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Von Jürgen Jürgensen.
Was war das? – Rozzi, der über den Teller gebeugt dagesessen und Holm zugehört hatte, ließ plötzlich Messer und Gabel fallen und sprang auf, so daß sein Schatten wie ein großer, schwarzer Vogel über die Veranda glitt.
»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte Holm. »Es ist bloß Anatole.«
Langsam setzte der Italiener sich wieder und ließ seinen Blick von Holm über die qualmende Öllampe zu Declercq hinüberschweifen, der lächelnd links von Holm auf der anderen Seite des Tisches saß.
»Anatole?« wiederholte Rozzi.
»Still ... Hören Sie!« sagte Holm.
Da ließen Holm und Declercq Messer und Gabel sinken und lauschten, während Rozzi sich nach der offenen Seite der Offiziersmesse umwandte und ins Dunkel hinausblickte. Aber er sah nur die untersten, beleuchteten Blätter der Orangenbäume unterhalb der Veranda.
Und jetzt ertönte vom Fluß her wieder das grunzende Schnarchen, das in Rozzi das Verlangen wachrief, mit der Büchse auf der Lauer zu liegen und plumpe Tiere aus der Finsternis herankommen zu hören. Ganz deutlich klang der Laut den dunkeln Uferabhang hinauf, und unter dem trocknen Bambusdach verfing er sich so ungestüm, daß man hätte glauben sollen, er rühre von der Schildwache vorm Hause her.
»Das ist ja ein Flußpferd! Gibt es denn hier Flußpferde?« fragte Rozzi und heftete seine schwarzen, vor Neugier funkelnden Augen auf Holm.
»Es ist Anatole!« sagte dieser lachend.
Da Declercq mitlachte, mußte auch Rozzi mit einstimmen, um sich durch seinen Eifer den beiden anderen gegenüber keine Blöße zu geben.
»Declercq,« rief Holm, »Sie kennen Anatole länger als ich. Erzählen Sie!«
Declercq sah zu Rozzi hinüber, der vom einen zum anderen blickte, um zu ergründen, was sich hinter den scherzhaften Reden verberge.
»Anatole ist ein sehr alter Bekannter von uns. Jedes Kind hier in der Gegend kennt ihn,« begann Declercq. Und, wie um seine Behauptung zu bestätigen, wiederholte der kleine Negerknabe, der hinter seinem Stuhle stand und ihn bediente, den Namen, den er unter den französischen Worten Declercqs herausgehört hatte:
»Natol.«
»Da hören Sie's ja! – Anatole inspiziert die Station zwei- bis dreimal jährlich. Das hat er getan, solange ich hier in Busanga bin. Und er überfällt uns stets hinterrücks in der Finsternis, wie das böse Gewissen. Darum haben wir ihn nach dem verstorbenen alten Distriktskommissar genannt, der auch einmal mitten in der Nacht herkam und uns einen gehörigen Schrecken einjagte. Für gewöhnlich haust Anatole zusammen mit sieben anderen Nilpferden, etwa zwanzig Kilometer weiter flußaufwärts. Der Trupp hat sich einmal vor vielen Jahren von dem breiten Flußteil hierher verirrt. Meist bleibt Anatole nur einen oder zwei Tage hier und kehrt dann zu seiner Familie zurück; wenn wir aber Hochwasser haben, dann besucht er uns für drei Wochen oder einen ganzen Monat. Während dieser Zeit haust er auf einer Sandbank etwas oberhalb der Station. Jetzt wird er bald im Gemüsegarten erscheinen.«
»Im Gemüsegarten?« fragte Rozzi erstaunt.
Der Italiener war erst vor ein paar Tagen nach Busanga gekommen und sollte einen Monat dort bleiben, um sich auf eine kleine kartographische Expedition durch das Land jenseits des Luluflusses vorzubereiten. Er kannte die Station aber bereits gut genug, um zu wissen, daß der Gemüsegarten nur dreißig Meter hinter dem Hause lag, in dem sie saßen.
