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Das Haus lag in einer unfreundlichen, engen Straße. Ich ging viermal an dem Tor vorbei, bevor ich mich dazu aufraffte einzutreten und die Treppe hinaufzusteigen.
Im Vorbeigehen las ich die Türschilder.
Zweite Etage – ja, hier: »Mrs. Mona Carruthers«.
Mein Finger lag bereits an dem Klingelknopf, als ich zum letztenmal zögerte.
Warum tat ich das?
Warum ließ ich mich auf eine Sache ein, die zum Untergang aller meiner Hoffnungen führen konnte?
Noch war es nicht zu spät, noch konnte ich dieses Haus verlassen, fortlaufen, nie wieder hierher zurückkehren …
Aber ich habe doch auf den Klingelknopf gedrückt. Etwas Unberechenbares, eine unbekannte Macht hat mich gezwungen so zu handeln.
Es dauerte einen Augenblick, dann wurde die Tür geöffnet und ein blasser Frauenkopf tauchte auf. Eine heisere, matte Stimme fragte: »Was wollen Sie?«
Ich starrte sie an, brachte kein Wort über die Lippen.
»Wohl schon wieder eine von diesen Zeitungsschreiberinnen? Keine Ruhe hat man! Ich habe doch schon der letzten gesagt, daß aus mir kein Wort mehr herauszubringen ist!«
Noch immer stand ich wortlos, sah dieses mitleiderregende Wrack einer Frau an, in deren müden, abgelebten Zügen noch immer Spuren verblaßter Schönheit zu erkennen waren.
Unsagbar schmächtig war sie, hatte Schultern wie ein Kind. Und unheimlich war, neben der Blässe des Gesichts, die Röte der Wangen und Lippen. Nein, das war nicht Schminke, das war etwas anderes – die Rosen des Todes – fiel mir ein.
Und diese Frau – war es wirklich dieselbe, deren Bild ich in der Zeitung gesehen hatte? Oder glich sie jener, deren Photo mir einst Tante Polly gezeigt? Oder gar mir?
Nein – ich hatte mich getäuscht! Nein – das war nicht meine Mutter!
Ich atmete auf, eine schwere Last fiel da von meiner Brust.
Diese Frau, die da vor mir stand, war krank an Leib und Seele, war eine Ausgestoßene, die in Verkommenheit und Elend unterging. Eine Frau, für die ich vielleicht Mitleid empfinden konnte, mit der ich aber nichts, nichts gemein hatte!
»Was haben Sie denn?« fragte sie jetzt ärgerlich. »Können Sie nicht reden? Was wollen Sie denn hier?«
»Ich komme nicht von einer Zeitung, ich wollte –«
»Ach, wohl eine von der Mission? Auch eine von diesen Schnüfflerinnen, die sich überall wichtig machen und dann nichts tun? Nein, mein Kind, bei mir verlieren Sie Ihre wertvolle Zeit! Mich werden Sie nicht dazu bringen, Sie anzuhören. Mona Carton weiß mehr vom Leben als hundert Fürsorgeschwestern zu erzählen hätten –!«
Mona Carton!
Die Frau wollte eben die Tür zuschlagen, aber ich trat vor, fiel ihr in den Arm.
»Mona Carton?! Sie sind nicht Mona Carton! Sagen Sie, daß Sie es nicht sind! Um Gottes willen!«
»Sind Sie verrückt? Was kann Ihnen daran liegen, ob ich Mona Carton bin oder nicht?«
»Ach – es bedeutet für mich so viel, so ungeheuer viel! Ich –« Sie wollte sich aus meiner Umklammerung befreien, aber ich ließ nicht los, ich rang fast mit ihr – »ich bin Eve Carton! Ich bin Joshua Cartons und Ihre Tochter! Sie sind meine Mutter!«
»Mutter« – fast unerkennbar, fremd klang ihre Stimme, als ich sie dieses Wort wiederholen hörte; und ich fühlte, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzog, schmerzvoll und weh.
Das also war die Mutter, von der ich in meiner einsamen, vernachlässigten Kindheit geträumt hatte! Das die fröhliche, junge, schöne Frau meiner Träume! Durch die Tränen, die mir in die Augen getreten waren, sah ich in ihr verwüstetes Gesicht, sah die Spuren früherer Schönheit, die es noch immer zeigte trotz des Elends, der Verkommenheit und des Leidens, die es gezeichnet hatten. Ich vergaß meine eigene tragische Verzweiflung, ich vergaß, daß es um mich ging und um mein ganzes Glück, und empfand nur mehr diesen einzigen Wunsch, die zitternde, ratlose Frau, die da vor mir stand, in meine Arme zu schließen.
»Ja, ich bin es, Eve, deine Tochter«, wiederholte ich, als ich mich endlich gefaßt hatte. »Und darum bin ich hier. Ich las von dieser schrecklichen Geschichte, sah dein Bild in der Zeitung; und da ist etwas über mich gekommen, was ich selbst nicht erklären kann. Aber nicht wahr, jetzt, da wir wieder zusammen sind, wird alles anders sein?! Sag, daß es so ist, Mutter! Und komm –«
Ich führte sie in die Stube, zu einem schäbigen alten Lehnstuhl, in den ich sie zwang; dann holte ich mir einen Hocker, den ich in einer Ecke fand, schob ihn mir heran und setzte mich. Nahm ihre schmalen, abgezehrten Hände in die meinen.
»Kind … Eve …« Ganz leise sagte sie es, zitternd, starrte mich immer noch an, als ob sie es nicht fassen könnte. Ein Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper, Tränen liefen über ihre Wangen herab. »Also, du weißt alles und bist doch gekommen?«
»Ja«, stammelte ich. »Ich mußte doch.«
Und während ich das aussprach, staunte ich über mich selbst. Ja, warum war ich gekommen? Durfte ich dieses Wort, das so unsagbar viel bedeutete, in Verbindung bringen mit dieser fremden, unaussprechlich fremden Frau? Was hatte sie getan, um mir zu beweisen, daß sie eine Mutter war? Hatte sie mich nicht als hilfloses kleines Kind verlassen, mich dem Hohn und der Niedertracht der Menschen, der brutalen Härte meines Vaters überantwortet?
Schande … Es war ungerecht, daß die Menschen ein Kind für die Handlungen ihrer Eltern verantwortlich machten, daß ihnen ein Kind als gezeichnet galt, weil seine Mutter es verlassen hatte. Aber würde ich jetzt nicht noch schlimmere Schande teilen müssen, wenn man erfuhr, daß ich die Tochter Mona Carruthers' war, der Geliebten eines Spielers, den sie sogar zu töten versucht hatte? Vielleicht würden dieselben sensationsgierigen Zeitungen, die gestern das Bild jenes Spielers und meiner Mutter gebracht hatten, morgen das meine veröffentlichen und darunter schreiben: Mona Carruthers' Tochter?
Und Philipp?
Ach, wie hatte ich ihn vergessen können?! Was sollte jetzt aus den Lügen werden, die ich ihm über meine Mutter erzählt hatte? Das Blut erstarrte in meinen Adern, wenn ich mich dieser jämmerlichen, erlogenen Geschichte erinnerte, die ich ihm in einem Augenblick blöder Eifersucht erzählt hatte. Meine schöne, junge, strahlende Mutter, die sich von Vater trennte, um einem reichen Fremden zu folgen; die einen erbitterten Kampf um ihr Kind führte. Und nun dies!
Allmählich begann Mutter Gewalt über sich zu gewinnen. Mit unsicherer, scheuer Hand streichelte sie mich.
