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Ein grauenvoller Augenblick war das – ich werde ihn nicht vergessen, so lange ich lebe.
Vor mir dieser Mann mit seinen stahlharten Augen, der den Hörer vom Telephon aufgenommen hatte und ungeduldig auf die Gabel klopfte, seine andere Hand wie eine eiserne Fessel um mein Gelenk gelegt. In der nächsten Sekunde würde ich, kaum gedämpft, aus dem Apparat die schläfrige Stimme des Nachtportiers hören, würde hören, wie dieser Mann vor mir verlangte, daß ein Polizist geholt werde, um eine Hoteldiebin zu verhaften, die eben über die Feuerleiter bei ihm eingedrungen war.
Und dann? Dann hatte ich die Wahl, die Wahrheit zu sagen oder mich ins Gefängnis bringen zu lassen.
Aber auch Schweigen würde mir nichts nützen. Binnen wenigen Stunden war ich erkannt, und dann würde man auch Rafe verhaften. Ich wußte nicht, was man Leuten tat, die sich unter falschem Namen in das Fremdenbuch eines Hotels eintrugen, aber irgendwie strafbar war so etwas gewiß, davon war ich überzeugt, und der Skandal, der folgen würde, war nicht abzusehen. Die Zeitungen würden Berichte bringen, mit vollem Namen und ausführlicher Beschreibung unserer Flucht. Dann würde Vater kommen, um mich abzuholen. Vaters Zorn – die Strafe, die er in seiner Raserei über mich verhängen würde – nein, daran wagte ich gar nicht zu denken.
Ich mußte etwas tun, bevor es zu spät war! Sekunden entschieden.
»Um Gottes willen, hören Sie mich doch an!« bettelte ich. »Ich will Ihnen die volle Wahrheit sagen, alles! Es ist so ganz anders, als Sie glauben. Nie, in meinem ganzen Leben, kein einziges Mal habe ich irgend etwas gestohlen! Rufen Sie doch erst an, nachdem Sie mich angehört haben. Sehen Sie! Hier! Hier!«
Mit meiner freien Hand riß ich den Mantel auf, zog die Bluse zurück, entblößte meine Schulter. Der Blick des Unbekannten fiel auf die Striemen, ich sah, wie seine Augen groß wurden, wie im nächsten Moment sein ganzer Ausdruck wechselte. Und da hatte er auch schon den Hörer wieder auf die Gabel geworfen, meine Hand freigegeben. Erschrocken stand er vor mir.
»Großer Gott!« murmelte er. »Was ist das? Hat man sie erschlagen wollen? Wer hat das getan?«
»Mein … Vater. So zerschunden, wie Sie diese Schulter sehen, bin ich an meinem ganzen Körper. Und dann bin ich von zu Hause weggelaufen – mit – einem Mann – ich dachte, er wolle mich – heiraten. Er – er hat mich hier in dieses Haus gebracht. Hat uns als verheiratet ins Fremdenbuch eingeschrieben. Und dann – dann sagte er offen, daß er es nicht so gemeint hatte. Ganz anders. Da habe ich mich in das Badezimmer eingeschlossen, bin durchs Fenster auf die Leiter hinausgeklettert – so kam ich hierher. Bitte, Sie werden mich nicht der Polizei ausliefern?«
Mir standen Tränen in den Augen, aber auch durch diese Tränen hindurch sah ich, daß meine Erzählung Eindruck gemacht hatte. Der Mann, der da vor mir stand, hatte begriffen, daß ich die Wahrheit sagte.
»Ach«, murmelte er endlich, »Sie armes Geschöpf!«
Er nahm wieder meinen Arm, aber diesmal nicht, um ihn eisern zu umklammern, sondern um mich sanft zu einem Sessel zu geleiten.
»Sie müssen mir das erzählen«, sagte er freundlich. »Lassen Sie mich alles wissen – vielleicht kann ich Ihnen dann helfen.«
*
Nun, ich habe es getan. Ich begann meinen Bericht, so wie ich ihn hier niedergeschrieben habe: mit dem Fest der Missionsgesellschaft, mit meinem Tanz. Beschrieb, wie Vater mich nach Hause holte und mißhandelte. Wie Rafe dann kam, wie wir geflohen waren, und was in Atlanta geschah. Während meines ganzen Berichts unterbrach der Fremde mich kein einziges Mal. Ich beobachtete nur, daß er ein paarmal die Augenbrauen dicht zusammenzog. Als ich geendet hatte, blieben wir einige Zeit still.
»Und wo ist der Kerl jetzt, der Sie hierher gebracht hat?« fragte er endlich. »In welcher Etage war das?«
»In der achten. Wahrscheinlich ist er noch oben, glaubt, daß ich bade. Ich habe das Wasser in die Wanne laufen lassen.«
Mein unbekannter Retter lächelte leicht.
»Hoffentlich gibt es keine Überschwemmung. Aber um zur Sache zu kommen, was wollen wir jetzt anfangen? Soll ich nicht einfach hinaufgehen und von dem Kerl Ihre Sachen verlangen?«
»Nein! Bitte nein! Es ist ja fast nichts, ein alter Koffer und ein paar Kleinigkeiten. Nicht einmal ein Kleid zum Wechseln. Wir waren in solcher Eile. Und ich möchte nicht, daß Rafe weiß, wo ich bin. Sie sollen es ihm auch nicht sagen, bitte.«
Nachdenklich spitzte der Unbekannte die Lippen, pfiff leise vor sich hin. Dann lachte er wieder auf.
»Eine fatale Geschichte«, sagte er. »Ich weiß gar nicht recht, was ich mit Ihnen anfangen soll. Das Gescheiteste wäre es wohl, ich benachrichtigte die Frauenmission.«
»Um Gottes willen nicht!« bat ich. »Dann würden sie mich sicher finden … mein Vater und die andern. Ich würde mich töten, bevor ich mich nach Cranford zurückbringen ließe. Gewiß ist irgendwo ein Fluß –«
»Reden Sie nicht so! Das mag ich nicht. Grämen Sie sich so um diesen Burschen da oben? Wollen Sie Selbstmord begehen, weil –«
»Ich liebe ihn gar nicht! Ich dachte, daß ich es täte, dachte, er wäre gut, sehr gut sogar. Aber jetzt weiß ich ja, daß es anders ist.«
»So reden die Frauen leicht. Nachher meinen sie es wieder anders. Ich bezweifle gar nicht, daß Sie die nächste Gelegenheit benützen werden, um ihn wiederzusehen und anzunehmen, was er Ihnen anbietet.«
Ich begann zu schluchzen.
»Niemand will von mir gut denken! Und ich dachte, es wäre nur zu Hause so, würde anders sein, wenn ich unter Fremde käme. Zu Hause dachten alle, ich wäre schlecht, weil Mutter uns verlassen hat, als ich noch klein war; mit einem andern Mann. Mein Gott, wenn ich doch nur beweisen könnte, daß ich … daß ich nicht so bin! Wenn ich arbeiten dürfte, mir selbst mein Leben schaffen …«
»Unsinn! Ich behaupte ja gar nicht, daß Sie schlecht sind. Sie bilden sich das nur ein. Ich habe Sie nur zuerst gar nicht richtig angesehen. Hätte ich in Ihre Augen geschaut, so hätte ich Sie gar nicht für eine Hoteldiebin gehalten. Ich werde schon irgend etwas ausfindig machen … wie ich Ihnen helfen kann. Was für eine Art Arbeit könnten Sie denn leisten?«
»Alles! Alles, was man mich tun läßt! Ich kann kochen, Hauswirtschaft führen, ich kann servieren, nähen …«
Er lächelte. »Die Universität haben Sie also nicht besucht?«
»Ich hätte gern mehr gelernt, aber Vater erlaubte es ja nicht. Er hielt nichts davon.« Ich begann wieder zu schluchzen. »Ich habe mir auch immer meine Kleider selbst gemacht. Ich kann schneidern.«
»Und von allem dem, was Sie da aufzählen – was möchten Sie am liebsten tun?«
»Am liebsten möchte ich … tanzen«, schluchzte ich. »Ich habe mir immer gewünscht, eines Tages in einem großen Theater aufzutreten.«
Hübsche weiße Zähne hatte mein Retter. Er zeigte sie jetzt, indem er hellauf lachte.