»Mein Ehrenwort!« versicherte Declercq. »Er beginnt stets damit, daß er sich eines Abends bei Anbruch der Dunkelheit von einer Stelle etwas oberhalb der Station schräg über den Fluß treiben läßt. Dort bleibt er in der Strömung liegen und guckt zu uns herüber; und wenn er sich an mehreren Abenden davon überzeugt hat, daß hier niemand von uns den nächtlichen Schlaf opfert, um ihm aufzulauern, dann fängt er an, des Nachts ans Land zu gehen. In der Regel geschieht das zwischen zwölf und drei Uhr. Er geht ringsum spazieren und holt sich auf den Feldern und im Gemüsegarten seine Nahrung. Einmal ist er sogar bis an die Offiziersmesse herangekommen und hat die Treppe in Stücke getreten.«
»Ist er sehr groß?« fragte Rozzi.
»Ich habe ihn nie zu sehen gekriegt, aber nach den Aussagen der Neger und nach den Spuren zu urteilen, die er hinterläßt, muß es ein riesiger Kerl sein.«
»Declercq meint, es bestünden gewisse geheimnisvolle Beziehungen zwischen Anatole und dem neuen Distriktskommissar,« warf Holm ein.
Rozzi lachte zerstreut. Er nahm sich vor, noch am selben Abend eine seiner Patronenkisten zu öffnen, und zwar die mit den Explosivkugeln, für die er noch keine Verwendung gefunden hatte.
»Ja,« flüsterte Declercq, das Gesicht tief über den Teller beugend, »er spioniert. Wissen Sie, was Anatole vor kurzem entdeckt hat? Die Schießbahn hier in der Station reicht bis zum Flusse hin, und an ihrem Ende pflegt Anatole ans Land zu gehn. Wie Sie wissen, soll die Schießbahn nach dem Reglement vierhundert Meter lang sein, aber die unsere ist nie länger als dreihundertdreißig gewesen. Es müßte erst ein Morast ausgefüllt und ein Hügel abgetragen werden, um sie zu verlängern; und dazu haben wir bis jetzt weder Zeit noch Mannschaft genug gehabt.
Das hat Anatole entdeckt. In der Nacht hat er die Bahn vom einen Ende bis zum anderen abgeschritten. Und als dann der Kommissar kam, sollte sie plötzlich gemessen werden. Obwohl ich mir alle mögliche Mühe gegeben habe, verkehrt zu messen, so endigte die Sache doch schließlich damit, daß der Kommissar konstatierte, daß wir statt auf eine Entfernung von vierhundert Meter immer auf eine Entfernung von dreihundertdreißig Meter geschossen hätten.
Kein anderer als Anatole kann doch den Kommissar auf den Fehler aufmerksam gemacht haben.«
»Haben Sie nie Jagd auf ihn gemacht?« fragte Rozzi.
»Nein«, entgegnete Holm. »In der Nacht schlafen wir.«
»Und am Tage?«
»Am Tage arbeiten wir. Das weiß Anatole recht gut.«
»Hat denn auch keiner von den Schwarzen jemals auf ihn geschossen?«
»Gewiß,« erwiderte Holm, »aber in jüngster Zeit nicht mehr. In den letzten Jahren hat Anatole den Negern immer mehr Furcht eingeflößt, und auch sein Äußeres ist in ihren Augen immer mehr und mehr gewachsen. Augenblicklich halten sie ihn für ungefähr so groß, wie den Ziegenstall da drüben, und seine Augen, sagen sie, leuchten wie zwei Feuerkugeln. Die meisten sind überzeugt, daß Anatole niemand anders ist als der böse Urquell aller Dinge, der sich als Flußpferd verkleidet. Darum, so meinen sie, könnten ihm die Kugeln auch nichts anhaben; und im übrigen müsse man sich überhaupt hüten, auf ihn zu schießen. Als seinerzeit auf ihn Jagd gemacht wurde, sollen mehrere Kinder in der Station gestorben sein.«
»Glauben die Leute wirklich an so etwas?« fragte Rozzi.
»Ja, die meisten.«
»Die lachen darüber – und glauben gleichfalls daran.«
Als das Essen beendet war und die Boys den Tisch abgeräumt hatten, goß Holm Wein in die Gläser, und man saß eine Weile schweigend da und beobachtete die Schatten der qualmenden Lampe auf dem Tischtuche.