»Ich bin das gar nicht wert, ich dürfte dich gar nicht anrühren, mein Kleines«, schluchzte sie. »Ich habe mich oft so nach dir gesehnt. In elenden einsamen Nächten habe ich geglaubt aufspringen zu müssen, zu gehen – einfach zu gehen bis zu dir, auf die Gefahr hin, daß Joshua mich schlüge, mich fortjagte wie einen Hund. Oder ich habe davon geträumt, unerkannt nach Cranford zu kommen, dich wenigstens zu sehen, eine gleichgültige Frage an dich zu stellen, nur um deine Stimme zu hören. Darf ich dir den Hut abnehmen? Laß mich dein Haar sehen! Oh, wie schön es ist, wie es glänzt! Ich wußte, daß es so sein müßte!«
Ihre Finger strichen die kurzen Locken aus meiner Stirn! Nie werde ich diesen Blick vergessen, bis an mein Ende, mit dem sie mich ansah.
Dieser Blick traf mich in die Tiefe meines Herzens, ließ mich fühlen, daß ich nicht nur einem augenblicklichen Impuls gefolgt war. Etwas anderes, Stärkeres, Besseres hatte mich hierher geführt. Ich schlang meine Arme um sie, küßte sie.
Vielleicht täuschte ich mich, vielleicht wollte ich mich täuschen, aber mir schien, daß auch Mutters Gesicht sich in diesen wenigen Minuten verändert hatte. Das war nicht mehr die Frau, die erst vor mir in der Tür gestanden hatte, mich höhnisch abgewiesen hatte.
»Dies ist der schönste, der märchenhafteste Tag meines Lebens«, sagte sie jetzt, immer noch schluchzend. »Wie herrlich, wie undenkbar herrlich hätten mir diese Worte geklungen … früher … und jetzt wollen sie mir fast das Herz brechen«. Tief senkte sie ihren Blick in meine Augen, und plötzlich, wie nach übermenschlicher Anstrengung, suchte sie sich von mir frei zu machen.
»Nein, du mußt fortgehen, du darfst nicht hier bleiben, Kind. Mit mir … ist es ja doch vorbei. Dein Leben beginnt erst. Und du schuldest mir nichts … nichts. Geh … geh rasch … solange ich die Kraft habe, dich gehen zu lassen …«
Wieder erwürgte das Schluchzen ihre Stimme. Ein furchtbarer Husten schüttelte ihren Körper, angstvoll riß sie die Augen auf, rang nach Atem. Ich sprang auf, blickte um mich, suchte etwas, was ich ihr geben konnte. Lief zum Fenster, um wenigstens frische Luft hereinzulassen – wenn die Luft jenes New-Yorker Stadtteils frisch genannt werden kann. Dann eilte ich zu Mutter zurück.
»Hast du irgendwo Medizin, Mutter? Kann ich sie dir bringen?«
Sie hatte das Taschentuch vor ihren Mund gepreßt, deutete schwach nach einem Fläschchen, das auf dem Kaminsims stand. Ich lief in die Küche, holte ein Glas Wasser, zählte einige Tropfen von der scharf riechenden Flüssigkeit in das Glas. Mühsam trank Mutter etwas davon. Das Mittel wirkte rasch, der Krampf ließ sofort nach; nur schien mir Mutter jetzt erschöpft, daß ich für sie fürchtete. Fast ohnmächtig war sie. Der Kopf war auf die Lehne zurückgefallen, im Mundwinkel stand ein Tropfen Blut.
In der nächsten Stunde bin ich kaum zum Aufatmen gekommen. Es gelang mir, Mutter aufzurichten, bis ans Bett zu führen; nun lag sie regungslos, die Augen geschlossen. Erst jetzt kam ich dazu, meinen Mantel auszuziehen. In der Küche fand ich ein Fläschchen Alkohol, ich befeuchtete ein Tuch damit und rieb Gesicht, Schultern und Arme der halb Ohnmächtigen damit ab. Leise Schauer, die durch ihren Körper liefen, zeigten die Wiederkehr der Lebenskraft. Ich erschrak, als ich das Kleid öffnete und ihr über die Schultern zurückzog – welke Haut spannte sich über die Knochen. Dann saß ich an ihrem Bett, sie schien noch immer zu schlafen, aber ihre Hand hatte die meine gefaßt, hielt sie fest.
Nun sah ich mich ein wenig in dem Raum um. Über dem Tisch und den Stühlen lagen, achtlos verstreut, grellfarbige, schlechtgehaltene Kleidungsstücke. Die Einrichtung des Zimmers war vernachlässigt, doch konnte ich sofort sehen, daß der Raum, wenn man ihn einigermaßen pflegte, ein erträglicher Aufenthalt war. Sanft löste ich meine Hand aus Mutters Fingern, stand auf und begann Ordnung zu machen. Während ich Staub wischte, kehrten meine Gedanken zu Philipp zurück, den ich für heute Abend in New York erwartete.
Das erste, was er nach seiner Rückkehr tun würde, war ein Anruf bei mir. Was sollte er denken, wenn er mich nicht zu Hause fand? In all den Monaten, seit er mich kannte, war das nie geschehen. Sollte ich ihm die volle Wahrheit sagen? Nein, das war ja unmöglich! Wie hätte ich ihm meine abgeschmackten Lügen erklären sollen? Tausend Möglichkeiten erwog ich, verwarf sie aber sofort wieder. Was ich auch erzählen mochte, mein schlechtes Gewissen würde mich Lügen strafen, wenn ich nur den Mund auftat. Ich wußte es.
Es bereitete mir eine gewisse Befriedigung, das Zimmer hübsch und wohnlich zu machen. Die Einrichtung war nicht allzu dürftig und zeugte von dem erträglich guten Geschmack des Menschen, der sie angeschafft hatte. Wieder ging ich in die Küche, öffnete den Eisschrank. Es war mein Gedanke, Mutter kühlende Umschläge zu machen, aber das Eis war ausgegangen. In dem Speiseschrank, in den ich einen prüfenden Blick warf, entdeckte ich keinerlei Lebensmittel, aber eine Unmenge leere Bier- und Spritflaschen.
Auf den Fußspitzen kehrte ich in das Zimmer zurück. Mutter schlief noch immer, und in ihrer Erschöpfung zeigte sie mehr als Worte es gekonnt hätten, wie schlimm es um sie stand. Eine Mutter, die achtzehn Jahre von ihrem Kind getrennt gelebt hatte, schlief in der Stunde, in der sie es wiederfand, erschöpft ein!
Ja, die Abendblätter, die ich gelesen, hatten ja erwähnt, daß Mutter im letzten Stadium der Tuberkulose stand. Und trotzdem hatte man auf ihre Verhaftung nur verzichtet, weil Burke Lanahan jene höchst unglaubwürdige Geschichte von dem Unfall erzählte. Übrigens war seine Verletzung ja nur leicht, die Kugel hatte ihn nur gestreift. Wenig, immerhin, fehlte, und die unselige Frau, die da vor mir lag, wäre unter der Anklage des Mordes vor die Richter gestellt worden. Etwas würgte mich im Hals, wenn ich daran dachte. Aber ich durfte dieser Regung nicht nachgeben. Wichtiger war es, daß ich hinunterlief und etwas zu essen besorgte, bevor sie aufwachte. Ich schlich aus der Wohnung, eilte die Treppe hinab, besorgte in einem Laden Brot, Milch, Eier, Butter, Tee.
An der Ecke stand eine Blumenverkäuferin. Von ihr kaufte ich einen kleinen Strauß Feldblumen.
Bevor ich mit meinen Einkäufen in Mutters Wohnung zurückkehrte, trat ich bei einem Tabakhändler ein und telephonierte Philipp. Ich erwartete, daß er noch nicht zurück wäre, wollte bei seinem Freund Bob, mit dem er die Wohnung teilte, eine Nachricht zurücklassen. Aber zu meinem Erstaunen war Philipp selbst am Apparat.