»In dieser Beziehung unterscheiden Sie sich wenig von sämtlichen anderen jungen Mädchen unseres Landes«, scherzte er. »Ich halte übrigens nichts von den Chancen, die man in einem so überlaufenen Beruf hat. Und glauben Sie mir, ich verstehe mich auf so etwas. Ich bin aus New York, bin Rechtsanwalt, sehr lange habe ich allerdings mein Büro noch nicht, aber ich arbeite mit einem Sozius zusammen, der eine sehr große Praxis hat, eine Praxis, die er allein nicht mehr bewältigen kann. Mein Name ist Monty, Philipp Monty. Ich bin auch geschäftlich hier in Atlanta, und mit dem Fünfuhrexpreß muß ich wieder zurück. Warten Sie … wenn ich mir's recht überlege: warum soll ich Sie nicht überhaupt nach New York mitnehmen? Was halten Sie davon?«
»Ach, Mr. Monty, wenn Sie das für mich täten! Ich würde arbeiten, arbeiten wie eine Wilde, um Ihnen zurückerstatten zu können, was Sie für mich aufgewendet haben.«
»Schön, dann wollen wir das einmal festhalten. Mir soll es nur lieb sein, wenn ich jemand, der einmal ganz teuflisch in der Patsche saß, ein bißchen heraushelfen konnte. Lassen Sie uns überlegen!«
Jedenfalls mußten wir vorsichtig sein, das stand fest. Niemand durfte merken, daß er, der junge, strebsame Rechtsanwalt, seine Hand bei der Flucht eines jungen Mädchens vor ihrem Vater im Spiel hatte. Nie würde man ihm glauben, daß er aus Mitleid oder Sympathie gehandelt hätte!
»Wenn wir erst die virginische Grenze hinter uns haben«, sagte er, »ist alles schon viel einfacher. Bis dahin allerdings dürfen Sie durch keinen Blick und keinen Wink zu erkennen geben, daß wir im Einverständnis sind. Sie nehmen also das Geld, das ich Ihnen gebe, gehen zur Bahn und kaufen selbst ein Billett nach New York. Ich werde die ganze Zeit in Ihrer Nähe sein, auf Sie achten, aber selbst im Zug dürfen Sie mich nicht bemerken. Sie fahren in einem Abteil, ich im anderen. So kommen wir nach New York ohne Aufsehen zu erregen, und in New York sind Sie ja sicher. Eine Frage! Wie steht es mit Ihrer Garderobe?«
Ich blickte an mir hinab und mein Herz sank. Kein Hut. Keine Schuhe. Das Kleidchen, das ich angehabt hatte, als ich die Leiter herunterkletterte, zerrissen und beschmutzt.
»Ach«, seufzte ich, »daran scheitert zuletzt alles! Ich kann doch nicht in Strümpfen auf die Bahn gehen!«
Philipp Monty überlegte einen Augenblick.
»Wollen sehen. Läden finden wir um diese Zeit natürlich keine offen, aber … Augenblick! Würde es Ihnen etwas ausmachen, in aller Eile meine Koffer zu packen? Dann gehe ich einstweilen weg, sehe zu, was ich für Sie tun kann. Stopfen Sie einfach alles in den Koffer, was Sie hier herumliegen sehen. Die Tür schließen Sie hinter mir ab, sobald ich weg bin. Angst brauchen Sie vor niemand zu haben, und wenn jemand anklopft, öffnen Sie nicht. Ich werde dreimal klopfen, so –! Nur auf dieses Zeichen öffnen Sie.«
Ich nickte. Sprechen konnte ich nicht. Mein Herz war zu voll.
Er nahm seinen Anzug und seine Schuhe, zog sich eilig in das Badezimmer zurück. Ein paar Minuten später war er zurück, nickte mir zu und ging zur Tür. Ich folgte ihm, schloß hinter ihm ab. Flüchtig sah ich mich im Zimmer um, überwand die Versuchung mich zu setzen und ein wenig aufzuatmen. Seinen Koffer sollte ich packen, hatte er gesagt. All die Sachen, die hier herumlagen, dieselben, von denen er erst geglaubt hatte, daß ich es auf sie abgesehen hätte! Ja, jetzt war es vollends klar, daß er mir glaubte, mir vertraute!
Mein Schicksal hatte mir in dem Augenblick höchster Not den Helfer gesandt, nun waren die endlosen Jahre der Einsamkeit und des Unglücks vorbei! Jetzt würde ich den Menschen ruhig in die Augen schauen dürfen, ohne – unsichtbar, und doch fühlbar – den Makel auf mir lasten zu fühlen. Mona Cartons verlassenes Kind war tot: eine neue Eve Carton geboren!
*
Das waren meine Gedanken, während ich mit scheuen Händen Philipp Montys Sachen in den Koffer packte. Nur flüchtig, geistesabwesend, sah ich die einzelnen Stücke, Toilettenutensilien, Reiseartikel. Ein paarmal glaubte ich auf dem Korridor Schritte zu hören, hielt inne und lauschte. War das Rafe? Hatte er meine Flucht schon bemerkt? Suchte er mich im ganzen Hause? Ganz still mußte ich sein! Sollte ich nicht lieber das Licht ausschalten? Würde ich im Dunkeln sicherer sein?
Endlich das verabredete Zeichen – drei kurze, scharfe Schläge gegen die Tür! Ich öffnete, Monty tauchte auf, ein in Packpapier eingeschlagenes Paket unter dem Arm.
»So«, sagte er belustigt, »da hätten wir, was wir brauchen! Sehr gut sitzen werden Ihnen die Sachen nicht, aber Zeit, Pariser Modelle zu kaufen, werden Sie in Ihrem Leben noch ein anderes Mal finden! Wissen Sie, wo ich das herhabe? Aus einem meiner Prozesse kannte ich die Adresse eines kleinen, nicht gerade sehr gut beleumundeten Leihhauses hier am Ort. Ich bin einfach hingegangen, habe die Leute aus den Betten geholt. Nun, wie finden Sie das? Hoffentlich passen Ihnen die Schuhe! Soviel ich mich erinnere, hatten Sie recht kleine Füße. Die Schuhe da dürften, bevor ihre Besitzerin sie ins Leihhaus trug, Nummer sechsunddreißig gewesen sein.«
»Meine Nummer«, antwortete ich, während ich die einzelnen Stücke aus dem Paket nahm.
Wahrhaftig, das Kleidchen war ein wenig zerdrückt und welk, aber neu mußte es recht elegant gewesen sein. Schade, daß das Blau etwas verschossen war! Ich zog mich mit dem Kleid ins Badezimmer zurück, schlüpfte aus meinem zerschlissenen Fähnchen und zog das neue über. Nun, die frühere Besitzerin war etwas stärker als ich gewesen, aber daran sollte es jetzt nicht liegen. Merkwürdig, daß wir Frauen sogar in solchen Situationen eitel sind! Ich öffnete einen Spalt der Tür, fragte Mr. Monty, ob er vielleicht Nadeln hätte.
»Wozu?«
»Ich könnte mir das Kleid etwas enger stecken.«
Die Antwort war ein lustiges Auflachen, aber Nadeln hatten, schien es, reisende Rechtsanwälte nicht bei sich. Der Hut, eine Filzkappe, hatte eine gute Fasson, ich probierte ihn vor dem Toilettenspiegel, erschrak über meine tränenverquollenen Augen. Weiß Gott, ich sah aus wie ein Baby, das Mutter auf der Straße verloren hat! Dafür entschädigten mich die Schuhe, sie schienen fast neu und saßen ausgezeichnet. Schade nur, daß ich nicht einmal Puder hatte, um die Spuren meiner Tränen zu verwischen.
Philipp Monty stand neben dem Bett, als ich endlich aus dem Badezimmer zurückkam. Und er sah mich an, als ob ich ihm das erstemal vor die Augen gekommen wäre! Etwas wie Bewunderung las ich in seinem Blick, und das gab mir einen guten Teil meiner Sicherheit wieder.
»Donnerwetter«, sagte er, »jetzt sehen Sie aber anders aus!«
Ich lächelte dankbar.
