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Es ist eine alte, alte Geschichte, die ich euch erzählen will. Sie selbst, Mademoiselle, ist längst gestorben und ruht unter kühlem, grünem Rasen aus von ihrem langen, bewegten Leben.
Bin jetzt ja selbst schon eine alte Frau geworden, und sie war Greisin, als ich bei ihr französische Stunde nahm und gerade so ein vergnügtes Backfischlein war, wie ihr wahrscheinlich auch seid, meine lieben, jugendlichen Leserinnen, das gerade so wie ihr auch allerlei Nützliches und Schönes fürs Leben lernen sollte. Nur daß meinen lieben Eltern damals das Wie und das Wo nicht so leicht gemacht war, wie den eurigen heutzutage.
Etwa um das Jahr 1850 gab es in dem kleinen, märkischen Landstädtchen, in welchem ich geboren bin, weder eine höhere Töchterschule noch studierte Lehrer, und eine »Gouvernante im Hause« war höchstens ein Begriff, ein erstaunliches Etwas, von dem der eine oder andere wohl schon mal gehört, es aber noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Da mußte denn der Herr Pastor mit seinen Kenntnissen für das »Höhere« aushelfen, als da waren: Religion, Geschichte und deutsche Aufsätze. Lesen, Schreiben und Rechnen hatten wir bei einem »Jungenslehrer«, wie wir die Herren von der Knabenschule respektwidrig nannten, und Sprachen, ja, von den Sprachen lernte man damals nur Französisch.
Ihr rümpft gewiß euer Näschen über diesen einfachen Stundenplan, nicht wahr, und denkt, daß wir recht dumm gewesen sein müssen. Richtig ist es ja, daß wir vieles gar nicht lernten, was die Großen unter euch schon wieder vergessen haben, und daß wir von Physik, Ästhetik, Botanik usw. kaum den Namen kannten. Aber dafür konnten wir mancherlei, von dem die Großstädterinnen wieder oft keine Ahnung haben, und was doch auch nicht zu verachten ist, z. B. auf Bäume klettern, wenn Kirschen, Birnen und Apfel reif sind, zur Zeit der Heuernte mit auf die Wiese fahren, uns auf den ausgebreiteten, duftenden Schwaden lagern und die vielen Lerchen singen hören, die zum blauen Himmel aufsteigen. Oder auch helfen, das Heu zusammenzuharken und dann – wenn den Leuten das Nachmittags-Vesperbrot von unserer Köchin gebracht ward – im Schatten der Weiden niedersitzen und den Inhalt des Körbchens verzehren, welches unser liebes Mütterchen zu Hause stets besonders für uns gefüllt und in das sie sicher irgend etwas Extragutes als Überraschung mit eingepackt hatte.
Im Winter machten wir Schneemänner und sausten auf unseren kleinen Handschlitten die beschneiten Hügel hinab trotz des besten Jungen. Im Walde kannten wir jeden Baum, jeden Vogel und den Namen jeder Blume auf Feld und Flur, waren auf unserem Hof junge Hühner oder Enten ausgebrütet, fütterten wir sie und freuten uns, wenn die Kükel – wie wir sie alle kurzweg nannten – schnell zahm wurden, uns kannten, aus unseren Händen pickten, uns entgegenliefen, mit großem Geschrei auf unseren Schoß sprangen und sich die besten Plätze streitig machten. Junge Lämmer, Ziegen, Hunde und Katzen waren unsere Spielgefährten, und wir verstanden uns gegenseitig sehr gut, ihr Meckern, Bellen und Miauen übersetzten wir gar leicht in unsere Sprache.
Das lernte sich freilich auch bedeutend leichter als die französische Sprache mit all ihren Regeln und Vokabeln, welche die gute, alte Mademoiselle sich redlich bemühte uns einzutrichtern. Sie war zu jener längstverflossenen Zeit in unserem Städtchen die einzige, welche Französisch sprechen konnte. Und ein sehr reines Französisch sogar, da sie eine geborene Pariserin war.
