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Eines Nachmittags saß ich wieder auf einer jener Bänke, diesmal auf einer, von der man Aussicht auf die Häuserreihen hatte. In einem dieser Häuser schien irgendein Fest gefeiert zu werden, denn eine lange Reihe von Autos stand davor, und jetzt kamen eine Menge Leute heraus, Männer und Frauen, festlich angezogen. Ich sah ihnen nach, bis das letzte der Autos um die Ecke gebogen war. Fast gleichzeitig kam aus der anderen Richtung ein Taxi und hielt scharf. Ich hätte wohl nicht weiter darauf geachtet, hätte ich nicht in diesem Augenblick ein paar Worte von zwei jungen Burschen aufgefangen, die auf der Bank neben mir saßen.

»Das ist er!« flüsterte der eine. »Wir haben Glück, Skeet! Es ist Lanahan. Also er wohnt doch da drinnen!«

Burke Lanahan!

Ja, er war es. Er stand jetzt neben dem Wagen, und während er das Kleingeld für den Chauffeur zählte, fiel die Sonne ihm prall ins Gesicht. Groß, selbstsicher, wie immer, untadelig gekleidet.

Wie seltsam! War es gerecht, daß ein Mensch wie Burke Lanahan alle Annehmlichkeiten genießen durfte, die die Welt zu vergeben hatte? Und warum hieß es dann: Wer sät, soll auch ernten?

Bitterkeit stieg in mir auf, und gleichzeitig wunderte ich mich über meine Gefühle. Haßte ich Burke Lanahan immer noch?

Plötzlich wurden meine Gedanken wieder unterbrochen. Die beiden Kerls neben mir hatten wieder zu flüstern begonnen. Es war sonst niemand in der Nähe, und auf das schäbige junge Mädel, das da neben ihnen auf der Bank saß, achteten sie kaum.

»… mußt heute nacht … strikter Befehl … für dreitausend Dollar kann man ihn schon beiseite bringen. Nicht allzuschwer …«

Jetzt standen sie auf, reckten sich, marschierten dann in der Richtung zur Straße davon. Ich sah sie bis an das Tor des Hauses herangehen, in dem Lanahan wohnte. Dann bogen sie scharf ab.

Und jetzt war mir alles verständlich!

Diese beiden Burschen hatten hier nur auf Lanahan gewartet. Einer seiner Feinde, der seinen Tod plante, hatte sie geschickt. Und Lanahan, ahnungslos und selbstsicher, wie immer, marschierte geradeswegs in sein Verderben hinein!

*

Es ist immer meine Gewohnheit gewesen, zuerst zu handeln und dann zu denken.

Im nächsten Augenblick marschierte ich bereits quer über die Straße und betrat die Vorhalle des Hauses, in das ich Lanahan hatte eintreten sehen. Was ich tun wollte, wenn ich erst hier wäre, davon machte ich mir nicht die leiseste Vorstellung. Der einzige Gedanke, dessen ich fähig war, war der: Ich mußte den Mann, den ich doch haßte und verabscheute, warnen.

Ein Liftboy, ein frecher, kleiner Nigger, kam mir entgegen.

»Hallo, wohin denn?« rief er. »Was suchen Sie denn hier?«

»Ich möchte Mr. Burke Lanahan sprechen. Fahren Sie mich zu ihm hinauf.«

»Mr. Lanahan ist nicht zu Hause. Ausgegangen. Wir wissen nicht, wann er zurückerwartet wird.«

»Das ist nicht wahr, ich habe ihn eben eintreten sehen.«

Irgend etwas machte den unverschämten Kleinen unsicher. Er sah mich groß aus seinen Perlmuttaugen an, dann sagte er: »In diesem Haus ist es üblich, sich anmelden zu lassen.«

»Gut, dann melden Sie mich an. Mein Name ist Miß Eve Carton. Ich habe dringend mit Mr. Lanahan zu sprechen.«

Der Bursche zog sich in eine Loge zurück und telephonierte. Ich hörte ihn meinen Namen zweimal wiederholen, dann kam er wieder hervor und führte mich in den Aufzug. Eine Ewigkeit dauerte es, bevor wir am Ziel waren – ich zählte zehn Etagen. Wir kamen auf einen Korridor, endlich klopfte der Liftjunge an eine Tür. Burke Lanahan öffnete sofort.

»Ach, Eve!« rief er. »Das freut mich, daß Sie kommen! Treten Sie ein.«

Er führte mich in ein luxuriös eingerichtetes Zimmer, schob mir einen Klubfauteuil hin, aber ich blieb stehen. Plötzlich hatte meine ganze Sicherheit mich wieder verlassen. Ich zitterte am ganzen Körper.

»Ich bin nur gekommen, um Sie zu warnen«, sagte ich. Und dann erzählte ich ihm von den beiden Männern, die neben mir auf der Bank gesessen hatten, beschrieb sie ihm, so gut ich konnte. Er hörte aufmerksam zu, ein leichtes Lächeln kräuselte seine Lippen. Und als ich geendet hatte, lachte er hellauf. Das war wieder sein gewinnendes, ansteckendes Lachen, dieses Lachen, das vor neunzehn Jahren die unglückliche Mona Carton verführt hatte! Jetzt kam er auf mich zu, legte seine weißen, gepflegten Hände auf meine Schultern.

»Und da sind Sie gekommen, um mich zu warnen?« sagte er. »Sie sind doch ein wunderbarer Kerl, Eve! Warum haben Sie das getan? Ich dachte, Sie verabscheuen mich?«

»Ich weiß nicht«, stammelte ich. »Ich glaube, ich hasse gar niemand. Wenn wir es selbst … schwer haben … vergessen wir hart zu sein gegen andere. Ich wollte nicht, daß man Sie ermordet. Sie werden sich doch vorsehen, nicht wahr?«

Wieder lachte er. Dann blinzelte er mir zu.

»Sie kennen Burke Lanahan nicht, Kind. Burke Lanahan hat weder vor Gott, noch vor den Menschen, noch vor dem Teufel Angst. Ich glaube, ich weiß, wer die Leute sind, die es auf mich abgesehen haben. Nun … jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar, Eve. Wie geht es Ihnen übrigens? Wo wohnen Sie?«

Ich sagte es ihm. Ich hatte nicht einmal ein unangenehmes Gefühl dabei.

»Aber jetzt muß ich fort«, erklärte ich. »Ich muß um sechs zum Dienst, und zu spät darf ich nicht kommen.«

»Eine Sekunde nur! Warten Sie!«

Er verschwand ins Nebenzimmer, ich hörte ihn einen Schrank öffnen, dann knisterte Papier. Als er einen Augenblick später zurückkam, hatte er ein Paket in der Hand.