»Armes Mädel«, murmelte er. »Aber jetzt müssen wir auch fort. Es ist gleich vier Uhr. Passen Sie gut auf, was ich Ihnen sage! Ich gehe voraus, wir nehmen nicht den Aufzug, und wenn ich in der Halle ankomme, bleiben Sie ein paar Schritte zurück. Im Büro ist jetzt niemand, der Nachtportier sitzt in seiner Ecke und döst. Ich werde auf ihn zugehen und ihn etwas fragen, zum Beispiel nach der genauen Abfahrtzeit des Zuges. Die wird er nicht auswendig wissen, und wenn er sie doch weiß, stelle ich mich ungläubig. Dann muß er das Kursbuch hervorholen und nachblättern. Ich gebe Ihnen ein Zeichen, und während er beschäftigt ist, gehen Sie einfach an uns vorbei und zur Tür hinaus. Dann scharf links, dort wartet ein Taxi. Der Chauffeur ist unterrichtet und fährt Sie ohne weitere Aufforderung zum Bahnhof. Hier haben Sie Geld für das Billett. Seien Sie möglichst wenig nervös. So, glauben Sie, daß wir jetzt gehen können?«
»Wenn … wenn Rafe … unten in der Halle ist?« fragte ich ängstlich.
»Im Ernstfall muß ich eben einspringen. Doch dazu wird es ja kaum kommen. Oder fürchten Sie, daß ich nicht mit ihm fertig werde?«
Noch einmal streifte mein Blick seine aufrechte, muskulöse Gestalt. Nein, so lange er in meiner Nähe war, brauchte ich keine Angst zu haben.
»Ich will alles tun, was Sie verlangen«, sagte ich entschieden.
Dafür hatte ich doch einen kalten Rücken, als ich durch die Hotelhalle schlich, an Monty und dem Nachtportier vorbei, der gerade über das Kursbuch gebeugt stand und nicht einmal aufblickte. Als ich aus dem Portal trat, fiel mein erster Blick auf das Taxi. Man wird mir glauben, daß ich aufatmete, als ich eingestiegen war, mich in den Fond fallen ließ und feststellte, daß der Wagen bereits losfuhr.
In meinem ganzen Leben hatte ich keine größere Reise gemacht, und es kostete mich einige Mühe, weder am Fahrkartenschalter noch beim Einsteigen das ahnungslose Provinzmädchen durchblicken zu lassen. Vielleicht wäre es mir noch weniger gelungen, wenn ich nicht Philipp Monty in meiner Nähe gewußt hätte. Am Schalter war er sogar dicht hinter mir gewesen. Ich hatte mich einmal nach ihm umgewandt, aber der Blick, der mich traf, war so fremd, so kalt und uninteressiert, daß ich gar nicht in Versuchung kam, mich zu verraten.
So, und dann saß ich endlich in meinem Abteil, konnte aufatmen. Heiliger Himmel, war dieses Mädchen, das hier zwischen Reisenden eingekeilt saß, um nach New York zu fahren, in die Riesenstadt, die das Ziel aller Träume junger amerikanischer Mädchen ist, war das dieselbe verschüchterte hilflose Eve Carton aus Cranford? Oder war das ein modernes junges Mädel, das sich eben auf seine Weise durchschlug, den Kampf mit dem Leben aufnahm?
Ja, so sind wir Menschen! Vor wenigen Stunden noch war ich angstschlotternd die Feuerleiter hinabgeklettert, hatte jämmerlich und ganz klein vor dem Fremden gestanden, der mich als Diebin der Polizei ausliefern wollte. Und jetzt, da das Schlimmste an mir vorübergegangen war, kam ich mir beinahe groß vor. Sehen hätte ich mögen (so überlegte ich), wie irgendein anderes Mädel aus Cranford sich in solchen abenteuerlichen Situationen bewährt hätte, wie ich sie da überstanden hatte! Diese Kiekindiewelts! Nicht einmal die Kurage hätten sie gehabt, mit einem Mann nach Atlanta durchzugehen! Was sie wohl getan hätten in meiner Lage – allein mit einem Menschen wie Rafe Fitzmorris in einem Hotelzimmer! Nein, die wären nicht die Feuerleiter hinuntergeklettert! Und sie hätten nicht die Geistesgegenwart gehabt, einem Unbekannten die Schulter zu zeigen. Wie Schafe hätten sie sich abführen lassen – schnurgerade ins Gefängnis! Da war ich schon ein anderer Kerl!
Ich erwähnte bereits, daß der Zug sehr gut besetzt war; beinahe überfüllt. Eine Frau, die ihr Baby in den Armen hatte, saß neben mir. Einmal begann die Kleine zu weinen, aber als ich das Baby ansah und ein wenig mit ihm spielte, wurde es sofort wieder ruhig. So kam ich mit der Mutter ins Gespräch. Wie sie mir erzählte, war sie aus Texas und fuhr in eine kleine Stadt nach Südkarolina, wohin ihr Mann vorausgereist war. Eine belanglose Geschichte, aber sie zerstreute mich, und es gab mir ein Gefühl der Sicherheit, daß ich wieder unbefangen mit Leuten plaudern konnte. Als ich aufblickte, sah ich eine Gestalt – es war Philipp Monty, der eben durch den Gang kam. Nur ganz flüchtig fing ich einen Blick aus seinen grauen Augen auf, einen Blick, der mir sagte, daß alles in Ordnung war – dann verschwand mein Retter wieder.
Von da an bekam ich ihn bis zum späten Nachmittag nicht mehr zu sehen. Doch bewiesen mir einige kleine Zeichen, daß er da war und an mich dachte. Gegen neun Uhr kam der Boy aus dem Speisewagen und servierte mir ein Frühstück; mittags meldete mir derselbe Boy, daß ein Platz im Speisewagen für mich reserviert sei. Aber essen mußte ich allein. Ich war ein wenig enttäuscht, hatte gehofft, daß Philipp Monty mir ein Rendezvous im Speisewagen gegeben hätte!
Gegen vier Uhr, der Zug hatte sich inzwischen beträchtlich geleert und näherte sich bereits New York, kam er in mein Abteil. Als er sah, daß ich allein war, setzte er sich.
»Wir sind bereits in New Jersey – und das bedeutet: in Sicherheit«, sagte er lächelnd. »Jetzt noch sechs Stunden, dann wird ein kleines Mädchen aus der Provinz New York betreten, um die große Welt zu erobern. Armes Kind, Sie sehen übrigens recht angegriffen aus! Vielleicht wäre es doch das beste, ich brächte Sie in meinen Schlafwagen hinüber. Sie könnten sich wenigstens für ein paar Stunden ausstrecken. Ich setze mich einstweilen mit einem Buch hier in dieses Abteil.«
Vergeblich protestierte ich, beschwor, daß ich mich ganz frisch und wohl fühlte. Er hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, alles für mich zu bestimmen, da war nichts dagegen zu wollen. So folgte ich ihm in den Schlafwagen, betrat den ersten Pullmanwagen, den ich in meinem Leben zu sehen bekam.
»Ich komme rechtzeitig, bevor wir nach New York kommen, und wecke Sie, damit Sie sich umkleiden können.«
Und er hatte recht gehabt. Als ich dieses Bett sah, kam mir erst zum Bewußtsein, wie müde ich war. Halb schon im Schlaf entkleidete ich mich, streckte mich auf dem bequemen Lager aus. Der gleichmäßige Takt, in dem die Räder über die Schwellen liefen, wiegte mich ein. Im Entschlummern dachte ich noch daran, daß jetzt wohl ganz Cranford von mir sprach. Würde mein Vater einen Versuch machen, mich zu verfolgen? Tat es ihm leid, daß er gegen mich so grausam gewesen war? Oder sagte er gerade Tante Polly, ich hätte eben nur getan, was er von mir erwartete – eines anderen hätte er sich von mir nie versehen?
Ich schlief indessen nicht lange. Eine halbe Stunde später schreckte ich auf, fühlte, daß der Schlaf vorbei war. Ich stand auf, zog mich mechanisch an. Vielleicht war es besser so: ich brauchte mich wenigstens nicht zu übereilen, wenn Philipp kam und mir sagte, daß wir uns New York näherten. Heute weiß ich, daß es etwas anderes war, das mich so handeln ließ. Eine Ahnung. Ein Instinkt.
Tatsache ist, daß ich, vollends angekleidet, mich wieder auf das Lager warf und einen Moment später einschlief. Und die folgenden vier Stunden muß ich ganz tief geschlafen haben – ich erinnere mich wenigstens nicht, durch irgend etwas aufgeschreckt oder auch nur durch Träume beunruhigt gewesen zu sein.
Wie dieses Aufwachen war – ich könnte es kaum richtig beschreiben.