Leider belohnten wir ihre Mühe, uns die eleganten Feinheiten der damaligen Weltsprache zu lehren, nicht mit der gleichen Mühe beim Lernen. Wenn wir überhaupt etwas profitierten, so war es nur, weil sie so köstliche, alte Bücher hatte mit goldgepreßten Schnörkeln auf den verblichenen Lederdecken, und so drolligen steifen Bildern, und so rührenden Liebesgeschichten von Schäfern und Schäferinnen. Diese benutzte sie statt einer Grammatik, welche weder sie noch wir besaßen, und das erschien uns so vergnüglich. Und die traurigen Schicksale der romantischen Hirten und Hirtinnen interessierten uns immer aufs neue.
Wie Mademoiselle eigentlich von Paris bis zu uns in den fernen Osten gekommen war, wußte niemand. Niemals sprach sie von ihrer Vergangenheit. Ja, außer der Behörde wußte vielleicht sogar niemand ihren Namen. Sie hieß eben Mademoiselle – das war genug. Keiner auch hätte genau sagen können, seit wann sie in unserer kleinen Stadt wohnte. Manches Jahrzehnt schon mußte es sein. Und da ihr Alter etwa der Zeit entsprach, nahm man stillschweigend an, daß sie einst mit jenen Scharen unglücklicher Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sei, welche die große französische Revolution zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus und Heimat vertrieb.
Solange wir denken konnten, bewohnte sie ein einfaches Stübchen in dem kleinen Hinterhause des großen Gasthofes am Markt, dessen Fenster auf ein stilles Gäßchen hinausging. Ein großer, alter Birnbaum war die einzige Schönheit dieses abgelegenen Winkels, sowohl wenn im Frühling zarter Blütenschnee seine aufstrebenden Äste schmückte, als auch wenn später der Hochsommer sein grünes Laub dunkelte, seine Früchte mählich reifte oder noch später der Wind in den vom Herbstreif rot und golden gefärbten Blättern wirbelte und sie lustig tanzen ließ.
Mademoiselle war sehr arm, deshalb hatte sie wohl diese mehr als bescheidene Wohnung inne, aber sie hielt sich nicht zu den armen Leuten, in deren Nähe sie wohnte. Ein eigener Zug von Vornehmheit lag in dem welken, alten Gesichtchen, in der zurückhaltenden Würde ihrer Bewegungen. Selbst der ärmliche Hausrat ihres Stübchens sah in ihrer Gegenwart apart und besonders aus, obgleich der einzige Schmuck einige kleine Silhouettenbildchen an der Wand neben dem Spiegel waren, unter welchem auf der wackeligen Kommode ein altmodisches, buntes Potpourribüchschen stand und ihre wenigen Bücher lagen. Vor einem Heiligenbild in der Ecke stand stets eine Vase mit weißen Lilien, welche im Sommer in frischen Blüten aufgestellt, im Winter von ihr selbst aus Papier verfertigt wurden. Alles war anders an ihr wie an anderen, auch ihre Sprache, ihre Kleidung.
Trotz ihres langjährigen Lebens in Deutschland konnte sie sich in unserer Landessprache nur unvollkommen und gebrochen verständlich machen, trotz ihres hohen Alters war sie der Mode ihrer Jugend treu geblieben. Sie trug ihr graues Haar noch immer hoch toupiert in kleinen Löckchen, auf deren oberster Spitze ein kleines, bänderreiches Häubchen thronte. Ein Reifrock – zu meiner Jugendzeit etwas Unerhörtes – rundete ihre hagere Figur und spannte die Falten ihres dürftigen Kleides.
