasse, die anmutet wie eine Vorortstrasse an einem Sonntagnachmittag, kannst du dir Trostloseres denken? Auf dieser ganzen Wanderung steht kein Mensch, der mir zulächelt, der mir die Hand entgegenstreckt. Meine Jugend liegt irgendwo zerknüllt und achtlos wie ein vergessenes Kinderkleidchen in irgendeinem Winkel. Ja, ich besitze nichts mehr, nicht einmal die Wohltat eines Kummers. Ich gehe durch eine grenzenlose Leere und so jeden Tag, jeden Tag, Elinor …«

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Traumfährte

Eine Aufzeichnung von Hermann Hesse

Gesperrt bis 31.12.2032

 

Liebe Irene …

Novelle von Felix Moeschlin

Gesperrt bis 31.12.2039

 


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