Ich weiß nur, daß ich von einem schweren Schlag, der mich getroffen hatte, wach wurde, abwehrend die Hände hob, um mich tastete.
Es war stockdunkel.
Und jetzt, im Moment, in dem ich meine erste Betäubung überwand, hörte ich wie aus dem Gedächtnis, wenige Sekunden nur zurückliegend, ein furchtbares Getöse: etwa wie ein Kanonenschuß, dann ein Rollen, Klirren.
Ich suchte mich aufzurichten – konnte keinen Boden finden. Ja, jetzt begriff ich: der Wagen – richtig, es war ein Eisenbahnwagen – und eben war er noch gefahren – der Wagen lag schief.
Gedämpft, jetzt lauter, drangen Schreie zu mir herein. Ich griff um mich, meine Hand geriet in eine zerschlagene Glasscheibe, fuhr zurück. Näher, schriller, gräßlicher die Schreie! Jetzt warf ich mich herum, tastete mich nach der anderen Seite weiter. Das Fenster – zertrümmert. Ein Wunder, daß die Scheibe mich nicht verletzt hatte! Ich wollte mich hochziehen, es gelang mir nicht. Wohin ich tastete, griff ich in scharfe Scherben.
Dann ein Knirschen, ich verlor das Gleichgewicht, griff um mich, flog noch einmal gegen die Wand. Wieder Schreie, diesmal ganz laut, ganz nahe. Der Wagen hatte sich vollends zur Seite gelegt, begriff ich.
Jetzt war es sogar leichter das Fenster zu erreichen, mich hochzuziehen. Rings um mich Dunkelheit, Trümmer, ein entsetzlicher Wirrwarr. Und aus diesem Wirrwarr Schreie, Brüllen, Ächzen. Einzelne Gestalten, die schattenhaft durch die Nacht glitten.
Und nun, ganz nahe, eine Stimme:
»Eve! Eve!«
»Hier! Sind Sie es, Philipp?«
»Ja! Sind Sie verletzt?«
»Nein, ich glaube, ich bin mit dem Schrecken davongekommen. Einen Augenblick! Kommen Sie hierher, bitte, reichen Sie mir Ihre Hand, ich möchte von dem Wagen herunterspringen! So. Entsetzlich! Hören Sie nur diese Schreie! Es müssen eine Menge Leute verletzt sein.«
Und in der Tat, der Anblick, der sich uns jetzt bot, war grauenvoll. Der Zug war entgleist, die vier vordersten Wagen hatten sich wie Schachteln ineinandergeschoben, alles zerquetscht, zertrümmert. Furchtbar war das Geschrei der Überlebenden, die in den Trümmern festgeklemmt waren. Schon kamen Leute der Zugbegleitung mit Laternen gelaufen, rasch bildeten sich rings um die zerstörten Wagen Gruppen von Unverletzten, die helfen wollten. Befehle wurden gerufen, einige Männer hatten die Führung übernommen, die Ungeheuerlichkeit des Augenblicks machte alles so leicht, niemand fragte, wer immer nur konnte, hatte einen einzigen Gedanken: zupacken! Retten!
Philipp war schon davongestürzt. Im roten Licht einer Fackel sah ich ihn in einer Gruppe von Männern, die sich verzweifelt bemühten, eine zertrümmerte Waggonwand ganz aufzubrechen und die Verletzten herauszuheben.
Die ganze Stunde, die folgte, ist in meiner Erinnerung wie ein ungeheuerlicher Traum. Wir alle arbeiteten fieberhaft. Die Verletzten, die man bergen konnte, hatte man an den Bahndamm getragen, niedergelegt. Einige Leute waren zum nächsten Streckenhaus gelaufen, um die Meldung durchzutelephonieren. Ich weiß nicht woher – aber irgend jemand hatte plötzlich einen Eimer, reichte ihn mir, rief: »dort drüben! Am Bach! Holen Sie Wasser!« Und da war ich zu dem Bach gelaufen, hatte frisches Wasser geholt, fünf- oder sechsmal. Leute zerrissen Kleider, Wäsche, die sie am Leibe trugen, um Verbände daraus zu machen. Ich erinnere mich, daß sich mir das Herz zusammenzog, als ich neben dem ersten dieser Verletzten, Verstümmelten kniete, ihm das Blut vom Gesicht fortwischte, mit zitternden Händen einen Verband anlegte.
Man hatte eine Fackel so über der Reihe der Verletzten befestigt, daß wir einigermaßen sehen konnten. Ihr Licht fiel, während ich wieder über einen der Geborgenen gebeugt war, gerade auf mein Gesicht. Der Verletzte war ohnmächtig, aber als ich seine Stirn und seine Brust mit Wasser kühlte, schlug er die Augen auf. Es war ein sonderbarer Mensch, dieser Verletzte. Ein breites, aufgequollenes Gesicht hatte er, rotes Haar, eine dicke, widerwärtige Nase. Das Seltsamste an diesem Menschen waren die Hände – zarte, allzu weiche Hände, Hände, wie man sie eher bei einer Frau als bei einem so aufgedunsenen, widerwärtigen Mann erwarten mochte. Etwas an diesem Menschen stieß mich ab, aber hier ging es ja nicht um Sympathie, er war ein Verletzter, was ich für ihn tun konnte, mußte geschehen.
Und jetzt hatte er die Augen aufgeschlagen, starrte mich an.
»Mona!« hörte ich ihn flüstern. »Woher kommst du, Mona? Hast du mich wieder verfolgt?«
Ich zuckte zurück. Mona – Mutters Name! Dieser Name, den ich nur ein einziges Mal im Leben gehört hatte, den Mutter allein trug.
Und da lag dieser Mann, starrte mich an, nannte mich Mona. Hob schwach die Hand, fuhr sich über die Stirn, als ob er einen Traum verscheuchen wollte.
»Nein, du kannst es nicht sein … du bist nicht Mona. Und doch … ich erkenne dich, so hast du ausgesehen … damals …«
Mühsam richtete er sich auf, Fieber in seinen Augen.
»Nein, Sie sind es nicht, Sie gleichen ihr nur …«
»Wem gleiche ich?« fragte ich zitternd. »Wer ist diese Mona, der ich ähnlich sehe?«
Eine plötzliche, jähe Angst packte mich, daß er meinen Namen nennen würde, den Namen meiner Mutter, der Mutter, die mich verlassen hatte und die ich so vielleicht wiederfinden sollte.
»Mona Carruthers«, sagte er mühsam. »Nein … Sie kennen sie nicht … haben nichts mit ihr zu tun.«
Und als ob es nur die Schreckensvision gewesen wäre, die ihn geweckt hatte, schloß er die Augen, ließ sich ächzend zurückfallen.
Ich atmete auf.
Was war das nur für eine absurde Angst gewesen, daß meine Mutter, meine schöne junge Mutter, deren Bild mir Tante Polly gezeigt hatte, irgend etwas mit diesem widerwärtigen Kerl hier zu tun haben könnte!
Ein Verwundeter nebenan seufzte, verlangte nach Wasser.
Fröstelnd richtete ich mich auf.
»Ich komme«, sagte ich, »ich komme!«
*
Es dauerte noch eine Stunde, bis der Hilfszug aus Philadelphia kam, der uns aufnehmen sollte. Und lange nach Mitternacht erst erreichten wir New York.
Ich war, als unser Zug endlich in den Bahnhof einfuhr, nach all den erregenden Erlebnissen dieser letzten Tage ein anderer Mensch geworden.
Nichts, fühlte ich, nichts konnte mich mehr einschüchtern, nichts meinen neuen Lebensmut brechen.
Als ich Philipp Monty aber dann durch die gewaltigen Hallen des Bahnhofs folgte, gedrängt, gestoßen von Hunderten und aber Hunderten Menschen, die wild durcheinander riefen, fühlte ich mich doch wieder etwas unsicher, etwas verschüchtert.
»Und was jetzt?« fragte ich fast ängstlich.
»Ich bringe Sie jetzt in ein kleines Hotel in der Nähe der Bahn, dort bleiben Sie, bis Sie sich ausgeruht haben und stark genug sind, um zunächst auf Wohnungssuche zu gehen. Hier«, er reichte mir eine Karte, »haben Sie meine Telephonnummer, ich hoffe, schon morgen nachmittag zu hören, daß Sie irgendwo untergekommen sind. Und dann werden wir uns eben auf die Suche nach einer Stellung für Sie machen.«
Er hatte eine Droschke genommen, wenige Minuten später hielt sie vor dem Hotel, das er gewählt hatte.