Wenn wir zu ihr zur Stunde kamen, bedeckten selbstfilierte seidene Halbhandschuhe die arbeitsrauh gewordenen Hände, welche graziös einen Fächer hielten. Auf spitzen kleinen Stöckelschuhen, deren Anfertigung unserem biederen Schuster nicht wenig Mühe verursachen mochte, kam sie uns zierlich entgegengetrippelt. Die arme, alte Dame! Ich sehe noch immer das milde, gütige Lächeln, mit dem sie uns empfing, höre noch immer den freundlichen Willkommensgruß, den sie uns bot: » Soyez les bien venues, mes jeunes dames« – den sanften Klang ihrer leisen Stimme, und glaube noch immer, daß sie uns Kinder liebhatte – nach ihrer Art.
Aber ihre Art war eben nicht unsere Art, und daher kam es, daß wir dummen Dinger zwar recht gern zu ihr gingen, aber keine von uns sich je die Mühe gab, etwas Sonnenschein in dies einsame, freudlose Dasein zu bringen. Einsam im wahrsten Sinne des Wortes. Von den Ungebildeten und den Armen hielt sie sich mit einer Ängstlichkeit fern, die fast Grauen war, obgleich sie hilfreich den Notleidenden beistand, soweit – ja oft mehr – als es die Knappheit ihrer eigenen Mittel gestattete. Und die Teilnahme der Gebildeten und Höherstehenden hatte sie noch jedesmal durch die herablassende Art ihrer Zurückhaltung verscherzt, mit welcher sie jedem Annäherungsversuch auswich. Von steifer, aber tadelloser Höflichkeit zu jedermann, blieb sie doch stets ablehnend und auf ihrer Hut.
Da niemand sie je anders gekannt hatte, war man daran gewöhnt und ließ sie gewähren. Nur wir Kinder gewöhnten uns nicht daran; trotzdem war uns das Komische ihrer äußeren Erscheinung nie lächerlich – wir empfanden stets eine leise Scheu vor ihr und waren überzeugt, daß sie eine »Vornehme« sei. Und diese Überzeugung wurde zur felsenfesten Gewißheit, als die Tochter eines adeligen Majors, welcher pensioniert worden war und sich in unser Städtchen zurückgezogen hatte, an unseren französischen Stunden teilnahm.
Mademoiselle hatte nämlich alle Zuneigung ihres Herzens, auf die menschliche Freunde oder gar Verwandte nie Anspruch machten, ihren Katzen zugewendet. Sieben waren es mit der Zeit geworden, denn wo sie ein krankes, halb verhungertes oder erfrorenes Kätzchen fand, nahm sie es mit sich, pflegte es gesund und teilte ihre eigenen spärlichen Mahlzeiten mit ihm. Ja, wir wußten wohl, daß – wenn einmal wenig zu essen da war, der Vorratsschrank leer und auch Geld, um etwas zu kaufen, fehlte – Mademoiselle lieber selbst hungerte, als ihre Katzen und Kätzchen darben ließ.
Dafür liebten die Tiere, deren leise, zierliche Bewegungen so sehr mit ihrer eigenen zierlichen Art und Weise übereinstimmten, ihre gütige Herrin wahrhaft menschlich. Auf Schritt und Tritt folgten sie ihr, strichen und schnurrten leise um ihr Knie, wenn sie sich zur Stunde niedersetzte, sprangen ihr auch wohl auf den Schoß, ringelten die Schwänze und miauten höhnisch – wie es uns vorkam – wenn wir Schülerinnen allzu unglücklich in der Wahl unserer Vokabeln waren.
An dem Tage jedoch, an welchem sie zum erstenmal Anna v. D. mit uns erwartete, sperrte sie die armen Tiere unbarmherzig unter den großen Waschkorb, der umgestülpt auf ihrem Kleiderschrank stand. Natürlich vollführten diese einen greulichen Lärm in ihrem ungewohnten Gefängnis, Mademoiselle aber blieb ungerührt.
Noch ein wenig würdevoller als sonst trat sie uns entgegen, begrüßte den neuen Gast mit einem wohlgesetzten Kompliment und saß dann still und lächelnd nieder, als höre sie das jämmerliche Mauzen und Miauen gar nicht. Höchstens bewegte sie den großen Fächer etwas schneller als sonst.