»Darf ich das Flußpferd schießen?« fragte Rozzi, sich zu Holm hinüberbeugend. Seine Stimme zitterte ein wenig, und unwillkürlich ballte er die braunen behaarten Hände, die auf dem Tische lagen, zu Fäusten.
Holm blickte skeptisch zu Declercq hinüber, und dieser erwiderte Rozzi:
»Sie werden Anatole nie und nimmer zu fassen kriegen.«
»Warten Sie's ab.«
»Wir haben nicht die Courage dazu«, sagte Holm.
Rozzi lachte, aber das Herz hüpfte ihm im Leibe, und er hatte das Gefühl, einen Scherz in die Wagschale legen zu müssen, um seinen Wunsch erfüllt zu sehen.
»Wenn ich Anatole das Lebenslicht ausblase, dann läuft er doch wenigstens nicht mehr zum Kommissar, um aus der Schule zu schwatzen«, sagte er lächelnd.
Holm aber runzelte die Stirn; und es sah aus, als hätte er einen kleinen inneren Kampf mit seinem Pflichtgefühl zu bestehen. Dann erhob er sein Glas mit den Worten:
»Prosit, Rozzi! Sie haben mich überzeugt. Wenn es auch nicht richtig ist, seinen Vorgesetzten entgegenzuarbeiten – Sie sollen den Burschen haben.«
Rozzi lachte still und in sich gekehrt. Nicht über Holms scherzhafte Worte, sondern weil er sich freute, Anatole bald einmal begrüßen zu können.
*
Als die drei Weißen sich am nächsten Morgen in der Messe beim Kaffee trafen, waren Declercqs erste Worte zu Rozzi, nachdem er »guten Tag« gesagt hatte:
»Er ist heute nacht dagewesen. Auch vor Ihnen scheint er also keine Angst zu haben.«
Da machte Rozzi große Augen, als wollte er jemand auffressen.
»Heute nacht?«
Das war ärgerlich. –
Als dann das Frühstück beendet war, begab sich Rozzi sofort in den Gemüsegarten. Auf den Beeten waren große, tiefe Spuren zu sehen; eine breite Schnauze hatte den Salat und die Radieschen zu großen Haufen zusammengescharrt.
Während des ganzen Vormittags untersuchte Rozzi Anatoles Spuren und besichtigte das Terrain. Anatole war wirklich am Ende der Schießbahn ans Land gegangen, war an ihr entlang bis zum Walde vorgedrungen und in weitem Bogen kreuz und quer über seine eigenen Spuren zurückgelaufen, als ob er jemanden habe irreführen wollen. An einer Ecke des Maniokfeldes hatte er sich auf dem Rücken herumgewälzt, scheinbar um möglichst viele Büsche zu zerstören, und hatte dann den Weg eingeschlagen, der senkrecht zur Schießbahn den Abhang hinauf zur Station führte. Dort war er eine Zeitlang im Gemüsegarten umherspaziert und dann, der Aussage einer der Schildwachen nach, gegen zwei Uhr auf demselben Wege, auf dem er gekommen, zurückgaloppiert; die Erde hatte dabei gebebt, berichtete der schwarze Soldat.
Rozzi, der nicht an dem Dienste in der Station teilnahm, benutzte den Rest des Tages dazu, seine Waffen nachzusehen, seinen Patronengürtel zu füllen und seine Jagdausrüstung aus dem Koffer zu nehmen. Beim Abendessen erschien er im blauen Leinenkittel, in braunen Ledergamaschen und dicken gelben Stiefeln.
Holm drückte ihm wehmütig die Hand und sagte:
»Herrgott, soll Anatole denn wirklich ein solches Ende nehmen?«
Bei Tisch erzählte Rozzi, welchen Plan er habe. Dicht am Wege, in der Nähe des Gemüsegartens, befand sich ein hoher Termitenhügel. Dort wollte er sich gegen zwölf Uhr aufstellen. Mit zwei der Schildwachen hatte er verabredet, daß sie in geeigneten Zwischenräumen weiter feldeinwärts Posto fassen sollten. Wenn das Flußpferd, so erzählte Rozzi, im Gemüsegarten gewesen sei und wieder zurückgehe, dann wolle er die ersten Schüsse abgeben; und dann sollten die beiden Soldaten, die inzwischen bis zum Wege vorgedrungen sein würden, nach und nach den Inhalt ihrer Albinibüchsen auf Anatole abfeuern, falls ihm nicht schon Rozzis Kugeln den Rückzug zur Schießbahn unmöglich gemacht hätten.