»Sie müssen das nehmen, bitte«, sagte er. »Es gehörte Ihrer Mutter und ist jetzt folglich Ihr Eigentum. Noch etwas: Sie müssen mir nicht böse sein, weil ich dachte, Sie wären Jacobs Freundin. Ich weiß es jetzt besser. Leben Sie wohl! Mir ist nicht bang um Sie, Frauen von Ihrer Art setzen sich eines Tages doch durch. Nochmals tausend Dank, daß Sie gekommen sind. So was tut einem wohl, wenn man bereits verlernt hat, gut von den Menschen zu denken.«

Auf dem Wege ins Kino dachte ich nach, was wohl in dem Päckchen sein konnte, aber ich hatte keine Zeit es zu öffnen. Wirklich kam ich gerade noch zurecht, um in aller Eile in meine Uniform zu schlüpfen und dann zu den anderen Platzanweiserinnen in den Saal zu laufen. In den nächsten paar Stunden blieb mir keine ruhige Minute. Unermüdlich mußte man mit den kleinen Blendlaternen durch den Saal gehen, freie Plätze für die Leute suchen, die während der Vorstellung kamen.

Es lief gerade ein Film, der großes Aufsehen erregt hatte, und vor elf Uhr abends kam ich nicht dazu, mich auch nur einen Moment zu setzen.

Ich lehnte an der Wand, blickte teilnahmslos auf die Leinwand, auf der ich nun schon zum zwanzigsten Male diese Szenen vorbeigleiten sah, als ein breitschultriger, gedrungener Mann auf mich zukam. Ich dachte, es wäre ein verspäteter Besucher, schaltete gewohnheitsmäßig meine Blendlaterne ein und sagte mechanisch: »Hier bitte! Ihr Billett?«

Im selben Augenblick fühlte ich, wie sich harte Finger um meinen Arm legten. Der Unbekannte zog mich beiseite.

»Sie sind Eve Carton, ja?«

»Allerdings«, antwortete ich überrascht, »so heiße ich.«

»Kommen Sie mit mir ins Büro!«

Er gab meinen Arm nicht frei, während er mich hinausführte.

Betroffen folgte ich ihm in das Büro des Managers. Erst als er die Tür hinter uns geschlossen hatte, blieb ich stehen.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?« fragte ich.

»Ich verhafte Sie«, antwortete er kurz. »Ziehen Sie sich rasch um und folgen Sie mir, bevor jemand aufmerksam wird.«

Meine Taschenlampe fiel zu Boden.

»Verhaften? Warum?«

»Wegen des Mordes an Burke Lanahan«, antwortete der Detektiv.

»Ich verhafte Sie, weil Sie Burke Lanahan gemordet haben«, wiederholte der Detektiv.

Der kleine Kontorraum begann sich in diesem Augenblick vor meinen Augen zu drehen wie ein Kreisel. Es dauerte geraume Zeit, bis ich klar genug sah, um wenigstens sagen zu können:

»Wegen – Burke Lanahan? Burke Lanahan ermordet?!«

Im Geist sah ich ihn vor mir, groß, strahlend, fröhlich – mit diesem Lächeln auf den Lippen, das, wer es einmal gesehen hatte, nicht mehr vergessen konnte.

Burke Lanahan ermordet!

Also hatten diese beiden trotz meiner Warnung vollbracht, was sie vorgehabt hatten!

Der Detektiv griff nach meinem Arm.

»Kommen Sie jetzt!«

»Aber das ist ja ein entsetzlicher Irrtum! Ich habe nichts – nicht das geringste zu tun mit – diesem Verbrechen –«

»Wollen Sie gutwillig kommen oder nicht?«

»Hören Sie mich doch an! Ich will Ihnen alles sagen, was ich weiß –«

»Nehmen Sie Ihren Mantel und Ihren Hut. Erzählen können Sie später. Und einen guten Tip will ich Ihnen geben: bevor Sie was sagen, überlegen Sie es sich. Jetzt gilt jedes Wort! Eines zuviel kann Sie auf den elektrischen Stuhl bringen.«

»Aber ich will ja alles sagen!« stammelte ich entsetzt.

Er öffnete die Tür, und da ich immer noch fassungslos stand, zerrte er mich hinaus, bugsierte mich über die Vortreppe zum Ausgang. Ein paar Leute standen da, starrten mich entsetzt an. Ich hörte jemand sagen: »Soll man's für möglich halten, daß so ein kleines Miststück einen ausgewachsenen Kerl niedersticht?«

Während der Fahrt preßte ich mich in die Ecke des Wagens; der Detektiv hielt immer noch meinen Arm umklammert. Immer noch bemühte ich mich vergeblich, mich zurechtzufinden, die ganze furchtbare Situation zu erfassen.

Endlich faßte ich Mut, fragte den Mann neben mir mit schwacher zitternder Stimme:

»Wie ist es denn geschehen? Ich meine, wie hat man ihn getötet?«

Wir fuhren gerade an der hell von Bogenlampen erleuchteten Fassade eines Warenhauses vorbei. Licht fiel in den Wagen – o, nie werde ich den Ausdruck vergessen, mit dem der Detektiv mich anstarrte! Keine Spur von Menschlichkeit, von Teilnahme, von Bereitschaft, mir auch nur ein Wort zu glauben, las ich in diesem Blick! Nur einer, der schon seit Jahren auf der Menschenjagd war, konnte so verhärtet sein.

»Besser, Sie sparen sich das für später auf«, knurrte er mürrisch. »Sie werden Ihre Künste noch brauchen, wenn Sie es wirklich so versuchen wollen.«

Ich verstand seine Bemerkung nicht ganz, aber ich fühlte aus ihr eine furchtbare Drohung.

Seine Finger, wie Eisenklammern um mein Gelenk gepreßt, schmerzten mich.

»Sie tun mir weh. Lassen Sie mich doch los! Ich versuche gar nicht, Ihnen fortzulaufen.«

»Zu gütig, Fräulein! Würde Ihnen auch kaum gelingen.«

Mehr wurde nicht gesprochen. Wir erreichten die Einfahrt eines großen, grauen Gebäudes, kamen in einen Innenhof und hielten. Mit einer brüsken Geste befahl der Detektiv mir, auszusteigen.

Wir betraten einen Korridor, vor einem Zimmer erwartete uns eine ältere Frau, die mich aufforderte, ihr in ein Zimmer zu folgen. Ihre Aufgabe war es, mich zu durchsuchen. Sie war nicht eigentlich grob, aber alles andere als aufmunternd; vielleicht hatte sie Befehl, mit den Eingelieferten, die sie zu durchsuchen hatte, nicht zu sprechen. Die Fragen, die ich an sie stellte, ließ sie unbeantwortet. Nachdem sie ihre Untersuchung ergebnislos beendigt hatte, führte sie mich durch einen anderen Ausgang wieder in einen Korridor, von dem aus wir zu einem Büro gelangten.