»Ach, Eve, du bist es! Gott sei Dank, daß du anrufst – ich war schon so besorgt! Wo bist du denn nur? In den letzten zwei Stunden habe ich mindestens viermal bei dir angerufen, aber deine Wirtin sagte immer wieder, du wärest noch nicht zurück. Ich war in der größten Angst, daß dir etwas zugestoßen ist.«
»Ich … eine Freundin von mir … ein Mädchen … ist erkrankt, Phil. Sie … sie hat niemand, der sich um sie kümmert und darum … habe ich mich ihrer angenommen.«
Meine Wangen brannten. Wieder Lügen!
»Das sieht dir ähnlich, Eve«, antwortete er freundlich. »So bist du! Hoffentlich ist es nichts Ansteckendes! Sieh dich nur vor, Eve! Und wo wohnt dieses Mädchen? Ist es weit von deiner Wohnung?«
»In … in Washington Heigths. Ich … ich weiß die Nummer der Straße jetzt nicht … auswendig. Ich telephoniere von einem Laden aus.«
»Wer ist denn das Mädchen?« fragte Philipp.
Fieberhaft suchte ich nach einem Namen.
»Sue … Sue … Lamdin.«
»Ich habe dich nie von ihr erzählen gehört.«
»Das ist möglich. Sie … war nur … war nur ein paar Tage bei uns im Geschäft. Ganz im Anfang, damals. Sie war nett zu mir und so … und so habe ich …«
»Natürlich mußt du dann auch nett zu ihr sein, Liebling. Ich verstehe. Wirst du wenigstens frühzeitig genug heimkommen, daß ich dich noch sehen und dir gute Nacht sagen kann? Diese letzten Tage waren wie Jahre für mich.«
Ach, wie sehnte ich mich darnach ihn zu sehen, seinen Arm um meine Schulter zu fühlen! Wenn ich doch mein Unglück, meinen Jammer an seiner Schulter hätte ausweinen können.
»Ich fürchte, heute Abend wird es nicht mehr gehen, Phil. Du verstehst, ich kann sie nicht allein lassen … wenigstens nicht im Augenblick. Ich fürchte, es wird Mitternacht werden, bevor ich nach Hause fahre. Morgen dafür –«
Guter, vertrauensvoller Phil!
»Versprich mir wenigstens, daß du dich nicht überanstrengst, Eve! Morgen hole ich dich dann aus dem Büro ab, und wir wollen meine Rückkehr feiern. Gute Nacht, Liebes!«
Ich lief zurück, und während ich die Treppe hinaufstieg, überlegte ich. Wozu sollte ich Philipp überhaupt von dieser Sache erzählen? Es war doch gar nicht notwendig. Sogar ich, unerfahren, wie ich war, hatte das Siegel des Todes auf Mutters Stirn erkannt. Sie hatte nur mehr ganz kurze Zeit zu leben. Konnte ich nicht heimlich alles für sie tun, was in meiner Macht stand, und mir doch Philipp erhalten? Oh, sie selbst würde mir dabei helfen, dessen war ich sicher! Hatte sie mich nicht gebeten zu gehen? Hatte sie mir nicht gesagt, daß ich ihr nichts schuldig war?
Ich hatte bereits den Treppenabsatz erreicht, als eine Tür zur Rechten geöffnet wurde und eine Frau heraustrat.
»Sie … Fräulein … holla!«
Erschrocken blieb ich stehen. Gemeine Neugierde leuchtete mir aus den Augen der Unbekannten entgegen.
Ich sah Sie gerade erst aus Monas Tür kommen. Wohl eine Verwandte?«
»Nein, ich … ich bin von der Frauenmission. Hörte von ihr und wollte ihr helfen.«
»Frauenmission?« Es war deutlich zu sehen, daß sie mir nicht glaubte. »Komisch! Wäre ja das erste Mal, daß sich die um uns hier kümmern! Ich glaube, Sie machen sich lustig über mich. Wenn mich einer fragte, wollte ich eher sagen, daß Sie irgendeine jüngere Schwester oder sowas sind. Mir brauchen Sie nichts vorzumachen, mit Sadie Cahill kann man offen reden.«
»Ich habe Mona Carruthers heute Abend zum ersten Male gesehen«, sagte ich ärgerlich. »Ich erfuhr von ihrem Elend, werde mich wohl etwas ihrer annehmen.«
»Ja, die braucht es wohl, das ist richtig. Unsereiner tut ja auch, was man kann, aber sehen Sie, Fräulein, viel ist das nicht, denn ich bin fast die ganze Nacht außer Haus und schlafe bei Tag. Aber wenn Sie was von mir brauchen, können Sie immer anklopfen. Ich gönne dem Lanahan den Schuß, der Kerl hat's nicht besser verdient.«
Ich hatte nicht recht den Mut, die Frau zurechtzuweisen. Mit einem flüchtigen Gruß öffnete ich die Tür, trat bei meiner Mutter ein. Sie schlief noch immer. Als ich in die Küche zurückkehrte, um meine Einkäufe auszupacken, kam mir wieder dieser Gedanke: Warum war ich hierher gekommen? Ich wußte im Augenblick nicht, ob diese widerwärtige Nachbarin mir schaden konnte, aber ich hatte ein unbehagliches Gefühl. Warum hatte ich mich in die Lage gebracht, solchen Menschen Rede stehen zu müssen?
Vielleicht war es der Geruch der Blumen, vielleicht das Brodeln des Wassers im Teekessel, das Mutter aufweckte. Sie blickte wirr um sich, dann murmelte sie:
»Also habe ich doch nicht geträumt! Und wie hübsch du es hier gemacht hast! Wie … friedlich das alles aussieht!«
Enthüllte dieses eine Wort nicht Mona Carruthers ganzes Leben? Friedlich … Frieden hatte sie nie finden können.
»Warte, Mutter, ich habe etwas zum Essen fertig gemacht.«
»Ich weiß gar nicht, wann ich das letztemal gegessen habe«, murmelte sie. »Ich kam hier gar nicht zur Ruhe vor all den Leuten, die mich belästigten. Stell dir nur vor, daß ich dich auch für eine dieser Journalistinnen gehalten habe! Willst du mir nicht etwas von dir erzählen, Eve?«
Während sie aß und trank berichtete ich ihr. Sagte alles, was sie wissen zu lassen ich für gut hielt. Von meinem Leben in Vaters Hause, von Tante Polly, von dem Fest des Missionsvereins, auch von Rafael Fitzmorris und unserer Flucht nach Atlanta. Nur Phil erwähnte ich nicht. Sie hätte mir übrigens auch nicht mehr zugehört, der Bericht von meines Vaters Grausamkeit nahm sie ganz in Anspruch. Zornig richtete sie sich auf, böse Worte kamen über ihre Lippen.
»Bitte, sprich nicht so!« sagte ich. »Vielleicht ist er wirklich alles, was du ihn nennst, Mutter, aber es tut mir weh, dich so sprechen zu hören.«
Sie sah mich überrascht an. Wahrscheinlich verstand sie mich nicht, war an harte Worte gewöhnt.
»Ich sage doch nur die Wahrheit«, begehrte sie auf. »Lehr mich du ihn kennen! Habe ich nicht zwei Jahre mit diesem Scheusal gelebt? Nur, weil ich verrückt war, habe ich ihn geheiratet. Diesen Heuchler! Wie er gut und anständig tat, bevor wir heirateten! Dieser Lügner! Ich habe manches im Leben getan, was nicht gut war, aber ich nenne die Dinge bei ihrem Namen und lüge nicht.«
Ich errötete. Also war ich wie mein Vater, den ich verurteilte – ich, die Lügnerin. Von ihm ererbt diese Neigung, die Dinge so darzustellen, wie sie mir paßten.