Diese ungewöhnliche Grausamkeit gegen ihre vierbeinigen Lieblinge machte uns natürlich stutzig, wir blickten uns um und entdeckten noch allerlei kleine Anordnungen, die dem würdigen Empfang unserer jungen adeligen Gefährtin galten. Über die eine Armlehne des Sofas war ein verschlossener, grüner Seidenschal gebreitet, um einen Riß in der Polsterung zu verdecken. In dem groben irdenen Krug ihres kleinen Waschtisches steckte der letzte Strauß weißer Papierlilien, während der vor dem Heiligenbildchen, der sonst doch nur an hohen katholischen Festtagen erneuert ward, in tadelloser Frische prangte. Zwei lange Pfauenfedern nickten vor dem blinden, kleinen Spiegel, und das wunderliche kleine Potpourribüchschen stand geöffnet da und strömte seinen süßen Duft aus. Dergleichen war uns zu Ehren noch nie geschehen.
Erstaunt sahen wir auf Mademoiselle. Siehe da, auch sich selbst hatte sie durch allerlei kleine Zutaten einen eleganteren Anstrich zu geben gesucht. Das amüsierte uns nicht wenig, und als wir gar zu bemerken glaubten, daß sie sich geschminkt habe, durchbrach helles Gelächter den unbewußten Zauber, den ihre fremde Art auf uns ausübte, und wie aus einem Munde riefen wir: » Oh Mademoiselle, Mademoiselle! vous avez mis du rouge er du poudre! oh comme vous êtes aristocrate.«
Nie werde ich die Veränderung vergessen, die bei diesem Wort in den Zügen der Greisin vor sich ging. Tödliche Blässe bedeckte plötzlich ihr Gesicht, die Augen schlossen sich, Angstschweiß trat auf ihre Stirn, und wie ohnmächtig sank sie in ihren Stuhl zurück, während die schmalen Lippen krampfhaft zitterten und nur undeutlich ein flehendes » De grace! de grace!« murmeln konnten.
Anfangs sahen wir dem wie von Schreck gelähmt zu, dann kam die Reue über unsere Missetat über uns, obgleich wir nicht recht wußten, worin dieselbe bestand. Flehend baten wir unsere liebe, alte Mademoiselle, uns zu verzeihen, umringten sie, knieten nieder, küßten ihr die Hände, und eine von uns war sogar so klug, ein Glas Wasser zu holen und ihr die Stirn zu netzen. Das brachte sie wieder ein wenig zu sich. Sie richtete sich auf, erkannte uns und versuchte uns beruhigend zuzulächeln. Aber die Lippen gehorchten ihr nicht, sie blieben verzerrt und die Augen starr.
Endlich fand sie die Kraft, zu sprechen: » Allez, allez-vousden! Je vous en prie … à demain, s'il vous plait!« So leise die Worte auch klangen – wir folgten ohne Zaudern. Beklommen und gedrückt gingen wir nach Hause.
Als ich dort meinem lieben Mütterchen gleich diesen Vorfall erzählte, nahm sie schnell und Tuch und ging zu der alten Dame, um zu sehen, ob sie ihr irgendwelchen Beistand leisten könne.
Leise eintretend, fand sie Mademoiselle jedoch anscheinend wieder ganz gesammelt, wenn auch etwas blaß und mit von Tränen geröteten Augen: » Oh ce n'est rien du tout … sein nicks, bonne dame, vraiment nicks. Ick morgen werd fern wie alle Tag – … comme tous les jours. Bitte pardon, daß abe unterbrocken die leçon … soll sein keinmal wieder!«
Das gutgemeinte Anerbieten, ihr einige Stärkungsmittel zu bringen, oder unseren lieben Vater, der Arzt war, zu ihr zu schicken, wies sie zwar freundlich und mit ausgesuchter Höflichkeit, aber doch fest zurück. Es war wie immer: so achtungsvoll auch das Mitleid war, das man ihr entgegenbrachte, es schien sie dennoch zu verletzen.