An einem Arbeitstisch, der über und über mit Akten und Schriftstücken bedeckt war, saß ein älterer, streng blickender Mann mit einer Hakennase – sie fiel mir besonders auf. Vor dem Tisch war eine Bank ohne Lehne, er bedeutete mir durch einen Wink mich zu setzen. Über dem Tisch hing eine Lampe, die einen Schirm hatte, wie ich ihn noch nie gesehen: eine sonderbar geformte grüne Glasscheibe, die dem Beamten Schatten gewährte, mir aber das Licht grell ins Gesicht warf.

Jetzt kam ein anderer Mann herein, holte sich aus der Ecke einen Stuhl und setzte sich dicht neben mich. Und gleich darauf begannen die beiden abwechselnd, in scharfer Folge, Fragen zu stellen.

»Ihr Name?« fragte der ältere.

»Eve Carton.« Ich wunderte mich selbst, warum meine Stimme keinen Klang hatte.

»Ihr Alter?«

»Neunzehn.«

Der Mann am Schreibtisch hatte einen Notizblock vor sich liegen, in den er während des Verhörs Eintragungen machte.

Die nächsten Fragen waren: »Woher sind Sie? – Seit wann in New York? – Leben Ihre Eltern?« Und dann: »Warum haben Sie Lanahan getötet?«

Diese Frage stellte der Mann, der neben mir saß.

»Ich habe ihn nicht getötet. Ich war in –«

Ich brach ab. Ein Gedanke zuckte durch mein Gehirn. Wenn Lanahan kurz nach meinem Besuch getötet worden war – –

»So, also Sie geben zu, bei ihm gewesen zu sein? Und wann war das?«

»Ungefähr zwanzig Minuten vor sechs. Ich … ich blieb knapp zehn Minuten. Um sechs mußte ich ja an meinem Arbeitsplatz sein.«

»Lanahan war wohl ein guter Bekannter von Ihnen?« fragte wieder der Jüngere. »Hat sich ein wenig um Sie gekümmert, nachdem Ihre Mutter gestorben war? Stimmt es?«

Diese Leute wußten schon alles, es hatte keinen Sinn, irgend etwas abzuleugnen. Als man mich nach meiner Mutter fragte, hatte ich nicht ihren angenommenen Namen, Carruthers, sondern den Namen Carton genannt.

»Nein, er war kein guter Bekannter von mir«, sagte ich. »Ich … ich mochte ihn gar nicht.«

»Haben Sie ihn schon früher einmal besucht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Und wozu sind Sie dann heute hingegangen?«

»Ich … ich wollte ihn warnen …«

»Warnen?« fragte der mit der Hakennase. »Wovor? Nicht lange überlegen – antworten!!«

»Ich will ja sprechen, lassen Sie mich doch! Ich hörte zwei Männer im Park … sie sagten, daß er … Lanahan … daß sie ihn töten wollten … und dann …«

»Was für Männer? Wer waren sie? Beschreiben Sie sie!«

Das tat ich, so gut ich konnte, aber ich las in den zwei Augenpaaren, die, während ich sprach, auf mich gerichtet waren, nur Hohn.

»Ich … genauer habe ich sie mir nicht angesehen, ich war auch so entsetzt von dem, was ich hörte. Dann ging ich sofort über die Straße, und zu Mr. Lanahan, um ihm alles zu sagen.«

»Daß Sie zu ihm gingen, ist sogar wahr«, brummte der Jüngere. »Ich denke, Sie packen jetzt aus, Mädel. Es wird für Sie selber besser sein. Auf den Leim gehen wir Ihnen ja doch nicht. Warten Sie, ich kann Ihnen sagen, wie alles geschehen ist. Seit einer Woche ungefähr haben Sie sich in diesem Park herumgetrieben, haben das Haus Burke Lanahans beobachtet, aufgepaßt, wann er kam und ging. Die Zeit haben Sie sich ganz gut ausgewählt. Die Sache selbst dauerte nur ein paar Sekunden, und dann brauchten Sie bloß in Ihr Kino zu laufen – das sollte wohl das Alibi werden. Sehr vorsichtig waren Sie allerdings nicht, als Sie in das Haus gingen. Na, jedenfalls können Sie uns jetzt sagen, wie sich die Szene nach Ihrem Eintritt in Lanahans Zimmer abspielte. Vorwärts – lassen Sie hören.«

Siehe Bildunterschrift

»Ziehen Sie sich an und folgen Sie mir. Ich verhafte Sie!«

Obwohl ich begriff, daß es schlecht um mich stand, riß ich mich zusammen und gab eine ziemlich klare Schilderung der kurzen Szene, zitierte das Gespräch, das wir geführt hatten. Einen verzweifelten Versuch machte ich, meinen Peinigern begreiflich zu machen, daß es eben nur ein menschlicher Impuls gewesen war, den Mann, den ich so bitter gehaßt hatte, zu warnen. Daß ich ihn gehaßt und das öffentlich einbekannt hatte, wußten die Polizisten übrigens. Zu meinem größten Erstaunen erfuhr ich aus ihren Fragen, daß sie mich schon seit Mona Carruthers' Tod beobachtet hatten. Seit Wochen hatte ich, ohne etwas davon zu ahnen, unter Polizeikontrolle gestanden.

Die nächsten zwei Stunden verstrichen mit weiteren Fragen und Antworten. Wenn ich sage »zwei Stunden«, so ist das allerdings eine recht vage Schätzung. Dann kam noch ein dritter dazu, ein vierter. Sie setzten das Verhör fort, nachdem die ersten beiden sich zurückgezogen hatten.

Der Mann, der jetzt den Platz am Schreibtisch innehatte, war wesentlich anders als sein Vorgänger. Er hatte eine freundliche Stimme, einen guten Blick. Zunächst ließ er mich einmal meine ganze Geschichte erzählen, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Das ermutigte mich. Ich sprach ohne Rückhalt, fühlte, daß er mir glaubte.

»Ich hätte Burke Lanahan nicht einmal töten können, wenn es um mein eigenes Leben gegangen wäre«, schloß ich schluchzend. »Ich bin gar nicht stark. Selbst wenn ich ihn hätte töten wollen, hätte ich einfach nicht die Kraft dazu gehabt, einen Mann von seiner Größe – mit einem Messer –«

Plötzlich war der Mann vor mir vollkommen verändert.

»So? Na, da hätten wir Sie endlich! Jetzt sind Sie in die Falle gegangen. Wenn Sie unschuldig sind, woher wissen Sie dann, daß Lanahan erstochen worden ist? Niemand hat Ihnen gegenüber erwähnt, mit welcher Waffe er getötet wurde. Woher wissen Sie denn dann von dem Messer?«

»Ich hörte jemand vor dem Kino so etwas sagen«, stammelte ich. »Es war ein Unbekannter, der meinte, einem … mir könne man gar nicht zutrauen, daß ich einen Mann niedergestochen habe.«

Der Beamte beugte sich vor, bohrte seinen Blick in meine Augen. Nicht die leiseste Spur von jener fast väterlichen, wohlwollenden Freundlichkeit, die er bisher gezeigt hatte, war jetzt in seiner Miene.