»Vergessen Sie nicht, Eve: Sie haben Ihr Gepäck bei dem Zugunglück verloren. Und hier«, er reichte mir ein Bündel Banknoten, »haben Sie Geld, um sich morgen das Nötigste zu besorgen. Kein Wort weiter! Sie kennen unseren Vertrag! Wir haben abgemacht, daß ich Ihnen helfen darf, bis Sie hier festen Fuß gefaßt haben.«
Und bevor ich etwas einwenden konnte, hatte er mir aus dem Wagen geholfen, war wieder eingestiegen, rief mir ein Gute Nacht zu und ließ die Tür ins Schloß fallen. Durch das offene Fenster sagte er noch: »Auf morgen, Eve! Und vergessen Sie nicht, daß ich jetzt in Gedanken immer bei Ihnen bin. Ich habe auf Sie gesetzt, Sie sind mein Trumpf. Enttäuschen Sie mich nicht.«
Ich ihn enttäuschen? Nie!!
*
Das Zimmer, das ich am nächsten Vormittag mietete, lag in einer Seitenstraße der City, nicht allzuweit vom Broadway, und immerhin noch so, daß man bequem zu Fuß den Centralpark erreichen konnte. Das war es, glaube ich, was für mich den Ausschlag gab. Nach zwei Stunden Wanderung durch das Häusermeer hatte ich begriffen, daß ich in der Nähe des Parks mieten mußte, um hierher flüchten zu können, wenn die Stadt mich zu erdrücken drohte.
Das Zimmer selbst war sehr klein, aber sauber und wohnlich. Erstaunt war ich über das große, atelierartige Fenster: im Sommer mußte es hier unerträglich heiß sein, aber jetzt, im Spätherbst, empfand ich die große Helligkeit angenehm. Der Preis – fünf Dollar wöchentlich – schien mir ungeheuerlich, in Cranford hätte man für die gleiche Miete ein kleines Haus bekommen, aber ich hatte in zwei Stunden emsigen Suchens bereits begriffen, daß New York sich nicht mit Cranforder Maßen messen ließ. Auch mußte ich in Betracht ziehen, daß ich das Bad benützen, meine Kleider und Wäsche im Hause waschen und mir in der Küche Kleinigkeiten wärmen durfte.
Und das erste, was ich tat, war denn auch, daß ich das Kleid reinigte und plättete, das Philipp Monty in jenem Leihhause zu Atlanta für mich gekauft hatte. Überraschend gut sah es jetzt aus, zumal mit neuem weißen Kragen und Manschetten. So, in dieser Aufmachung, konnte ich es wohl riskieren, die Stellungsuche anzutreten.
Mein geheimer Traum war es gewesen, schon an diesem Tage, wenn ich abends bei Philipp Monty anrief, von einem Erfolg berichten zu können, aber da hatte ich mich gründlich getäuscht! Ich ließ mir ja noch nicht träumen, wie lange ich die ermüdende Wanderschaft von Adresse zu Adresse würde fortsetzen müssen – immer wieder mit dem gleichen niederschmetternden Ergebnis.
»Wo haben Sie bisher gearbeitet? Und was?«
»Ich suche meine erste Stellung …«
»Tut uns leid. Wir haben Ihnen nichts anzubieten.«
Mein einziger Trost in diesen Tagen war, daß Philipp Monty mich nicht vergaß. Viermal in der ersten Woche gab er mir abends Rendezvous, ging mit mir essen, und er hatte es nicht einmal notwendig, meine Stimmung zu verbessern: gut gelaunt war ich, wenn ich ihn sah, und wäre es anders gewesen, so hätte ich es ihn doch nicht merken lassen. Nach allem, was er für mich getan hatte, wollte ich ihm nicht noch mehr Sorgen machen.
Trotzdem wurde ich langsam kleinmütig, und vielleicht hätte ich ganz den Mut verloren, wenn Philipp mir nicht eines Abends die Freudenbotschaft überbracht hätte, daß er etwas für mich gefunden habe.
»Denken Sie nur, Eve«, sagte er, nachdem er mich begrüßt hatte, »ich habe was für Sie! Und sogar etwas recht Nettes! Eine Stellung in einem Theater- und Konzertkartenbüro. Ich habe nämlich mit einer jungen Dame über Sie gesprochen, mit der ich sehr gut befreundet bin, und die hat mir das für Sie verschafft. Sie kennt den Besitzer der Agentur gut, und der hat ihr versprochen, es zunächst einmal mit Ihnen zu versuchen. Das Gehalt ist ja recht miserabel, zwölf Dollar wöchentlich, aber irgendwie muß man eben anfangen, und wenn Sie sich bewähren, wird es schon mehr werden. Gehen Sie gleich morgen früh hin, melden Sie sich bei dem Besitzer und geben Sie ihm diese Karte.«
Er zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche.
»Zwölf Dollar wöchentlich! Das ist ja ein Rieseneinkommen!«
»In Cranford wahrscheinlich. In New York ist es recht dürftig, und das werden Sie bald genug merken.«
»Ach, ich bin ja so froh!« Damit warf ich einen Blick auf die Karte. Miß Dorothy Greer stand darauf. Und darunter eine Adresse in Park Avenue. Ich war erst zwei Wochen in New York, aber eins hatte ich bereits begriffen: den ungeheuren Unterschied zwischen den einzelnen Quartieren der Stadt. Ich wußte schon, was eine Wohnung in Park Avenue bedeutete! Diese Freundin Philipps mußte ja jemand ganz besonderes sein, ein Mädchen aus einer reichen, angesehenen Familie. Und er selbst? Gehörte er auch in diesen Kreis? Ich hatte mir bisher über seine eigene gesellschaftliche Stellung noch keine Gedanken gemacht. Für mich war er selbst, mein Retter, Helfer, ein ritterlicher, liebenswürdiger Mann, und im übrigen ein junger Rechtsanwalt, der, das hatte er mir erzählt, sich mit einem hochangesehenen Kollegen assoziiert hatte. War es nicht sonderbar, daß die Vorstellung, er selbst könne reich und angesehener Leute Kind sein, mir fast unangenehm war? Und gar erst diese Freundin! Wenn diese Miß Greer ihm mehr als eine Freundin war? Absurd, meine Sorgen, nicht wahr? Was ging mich das an? Für ihn war ich ja nur sein kleiner Schützling, ein mittelloses, unwissendes Mädchen aus der Provinz, das er durch einen abenteuerlichen Zufall kennengelernt hatte und dessen er sich ein wenig annahm. Was weiter?
Oder war er mir mehr als ein Beschützer und Helfer?
Ach, ohne Zögern konnte ich mir diese Frage beantworten. Allein, daß er in dieser Stadt weilte, machte mir diese Stadt liebenswert, und wenn er mich morgen gefragt hätte, ob ich ihm auf eine entlegene Insel der Südsee folgen wollte, hätte ich ohne Wimperzucken Ja gesagt. War dies seltsame, schmerzliche Gefühl – war das Eifersucht? Durfte ich auf Philipp Monty eifersüchtig sein?
Ich ging einige Schritte neben ihm her, dann fragte ich leichthin:
»Ist sie … ist sie sehr hübsch, diese Miß Greer?«
»Hübsch?« fragte er und sah mich erstaunt an, »ich denke doch. Gewiß. Aber was hat das mit Ihrer Stellung zu tun?«
»Nichts natürlich«, stammelte ich verlegen. »Jedenfalls muß sie sehr gut sein, daß sie sich so für mich … für eine Fremde einsetzt. Entschuldigen Sie meine dumme Frage. Ich dachte nur, daß gute Leute eben immer hübsch sein müßten. Oder ist es nicht so?«
Darauf gab er keine Antwort, aber als wir weitergingen, fühlte ich, daß er mich mehrmals von der Seite ansah. Und ich wagte nicht einmal aufzublicken.
*
Am nächsten Tage trat ich meine Arbeit an. Das Theater- und Konzertkartenbüro war sehr vornehm eingerichtet und lag in einer Seitenstraße der Fifth Avenue. Mindestens zwanzig Angestellte gab es, liebenswürdige, freundliche, wohlerzogene junge Leute. Ich hatte etwas Angst vor ihnen gehabt, aber als ich sie dann sah, fühlte ich instinktiv, daß ich mich gut mit ihnen vertragen würde.