An jenem Tage aber ließ sich mein tapferes Mütterchen nicht irre machen in ihrer herzlichen Teilnahme und zog sich nicht gleich – wie sonst wohl – gekränkt zurück. Und sei es, daß unsere alte Sprachlehrerin heute weicher gestimmt war als sonst, weil sie sich doch innerlich krank fühlte, sei es, daß sie zum erstenmal nach so langer Zeit wieder den Reiz empfand, mit einem feinfühlenden, gebildeten weiblichen Wesen zu sprechen, während sie bis dahin – außer mit uns Kindern – höchstens mit ihren einfachen Wirtsleuten ab und zu ein gleichgültiges Wort wechselte, heute widerstand sie der sanften, anmutigen Dringlichkeit meiner Mutter nicht. Stockend erst begann sie zu sprechen, dann schneller und schneller schilderte sie, oft unter Schluchzen, alles, was sie in dieser langen, öden einsamen Zeit gelitten entschleierte ihrer bewegten Zuhörerin das ganze Geheimnis ihrer Herkunft, ihres Lebens, ihres Schmerzes.
Aglae de Saint Brissac war Mademoiselles wahrer Name, dessen aristokratischer Klang in seltsamem Widerspruch stand zu ihren jetzigen dürftigen Verhältnissen. Im zartesten Alter verwaist, war sie als dreijähriges Kind schon nach Paris in das Haus ihres gütigen Oheims, Jacques Cazotte Französischer Lyriker aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts., gekommen, dessen fürsorgliche Liebe sie den Verlust der Eltern verschmerzen ließ, ehe sie ihn noch recht begriffen hatte. Jacques Cazotte nahm eine sehr angesehene Stellung in der französischen Hauptstadt ein. Bevor er sich dort, noch jung, zur Ruhe setzte, war er Oberst-Kontrolleur des gesamten Seewesens. Frankreich besaß damals viele Inseln und Kolonien in Westindien, und Cazotte hatte oft Gelegenheit gehabt, in den Kämpfen gegen die Engländer seine Tapferkeit, seinen Mut, seine Umsicht und Tüchtigkeit zu beweisen. Deshalb ward er auch mit Lorbeeren und reichem Lohn von seinem König überhäuft, als er endlich des heißen Klimas wegen nach Paris zurückkehren mußte.
Begeisterter Jubel empfing den Sieger der Meere. Dieser aber, stillen Sinnes, entsagte freiwillig allen Ehren und auch seinem einträglichen Amt, zog sich ganz vom öffentlichen Leben zurück und vermählte sich mit einer jungen, schönen Frau. Als ihnen Gott nach einigen Jahren ein kleines Kind schenkte, ward dasselbe der Eltern ganzes Glück. Der Vater lebte von da an nur noch seiner Familie und dichtete dem Töchterchen zu Ehren jene heiteren, innigen Kinder-Schlummerlieder, welche noch heute in ganz Frankreich gesungen werden. Im Sonnenschein des häuslichen Glückes ward der einstige tapfere Kriegsmann ganz zum friedlichen Dichter umgewandelt.
Seine kleine Elisabeth mochte etwa zehn Jahre zählen und war ein sinniges, ernstes Kind geworden, als der Vater von der Doppelbeerdigung seines Schwagers und seiner Schwester, welche beide durch dieselbe Epidemie hinweggerafft worden, heimkehrte und die junge, vater- und mutterlose Kleine in ihren Arm legte, auf daß sie ihr von nun an Mutter und Schwester zugleich sein möge.
Von mitleidiger Zärtlichkeit erfüllt, nahm Elisabeth die kleine Aglae ans Herz und gelobte feierlich, ihre » petite maman« sein zu wollen, solange sie lebe. Und in sorglicher Gewissenhaftigkeit hielt sie Wort, Tag für Tag. Sie aß nie, ohne zu sehen, ob auch das kleine Schwesterchen versorgt sei; jede Süßigkeit, jede Näscherei, die sie selbst zum Geschenk erhielt, teilte sie mit ihr, ja selbst beim Spielen wählte sie nur solche Spiele, welche Aglae gefielen. Abends entkleidete sie sie selbst, legte sie in ihr Bettchen, faltete ihr die Händchen, lehrte sie beten und verließ sie nicht eher, als bis die Kleine fest entschlummert war. Oft sang sie sie mit ihrer süßen Stimme in den Schlaf, des Vaters Kinderlieder waren ihr die liebsten.