»Sie standen hinter Lanahan, als er an seinem Tisch saß und den Scheck ausschrieb. Dann beugten Sie sich vor, packten den Dolch, den er als Brieföffner benutzte, und stießen ihn Lanahan direkt in die Brust. Er fiel vornüber auf den Tisch – so –« der Beamte, der die ganze Szene wie ein Schauspieler vorgeführt hatte, ließ sich jetzt mit dem Oberkörper auf den Tisch fallen. »Dann gingen Sie an den Schreibtisch, zogen das Schubfach auf, in dem die zweitausend Dollar in neuen Banknoten lagen – und dann liefen Sie davon.«

»Nein, er selbst gab mir das Paket – ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Er behauptete, daß alles, was darin sei, meiner Mutter gehörte.«

Weiter kam ich nicht. Ich sah plötzlich, wie die Gestalten meiner beiden Peiniger zurücksanken, länger wurden – dann, ganz undeutlich nur mehr, fühlte ich einen Schlag – ich war von der Bank gesunken, auf den Boden gefallen.

Das letzte, was ich noch hörte, war:

»Vorsicht – sie wird ohnmächtig! Fangen Sie sie auf! Sie fällt!«

*

So verstrichen auch die nächsten Tage.

Ich tat alles, was man von mir verlangte – nur eines nicht, jenes Verbrechen einbekennen, das ich nicht begangen hatte.

Zuerst wandte ich meine ganze Energie auf, um alle Fragen, die man an mich stellte, zu verstehen. Irgendwie hatte ich die Vorstellung, daß ich den Leuten helfen müßte, die Wahrheit zu finden, und daß irgendeine Einzelheit, die mir belanglos erschien, die Entscheidung herbeiführen würde. Als das aber nicht eintrat, wurde ich müde, und nach zwei Tagen war ich so erschöpft, daß ich apathisch den Beamten gegenüber saß und nur jeden, der mich anredete, anstarrte.

Das Grauen jener Stunden, die qualvolle Angst, die man noch übersteigerte, indem man mir die drohende Strafe in allen Einzelheiten beschrieb – alles das hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Wenn ich bedenke, daß alljährlich Tausende von Unschuldigen so wie ich jener unmenschlichen Marter unterworfen werden, kann ich mich nur wundern, woher die Menschen dieses Jahrhunderts den Mut nehmen, herabzublicken auf die Barbarei der Vorzeit. Ich habe später oft mit Menschen über diesen Gegenstand gesprochen, und man braucht nur eine amerikanische Zeitung zu lesen, um immer wieder darin zu finden, daß Unschuldige bei diesen Verhören Verbrechen, die sie niemals begangen haben, zuletzt einbekennen; ihre physische und seelische Kraft bricht einfach zusammen. Oft ist es vielleicht nur ein Zufall, der sie vor den verhängnisvollen Folgen eines Geständnisses bewahrt. So absurd mir das alles früher erschienen wäre, jetzt glaube ich es.

Einigemale gab man mir Zeitungen, in denen von mir und »meinem Verbrechen« die Rede war. Ich wurde in diesen Blättern als verhärtetes, verrohtes Geschöpf, als Tochter einer verkommenen Mutter geschildert, die zuletzt brutal vollendete, was ihre Mutter nicht fertiggebracht hatte. Ganze Seiten füllten die Berichte von mir. Sie zu lesen war für mich eine Tortur – ich glaube auch, daß man sie nur in meine Zelle gebracht hat, damit sie das Werk der Zermürbung vollenden sollten. Eines Tages las ich darin eine Bemerkung:

»Joshua Carton in Cranford, Georgia, wurde gestern über seine Tochter Eve befragt, die zur Zeit im Gefängnis auf ihre Aburteilung wegen des Mordes an Burke Lanahan, dem Geliebten ihrer Mutter, wartet. Wie Joshua Carton angab, war seine Tochter von jeher störrisch und unverbesserlich. Auch die härtesten Strafen vermochten sie nicht zu zähmen.«

Und in diesem Augenblick empfand ich zum erstenmal etwas Neues – Trotz!

Ich las die Beschreibung meines Vaters, die in demselben Blatt gegeben wurde.

»Ein frommer, sittenstrenger Mann und guter Bürger, dessen Leben durch die Handlungen einer untreuen Frau und eines undankbaren Kindes verbittert worden ist.«

Also so sah die Welt meinen Vater! Das war das Bild, das sie sich von Joshua Carton machte! So mußte man sein, um die Achtung und Sympathie dieser Welt zu genießen!

*

Ich hatte keine Angst vor dem Prozeß, im Gegenteil. Seit Tagen und Wochen war dies der einzige Moment, in dem ich wieder zu hoffen wagte. Nun konnte ich meine Geschichte erzählen, nun würde man auf mich hören und mir vielleicht auch glauben.

Aber als ich dann im Gerichtssaal saß, die Blicke der Geschworenen, der Zeitungsleute und des Publikums auf mich gerichtet sah, als ich zuletzt die Zeugen in langer Reihe aufmarschieren sah, die, jeder und jede, ein Wort gegen mich zu sagen wußten, da sank in mir aller Lebensmut. Lange bevor das Urteil gefällt wurde, wußte ich, daß es um mich geschehen war. Daß ich das Verbrechen sühnen mußte, das ich nicht begangen, im Gegenteil, das ich hatte verhindern wollen.

Auf einem Tisch hatte man die corpora delicti aufgebaut. Da war Burke Lanahans Jackett mit dem Einstich des Dolches, blutbefleckt; dann das Scheckbuch, in das nur ein Datum und eine Nummer eingetragen war. Auch das Buch blutbefleckt. Und zuletzt der Dolch, den man Lanahan ins Herz gestoßen hatte.

Und diese Menschen glaubten, daß ein Mädchen wie ich diesen Dolch in die Brust eines Menschen stoßen konnte!

Zeugen wurden verhört, damit die Geschworenen sich ein Bild von meinem Charakter machen konnten; es ergab sich, daß ich lasterhaft, schamlos, verstockt und außerordentlich rachsüchtig sei. Leute, die ich nie gesehen hatte, bezeugten, daß ich Tag auf Tag in jenem Park gesessen habe, ohne Burke Lanahans Haus aus den Augen zu lassen. So bestätigte es auch eine Amme, die ich mehrmals dort mit ihren Pfleglingen gesehen, und mit der ich gelegentlich ein paar Worte gewechselt hatte.

»Immer sah sie hinüber, als ob sie auf jemand wartete«, sagte diese Frau. Und dann fügte sie noch hinzu, ich hätte die ganze Zeit über vor mich hingemurmelt. Ob sie sich bewußt war, daß sie die Unwahrheit sprach? Oder war sie nur (ja, auch das habe ich damals begriffen) genau wie alle anderen Zeugen überzeugt, daß ich des Verbrechens bereits überführt sei, und hatte sich, von dieser Tatsache als gegeben ausgehend, ihre Erinnerungen zurechtgebogen?