»Wollen Sie nicht dabei sein?« fragte Rozzi.
»Nein, es kann doch nichts nützen«, erwiderte Holm. »Wir in Busanga kennen Anatole und wissen, daß das alles doch nichts nützen kann. Der Bursche hat schon Lunte gerochen und kommt nicht.«
Aber er kam trotzdem.
*
Von zwölf Uhr an saß Rozzi auf seinem Posten. Über seinem Jagdanzug trug er einen dicken Mantel. Es war stockfinster. Er versuchte, eine Stellung einzunehmen, die einigermaßen bequem war und ihm andererseits erlaubte, die Büchse ungehindert, ohne das geringste Geräusch zu machen, an die Wange zu führen. Schließlich setzte er sich auf einen losgelösten Klumpen des Termitenhügels; das rechte Knie ruhte auf der Wolldecke, die er zum Schutze gegen die Feuchtigkeit mitgenommen hatte.
So saß er nun da und lauschte den Lauten der Nacht. Auf dem für ihn neuen Terrain war es schwierig, sie voneinander zu unterscheiden und zu bestimmen, woher sie kamen. Noch schlimmer war es um die Gesichtswahrnehmungen bestellt. Er konnte kaum den gelben Lehmweg mit den beiden Bananenreihen erkennen.
Am deutlichsten sah er die herabhängenden welken Blätter der Bananen jenseits des Weges; und er meinte, daß er jedenfalls Anatoles Kopf werde bemerken müssen, wenn er an diesen hellen Stellen vorüberkäme. Er versuchte, von dem einen Bananenbaume zum anderen zu zielen. Das Visier konnte er allerdings nicht wahrnehmen, aber den blankpolierten Lauf sah er in seiner ganzen Länge.
Er hatte zwei geladene Büchsen bei sich. Die eine hielt er in der Hand, die andere lag neben ihm auf der Decke. Den ersten Schuß wollte er auf die Bananen abgeben, die in einem Winkel von zwanzig Grad rechts von ihm standen. Nachdem er geschossen hatte, wollte er die Büchse hinwerfen, die andere die neben ihm lag, ergreifen und Anatole den zweiten Schuß schräg von hinten in den Kopf jagen. Es mußte übrigens schwer sein, das Flußpferd zu sehen, wenn es erst an ihm vorübergekommen war. Denn es war ganz dunkel zur Linken, und es bestand keine Möglichkeit, das Geringste zu sehen, obwohl Rozzi sich die Augen aus dem Kopfe starrte. Manchmal glaubte er, stockblind zu sein. Wollte er aus dem Dunkel die helleren Stellen wieder herausfinden, so schien sich die Dunkelheit vor ihm im Kreise zu drehen; und er war froh, wenn die welken Bananenblätter wieder aus der Finsternis auftauchten.
Während die Schatten kamen und im Raume verschwanden, verstrich die Zeit; Rozzi spürte, daß es kalt war; und dieses Gefühl des Fröstelns löste in ihm die Erinnerung an eine nächtliche Bärenjagd in den heimatlichen Alpen aus. Oder war es nicht in den Alpen gewesen?
Zerstreut faßte sich Rozzi an den Kopf; doch er schrak zusammen, als er hörte, wie sein Ärmel den Mantel streifte.
War er in den Alpen auf der Bärenjagd gewesen? Wie merkwürdig, daß er sich nicht mehr genau entsinnen konnte. Denn er hatte ja auch einmal in den Pyrenäen gejagt; und nun wußte er im Augenblick nicht mehr, ob er dort oder in den Alpen vor dem weißen Schneefelde gesessen und auf den Bären gewartet hatte.
Und doch! Jetzt entsann er sich wieder: es war während des Aufenthaltes in Turin, es war in den Alpen gewesen.