Als Aglae älter geworden und die Zeit zum Lernen gekommen war, lernte Elisabeth auch mit ihr und für sie. Denn sie selbst war reich begabt und ihr Geist früh entwickelt.
Der Vater, dessen einziges Kind und Herzensliebling sie geblieben war, hatte sich vom allerersten Jahre ihres Lebens an viel mit ihr beschäftigt. Es war dem Dichter, als ob ihm die besten Gedanken kämen, wenn die Wiege seines Kindes neben dem Arbeitstisch stand. Dann hatte er mit ihr gesprochen und später sich bald bemüht, sein Denken ihrer kindlichen Auffassung verständlich zu machen. Die großen, ernsthaften Augen fest auf den Vater gerichtet, hatte die Kleine allzeit versucht, ihn zu verstehen, und als sie heranwuchs, kannte sie keine größere Freude, als an seinen Arbeiten teilzunehmen – wenn auch nur als Sekretär. Von ihrer Hand wurden nach seinem Diktat all jene Dichtungen niedergeschrieben, die ihm zahlreiche Bewunderer und Freunde erwarben und sein Haus allzeit mit fröhlichen, feingebildeten, stets willkommenen Gästen füllten.
Aber wie groß auch der Kreis von Gelehrten und Dichtern sein mochte, der um den Hausherrn versammelt oft die tiefsinnigsten Fragen erörterte, immer durfte Elisabeth neben dem Stuhl des von ihr über alles geliebten Vaters stehen, seine Hand in der ihren halten und den klugen Worten ringsum lauschen.
Jahre vergingen. Wie eine Blume war Aglae in lauter Glück und Sonnenschein erblüht. Von allen verhätschelt, ward sie trotz ihrer sechzehn Jahre wie ein Kind behandelt, stets bereit zu Scherz und Schelmerei.
Elisabeth dagegen, zu seltener Schönheit gereift, war ernst und zurückhaltend geblieben. Die Freunde des Vaters erkannten sie als geistig ebenbürtig an und bewunderten die Entwicklung ihrer reichen Begabung nicht minder, als die sich immer mehr entfaltende sinnige Lieblichkeit ihrer äußeren Erscheinung.
Aglae schwärmte für Elisabeth, sie war ihr das Ideal alles Reinen und Hohen, und sie liebte ihre petite maman, wie sie dieselbe noch oft im Scherz nannte, mit der ganzen Zärtlichkeit ihres kindlichen Herzens, das daneben freilich auch noch einen großen Schatz von Zuneigung für den immer heiteren Oheim, die stets gütige Tante barg.
Wie oft, ach wie oft hat sie sich später in ihren Träumen dieses glücklichen Familienlebens erinnert, des vornehmen Reichtums, des prächtigen Hauses ihrer Verwandten, welches liebenswürdigste Gastlichkeit täglich mit immer gern gesehenen Gästen füllte!
Trotzdem es in Paris lag, war es doch von einem großen Park umgeben, dessen Heckengänge nach der damaligen Mode zu schnurgeraden Wänden geschoren waren, zwischen dessen Büschen steinerne Statuen schimmerten und auf dessen Rasenrundells Taxussträuche, zu allerlei possierlichen Tiergestalten verschnitten, gehalten wurden. In seinem klaren, kleinen Weiher zogen weiße Schwäne auf und ab. Reifrock und hochtoupierte Haarfrisuren, in denen aufrechtstehende Straußenfedern steckten, schmückten die schönen Damen, die zwischen den steifen grünen Wänden auf hohen Stöckelschuhen zierlich einhertrippelten. Puder und Schminke deckten Haut und Haar, und schwarze Schönpflästerchen waren kokett auf Stirn und Wangen geklebt.