Nach ihr kam der Liftboy, der damals versucht hatte, mich nicht zu Lanahan zu führen, und gab eine Schilderung der Szene.

»Sie sah ganz wild aus«, sagte er. »Ich hatte geradezu Angst vor ihr. Ich wollte sie nur darum nicht hinauflassen und rief Mr. Lanahan an, aber der sagte mir, ich sollte sie hinaufführen, und so tat ich es. Herunterkommen sah ich sie dann nicht. Ich selbst hatte nur bis drei Viertel sechs Dienst, und Ned Haines, der andere Liftboy, der mich dann ablöste, hat sie auch nicht im Aufzug herunterkommen sehen.«

Diese Aussage stimmte. Es war spät, ich hatte mich beeilen müssen, und nachdem ich ein paarmal laut geschellt hatte und niemand gekommen war, hatte ich es vorgezogen, die Treppen hinabzulaufen. In der Halle war ich niemand begegnet.

Jemand aus dem Kino bezeugte, ich sei später als sonst gekommen und habe, während ich in die Uniform schlüpfte, ungewöhnlich nervös ausgesehen. Auch das konnte stimmen. Aber waren das alles denn wirklich Beweise gegen mich?

Sogar in meiner Unwissenheit begriff ich, daß jede dieser Aussagen mich dem elektrischen Stuhl einen Schritt näher brachte. Und ich konnte sie alle nicht entkräften – konnte kein Wort zu meiner Verteidigung sagen.

Jetzt folgte eine lange Reihe von Zeugen, Männer und Frauen, die gehört hatten, wie ich damals Lanahan in Bradleys Nachtlokal gedroht hatte, ich würde ihn töten. Sie alle hatten auch gesehen, daß ich das Geld, das er mir anbot, zurückgewiesen hatte. Zuletzt erschien, diese Reihe beschließend, Sadie Cahill. Herausgeputzt war sie wie für eine Kirmes, und bemalt wie ein Indianer auf dem Kriegspfade. Sie gab eine recht klare Schilderung der Vorfälle, die ihr bekannt sein mußten, und bestätigte auch, daß ich nie ein Hehl aus meinem Haß. gegen Lanahan gemacht habe. Und zuletzt berichtete sie:

»Einmal hörte ich vom Gang aus – die beiden redeten ja laut genug – ein Gespräch zwischen ihnen. Das war in der Wohnung ihrer Mutter und an dem Tage, an dem sie das letztemal kam. Da sagte sie selbst, daß sie ihn am liebsten umbringen wollte. Dann kam Red Jacobs, und kurz nachher verließ Lanahan die Wohnung. Mehr weiß ich darüber nicht. Was weiter in der Wohnung zwischen Eve Carton und Jacobs vorging, kann ich natürlich nicht sagen.« Wieder eine Aussage gegen mich.

Ich sah nach der Zeugenbank hinüber, suchte Red Jacobs; aber er war nicht da.

Dann faßte der Staatsanwalt die Indizien, die gegen mich sprachen, in einem längeren Vortrage zusammen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, beobachtete die Geschworenen. Die ganze Zeit über konnte ich den Eindruck nicht loswerden, daß sie innerlich schon mit mir fertig waren. Und wie sollte es anders sein? Alle in diesem Saal waren gegen mich – und die Geschworenen waren ja … nur Menschen …

*

Das Gericht nahm an, daß Lanahan kurz vor oder nach sechs Uhr getötet worden sei. Aufgefunden hatte man ihn, wie ich jetzt erfuhr, erst um zehn Uhr abends, als zwei Besucher kamen, um ihn abzuholen. Und sie hatten die Tür zu seinem Appartement, wie sie aussagten, angelehnt gefunden. Ich erinnerte mich deutlich, sie, als ich ging, hinter mir geschlossen zu haben.

Die einzige Aussage, die – so geringfügig sie auch war – zu meinen Gunsten gedeutet werden konnte, war die Ned Haines', des Liftjungen, der an jenem Tage Nachtdienst gehabt hatte und zugab, zwanzig Minuten zu spät gekommen zu sein.

Weitere Zeugen folgten – ich hörte nicht mehr zu. Meine Gedanken schweiften in die Ferne. Ich sah mich wieder in meiner Heimat da unten im Süden. Dachte an meine geheimen Rendezvous mit Rafe – wie er mir heimlich die modernen Tänze beigebracht hatte. Dann erinnerte ich mich der Feier des Missionsvereins, wo ich so stolz den Black Bottom getanzt hatte, erinnerte mich der zornigen Worte Mrs. Plymptons, die mich fortwies. War dieses halb verschüchterte, halb sorglose Mädel von damals – ich? Konnten fünf Monate das alles bewirken?

Dann dachte ich an die grausame Mißhandlung, die ich von meinem Vater erlitten hatte; an meine Flucht mit Rafe Fitzmorris; wie wir nachts nach Atlanta kamen, und wie ich entsetzt gewesen war, als Rafe mir sagte, er habe nie daran gedacht, die Tochter einer gefallenen Frau zu heiraten. Zuletzt meine dramatische Flucht durch das Fenster des Badezimmers, über die Feuerleiter, in Philipps Zimmer. Nein, weiter durfte ich nicht denken! Vergessen mußte ich, daß ich jene süße, reine, heilige Liebe kennengelernt hatte! Wußte Philipp, wie es mir seither ergangen war? Gewiß! Der Fall »Eve Carton« beschäftigte ja ganz New York!

Jemand klopfte mich auf die Schulter – ich fuhr aus meiner Träumerei auf. Das da war vorüber, morgen würde weiter verhandelt werden. Man brachte mich in das Gefängnis zurück.

Von diesem zweiten Verhandlungstage ist mir kaum etwas in Erinnerung geblieben. Die ganze Nacht hatte ich schlaflos gelegen, und da man im Laufe der Sitzung nur selten Fragen an mich richtete, blieb ich apathisch und hörte kaum zu. Einmal forderte man mich auf, endgültig zu erklären, ob ich schuldig oder unschuldig sei – die amerikanische Strafprozeßordnung sieht diese Formalität für den Moment vor der Schöffenberatung vor. Ich war so schwach, daß ich mein »Ich bin unschuldig« nur flüstern konnte.

Zwei Sheriffs führten mich dann fort. Als wir aus dem Hause kamen, hatten sich Leute angesammelt, von allen Seiten erhoben sich gegen uns Kameras. Ich war mehr tot als lebendig. Und als ich dann wieder in meiner Zelle war, brach ich vollkommen zusammen. Seit Tagen hatte ich keine Träne mehr geweint – jetzt aber schüttelte mich hysterisches Schluchzen, ich lag auf meinem Bett, versuchte, mich zu beruhigen, es war stärker als ich, gab mich nicht mehr frei. Eine Aufseherin kam und wollte mich trösten – freundlich in ihrer herben, ruhigen Art. Aber es half nichts. Stundenlang lag ich so, von Schluchzen geschüttelt, unfähig, mich zusammenzureißen. Zuletzt ging die Aufseherin zu einem Vorgesetzten, und es wurde beschlossen, mir eine Zellengefährtin zuzuteilen. Diese Gefangene war ein Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren, das wegen Diebstahls unter Anklage stand. In einem zweifelhaften Lokal war sie – ich gebrauche ihren eigenen Ausdruck – »Animierdame« gewesen, und nun beschuldigte man sie, einem Gast, den sie betrunken gemacht hatte, ein dickes Portefeuille gestohlen zu haben. Ihr Name war Stella Powell.