Und so war es auch. Man hat es mir wirklich nicht schwer gemacht, mich einzuarbeiten, und nach wenigen Tagen schon fühlte ich mich an meinem Arbeitsplatz so sicher, als ob ich seit Jahren nichts anderes getan hätte. Auch Philipp bemerkte die Veränderung in meinem Wesen, meine zunehmende Sicherheit. Wir sahen uns manchmal abends, und es geschah auch, daß er nachmittags auf einen Sprung im Vorbeikommen in unseren Laden eintrat.
An freien Abenden hatte ich mir aus einem Rest Stoff, den ich irgendwo billig auftrieb, ein einfaches, stilisiertes, schwarzes Kleid zusammengeschneidert. Ich trug es zum erstenmal, als Phil mich einige Tage später abends abholte.
»Es steht Ihnen wunderbar, Eve«, sagte er, als er mich begrüßt hatte. »Kein farbiges Kleid könnte Ihren wunderbaren Teint so zur Geltung bringen! Und Ihr Haar wirkt noch glänzender, schimmernder als sonst.«
Ach, er hätte das alles nicht sagen sollen! Er wußte ja gar nicht, was er damit anrichtete! Wie sehr ich schon verändert war! Oft hatte ich in den letzten Tagen lange Zeit vor meinem Spiegel gestanden, hatte mich betrachtet, wie ich es früher nie getan. Etwas Neues war in mir wach geworden, eine Koketterie, die, arglos noch und naiv, vielleicht mit doppeltem Eifer ins Zeug ging. Ach, schon wünschte ich, ich hätte Phil damals nicht in meiner Aufregung von Mutter gesprochen! Wozu hatte ich das nur erzählt? Hätte ich nicht wenigstens eine romantischere, interessantere Geschichte ihrer Flucht ersinnen können? Ich zerbrach mir den Kopf, überlegte, wieviel von meinen Familienangelegenheiten ich damals verraten hatte. Und wieviel noch gutzumachen war.
Das schlimmste war, daß Phil meiner erwachenden Eifersucht neue Nahrung gab. Eines Tages kam er mit einem jungen Mädchen von etwa zweiundzwanzig Jahren in unseren Laden. Auf den ersten Blick sah ich, daß sie die entzückendste, reizvollste Person war, der ich bisher in ganz New York begegnet war. Und gekleidet war sie – wundervoll! Neben ihrem Blondhaar mußte mein schwarzes banal und uninteressant wirken.
Ach, ich wußte, daß ich Miß Dorothy Greer vor mir hatte, bevor er ihren Namen nannte.
»Miß Greer wollte Sie kennenlernen, Eve«, sagte er freundlich. »Sie hofft, daß Sie sich in Ihrer Stellung wohlfühlen.«
Ich wußte in diesem Augenblick, daß ich jenes Mädchen haßte. War sie hierher gekommen, um mich fühlen zu lassen, daß ich mein Brot ihrer Gnade verdankte? Oder wollte sie nur, daß Phil mich in ihrer Gegenwart mit ihr verglich?
»Es freut mich wirklich sehr«, sagte sie jetzt, »daß ich Ihnen ein wenig helfen konnte. Macht Ihnen die Arbeit denn auch Spaß, Eve?«
Mir stieg das Blut in die Wangen. Sie sprach mich bei meinem Vornamen an, als ob ich ein Dienstmädchen oder so etwas wäre!
»Danke, es ist eine recht angenehme Arbeit«, antwortete ich kurz. Und ich war froh, daß der Kassierer mich jetzt zu sich rief, um mich etwas über meine Abrechnung zu fragen.
Während ich neben ihm stand, mich über das Registerbuch beugte, sah ich zu den beiden hinüber. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und plauderten. Dabei lächelte Phil – und dieses Lächeln, ach, ich hatte es bisher für mein Eigentum gehalten! Für etwas, worauf allein ich ein Anrecht hatte!
»Und diese vier Dollar vierzig – was haben Sie, Miß Carton? Sie hören mir ja gar nicht zu?«
»Doch! Entschuldigen Sie, Mr. Sherwood! Diese vier Dollar vierzig –«
Als ich wieder aufblickte, waren die beiden schon gegangen.
Den ganzen Tag über war ich verstört und geistesabwesend, und mein Unglück wollte, daß Phil, der mich an diesem Abend zu einem kleinen Autoausflug abholte, noch von Miß Greer zu reden begann. Oder eigentlich von ihrem Vater, den er, als ob er es mir zum Trotz täte, über den grünen Klee zu loben begann. Wenn man ihn so anhörte, gab es in ganz New York kaum einen so geachteten und beliebten Menschen wie Mr. Greer.
Nein, es ging wirklich nicht mehr an, daß ich bloß Eve Carton war, ein Mädel von irgendwoher, aus einer Familie, die nirgends etwas galt; arm, bedeutungslos, und noch dazu mit einem Skandal belastet. Philipp war immer freundlich und nett zu mir gewesen, er hatte mich nie fühlen lassen, daß er »seinen kleinen Ausreißer« geringschätzte, aber ich bildete mir doch ein, daß ich etwas tun mußte, um in seiner Achtung zu steigen.
Seit jener ersten Nacht hatten wir nie mehr über mein früheres Leben gesprochen, aber Philipp schien vermöge einer Art von Telepathie zu fühlen, was ich auf dem Herzen hatte, denn an diesem Abend brachte er wieder die Rede auf meine Leute.
»Ich habe heute darüber nachgedacht, Eve«, sagte er, »ob Ihre Familie eigentlich weiß, wo Sie sind. Gewiß, Ihr Vater ist hart, allzu hart gegen Sie gewesen, aber er ist doch schließlich Ihr Vater. Haben Sie ihm geschrieben?«
So, da hatte ich meine Chance!
»Mein Vater«, sagte ich leichthin, »ist unglaublich hochmütig. Ich glaube, daß es diesen fast an Verschrobenheit grenzenden Hochmut nur noch bei den ganz alten Familien im Süden gibt. Der bloße Gedanke, daß seine Tochter arbeitet, in einem Laden steht und Leute bedient, wäre ihm gewiß unerträglich. Sie wissen ja, wie wütend er wurde, weil ich mich mit Rafe Fitzmorris einließ, dessen Leute zwar sehr reich sind, aber eben sonst nichts. Meine Mutter war eine Preston. Die Prestons und Cartons gehören zu den ältesten Familien Georgiens, das wissen Sie doch?«
Philipp sah mich etwas sonderbar an und schien zu schlucken.
»Und diese Gentlemen aus dem Süden verprügeln ihre Töchter?« fragte er nachlässig.
»Ach, ganz so schlimm war es doch nicht, wie ich es im ersten Moment genommen habe«, beruhigte ich ihn. »Mein Vater redete sich in die Wut hinein, fuchtelte mit dem Stock herum, und da traf er mich eben an der Schulter. Ich rannte davon, bevor er sich entschuldigen konnte, was er sonst zweifellos getan hätte.«
Wieder dieser sonderbare Blick.
»Hm, ich hätte die Entschuldigung abgewartet und wäre dann gegangen. Aber sagten Sie nicht, Eve, daß Ihre Mutter vor vielen Jahren aus dem Hause Ihres Vaters geflohen ist?«
Ach, wenn ich doch in diesem Moment die Wahrheit gesagt hätte! Wieviel Jammer bringen doch Lüge und falsche Eitelkeit in unser Leben! Wieviel Enttäuschungen blieben uns erspart, wenn wir uns nicht erst auf das Glatteis der Prahlereien begeben wollten!
Aber ich habe in diesem Augenblick nicht anders gekonnt – ich hatte ja nur einen einzigen Gedanken: Phil einzureden, daß Eve Carton, Pastor Joshua Cartons und Mona Cartons Tochter, die Tochter einer Frau, die mit einem Spieler durchgegangen war, einer vornehmen Familie angehörte und sich neben Miß Dorothy Greer sehr wohl sehen lassen konnte.