»Glaube mir, Eve«, fuhr Mutter mit schwacher Stimme fort, »ich bin so lange geblieben, als ich es nur aushielt. Kannst du dir vorstellen, wie ein zwanzigjähriges Mädchen zwischen ihm und seiner Schwester lebte? Wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann kam Burke Lanahan nach Cranford …«
»Ich verlange gar nicht, daß du mir alles erzählst, Mutter.«
»Aber ich will es, Eve. Du sollst alles wissen.«
»Gut, erzähle«, sagte ich nachgiebig.
»Er sah gut aus, damals. So ganz anders als Joshua, der immer mürrisch und zänkisch war. Als ich Burke zum erstenmal lachen hörte, war mir zumute, als ob ich in eine neue Welt käme. Zu Hause kriegte man ja kein Lachen zu hören. Ich glaube, ich habe Burke nur ermutigt, wiederzukommen, weil ich sein Lachen hören wollte. Angeblich hatte er mit Grundstücken zu tun. War ich in seiner Nähe, so saß ich nur da, brachte kein Wort hervor. Einmal fragte er mich, warum ich so wäre, und ob ich ihn denn nicht leiden könnte, und da begann ich plötzlich zu weinen und sagte ihm, daß ich mir nichts weiter wünsche, als ihn lachen zu hören. Hab ihm auch alles erzählt, von dir, die du damals nur ein paar Monate alt warst, von Joshua und Polly. Und da schlug Burke mir vor, einfach auszurücken. Weißt du, wie er das angestellt hat? ›Ich gehe nicht fort, ohne dem Kerl eins auszuwischen‹, sagte er. Und er hat Wort gehalten. Joshua hatte da hinter dem Hause ein Stück Land, das mit Baumwolle bepflanzt war. Burke redete ihm ein, daß er es kaufen wollte, aber dann provozierte er einen Streit, ich glaube, sie haben sich sogar geprügelt. Ich hatte Angst, daß Joshua irgendwie erfahren könnte, ich steckte dahinter. Und als Burke tags darauf abreiste, wehrte ich mich nicht, ging mit ihm.«
»Denk jetzt nicht mehr daran«, bat ich. »Längst vergangene Dinge!«
Aber es war unmöglich, sie davon abzubringen.
»Wenn ich behaupten wollte, daß ich es gleich bereut habe, würde ich lügen. Burke war anfangs nicht schlecht zu mir. Und ich liebte ihn auch. Wir haben viel Elend und Jammer miteinander durchgemacht, aber irgendwie liebe ich ihn sogar jetzt noch. Darum habe ich ja auf ihn geschossen, als ich dahinter kam, daß er mit einer Jungen ausrücken wollte. Ich wollte nur, ich hätte ihn besser getroffen.«
»Still, Mutter, sag das nicht! Ich bin jetzt bei dir, es wird alles wieder gut –«
»Nein, du kannst unmöglich hier im Hause bleiben!« Sie hatte sich aufgesetzt und sah mich erschrocken an. »Ich kann dich nicht hier behalten. Du verstehst das nicht. Es sind … gar nicht gute Frauen, die hier wohnen. Und …«
»Niemand braucht zu wissen, wer ich bin, wenn du es nicht willst. Übrigens hat mich jetzt eben erst da draußen eine angesprochen, die nannte sich Cahill. Sie fragte mich, ob ich eine Verwandte von dir wäre.«
»Und was hast du ihr gesagt?« fragte Mutter erschrocken.
»Ich habe es … abgeleugnet«, gestand ich beschämt.
»Das ist gut so«, atmete sie auf. »Und jetzt mußt du auch gehen. Es kommen zuweilen … es kommen manchmal … Bekannte hierher. Auch von Burke. Die sollen dich gar nicht hier sehen. Geh jetzt, bitte.«
Eine fieberhafte Angst schien sich ihrer bemächtigt zu haben.
Es war dennoch spät, als ich mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, Abschied nahm. Erst auf der Treppe fiel mir ein, daß ich doch Phil versprochen hatte, mir den nächsten Abend für ihn freizuhalten.
Als er mich tags darauf abholte, erzählte ich ihm eine Geschichte von dem Mädel, dessen ich mich hatte annehmen müssen. Ich hatte den ganzen Tag über nicht mehr an die Geschichte gedacht, und als ich dann bei Phil saß, fiel mir plötzlich ein, daß ich den Namen vergessen hatte, den ich jener Unbekannten gegeben. Es war ein Glück, daß er mir aus der Verlegenheit half.
»Ich kann mich gar nicht erinnern, Eve, daß du mir früher von dieser Sue Lamdin erzählt hast. Was fehlt ihr eigentlich?«
»Es ist Anämie«, log ich.
»Ach! Da wäre es wohl am besten, man brächte sie in ein Sanatorium. Ich will einmal mit Mrs. Greer darüber sprechen und hören, was sie meint.«
»Gut, Phil«, sagte ich und überlegte, was ich wohl sagen würde, wenn er mir vorschlug, mich zu meiner angeblichen Freundin zu begleiten.
Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, wenn es so gekommen wäre und wenn ich gezwungen gewesen wäre, die Wahrheit zu bekennen. Aber alle Umstände trafen zusammen, mir meine Lüge zu erleichtern. Phil hatte in diesen Tagen mehr als je zu tun, ich sah ihn zwar täglich, aber nur auf eine kurze Stunde. Er erkundigte sich auch oft nach »Miß Lamdin«, aber ich hatte sie inzwischen in ein Krankenhaus gerettet, und die materielle Frage war damit gelöst worden, daß entfernte Verwandte sich ihrer angenommen hatten.
So war es mir möglich, jeden Tag eine Stunde zu meiner sterbenden Mutter zu gehen. Ich muß hier rücksichtslos die Wahrheit sagen, rücksichtslos gegen mich selbst. Oft genug ertappte ich mich dabei, wie ich darüber erstaunte, daß Mutter noch lebte. Ich hatte geglaubt, vielleicht sogar heimlich gewünscht, daß die Stunde, die sie erlöste, früher käme.
Daß sie über keinerlei Barmittel verfügte, begriff ich sofort. Die Miete war seit zwei Monaten nicht mehr bezahlt worden, Lebensmittel und Medizin mußten gekauft werden. Mir wurde etwas bang zumute, als ich sah, daß zwei kurze Wochen genügt hatten, um meine kleinen Ersparnisse fast aufzuzehren. Wenn sie verbraucht waren, was dann?
Wieder verstrichen einige Tage, und da war die Frage, die ich mir bangend vorgelegt hatte, zum aktuellen Problem geworden. Es ging Mutter schlechter, ein Arzt mußte gerufen werden, er verordnete teure Medizin, bessere Ernährung. Es war ein junger Arzt, der wohl von dem Leben der Menschen, mit denen er zu tun hatte, noch wenig wußte. Wäre es anders gewesen, so hätte er nicht einen Landaufenthalt angeregt.
»Ich würde zum Beispiel die Woodcliff Heilanstalt vorschlagen, die liegt in neunhundert Meter Seehöhe, hat das denkbar beste Klima und ist doch nahe genug, daß Sie immer zum Wochenende Ihre Mutter besuchen können«, erklärte er mir. »Und die Pension beträgt, soviel ich weiß, nur fünfunddreißig Dollar wöchentlich.«
Daran war natürlich gar nicht zu denken.