Jetzt versuchte sie, mich auf ihre Weise zu beruhigen.

»Laß das mal, Kleine«, sagte sie nicht unfreundlich, »mit dem Geflenn wirst du hier doch nichts ausrichten. Das mag für feine, reiche Damen etwas sein, die ihren Männern etwas vorjammern, aber den Kerls hier wirst du damit nicht imponieren. Die sind andere Künste gewöhnt. Wenn dir nichts Besseres einfällt, wirst du eines Morgens sehr erstaunt sein zu sehen, daß sie dich auf den Stuhl schnallen.«

Das Blut erstarrte mir in den Adern.

»Sie meinen … auf den elektrischen Stuhl?«

»Du hast wohl gedacht, auf einen Fauteuil?«

Zitternd wiederholte ich das Grauenswort: elektrischer Stuhl. Dann schrie ich auf: »Aber ich habe Lanahan nicht getötet! Ich bin unschuldig!«

»Schon möglich. Schade nur, daß ich nicht unter den Geschworenen sitze. Meine Stimme hättest du jedenfalls. Jedenfalls, ob schuldig oder nicht, ist das Leben eine Sache, für die man schon eine Lippe riskieren kann. So steht's!«

Entgeistert starrte ich das Mädchen an. In ihren Zügen glaubte ich etwas wie Mitleid, Sympathie – nun, etwas Menschliches zu lesen. Das beruhigte mich ein wenig.

»Ich weiß gar nicht«, sagte ich müde, »ob mein Leben überhaupt wert ist, daß man darum kämpft. Hinter mir nichts als traurige Erinnerungen, vor mir nur –«

Ich schwieg. Warum sollte ich mich dieser Fremden anvertrauen? Wünschte sie es überhaupt? Vielleicht hatte sie selbst Sorgen genug, und ich durfte sie gar nicht mit den meinen belasten.

Aber Stella Powell schien sich für mich zu interessieren.

»Vielleicht ist dein Leben wirklich nicht mehr wert als du meinst, aber schließlich – hast du schon was Besseres? Und wer weiß, bevor er tot ist, was sein Leben wert war? Du kannst nicht einfach so dasitzen, die Hände in den Schoß legen und warten, bis sie dich elektrisieren wie einen Frosch. Hast du wenigstens einen anständigen Anwalt?«

»Ich glaube, ich habe überhaupt keinen. Der, den das Gericht mir zugeteilt hat, hat während des ganzen Prozesses nicht den Mund aufgetan.«

»Und Freunde, die sich deiner annehmen? –«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wenigstens Marie?«

»Nicht einen Cent!«

»Na, du stehst ja fein da! Vielleicht ist es dir um so lieber, von einem Freunde zu hören, der dir durch mich einen Gruß schickt. Denn unter uns gesagt, es haben einige gute Beziehungen dazu gehört, um zu dir in die Zelle zu kommen.«

Verständnislos sah ich sie an. Aber was half es mir, die seltsame Sprechweise dieses Geschöpfs aus einer anderen Welt zu begreifen? Abwehrend schüttelte ich den Kopf.

»Ich wüßte nicht, wer mich grüßen lassen sollte und was dieser Gruß mir helfen könnte.«

»Woraus ich, ohne mein Köpfchen zu überanstrengen, ersehen kann, was für ein Schaf du bist. Wer hätte gedacht, daß Mona Carruthers' Tochter so eine Liese ist? Ich habe Mona gekannt, bevor sie zu husten begann, und glaube mir, sie war ein anderes Kaliber!«

»Bitte, lassen Sie sie aus dem Spiel! Sprechen Sie nicht von meiner … von ihr.«

»Schön, wie du willst. Jedenfalls mußt du einen Anwalt haben, und nicht einen von diesen grünen Jungen, die das Gericht dir stellt. Denn der kriegt natürlich keinen Cent dafür, ist wohl auch erst gestern von der Schulbank gekommen.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Na, laß es dir gesagt sein, so ein Anwalt ist soviel wert wie gar keiner. Das ist nicht besser als … da kannst du ebensogut in ein Krankenhaus gehen und dich den jungen Ärzten anvertrauen. Die schneiden dich auf, um nachzusehen, ob die Uhr noch tickt. Und wenn sie dich auseinandergenommen haben, wissen sie nicht mehr, wie sie dich wieder zusammensetzen sollen. Was du brauchst, das ist einer mit Ärmeln, verstehst du? Einer, der dich abrichtet wie einen Soldaten – dir sagt, was du zu antworten hast, wenn die dich was fragen. Verstehst du?«

»Aber ich habe ihnen doch die Wahrheit gesagt«, protestierte ich schwach.

»Ja, hast du? Na, da siehst du, was es dir geholfen hat! Ein gut ausgedachtes System hätte dir mehr genützt. Zum Beispiel – du hättest zum Beispiel sagen können, daß Lanahan auf dich losgegangen ist und daß du ihn nur getötet hast, um deine Ehre zu verteidigen. Auf sowas fliegen die Geschworenen. Warte … nein, das ist doch nicht das richtige. Ehre verfängt nicht mehr, nachdem du bei Bardley getanzt hast. Da muß man etwas Besseres ausfindig machen. Aber wozu sich den Kopf zerbrechen? Dazu sind doch schließlich die Anwälte da! Erstens sind sie die geborenen Lügner, und dann lernen sie ja, was sie nicht von Haus aus können, noch auf ihren Schulen. Und ich glaube, du brauchst einen ganz geriebenen, einen, der mit allen Salben geschmiert ist, wenn das grüne Gras nicht demnächst auf dir wachsen soll. Jedenfalls wird es das beste sein, du sagst denen, daß du Burke Lanahan erstochen hast. Nur einen plausiblen Grund mußt du finden.«

»Aber wozu soll ich ein Verbrechen gestehen, das ich nicht begangen habe?«

Sie seufzte.

»Bei dir ist ja Hopfen und Malz verloren!« Dann kam sie näher, setzte sich auf mein Bett, ganz nahe war ihr Gesicht dem meinen.