Ich erröte, wenn ich niederschreiben soll, was für eine phantastische Geschichte ich Phil an jenem Abend über meine Mutter erzählt habe! Da kam ein ungeheuer vornehmer, ungeheuer reicher Reisender darin vor, der sich in meine Mutter verliebt hatte. Sie, enttäuscht von Vaters allzu heftigem Wesen, hatte sich dem Fremden zugewandt, war mit ihm geflohen und hatte dann jahrelang mit ihrem Gatten um mich, ihr teures Kind, prozessiert. Aber vergeblich war alle Mühe gewesen! Die beiden Gegner hatten die besten Anwälte gegeneinander aufgeboten – und zuletzt hatten die meines Vaters gesiegt. Nur die Scheidung konnte Mutter durchsetzen, aber kurz nach ihrer zweiten Heirat, etwa zwei Jahre nach ihrer Flucht, war sie plötzlich gestorben. Menschen, die ihr in letzter Zeit nahegestanden hatten, waren der Ansicht, daß die Aufregungen dieser Prozesse ihr überempfindliches Nervensystem überanstrengt hatten.
Ich redete mich in eine solche Erregung hinein, daß ich zum Schluß glaubte, meine Darstellung müßte ungeheuer realistisch und überzeugend geklungen haben.
»Arme Kleine«, sagte Phil endlich, »du hast wirklich viel durchgemacht! Ich habe Mitleid mit deiner armen toten Mutter und – trotz allem – doch auch ein wenig mit deinem Vater. Meinst du nicht doch, daß du ihm lieber schreiben solltest, Eve?«
»Nicht jetzt«, sagte ich hastig, »vielleicht später einmal, wenn ich mit Stolz sagen kann, wo ich bin und was ich tue.«
Nach dieser letzten Bemerkung wechselten wir das Thema. Phil kam auf seine Arbeit zu sprechen, erzählte mir, daß ein Erfolg, den er unlängst gehabt hatte, seinen Sozius bestimmt habe, ihm jetzt auch größere und schwierigere Fälle zu übertragen. Ja, der erste Schritt einer großen Rechtsanwaltskarriere war getan! Stolz war Phil wie ein Junge, wenn es nur nicht diese Dorothy Greer in seinem Leben gegeben hätte!
Und als ob das Glück uns besonders günstig gewesen wäre, erhielt ich in den nächsten Tagen eine Gehaltsaufbesserung. Man hatte mich tüchtig befunden, und ich sollte jetzt nicht nur mehr zu dem geringen Anfängergehalt, sondern zu den gleichen Sätzen wie meine Kollegen und Kolleginnen arbeiten. Das bedeutete zwanzig Dollar wöchentlich, und ich kann wohl sagen, daß kein Millionär so stolz sein kann wie ich an dem Abend, nachdem mein Chef mir diese Mitteilung gemacht hatte. Weiß Gott, jetzt konnte ich mir auch Kleider leisten, wenn ich mir selber die Stoffe kaufte und meine eigene Schneiderkunst betätigte. Jetzt waren alle Herrlichkeiten, die ich in den Schaufenstern bisher wie etwas Unerreichbares bewundert hatte, in greifbare Nähe gerückt. Ich glaubte, ich wäre eine reiche, verwöhnte Lady – und ich war doch nur eines von diesen Zehntausenden braver New Yorker Mädels, die zum Abendessen zwei Butterbrote und eine Tasse Tee nehmen, um, wenn sie dann spazieren gehen, gekleidet zu sein, als ob sie aus einem Modejournal gesprungen wären.
Aber nein, in einem unterschied ich mich doch von diesen Zehntausenden – ich dachte dabei ja nicht an das Abenteuer, an die große Chance, die der Zufall uns zuträgt, sondern nur an einen einzigen Mann – an Phil Monty. Für ihn allein wollte ich schön sein, schöner als Miß Greer, deren Vater in Wallstreet einen Namen hatte und deren Mutter überall genannt wurde, wo in den Zeitungen von der guten Gesellschaft die Rede war. Ich wußte, daß Phil ein häufiger Gast im Hause der Greers war, und nur ein Mädel, das Ähnliches erlebt hat, kann verstehen, wie ich litt, wenn ich einmal aus seinen arglosen Bemerkungen erfuhr, daß er wieder abends in die Park Avenue ging. Wenn ich jetzt an diese lächerliche Verliebtheit zurückdachte, die mich an Rafe gefesselt hatte, so konnte ich mich nur selbst verachten. Ach, ein einziges Verdienst hatte Rafe Fitzmorris, und das nur höchst unfreiwillig: ohne ihn hätte ich Phil ja nie kennengelernt!
*
Eines Abends kamen wir, Phil und ich, aus einem Kino, und als wir vor meinem Haustor standen, sagte er traurig:
»Ach, es ist zu schade, daß wir uns schon trennen müssen! Ich hätte heute solche Lust, noch länger mit Ihnen zu plaudern, Eve.«
»Wollen wir noch ein wenig spazieren gehen?« schlug ich vor.
»Nein, dazu ist es wirklich zu kühl! Aber wenn Sie mir da oben bei Ihnen eine Tasse heißen Tee anbieten wollten –«
»Doch. Gerne.«
Ich hatte mein Zimmer in letzter Zeit recht hübsch hergerichtet, hatte mir Vorhänge, ein Bild und zwei Geranienstöcke gekauft.
Wir stiegen also die Treppe hinauf, und mit Freude stellte ich, als wir eintraten, fest, daß es ihm zu gefallen schien.
»Sieht meine kleine Bude nicht aus wie ein reizender Salon?« fragte ich stolz. »Kein Mensch würde diesem Diwan ansehen, daß er mit einem Griff in ein Bett zu verwandeln ist! Und dieser Wandschrank – hält man ihn nicht für eine Bibliothek oder so was Ähnliches? Wissen Sie, was ich darin habe? Geschirr, Besteck, einen kleinen Spirituskocher. Ich brauche nur Hokuspokus zu sagen, und Sie bekommen bei mir den besten Tee von ganz New York zu trinken.«
»Sie sind ja ein kleines Wunderkind«, lachte er, »dafür bin ich auch stolz auf Sie! Darum darf ich es Ihnen auch sagen, Eve: je öfter ich Sie sehe, um so genauer weiß ich, daß …«
»Was denn?«
»Warten Sie, ich muß Ihnen da etwas sagen, … etwas, das ich noch niemand gesagt habe.«
»Nun?«
»Ich habe jetzt kurz nacheinander zwei hübsche Erfolge gehabt. Alles läßt sich wundervoll an! Hätte nicht gedacht, daß ich so rasch vorwärtskommen würde. Wenn das so weitergeht, mache ich mir in ein paar Jahren einen Namen, Eve. Und verdiene auch eine Menge Geld.«
»Das freut mich«, sagte ich etwas enttäuscht.
»Ja … und so bin ich auf den Gedanken gekommen, daß ich doch eigentlich … heiraten könnte.«
Mein Herz schlug so laut, daß ich fürchtete, er würde es hören. Phil war also zu mir heraufgekommen, um mir zu erzählen, daß er sich mit Dorothy verlobt hatte.
»Ich hoffe, daß sie … daß sie sehr glücklich sein wird«, stammelte ich. »Sie … sie ist ja so … hübsch und … gut …«
»Ja, das ist sie. Und sie weiß noch gar nicht, daß ich sie heiraten will. Ich habe es mir schon seit ein paar Wochen überlegt, ob ich es ihr sagen soll, aber dann denke ich immer, daß sie sich vielleicht mit einem Jungen, der sich aus eigener Kraft hochringen muß, gar nicht einlassen will. Sie ist ja so vornehmer Leute Kind!«
»Natürlich, sehr vornehm …«
»In letzter Zeit hat sie in dieser Beziehung ja etwas umgelernt, hat ihre Bedürfnisse etwas einschränken müssen.«
»Ach?! Hat Mr. Greer auf der Börse verloren? Immerhin, sie braucht sich nichts daraus zu machen. Sie kann stolz darauf sein, die Liebe eines Mannes wie Sie zu besitzen, Phil.«
»Was reden Sie denn da für Unsinn, Eve? Wer spricht von Dorothy? Dorothy ist eine sehr gute Freundin von mir, aber heiraten will ich sie natürlich nicht. Sehen Sie mir doch in die Augen, Eve! Wissen Sie denn noch immer nicht, daß ich Sie meine?!«
»Mich?!«
Fassungslos starrte ich ihn an. »Mich?«
»Sie liebe ich, nur Sie, Sie lieber kleiner Sturmvogel!« sagte er und legte seine Hand auf meinen Arm. »ja, so habe ich Sie immer in Gedanken genannt … ein kleiner, verängstigter Vogel sind Sie für mich, der flattert, verzweifelt zu fliegen sucht. So sonderbar, so schicksalhaft sind Sie damals, vor zwei Monaten, in mein Leben getreten! Glauben Sie denn nicht, daß auch Sie mich lieben können? Oder haben Sie immer noch jenen andern im Sinn?«
Phil, der um meine Liebe bat! Phil, der eifersüchtig war auf – Rafe Fitzmorris!