Als Rozzis Gedanken von diesem kleinen Ausflug zu seinem Termitenhügel zurückkehrten, schien es ihm, als sähe er Schnee vor sich, und als hingen von den Bananenbäumen drüben Schneekuchen herab.
Er zitterte vor Kälte: denn ein kalter Wind wehte den Abhang hinunter, und sein Mantel war vom Tau ganz durchnäßt.
Aber Rozzi wagte nicht, sich zu rühren und konnte es eigentlich auch gar nicht, so steif waren sein Rücken und seine Beine. Doch weggehen wollte er nicht. Lieber auf der Stelle sterben.
Bei jedem Laut, der sein angespanntes Ohr erreichte, zuckte er zusammen.
Von Zeit zu Zeit hörte er, wie ein seltsam summender Ton sich aus weiter Ferne näherte, ein unbekannter Laut, der alle anderen Töne der Nacht einhüllte und unkenntlich machte.
Sooft der Ton wiederkehrte, fragte sich Rozzi, ob das wohl Anatole wäre.
Einmal glaubte er auch drüben im Walde ein wildes Knurren zu hören. Aber dann entdeckte er, daß es nur ein Käfer war, der dicht an seinem Ohr vorüberschwirrte.
Und sooft der Schakal drüben im Gebüsch schrie, tat ihm der Kopf weh. Rozzi machte die höchst beunruhigende Entdeckung, daß ihn sein Gesicht und Gehör betrogen. Was fehlte ihm nur?
Er hatte die Büchse fallen lassen, ohne es zu merken; und als er sie jetzt aufheben wollte, mußte er lange danach suchen. Vielleicht war das Flußpferd inzwischen vorübergegangen ohne daß er es gesehen hatte. Rozzi meinte auf einmal, daß es totenstill um ihn würde und noch finsterer als zuvor.
*
Gegen Morgen kam Anatole.
Rozzi hörte oben in der Atmosphäre oder tief unten an der Erde oder in weiter, weiter Ferne, in einem anderen Weltteil, einen dumpfen Laut, dessen Ursprung ihm unerklärlich war. Da plötzlich sah er einen großen Schatten aus dem Dunkel hervorgleiten, sein Zeigefinger umschloß unwillkürlich den Hahn und drückte ab, und ein wild schnarchendes Unwetter stürzte an ihm vorüber.
Das war alles, was Rozzi von seinem ersten Zusammenstoß mit Anatole später noch wußte.
Die beiden Soldaten hatten den Schuß nicht gehört. Sie waren in einem Loch im Felde eingeschlafen. Aber sie erwachten bei dem Lärm, der dem Schusse folgte. Es war, als hätten sich alle die toten Seelen, die sonst gleich flatternden Schatten unterm Nachthimmel umherflogen, in einen Trupp brüllender Riesenelefanten mit phosphorhaft leuchtenden Leopardenaugen verwandelt, und als käme die Herde jetzt wie ein Wirbelwind durch den hohen Maniok herangesaust und würfe die Soldaten hoch in die Luft.
So schien sich das Ganze nach ihrer Meinung abgespielt zu haben. Aber sie wollten nicht übertreiben. Darum beschränkten sie sich darauf, hernach den Kameraden zu erzählen, Anatole sei jetzt so groß wie Leutnant Holms Wohnhaus, und er habe Augen so groß wie Feuerbrände.
Im übrigen glaubten sie, wie sie sagten, daß Anatole tot sei; denn sie hätten gehört, was auch durch die Spuren bestätigt wurde, daß er den dreißig Meter hohen Abhang hinabgestürzt und mit unnatürlich lautem Geplätscher ins Wasser gegangen sei.
Als ihr Schreck sich gelegt hatte, wagten sie sich bis zu Rozzis Platz vor. An allen Gliedern zitternd und außerstande zu sprechen, kauerte dieser am Boden. Sie trugen ihn zur Station und ließen Declercq holen.