»Hör mal zu und sage jetzt kein Wort. Es gibt Leute, die dir helfen wollen. Einen besonders – und dem habe ich versprochen, die Sache zu deichseln. Einer, der überall seine Finger hat, im Notfalle auch in diesem Haus. Wenn Red will, bringt er dich auch noch heraus.«

»Red? Meinen Sie Red Jacobs?«

»Natürlich! Er war mein Freund, bis du mit deinem Babygesicht und deinem dummen Getue ihm in die Augen stachst. Aber ich trage dir das nicht weiter nach, unbesorgt! Ich habe inzwischen einen neuen Freund gefunden, der mir lieber ist als Red. Was nicht besagen will, daß Red nicht auf seine Weise auch ein guter Kerl ist. Er will dir jemand schicken, sagte er. Und auf Reds Leute kannst du dich verlassen. Die können, was sie wollen!«

Red Jacobs … wollte mir helfen …

Eine jähe Wut stieg in mir auf.

»Sie können Red Jacobs sagen, daß ich nicht einmal das Leben aus seiner Hand annehmen würde«, sagte ich zornig. »Ich ginge lieber auf den elektrischen Stuhl, als daß ich mich mit seinem schmutzigen Geld freikaufen lasse. Und noch etwas können Sie ihm sagen: Ich glaube, daß er Lanahan ermordet hat. Ich weiß, daß er ihn haßte und verabscheute, und wenn mich einer danach fragt, sag ich das.«

»Still!«

Stellas Gesicht war plötzlich totenblaß geworden. »Vergiß, was du da geredet hast! Und ich will es auch vergessen! Wenn Red je erfährt, was du da gesagt hast, dann ist es um dich geschehen, selbst wenn die da oben dich freilassen. Seine Leute würden dich zu einem Ausflug abholen, von dem du nicht mehr heimkämst. Wenn du einmal zu denen gehörst, die man draußen Unterwelt nennt, dann mußt du dich auch an die Regeln halten.«

»Aber ich gehöre nicht zu denen!« protestierte ich.

»Dann mag Gott selbst dir helfen, Kleine, denn wenn das so ist, gehörst du nirgends hin«, sagte sie fast feierlich. »Ich habe getan, was ich konnte.« Damit stand sie auf und setzte sich wieder auf ihr Bett.

Einen Augenblick später kam ein Wächter vorbei und sah in die Zelle. Stella hatte die Zeitung aufgenommen, die auf ihrem Bett lag, und tat, als ob sie das Kreuzworträtsel löste. Etwas später legte sie sich lang und stellte sich schlafend. Und bis zum nächsten Morgen sprach sie kein Wort mehr. Dann kam die Aufseherin und holte sie wieder fort.

Von allem, was ich gehört hatte, machte nur dieses eine Wort wirklich Eindruck auf mich: daß ich nirgends hingehörte. Nicht einmal in die Unterwelt …

Ja, nicht einmal in die Unterwelt gehörte ich! Als die Menschen der Unterwelt sich um mich kümmerten, wies ich sie zurück, wies sie auch zurück, als sie einen zweiten, geschickteren Versuch machten, ihr Ziel zu erreichen …

Es war schon Abend, als die Wärterin mit einem neuen Besucher in meine Zelle kam.

Der Fremde war ein stattlicher Mann, dessen scharfe Augen mich von Kopf bis Fuß musterten, bevor er sprach.

»Mein Name ist Louis Rettfield«, stellte er sich vor. »Ich bin Ihr Verteidiger, Eve. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Er rückte sich einen Stuhl neben den meinen und begann leise und vertraulich:

»Ich glaube, ich kann Sie herausbekommen, oder wenigstens erreichen, daß Sie in die Irrenanstalt überwiesen werden«, begann er. »Sie sind verrückt, das wissen Sie doch. Ihre Familie ist bereit, zu bezeugen, daß Sie immer eigenartig gehandelt haben, soweit wollen sie gehen. Sie wünschen nicht, jemand, der ihren Namen trägt, auf dem elektrischen Stuhl zu sehen, verstehen Sie?«

»Hat mein Vater Sie zu mir geschickt?« fragte ich, während ich mich wunderte, was in aller Welt Joshua Cartons steinerndes Herz erweicht haben könnte.

»Darüber wollen wir vorläufig nicht reden«, lächelte der Verteidiger. »Die Hauptsache ist, Ihre Verteidigung in Angriff zu nehmen. Ich sage Ihnen freimütig, daß es keinen Zweck hat, auf Nichtschuldig zu plädieren. Hören Sie gut zu, was ich Ihnen zu sagen habe, und unterbrechen Sie mich nicht, bis ich zu Ende bin.«

Dann sprach er schnell mit halblauter Stimme. Er rollte den ganzen Fall vor mir auf, wie er ihn beurteilte, und zeigte mir, wie er die Verteidigung zu führen gedachte. Mit steigendem Entsetzen lauschte ich meiner eigenen Beschreibung in dem Bilde, das er vor mir entwarf, und nach der ich ein Mädchen war, das von Geburt an unausgeglichen und unbeherrscht gehandelt hatte, von jeher mit einer Manie für Mord behaftet.

»Worauf es ankommt, ist, die Sympathie des Publikums zu gewinnen«, erklärte Mr. Rettfield in seiner glatten Art. »Bis jetzt ist alles gegen Sie eingenommen. Sie besitzen keinen Funken Sympathie. Nicht einmal eine ›Tränenschwester‹ hat sich für Ihre Seelenrettung eingesetzt, das ist ungewöhnlich, da Sie doch schließlich jung und hübsch sind. Werfen Sie bitte einen Blick auf diese Schlagzeilen.« Er zeigte mir die Morgenzeitung. Ich las:

 

» Miß Carton vor dem Zusammenbruch.
Geständnis wird heute erwartet.
«

 

Ich warf die Zeitung auf die Erde. Mit geballten Fäusten, die Fingernägel in das Fleisch gekrallt, blickte ich zu dem Verteidiger auf.

»Ich stehe nicht vor dem Zusammenbruch!« schrie ich leidenschaftlich. »Ich habe Lanahan nicht getötet, und ich werde nicht sagen, daß ich es tat – nicht einmal um mein Leben zu retten! Wer hat Sie zu mir geschickt? Ich weiß, es ist nicht mein Vater gewesen. Red Jacobs hat Sie geschickt, Red Jacobs, der mir auch Stella Powell geschickt hat, um mich in seine üblen Machenschaften einzureihen. Stella hat mir erklärt, Red Jacobs sei bereit, mir zu helfen. Aber lieber sterbe ich, als daß ich das geringste mit ihm zu tun haben will.«

»Ruhig, Sie Närrin!« Rettfield hatte mich bei den Schultern gepackt und schüttelte mich wütend. »Wagen Sie es nicht, den Namen einer anderen Person in diese Geschichte hineinzuziehen! Es ist ganz gleichgültig, wer mich geschickt hat, ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Ich habe eine Verteidigung ausgearbeitet, wie sie gar nicht besser sein kann und – –«