»Wie lange, glauben Sie, wird es wohl noch dauern, Herr Doktor?« brachte ich mühsam hervor.
»Schwer zu sagen. Bei diesen Tbc.-Fällen kann man nie etwas Bestimmtes angeben. Manchmal erwartet man sechs Monate, und es ist plötzlich aus. Und manchmal ist es umgekehrt.«
Ja, irgend etwas mußte geschehen. Was, das wußte ich nicht.
Einen Moment lang hatte ich sogar den Gedanken, zu Phil zu gehen, ihm die ganze schreckliche Wahrheit zu erzählen. Nur aus Feigheit habe ich es nicht getan. Aber ist es wirklich Feigheit, wenn ein Mädchen fürchtet, das Herz des Geliebten zu verlieren? Wenn ein Mädchen Angst davor hat, von seinem Geliebten verachtet zu werden, nicht nur wegen seiner Eltern, sondern auch weil es gelogen hat?
Dann wieder kam ich auf den Gedanken, aus dem Leben Mona Carruthers zu verschwinden, wie ich in dieses Leben eingedrungen war. Und seltsam, ich hätte es vielleicht getan, wenn – sie nicht selbst es mir empfohlen hätte.
»Du schuldest mir wirklich keine Dankbarkeit, Kind«, sagte sie einmal traurig, »ich habe nie etwas für dich getan. Ich dürfte das gar nicht von dir annehmen, daß du jeden Abend hierher kommst. Ich habe auch immer Angst, daß einer von unseren früheren Bekannten kommt und dich sieht. Es sind keine guten Leute, und ich könnte dich auch nicht verteidigen. Ich habe heute nacht darüber nachgedacht und beschlossen, dich zu bitten, du möchtest überhaupt nicht mehr kommen.«
Ach, wenn sie gewußt hätte, wie es um mich stand! Daß ich beinahe gehofft hatte, sie würde sterben!
Wenn ich jetzt an jene Zeit zurückdenke, weiß ich, daß das beste an mir noch ein gewisses Pflichtgefühl war, das ich gegen meine sterbende Mutter empfand. Dieses Pflichtgefühl wird es vielleicht sein, um dessentwillen mir all meine andere Schwäche verziehen wird. Und noch eins: daß ich für meine Verfehlungen ja so bitter schwer gesühnt habe!
Ein Sonntagabend war das, und ich hatte eine Verabredung mit Phil. Darum hatte ich mir vorgenommen, nur nach Mutter zu sehen und dann nach Hause zu laufen. Schon wollte ich sie zum Abschied küssen und gehen, als ein leises Keuchen, das sich aus ihrer Kehle löste, mich zurückhielt. Weit aufgerissen waren ihre Augen. Sie griff nach einem Tuch, preßte es gegen ihren Mund.
Ich beugte mich über sie.
»Was ist, Mutter?« fragte ich erschrocken. »Kann ich etwas tun?«
»Nein! Geh! Du kannst mir jetzt nicht helfen.«
Und im selben Augenblick hörte ich eine Bewegung hinter mir, wandte mich um – Sadie Cahill war eingetreten. Jetzt beugte sie sich über das Bett, ein einziger Blick schien zu genügen; sie befahl mir, Wasser aus der Küche zu holen. Als ich damit zurückkam, bemerkte ich, daß sie den Ärmel von Mutters Bettjacke zurückgeschoben hatte. Und fast im selben Augenblick schien die Leidende beruhigt. Sie fiel zurück, atmete tief auf.
»Ich wollte es eigentlich nicht tun«, erklärte Sadie, »aber ich sah wohl, daß es ohne das nicht mehr ging. Jetzt wird sie wenigstens die ganze Nacht über Ruhe haben. Warum haben Sie mir eigentlich nicht die Wahrheit über Sie und Mona gesagt? Wir alle im Hause wissen es schon.«
Wenn der Schrecken des letzten Augenblicks mir nicht noch so in den Gliedern gelegen wäre, hätte ich wohl nicht gesprochen, aber ich hatte dem Tod noch nie ins Auge gesehen, ein furchtbares Grauen hielt mich gepackt. Bevor ich selbst wußte, was ich tat, hatte ich Sadie Cahill gesagt, wer ich war.
Und zu meiner Überraschung fand ich, daß sie besser war, als ich gedacht hatte.
»Und Sie wollten alles allein erledigen?« fragte sie freundlich. »Armes Mädel! Burke, dieser lumpige Kerl, müßte wissen, was er zu tun hat. Immer war Mona für ihn da, und jetzt läßt er sie hier liegen. So sind die Männer. Sie werden das schon auch noch erleben, Kind. Hübsch genug sind Sie, mit etwas mehr Farbe im Gesicht könnten Sie viel erreichen. Können Sie eigentlich tanzen und singen?«
»Tanzen.«
»Eine Idee! Wenn Sie in einem Nachtlokal tanzen würden? Damit verdient man eine Menge Geld. Ich könnte Ihnen sowas verschaffen – mit vierzig Dollar wöchentlich. Was meinen Sie?«
»Vierzig Dollar wöchentlich für tanzen?«
»Natürlich. Für tanzen! Natürlich müssen Sie auch sonst nicht ungeschickt sein. Dürfen den Leuten, die das Lokal besuchen, nicht gerade unfreundlich kommen. Übrigens kennt Mona das Lokal, sie ist auch oft hingekommen.«
»Sie will nicht, daß irgendwer erfährt, wer ich bin«, stammelte ich.
Aber Sadie schien keine Lust zu haben ihre Pläne wieder aufzugeben. Eine ganze Stunde redete sie auf mich ein, und als ich Mutter schließlich ihrer Pflege überließ – nicht ungern, wie ich gestehen will, denn ich sollte ja Phil treffen – hatte ich ihr versprochen, es wenigstens mit dem Nachtlokal zu versuchen. Es brauchte ja dort niemand zu erfahren, wer ich war. Für einen geeigneten Namen würde Sadie schon sorgen.
»Eve paßt nicht sehr für eine Tänzerin«, meinte sie. »Wir nennen Sie einfach Loraine und Schluß! Und Mona sagen wir auch nichts davon.«
So bin ich Tänzerin in einem Nachtlokal geworden.
Meine »Dienststunden« waren von elf Uhr nachts bis drei Uhr früh.
Woher ich den Mut nahm, dann jeden Morgen um sieben aufzustehen und um acht in unseren Laden zu laufen, weiß ich selbst nicht. Ich mußte es ja tun – mindestens bis sich eine Gelegenheit fand, meine andere Stellung auf eine Weise aufzugeben, die Phil verständlich war.
Das war mein Leben in diesen Tagen: von neun bis fünf in der Theater- und Konzertkasse, fast ununterbrochen auf den Beinen; dann ein rascher Besuch bei Mutter, wo ich jetzt auch zu essen pflegte; um acht nach Hause, wo Phil mich abholte. Um zehn Uhr dreißig, oft nicht ohne Mühe, Müdigkeit vorschützend, Abschied von ihm genommen, und in aller Eile in das Nachtlokal. Wie ich das drei Wochen lang ausgehalten habe, weiß ich selber nicht.
Was das Lokal betraf, so war es keineswegs elegant. Aber es ging, Gäste hatten wir immer in Menge. Leider beschränkten sich meine Tanzverpflichtungen nicht nur auf die paar Solonummern, denn zwischen allen Nummern wurde auch im Saal getanzt, und wir durften nicht ablehnen, wenn einer der Gäste uns aufforderte. So schwer es mir fiel, mußte ich lernen mit Menschen, die mir fremd, ja höchst unerträglich waren, zu plaudern, zu scherzen, sie zum Trinken zu ermuntern.