*
Vier Tage lang lag Rozzi im Fieber, ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen, und Holm mußte alle Waffen aus der Stube entfernen, damit er nur ja kein Unglück anrichte. So wütend war er. Als Declercq, der ihn pflegte, einmal in seinem Stuhl eingeschlafen war, schlich sich Rozzi im bloßen Hemde aus dem Hause, und erst eine Stunde später wurde er bei jenem Termitenhügel gefunden, an dem er Anatole aufgelauert hatte. Es war der schlimmste Fieberanfall, den man seit langer Zeit in Busanga erlebt hatte.
Als er sich dann einigermaßen erholt hatte, saß er noch zwei Tage in eine Decke gehüllt im Lehnstuhl, ohne den Mund zu öffnen, mit dunkeln Pupillen und bleichem Gesicht. Doch als Holm am siebenten Tage kam und mit erzwungener Lustigkeit fragte: »Na, Rozzi, wie geht es?« – da erhob sich der Italiener halb widerwillig von seinem Stuhle, strich sich mit der Hand über die Stirn, die noch die Spuren des naßkalten Fieberschweißes trug, und antwortete:
»Das verfluchte Flußpferd!«
Da freute sich Holm und fing an zu tanzen.
»Das verfluchte Flußpferd«, wiederholte er.
Was bedeutete das anders als:
»Rozzi ist gerettet! Rozzi stirbt nicht!«
Ein Lächeln flimmerte über Rozzis Gesicht hin, und von nun an erholte er sich immer mehr. Ganz gesund wurde er jedoch erst nach ein paar Tagen, als man zusammen beim Abendbrot in der Messe saß und das wohlbekannte Schnarchen vom Flusse wieder zur Station herauftönte.
Da blickten Holm und Declercq gleichzeitig zu Rozzi hinüber, und Holm sagte wehmütig:
»Ich hatte mich schon so darüber gefreut, daß der alte Halunke beim Fallen den Hals gebrochen hätte.«
Aber Rozzi begann zu zittern, so daß sein Messer und seine Gabel klirrend den Teller berührten.
»Ja, wart nur,« sagte er, »wart nur.«
In dieser Nacht saß Rozzi, in Decken gehüllt, auf der Veranda der Messe und wartete, aber Anatole hatte das offenbar vorhergesehen und kam nicht. In der nächsten Nacht war Anatole wieder da, aber da war Rozzi mit leichtem Fieber zu Bett gegangen.
*
Während der nächsten vierzehn Tage opferte Rozzi in jeder zweiten oder dritten Nacht nutzlos seinen Schlaf; und in den anderen Nächten lag er da und kämpfte mit dem Fieber, während Anatole sich unten auf den Feldern ergötzte.
Nur in einer einzigen Nacht, als Rozzi unten an dem Termitenhügel auf Anatole wartete, hatte er das Glück, ihn stampfend den Weg heraufkommen zu hören. Doch als Anatole den halben Weg bis zur Station zurückgelegt hatte, hörte Rozzi ihn plötzlich einen Seufzer ausstoßen, kehrt machen und zum Flusse hinabgaloppieren.
An den Tagen, an denen Rozzi gesund war, ging er im Sonnenbrande auf den Feldern umher, durchforschte Anatoles Spuren und ärgerte sich, wenn er nicht das geringste System in Anatoles nächtlichen Spaziergängen entdecken konnte.
Und es wurde zum ständigen Morgenwitz in der Station, daß man, wenn man sich nach dem Befinden des anderen erkundigte, hinzufügte:
»... und Anatole?«
Rozzi beantwortete das stets damit, daß er die Augen in der Ferne gleiten ließ und mit den Achseln zuckte, als ob es ihm im Grunde gleichgültig sei.
Aber die anderen hatten das Gefühl, daß Rozzis Gedanken beständig bei Anatole weilten, und daß er, wenn es nicht bald zu einer Entscheidung käme, ernstlich krank werden würde, so daß es mit seiner kartographischen Arbeit noch gute Weile hätte. Darum schlug Holm ihm eines Tages vor, jeden Morgen mit seinem Boy und einem Dutzend Ruderer eines der Kanoes zu besteigen und Anatole da aufzusuchen, wo er sich am Tage aufhielt.