Oh, ich habe nicht eine Sekunde gezögert, als ich ihm meine Lippen bot!
Nicht fassen konnte ich dieses Glück, das so plötzlich, so ganz unerwartet gekommen war! So berauscht, so hingerissen war ich, daß ich sogar eine leise Gewissensregung kaum fühlte, eine Mahnung, daß ich häßlich gelogen hatte, als ich Phil von mir und meiner Familie erzählte.
Als er längst gegangen war, als ich am Fenster stand und die Schneeflocken bestaunte, die an meinem Fenster vorbeitanzten, kam mir erst wieder dieser Gedanke: daß Phil sich vielleicht nur für mich entschieden hatte, weil er glaubte, daß ich seinesgleichen war.
Aber diesmal waren es nicht Gewissensbisse, die mich erschütterten, im Gegenteil, froh war ich, daß ich ihn belogen hatte! Und nie, nie sollte er es anders erfahren! Sterben würde ich vor Scham, wenn er die Wahrheit erfuhr!
Aber sollte ich mir jetzt, da das Paradies offen vor mir lag, über solche Dinge Gedanken machen? War das Leben, dieses mein Leben, nicht ein einziger Traum?
Als ich Phil am nächsten Abend wiedersah, verabredeten wir, daß wir, wenn alles gut ging, schon zu Frühlingsbeginn heiraten wollten. Bis dahin würde er genug Geld auf der Bank haben, um den ersten schweren Aufgaben gewachsen zu sein – und bis dahin sollte ich auch weiter arbeiten. Und sparen würden wir, sparen! Heiliger Himmel, wir wußten ja, um was es ging! Und arbeiten! Er, um einen weiteren Schritt vorwärtszukommen, ich, um, wenn irgend möglich, noch eine Gehaltserhöhung zu erlangen.
Soll ich diese Tage beschreiben? Erzählen, was für ein unaussprechliches Glück es für mich war, jeden Abend mit Phil irgendwo in einem kleinen Lokal zu sitzen, ihn anzuschauen und ihm zuzuhören? Ach, alle, die jemals wirklich geliebt haben, werden mich verstehen, auch ohne daß ich viele Worte mache, und die andern – da spräche ich ja doch vor tauben Ohren …
Eines Abends, im Dezember, Phil war am Morgen geschäftlich nach New Jersey hinübergefahren, ging ich allein vom Büro nach Hause. Ich hatte eben die Untergrundbahn verlassen, kam an dem Kiosk vorbei. Selten kaufte ich mir Zeitungen, aber ich hatte ja einen leeren, einsamen Abend vor mir, und so kam ich auf den Gedanken, mir eine zu nehmen. Vielleicht war es auch der lustige kleine Junge an dem Zeitungsstand, der mich aus seinen großen Augen so ermunternd ansah – ich weiß es nicht. Und obwohl ich gar nicht wirklich neugierig war, faltete ich nach guter New-Yorker Art schon im Gehen das Blatt auf, überflog die Überschriften.
An einer Schlagzeile blieb mein Blick hängen.
»Der Schuß auf Burke Lanahan aufgeklärt!«
Darunter zwei Bilder, nicht interessanter, nicht merkwürdiger als sonst die unzähligen Bilder der täglichen New-Yorker Skandalchronik.
Aber nein, halt – dieser Mann – irgend etwas in seinem Gesicht kam mir bekannt vor! Diesem Menschen war ich schon einmal in meinem Leben begegnet.
Plötzlich erinnerte ich mich. Im Geist sah ich die ganze Szene vor mir, Dunkelheit, die Trümmer des entgleisten Zuges, eine lange Reihe Verletzter, eine Fackel, die ihr blutiges Licht auf uns warf. Ja, dies war der Mann, der mich Mona genannt hatte, dieser Mann mit dem plumpen, aufgedunsenen Gesicht und mit den allzu weichen, frauenhaften Händen. Keine Täuschung war möglich!
Mein Blick schweifte zu dem anderen Bild hinüber, und im selben Augenblick fühlte ich, daß ich einer Ohnmacht nahe war.
»Mona Carruthers, Lanahans Lebensgefährtin«, stand unter dem Bild.
Dieses Gesicht! So ähnlich war es dem meinen, so unglaublich ähnlich! –
Aber nein, das war doch unmöglich! Großer Gott, es konnte, es durfte nicht – meine Mutter sein!
Leute blieben stehen, starrten mich an. Hastig faltete ich das Blatt zusammen, ging weiter. Ein paar Schritte, dann bog ich rechts ein, lief geradezu, bis ich den Park erreicht hatte. Suchte eine Bank. Hier war ich allein, brauchte an dem kalten Spätherbstabend nicht zu befürchten, daß jemand sich zu mir setzen würde.
Mit zitternden Händen entfaltete ich das Blatt von neuem.
Und als ich es zehn Minuten später in meine Tasche schob, konnte ich nicht mehr zweifeln.
Diese unglückliche Frau, die ihren Lebensgefährten, ihren Quälgeist, zuletzt in der Verzweiflung angeschossen hatte, konnte nur meine Mutter sein. Der Bericht nannte sie zwar Mona Carruthers und erwähnte nur, daß sie Sängerin in allerlei Nachtlokalen zweiten Ranges gewesen sei, aber in einem Interview, das ein Reporter des Blattes mit ihr gehabt hatte, hatte sie selbst gesagt, daß sie aus Georgia stammte. Näheres hatte sie allerdings nicht erzählen wollen.
»Die Polizei hat auf die Verhaftung verzichtet, weil Lanahan bei seinem ersten Verhör im Krankenhaus erklärte, daß die Carruthers nur mit einer Waffe, die ihm gehörte, gespielt habe. Trotzdem ist es unzweifelhaft und durch Zeugen belegt, daß dem seltsamen Unfall eine wilde Szene zwischen den beiden vorausging. Die Carruthers soll übrigens schwer tuberkulös sein und nur noch kurze Zeit zu leben haben.«
Ich weiß nicht, warum ich an jenem Abend nicht den Mut hatte, nach Hause zu gehen. Bis lange nach Mitternacht schlenderte ich durch die Straßen, suchte mir einzureden, daß mich das alles gar nichts anginge, daß ich ruhig weiterleben könnte, als ob mir dieses Blatt nicht zufällig in die Hände gefallen wäre. War es denn wirklich meine Mutter? Und wenn ja – war ich ihr Dank schuldig? Hatte sie mich nicht bedenkenlos verlassen, als sie damals jenem Fremden gefolgt war? Und dann, sie war es eben nicht! Konnte nicht auch eine andere Frau Mona heißen und aus Georgia stammen? Nur eine einzige Angst beherrschte mich: Phil sollte diese beiden Bilder nicht sehen, sollte die Ähnlichkeit dieser Frau mit mir nicht bemerken.
Aber was ich mir auch einzureden suchte, ich konnte doch keinen Schlaf finden. Lange vor Tagesanbruch stand ich wieder auf, lief auf die Straße hinunter, um mir eine Morgenzeitung zu holen. Dann ging ich in ein kleines Cafe, das um diese Zeit schon offenhielt, las fieberhaft. Aber das Morgenblatt enthielt kaum mehr als die Abendzeitung. Nur war die Adresse jener Mrs. Carruthers erwähnt.
An diesem Morgen war ich die erste in unserem Laden, aber den Tag über blieb ich so zerstreut und gedankenlos, daß meine Kollegen mehrmals den Kopf über mich schüttelten. Und als schließlich geschlossen wurde und ich nach Hause ging – Phil erwartete ich ja erst in einigen Tagen zurück – entdeckte ich zu meiner Überraschung, daß ich in der verkehrten Richtung ging. Gegen meinen eigenen bewußten Willen war ich auf dem Wege nach jenem Stadtteil, in dem Mona Carruthers wohnte.
Umkehren? Aufgeben?
Nein: ich wußte plötzlich, daß ich diesen Weg gehen mußte. Ich würde erst wieder Ruhe finden, wenn das hinter mir lag.
* * *