Manchmal wunderte ich mich darüber, daß ich es überhaupt konnte. Aber vielleicht war es doch das Blut meiner Mutter in mir, das mir all dies erträglich erscheinen ließ. Und wenn ich ganz aufrichtig sein soll, muß ich gestehen, daß mir der Applaus, den ich oft auf offener Szene erntete, Spaß machte. Was lag mir daran, daß das Publikum sehr gemischt war?
Manchmal, wenn ich auf den Brettern stand, mußte ich an vergangene Tage denken. An das Fest der Missionsgesellschaft und an Mrs. Plympton. An den Black Bottom, den ich mit Rafe Fitzmorris getanzt hatte. Ach, und diesen Tanz hatte Mrs. Plympton skandalös gefunden!
Wenn ich tanzte, wenn die Musik mir ins Blut ging, vergaß ich mich selbst. Was vorher und nachher bittere Pflicht schien, wurde plötzlich Freude, Freiheit. Tanzen war mir so natürlich wie atmen. Und so muß es wohl sein, wenn man Erfolg haben will – die Leute merken, ob eine Tänzerin nur ihre Pflicht tut oder mit dem Herzen bei der Sache ist. Darum hatte ich von Anfang an Erfolg.
Schon in der ersten Woche war unter den Männern, die mich immer wieder zum Tanzen aufforderten, einer, der täglich kam, ein kräftiger, sonnenverbrannter Bursche mit mutwilligen schwarzen Augen und einem wehenden roten Schopf. Ob er wegen seines Haares oder wegen der roten Krawatten, die er mit Vorliebe trug, Red Jacobs genannt wurde, weiß ich nicht. Jedenfalls war er bei uns hochangesehen, denn das Geld saß locker in seiner Tasche.
»Trinken wollen Sie also nicht, Baby?« fragte er einmal, als er mich nach einem Tanz an seinen Tisch gelotst hatte.
»Danke, aber ich möchte nicht.«
»Schön. Lust auf was zu Essen?«
»Ich habe vor zwei Stunden Abendbrot gegessen.«
»Eine kleine Autopartie, wenn die Bude schließt?«
»Ich muß nach Hause, mir bleiben doch nur ein paar Stunden Schlaf. Ich arbeite auch am Tage.«
Er lächelte ironisch.
»Sie wollen mich wohl aufziehen? Und wenn ich sowas nicht schlucke?«
»Ich … ich verstehe nicht.«
»Nun, Kleine, Tim Bradley ist ein alter Freund von mir. Vielleicht mißfällt es ihm, wenn ich ihm erzähle, wie Sie mit mir umspringen. Sie sind nett, aber so nett sind Sie nicht, daß nicht morgen eine andere käme, die an Ihrer Stelle tanzte wie Sie.«
Bradley war der Besitzer des Lokals. Die Drohung war also ernst. Mir war nicht wohl zumute, aber ich dachte, es wäre am gescheitesten es nicht merken zu lassen.
»Ich dachte nicht, daß ein anständiger Mann sowas tun könnte, wie Sie es mir da androhen. Einem Mädel das Brot nehmen, weil es nicht so will wie Sie.«
»Mir scheint, Sie haben Rosinen im Kopf, Kleine. Das hier ist nicht das Ritz und nicht die Plaza. Hier kommen die Leute her, um Bekanntschaften zu machen. Und wenn einer sich hier ein Mädel aussucht, so läßt er sich nicht gerne enttäuschen. Verstanden? Aber Mona Carruthers Kleine soll wegen mir keine Träne weinen. Sie sehen, ich weiß, wer Sie sind. Burke Lanahan selbst hat es mir gesagt.«
»Burke Lanahan?! Was weiß er von mir?«
»Ich denke, er weiß alles, was Mona angeht. Übrigens brauchen Sie sich nicht einzubilden, daß ich was gegen sie habe. Sie ist mehr wert als Lanahan.«
Ich zitterte an allen Gliedern.
»Nennen Sie seinen Namen nicht vor mir! Ich verabscheue diesen Mann!«
»Kann ich verstehen. Mag ihn auch nicht sehr, das sage ich offen. Aber wenn man den Teufel an die Wand malt, ist er auch schon da!«
Ich folgte seinem Blick und sah einen großen, aufgeschwemmten Menschen in einem geckenhaften Anzug, der eben eintrat. Als er den Hut der Garderobenfrau reichte, fiel mein Blick auf seine Hand, eine schmale, ungewöhnlich weiße Frauenhand. Die Ringe fielen mir auf, die er trug. Ja, diese Hand hatte ich schon gesehen – diese Hand und diesen Mann! Er war es, der damals bei jenem Zugsunglück Mona zu mir gesagt hatte.
Ich beugte mich zurück, suchte mich hinter Red Jacobs zu decken. Lanahan sollte mich nicht sehen.
»Seien Sie nicht dumm, Mädel«, sagte der Rote gutmütig. »Sie können einen Kerl verabscheuen, wenn es Ihnen beliebt, aber lassen Sie es nie jemand merken. Vorsicht beizeiten und Entschlossenheit, wenn es darauf ankommt – das ist der beste Rat. Wenn Sie wollen, bin ich Ihr Freund, und ich könnte mir vorstellen, daß ein Mädel einen schlechteren hätte, obwohl ich zu hundert Prozent ein Gangster bin. Aber darüber unterhalten wir uns ein anderes Mal.«
Er stand auf, ging an einen Tisch, an dem ein paar andere Tanzmädchen saßen. Ich wußte, daß sie alle auf ihn scharf waren, sich freuten, wenn er eine von ihnen zum Tanz rief. Meine Augen schweiften zu Lanahans Tisch hinüber. Sein Blick begegnete dem meinen, eiskalt wurde mir: sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Ich erschrak!
Was war das doch für ein seltsames Lächeln! So fremd, so ganz anders als dieser Mensch, zu dem es gar nicht zu gehören schien! Mir fiel Mutters Erzählung ein, wie dieses Lächeln sie gewonnen hatte. Für den Mann, der so lächeln konnte, hatte sie ihr Kind, ihre Ehe, alles aufgegeben. Ja, auch mir gefiel dieses Lächeln, und doch, so unglaublich das klingen wird, machte es mich zugleich wütend, fast rachsüchtig!
Wieder verstrichen Tage – jetzt war ich drei Wochen Tänzerin im Nachtlokal.
Noch immer traf Phil mich regelmäßig um acht, wir hatten wundervolle Stunden zusammen. Wohl protestierte er oft dagegen, daß ich schon kurz nach zehn Abschied nahm, aber dann schien er wieder um mich besorgt.
»Ich glaube, du fühlst dich nicht recht gut, Liebling«, sagte er einmal. »Mir scheint fast, wir werden unsere Heirat beschleunigen müssen, damit ich bald für dich sorgen kann. Wie würde dir ein kleines Haus drüben in Jersey gefallen, mit einem Garten und mit der Aussicht auf den Hudson? Apfelbäume, Blumenbeete, alles! Und eine wunderbare Veranda! Wollen wir Sonntag herüberfahren und es uns ansehen?«
Einen Moment lang war ich atemlos vor Freude, dann aber fiel mir ein, daß ich Mutter versprochen hatte, Sonntag bei ihr zu sein. Ich konnte also nicht mit Phil nach Jersey fahren.
»Ich möchte gerne«, sagte ich zögernd, »aber ich muß dir da etwas gestehen, was ich dir bisher verschwiegen habe, weil ich dir keine Sorgen machen wollte. Ich … ich fühle mich gar nicht recht wohl. Habe in letzter Zeit so oft Kopfschmerzen und sogar Schwindelanfälle. Ich wollte Sonntag den ganzen Vormittag im Bett bleiben und nachmittag zum Arzt gehen.«
»Zum Arzt?!«
Er hob mein Kinn, sah mir forschend in die Augen.