Rozzi war erstaunt, daß er noch nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war; und er brach nun an jedem Morgen gleich nach dem Kaffee auf. Wenn er dann auf die kleine schilfbewachsene Sandinsel an der Flußbiegung gegenüber der Station kam, dann ging er ans Land und folgte dem sandigen Strande um das Schiff herum. Die eine Büchse hielt er selbst in der Hand, und die andere nebst den Patronen trug der Boy hinter ihm her, während das Kanoe ein paar Meter flußeinwärts ihren Bewegungen folgte. Überall fand Rozzi die frischen Spuren der schweren Füße Anatoles, und er versuchte mehrmals, durch die breiten Öffnungen einzudringen, die durch Anatoles Marsch in den drei bis vier Meter hohen Schilfwald hinein entstanden waren. Diese Öffnungen wiesen alle nach der Mitte der Insel hin, aber innerhalb des sie umgebenden Sandstreifens war der Schlamm so tief, daß es unmöglich war, hindurchzukommen.
»Geh nicht!« sagten die Neger, die in ihrem Boote draußen still lagen und sahen, wie Rozzi bis an die Brust in die halbdunkeln Schilftunnel einsank.
Rozzi schäumte jedesmal vor Wut, wenn er nach stundenlangen Versuchen die Sache aufgeben und zum Boot zurückkehren mußte, mit schwarzem Schlamm bis zum Halse bedeckt, während Anatole – davon war Rozzi überzeugt – auf einem trocknen Fleck im Sumpfe lag und ihn auslachte.
*
Eines Tages aber, als das Kanoe langsam vom Flußufer auf die Spitze der kleinen Insel zusteuerte, zeigte der vorderste Mann im Boot zur Insel hinüber, und Rozzi sah hundert Meter vor dem Steven auf dem langsam fließenden Wasser die schwarzen Nasenhöcker, die anzeigten, daß Anatole nun zu guter Letzt seinem Todfeind doch nähergekommen war, als ihm selber lieb sein mochte.
Rozzi sah deutlich, wie sich die beiden Nasenhöcker auf dem Wasser bewegten; und es drehte sich in einem Augenblick alles vor ihm im Kreise bei dem Gedanken, daß in der Verlängerung unter der spiegelblanken Wasserfläche Anatoles drei bis vier Meter langer, schwerer Körper liege.
Rozzi riß die Büchse an die Wange und hielt den Atem an, während die Neger mäuschenstill auf dem Boden des Kanoes saßen. Einen Augenblick zögerte er noch und hielt sich auf dem schaukelnden Boote im Gleichgewicht. Dann drückte er los.
Die Kugel schlug dicht vor Anatoles schwarzer Schnauze nieder, und das aufspritzende Wasser war vom Blute gerötet.
Anatole tauchte unter, schwenkte in einem Bogen hinter die Spitze der Insel, hob eine Minute später seinen riesigen naßglänzenden Gummikörper aus dem Wasser hervor und watete schleunigst auf das Schilf zu.
Da ließ Rozzi das Boot auf die Insel zulaufen; und als Anatole auf der anderen Seite hervorkam, hatte er das Tier unmittelbar vor sich und konnte in seinen gewaltigen blutenden Rachen hineinsehen, den es gegen seinen Angreifer aufgesperrt hielt, während es durch das seichte Wasser und über den Sandstreifen dahintrabte.
Bevor es aber im Schilfe verschwand, jagte Rozzi ihm eine neue Kugel in den Rachen.
Als das Boot dann die Insel erreichte, winkte er dem Boy zu, zum Zeichen, daß er ihm mit der anderen Büchse folgen möge; dann befahl er den Negern, um die Spitze der Insel herumzufahren bis zu der Stelle, wo Anatole ins Schilf gegangen war, und sprang selber ans Land.
Die Neger riefen ihm nach, er solle umkehren und wieder ins Boot kommen; aber Rozzi hörte sie nicht mehr. Es beherrschte ihn nur das eine Gefühl, daß endlich der rechte Augenblick gekommen sei. Vorsichtig steckte er das Bajonettmesser, das der Knabe ihm reichte, auf das Gewehr, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, warum er es tat; und dann ging er langsam, fortwährend in das Schilf hineinspähend, längs des Strandes vorwärts.
Als er an die Stelle kam, wo Anatole verschwunden war, guckte er ins Schilf.