»Lassen Sie mich los!« schrie ich außer mir. »Machen Sie, daß Sie rauskommen. Ich will nicht zu Ihnen sprechen – ich werde Ihren lügenhaften Ratschlägen nicht länger zuhören! Ich sage die Wahrheit! Ich bin unschuldig – Gott weiß es – aber ich will lieber sterben, als mein Leben einem niedrigen Verbrecher verdanken. Verlassen Sie mich jetzt, ich sage es Ihnen zum letzten Male! Ich werde die Wärterin rufen, wenn Sie nicht augenblicklich gehen, und ihr sagen, was Sie mir vorgeschlagen haben!«

Ich fiel erschöpft auf meine Pritsche zurück, die Fäuste gegen die Schläfen gepreßt. Alles um mich herum schien in einem roten Nebel zu schwimmen. Ich war einfach nicht länger imstande, meines Besuchers ärgerlich verzogenes Gesicht zu sehen. Auf dem Gang näherten sich Schritte der Zelle. Die Tür ging auf. Ich hörte Rettfield sagen:

»Sie ist total unzurechnungsfähig. Ich werde ein andermal wiederkommen. Eis hat keinen Zweck, mit ihr zu reden, so lange Sie sich in diesem Zustande befindet.«

Dann schloß sich die Tür. Ich war wieder allein.

Den ganzen folgenden Tag über lag ich wie betäubt auf meinem Bett.

Es mußte schon spät abends sein, als von neuem geöffnet wurde. Ich dachte, es wäre die Wärterin, die sich über mich beugte – dann, als mein Name gerufen wurde, begriff ich, daß ich träumte. Natürlich konnte ein Beamter mich nicht »Eve« rufen – und vor allem nicht mit dieser Stimme!

Eine Hand legte sich auf meine Schulter, rüttelte mich.

»Eve!«

Nein, ich konnte doch nicht träumen, daß man mich aufrüttelte … Langsam setzte ich mich auf, öffnete die Augen: und vor mir stand – Wirklichkeit gewordener Traum – Phil Monty!

*

Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen.

Nein, ich konnte diesen Blick nicht ertragen.

Und ich mußte wieder die Augen schließen, um zu denken – mich zurechtzufinden. Vielleicht eine Minute verstrich so – dann sah ich auf. Ja, es war Phil – wirklich, kein Traum.

»Bitte, geh!« bat ich. »Sieh mich nicht so an, ich kann es nicht ertragen. Wenn du Mitleid mit mir hast, dann geh …«

Seine Antwort war, daß er sich an das Ende des Bettes setzte, seine Hände griffen nach meiner Rechten, hielten sie fest.

»Ich bin wochenlang fortgewesen, Eve«, sagte er. »Fast zwei Monate.«

Blitzhaft überlegte ich. Fast zwei Monate. Er mußte gleich nach jenem Abend, an dem er mich in Bradleys Nachtlokal traf, abgereist sein.

»Ich war auf dem Lande. Nicht einmal Zeitungen ließ ich mir nachschicken. Durch einen Zufall fiel mir endlich ein Blatt in die Hände. So erfuhr ich von … von deinem Unglück. Da bin ich sofort nach New York gekommen.« Er zögerte einen Augenblick. »Eve –«

»Du hättest nicht kommen sollen«, wehrte ich ab.

»Eve, was du mir auch sagen wirst – ich werde dir glauben. Schau mir in die Augen. Nein, Eve, zieh deine Hand nicht zurück. Ich will sie halten und dir in die Augen schauen. Und jetzt sag mir, ob du … es getan hast … oder ob du unschuldig bist.«

Phil … wollte mir glauben! Es gab einen Menschen, der mir glaubte, und dieser Mensch war er, den ich so feig und häßlich getäuscht hatte! Durch meine Tränen sah ich ihn an, als ich antwortete.

»Ich bin unschuldig. Ich habe Burke Lanahan nicht getötet. Ich bin wirklich nur zu ihm gegangen, um ihn zu warnen. Warum ich das tat, weiß ich nicht. Ich mußte es tun.«

»Du mußt mir alles sagen. Über dich und über diesen Mann. Ich muß alles wissen, wenn ich dir helfen soll, Eve.«

Ich begann zu schluchzen.

»Ich fühle, daß du mir glaubst«, sagte ich. »Das ist so unfaßlich gut … so herrlich, daß ich es nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Aber helfen? – Wie willst du mir helfen? Niemand glaubt mir, niemand kann mir glauben. Alles spricht gegen mich. Die Einzelheiten, die Zufälle haben sich um mich wie ein eiserner Ring zusammengeschlossen. Es ist … Schicksal, Phil.

»Du kannst also auch nicht zu einem Menschen sprechen, der dir glaubt –?«

»Doch … ich werde es können. Nur … daß du mir helfen kannst, das glaube ich nicht …«

Fast kalt und unpersönlich war sein Ton, als er mich bat, zu beginnen. Aber vielleicht gab mir gerade seine Sachlichkeit wieder Mut. Er war der Anwalt, der den Kampf um einen hoffnungslosen Fall aufnahm – das war es!

Und durfte ich denn etwas anderes erwarten? Mein Gott, war ich blind, daß ich seinen Besuch eine Sekunde lang mißverstanden hatte? Natürlich kam er nicht als der Phil, der er für mich gewesen war. Nur Mitleid hatte ihn hergeführt. Und jetzt … von nun an … war ich eine Klientin für ihn. Ein sehr interessanter Fall …

Von den folgenden zwei Stunden ist in meiner Erinnerung wenig haften geblieben. Ich erzählte, so wie die einzelnen Begebenheiten mir in den Sinn kamen – nichts verschwieg ich. Die kleinsten Details aus diesen Wochen des Schreckens und der Qual. Mein Leben zwischen dem Theaterkartenbüro, ihm, dem Mann, den ich liebte und täuschte, meiner Mutter und Bradleys Lokal. Dann Mutters Tod.

Als ich auf Red Jacobs zu sprechen kam, sah er mich überrascht an.

»Kennst du ihn?« fragte ich betroffen. »Sein Name ist in meinem Prozeß gar nicht erwähnt worden …«

»Erzähle weiter, bitte!«

Als ich dann die Szene im Riversidepark schilderte, wollte er mehr erfahren. Suchte meinem Gedächtnis nachzuhelfen. Ich mußte das Gespräch der beiden Burschen Wort für Wort wiederholen.

»Er sagte nur, es wäre Lanahan …«

»Und die beiden redeten sich nicht mit Namen an?«

»Doch … Sk … der eine wurde Sk … Skeet gerufen.«

»Skeet. Das genügt. Erzähle weiter, bitte.«

Zweimal noch kam er auf Red Jacobs zu sprechen, und als ich die sonderbaren Bemerkungen Stella Powells erwähnte, sprang er auf!

»Ich hätte vielleicht nicht sagen sollen«, gestand ich, »daß Red Jacobs vielleicht Lanahan getötet hat. Man soll so etwas nicht leichthin behaupten.«

Aber darauf antwortete er nicht. Und in den folgenden Minuten schien er mir so zerstreut, daß ich es zuletzt aufgab, weiterzusprechen.

* * *

 


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