»Ich verstehe gar nicht, Eve, was mit dir los ist. Du bist so verändert. Scheinst mich nicht mehr wie früher zu lieben. Sage mir die Wahrheit: ist es ein anderer? Ist dieser Fitzmorris in New York?«
Ich erschrak. Philipps Liebe zu verlieren, war schlimmer für mich als der Tod.
»Wie kannst du so etwas von mir glauben? Seit ich dich kenne, habe ich nicht mehr an Rafe Fitzmorris gedacht.«
Ich begann zu schluchzen. Und in demselben Augenblick war Phil wieder zärtlich und aufmerksam wie immer.
»Sei mir nicht böse«, bat er, »ich bin ein eifersüchtiger Rohling. Habe mir nur in letzter Zeit oft den Kopf darüber zerbrochen, was denn nur mit meinem Mädel los sein mag. Sind es wirklich nur diese Kopfschmerzen? Auf Ehre?«
»Nichts anderes, Phil. Ich schwöre es.«
So habe ich meine große Chance vorbeigehen lassen, ihm die Wahrheit zu sagen.
Und enger und enger zog sich das Gewitter über meinem Kopf zusammen. Ahnung des Schlimmen, das kommen sollte, bedrückte mich. Dieses Doppelleben, das ich da führte, mußte ein Ende haben. Ich konnte es einfach nicht ertragen, den Mann, den ich liebte, immer wieder zu belügen.
Am Morgen des Sonnabends faßte ich endlich einen Entschluß. Ich rief in unserem Geschäft an, bat um einen freien Tag. Ich wollte den Sonnabend bei Mutter verbringen, dafür den Sonntag für Phil freibekommen. Dann würden wir nach Jersey hinüberfahren, uns dieses Haus ansehen, von dem er mir erzählt hatte.
Phil rief ich in seinem Büro an.
»Ich bin es, Eve«, sagte ich. »Ich habe mir den Tag freigenommen, will mich ein wenig ausruhen und einige Besorgungen machen. Wir können morgen doch nach Jersey. Wann willst du mich abholen?«
»Wie ist das mit dem Arzt, den du sprechen wolltest?« fragte er besorgt.
Ich hatte mich schon so daran gewöhnt zu lügen, daß ich nicht einmal um eine Antwort verlegen war.
»Ach, den brauche ich gar nicht mehr«, sagte ich fröhlich. »Fühle mich besser als je. Das einzige, was mir noch fehlt bist du und das Haus, das wir morgen sehen wollen.«
»Ich komme ungefähr um zehn Uhr morgens«, antwortete er. Seine Stimme klang so froh! »Heute bin ich den ganzen Tag über unterwegs. Ich muß da ein paar Zeugen für den Fall Thornten zusammenbringen, die nicht leicht zu finden sind.«
Ich hängte ab. Während ich dann zu Mutter ging, überlegte ich. Morgen also wollte er mich in das Haus führen, das unser Heim sein würde. Das war eine Gelegenheit, und sie würde ich wahrnehmen. Würde mir alles vom Herzen herunterreden, was mich bedrückte. Phil von meiner Mutter erzählen, ihm sagen, daß kindische Scheu, er könnte die Wahrheit erfahren und mich dann nicht mehr lieben, mich bestimmt hatte, ihm damals jenen romantischen Unsinn aufzutischen. Sogar sagen würde ich ihm, daß ich in einem üblen Nachtlokal tanzte, um Mutter ihre letzten Tage erträglich zu machen. Oh, er würde mich verstehen! Im Wachtraum sah ich bereits, wie er mich in seine Arme zog und tröstete.
»Du armes, armes, liebes Mädel«, hörte ich ihn sagen, »wir müssen sofort heiraten. Und deine Mutter nehmen wir zu uns, in unser Haus, tun alles für sie, was wir können.«
Den ganzen Tag stand ich unter dem Eindruck dieser Vorstellungen. Sie taten mir wohl, ich fühlte mich wie neugeboren. Aber noch immer konnte ich mich nicht entschließen, Mutter etwas von dem Mann zu erzählen, den ich heiraten wollte. Ich erwähnte nur, daß ich an eine Ehe dächte und daß wir drüben, jenseits des Hudson, ein hübsches Haus haben würden, wo wir – alle drei – leben konnten.
»Blumen werden wir haben, Mutter, Unmengen von Blumen«, sagte ich strahlend. »Bäume werden dort sein und Vögel und viel, viel wunderbar frische Luft. Staunen wirst du, wie rasch du dich dort erholst!«
»Aber wie willst du das alles nur bestreiten, Kind? Das Leben in einem so vornehmen Vorort kostet schrecklich viel Geld.«
»Überlaß das nur mir!«
Fort waren sie, diese schmählichen, gemeinen Gedanken, die Hoffnung, daß Mutter nun bald keine Last mehr für mich sein würde! Unverständlich, wie jemals solche Regungen in meinem Herzen Platz gefunden hatten! Was ich jetzt tat, war nur meine Pflicht. Und vielleicht der Preis, den ich zu zahlen hatte für künftiges Glück. Jeder von uns hatte eine Last zu schleppen, jeder mußte zahlen, zahlen für alles, was das Leben ihm gab. Mir war es zugefallen, meine Mutter wieder aufzurichten, und ich wollte es tun!
Als es schließlich Nacht geworden war und ich in unser Lokal ging, sagte ich mir, daß es ja heute das letztemal war.
Viel Gäste waren da, wie Sonnabends immer, und als ich nach meinem ersten Tanz für eine kurze Rast an einen leeren Tisch ging, sah ich Burke Lanahan auf mich zukommen.
Zum erstenmal sprach er mich an, und ich glaube, daß nur wenig Frauen einen solchen Kampf mit sich selbst ausgefochten haben wie ich in diesem Augenblick. Ich zitterte am ganzen Leibe. Wie sollte ich es tragen, daß er mich mit seiner verhaßten Stimme anredete?
Ich blickte in sein rotes, aufgedunsenes Gesicht und preßte meine Fingernägel in meine Handflächen, um mich zu beherrschen. Ein einziger Gedanke hielt mich aufrecht. Ich mußte wahrmachen, was ich mir heute vorgenommen hatte. Ich hatte eine Aufgabe vor mir.
»Schon seit ein paar Tagen wollte ich Sie anreden, Kind«, begann Burke. »Wollte Ihnen sagen, daß ich gar kein so übler Kerl bin, wie Sie glauben. Hab nur Mitleid mit der armen, alten Mona und möchte ihr sogar helfen – durch Sie. Da nehmen Sie, rasch! Ist für sie!«
Er schob mir eine Banknote hin, mein Blick fiel auf sie, es war ein Hundertdollarschein.
Mitleid.
Nur Mitleid für die arme, alte Mona.
Für die Frau, deren Leben er zerstört hatte. Die er zuletzt wegwarf wie einen schäbigen abgetragenen Rock.
Meine Augen müssen gebrannt haben, denn er trat fast erschrocken zurück.
»Wagen Sie nicht, mir Geld anzubieten!« schrie ich. »Und wagen Sie nicht, mich jemals anzusprechen oder mir zu nahe zu kommen! Wenn Sie es tun, Burke Lanahan, will ich vollenden, was Mona Carruthers begonnen hat. Das schwöre ich Ihnen!«
Damit wandte ich mich um, rannte aus dem Saal. Erst in der Garderobe blieb ich stehen, atmete auf. Kühlte meine Stirn mit kaltem Wasser, um mich zu beruhigen.