Da saß das Nilpferd in seinem Loch. Der ganze Hinterleib steckte im Morast. Fest glotzte Anatole aus einer Entfernung von zwanzig Metern seinem Verfolger entgegen.
Rozzi war nicht mehr nervös. Er erwiderte den zornigen Blick der kleinen Augen, um Anatole seine Verachtung zu zeigen und flüsterte:
»Alter Spion!«
Anatoles Antwort bestand darin, daß er seinen blutigen Rachen mit den riesigen Zahnstümpfen weit aufriß.
Da jagte ihm Rozzi eine Kugel in den entblößten Gaumen hinein.
Mit einem Ruck stand Anatole stumm drohend auf allen vieren, und Rozzi streckte seine rechte Hand nach hinten aus, um die geladene Büchse von seinem Boy in Empfang zu nehmen.
Aber er bekam keine Büchse zu fassen.
Als er den Kopf drehte, sah er, daß der Junge ängstlich starrend drüben im Boote stand, das soeben um die Spitze der Insel bog und auf ihn zusteuerte.
Im ersten Augenblick war er schon darauf gefaßt, daß das Ungetüm, das da aus dem aufspritzenden, stinkenden Morast auf ihn zustürzte, ihn packen, und daß der blutige Mahlgang des gewaltigen Schlundes seine Knochen zermalmen werde.
Doch da kam ihm das blitzende Bajonett zu Hilfe. Er raffte alle seine Kraft zusammen zu einem seitlichen Sprunge nach hinten – und Anatoles Zähne klappten um einen Mund voll leerer Luft zusammen an der Stelle, an der eben noch Rozzi gestanden hatte.
Fast im selben Augenblick warf Rozzi sich mit der ganzen Wucht seines Körpers vornüber und stieß das Bajonett in Anatoles Auge hinein, so daß es drin stecken blieb.
Da ließ das Tier mit einem Ruck die Schnauze in den Sand sinken, und der gewaltige Körper riß den Strand zehn Meter weit auf und rollte ins Wasser hinein. Dort blieb Anatole liegen, alle viere emporstreckend.
Rozzi war durch den Zusammenstoß umgerissen worden; das Gewehr, das Anatole ihm aus den Händen gezerrt hatte, lag mit zersplittertem Schaft am Strande. Ein paar Sekunden darauf stieß das Kanoe nicht weit von der Stelle ans Land. Rozzi entriß dem entsetzt herbeistürzenden Boy die Büchse und gab noch mehrere wohlgezielte Schüsse auf Anatole ab, um sicher zu sein, daß der Bursche seine hart geprüfte Seelenruhe nun nicht wieder stören werde.
*
Als die Neger nach der Rückkehr in Busanga die frohe Botschaft verkündeten, daß Anatole dort oben liege und die Beine in die Luft strecke, wurden sofort Leute ausgesandt, um ihn zu zerlegen; und am Nachmittag fand große Fleischverteilung in der Station statt.
Der einzige, der leer ausging, war Rozzis Boy. Er hatte auf der Stelle seinen Abschied erhalten.
Am Abend gab es Flußpferdbeef in der Messe.
Aber es war nur ein Schaugericht, denn Anatole war auch nach seinem Tode eine ebenso harte Natur geblieben, wie er es zu Lebzeiten gewesen. »Boshaft bis zum Schlusse«, meinte Holm, als die Reste des gefallenen Feindes vom Tische abgetragen wurden. Zum Glück war Declercq, der die Haushaltung unter sich hatte, so vorsichtig gewesen, ein paar Hühner braten zu lassen. So brauchte niemand Not zu leiden.
*
Schon am nächsten Tage machte sich Rozzi allen Ernstes an die Vorbereitungen seiner kartographischen Expedition, und drei Tage später fuhr er mit fünfundzwanzig Soldaten und dreißig Trägern über den Lulufluß.
Sein Andenken aber wird in Busanga ebensowenig in Vergessenheit geraten, wie die Erinnerung an Anatoles Heldentaten je erlöschen wird. Und je öfter man diese Geschichte erzählen wird, desto größer wird der Ruhm Rozzis und Anatoles werden.