Die Türe wurde geöffnet, ich hörte schwere Schritte näherkommen. Es war Tim Bradley.
»Was fällt Ihnen ein, Mädel, einen meiner besten Gäste zu beleidigen?« schrie er, und die Wut, die ich in seinen Zügen las, war so groß, daß ich jeden Augenblick erwartete, er würde auf mich einschlagen. »Ich war gut zu Ihnen, habe Sie schönes Geld verdienen lassen, und da kommen Sie her und machen so eine Szene?! Sind frech zu einem Mann wie Burke Lanahan? Drohen ihm, Sie wollten ihn umbringen?«
»Wenn Sie wüßten, Mr. Bradley«, sagte ich, »was Burke Lanahan meiner … meiner Mutter angetan hat, würden Sie mich verstehen. Aber wenn Sie wollen, gehe ich sofort – in dieser Minute noch.«
Puterrot wurde er. Seine schweren Hände packten meine Schultern, schüttelten mich.
»Gehen werden Sie, natürlich, aber nicht jetzt, verstanden?! Erst werden Sie noch da drinnen tanzen! Sie stehen auf dem Programm, und ich habe heute feine Gäste hier, Leute, die mich fragen werden, wo der Kanakinnentanz geblieben ist, den ich draußen auf dem Plakat stehen hab. Erst den Tanz, Loraine, dann können Sie sich im Büro Ihr Geld holen und gehen, wenn Sie wollen!«
Ich setzte mich an meinen Tisch, puderte mich, legte neues Rot auf, als die ersten Klänge des Orchesters mich auf die Bühne riefen, wirbelte ich durch die Tür, auf die Bretter hinaus.
»Mein letzter Tanz! Mein letzter Tanz!« schlug mein Herz.
Ich strahlte, ich lächelte in diese Menge, die da im Saal saß.
Noch einmal packte mich die Raserei des Kanakentanzes, in einem letzten Taumel bogen sich meine Glieder, wand sich herausfordernd, jubelnd, frech mein Körper.
Und dann – war mein Blut plötzlich ganz kalt, ich stand still, starrte in die Dunkelheit vor mir hinab. Keine fünf Schritte vor mir saß – Philipp Monty.
In diesem ganzen raucherfüllten, lärmenden Saal sah ich nur etwas: das totenblasse Gesicht meines Geliebten.
Vergeblich winkte der Leiter des Orchesters mir zu. Vergeblich stampfte der ungeduldige Bradley mit dem Fuß auf, ermunterte mich durch Händeklatschen, weiterzutanzen. Ich konnte mich nicht rühren. Ich war wie gelähmt. Jetzt sah ich, wie Phil aufstand, einen Fremden, der neben ihm saß. leicht auf die Schulter klopfte. Die beiden näherten sich der Tür.
Und da war der Bann, der mich gefangengehalten hatte, gebrochen. Egal war mir, daß die Leute riefen und mit den Füßen trampelten, gleichgültig, daß ich barfuß und halbnackt war. Quer durch den Saal lief ich, in den Vorraum – ich mußte Phil ja erreichen, mußte mit ihm sprechen.
Die Garderobenfrau reichte ihm eben seinen Mantel. Ich stürzte hin, packte Phils Arm.
»Warte, Phil! Warte auf mich! Ich muß dir alles erklären. Ich wollte dir alles sagen – morgen! Bitte!«
Meine Stimme brach ab.
Gelassen machte Phil seinen Arm frei, mit einer Miene, als ob es ihm unangenehm wäre, meine Hand zu berühren. Eisig war sein Blick.
»Wohl eine Verwechslung, mein Fräulein«, sagte er langsam. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals gesehen zu haben.«
Damit wandte er sich ab, und im nächsten Augenblick war er mit seinem Begleiter auf die Straße hinausgetreten.
Fort!
Fort! Und ich wußte: fort für immer!
*
Gegangen war Philipp – für immer von mir gegangen! Meine Hand tastete nach einer Stütze.
Nie wieder würde ich in seine Augen blicken, nie wieder seine Zärtlichkeit fühlen, den warmen, guten Klang seiner Stimme hören. Das eine und einzige, was ich auf dieser Welt besaß, seine Liebe, gehörte nicht mehr mir …
Wie mochte er nur hierhergekommen sein?
Vage erinnerte ich mich, daß er davon gesprochen hatte, er müsse Zeugen für einen seiner Fälle suchen. Es sei nicht so ganz leicht, hatte er gesagt. Auf der Suche nach irgendwelchen lichtscheuen Mitwissern einer Sache war er hierher geraten: und hatte hier mich gefunden.
Ausgeträumt der Traum meines Glücks, verloren die Hoffnung auf Frieden und ein Heim. Was war das für eine Zukunft, die vor mir lag? An Mona Carruthers mußte ich denken … meine Mutter. Ihr Schicksal das meine! Ihr Weg mein Weg! Ihn hatte ich zu gehen, schicksalhaft, hoffnungslos, allein!
Die Natur ist gütig, manchmal. Sie läßt uns in dumpfe Apathie versinken, wenn das Maß des Unglücks unsere Kräfte übersteigt. Und in den folgenden Tagen lebte ich in einer Art von Betäubung – unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, außerstande auch nur Pläne zu entwerfen.
Zuletzt raffte ich mich auf, schrieb Philipp einen langen, erklärenden Brief, in dem ich ihm alles sagte, die volle Wahrheit, und ihn beschwor zu kommen, nur ein einziges Mal noch. Es war nicht der Brief eines achtzehnjährigen Mädchens. Ich fühlte mich nicht mehr jung. In der Qual der letzten Monate war ich zur Frau geworden, und ich fühlte in mir eine unbekannte Kraft zu kämpfen, Widerstand zu leisten dem Schicksal, das mich niederringen wollte.
Ich habe mich nicht geschont in diesem Brief an Philipp. Ich sprach offen von meinen Lügen, und diesmal, zum erstenmal, gab ich auch vorbehaltlos ihre wahre Erklärung: meine Liebe zu ihm und meine Angst ihn zu verlieren. Ich beschrieb ausführlich, wie ich meine Mutter wiedergefunden hatte. Und diesen Brief sandte ich sofort ab.
Dann wartete ich. Ich fühlte mich sogar etwas erleichtert, nachdem ich diese Last von mir abgewälzt hatte. Nein, ich hatte Philipp nicht gebeten, sich weiter an mich gebunden zu fühlen; nur um seine Verzeihung hatte ich gebeten und darum, daß ich noch einmal in sein liebes Gesicht schauen durfte.
Vielleicht würde ich ihm leid tun, wenn er das alles las. Ich wenigstens würde so empfinden, wenn der Fall umgekehrt läge; wenn Philipp mich über seine Angelegenheiten getäuscht hätte – aus einem ähnlichen Grunde.
Aber Männer sind ja anders als Frauen. Nach fünf Tagen qualvollen Wartens, als ich so weit war, Phil in seinem Büro anrufen zu wollen, und als die Post mir endlich meinen Brief ungeöffnet, in einem Umschlag von Phils Büro, wiederbrachte, wußte ich das.
Am Morgen war das, ich wollte eben ins Geschäft gehen, als ich den Brief bekam. War ich wahnsinnig, daß ich auch nur einen Moment zweifelte, was dieser dicke Umschlag enthalten könne? Mein Herz schlug zum Zerspringen, als ich mit dem Brief in mein Zimmer zurücktrat.
Meine Hände zitterten, als ich den Umschlag aufriß. Und dann lag mein Brief vor mir, ungeöffnet. Jemand hatte quer über die Rückseite des Umschlages geschrieben:
»Im Auftrage Mr. Philipp Montys zurück an den Absender«.
* * *