Mit nicht minder übertriebener Kunst und Sorgfalt hatten die Herren sich geputzt. Lockenperücken kräuselten sich auf ihren Häuptern, reich gefältelte, weiße Jabots fielen aus den vorn geöffneten Galaröcken von violettem oder purpurnem Samt. Breite, kostbare Spitzenmanschetten verhüllten zur Hälfte die weibisch gepflegten Hände. Kleine silberne Galanteriedegen hingen an ihrer Hüfte herab, und lange seidene Strümpfe vervollständigten das reiche Kostüm. Ein buntfarbiges Bild fürwahr! Und ob die Sonne mit rötlichem Abendschimmer die blühenden Bäume, die wehenden Wipfel über den wandelnden Paaren vergoldete, oder ob diese im bläulichen Mondenschimmer zu plaudernden Gruppen niedersaßen und Scherz und Gelächter von ihren Lippen ertönte: Immer erschien innerhalb dieser Mauern alles friedlich und glücklich.
Zu spät erfuhr das junge Mädchen, daß es außerhalb derselben anders war, daß es außerhalb begonnen hatte, im ganzen Lande zu gären und zu grollen.
Seit langen Jahren hatten Hunger, Unwissenheit und Elend aller Art das niedere Volk geistig und körperlich heruntergebracht und dadurch die Kluft immer mehr erweitert, welche es von den durch Geburt oder Reichtum Bevorzugten trennte. Schon die fast unerschwinglichen Steuern hatten das Land arm gemacht, die Ludwig der Vierzehnte erheben ließ, um die Mittel zu seinen unaufhörlichen Kriegen zu erhalten, welche er führte, seinem Ehrgeiz und seiner Eroberungslust zu genügen. Aber da sein Ruhm auch auf seine Untertanen zurückstrahlte, opferten diese ihrem großen König, ihrem roi soleil, wie er sich in maßloser Eitelkeit nennen ließ, willig, was sein Nachfolger Ludwig der fünfzehnte nur mittelst großer Härte von ihnen eintreiben konnte.
Er war nicht minder prunkliebend, verschwenderisch und zum Wohlleben geneigt wie sein berühmter Urgroßvater, doch, schwächeren und verweichlichten Charakters, wußte er weder durch ruhmvolle Kriege noch durch weise Gesetze seine Pflichten gegen das Reich zu erfüllen. Mit schmeichelnden Höflingen und niederen Schmarotzern verpraßte er das sauer erworbene Gut seines mehr und mehr verarmenden Volkes. Er tat nichts, Ackerbau und Viehzucht, die beiden natürlichen Ernährer jeder Bevölkerung, zu fördern und ergiebiger zu machen, nichts, um die allgemeine Bildung zu heben und dadurch wenigstens die geistigen Hilfsquellen zu vermehren.
Und die Herzoge, Grafen und Barone folgten seinem Beispiel und taten gleichfalls nichts, die Eingesessenen ihrer Güter, deren Wohlfahrt doch ihrer Sorge anvertraut war, diesem Elend, dieser dumpfen, traurigen Unwissenheit zu entreißen. In selbstsüchtiger Verblendung glaubten sie dieselben um so abhängiger von sich, je hilfloser sie wären, und vergaßen, daß »alle Schuld sich rächt auf Erden«, und ahnten nicht, daß das, was sie selbst an der Armut sündigten, einst würde heimgesucht werden an ihren Kindern und Kindeskindern.
Ludwig der Fünfzehnte starb noch in Frieden. Aber sein Nachfolger, der unglückliche Ludwig der Sechzehnte, wußte mit seinem Leben das Unrecht seiner Vorfahren büßen, an welchem er selbst keinerlei Teil hatte. Denn er war gütigen Herzens, mild und gerecht. Er hob die Leibeigenschaft innerhalb seiner Krongüter auf und arbeitete unablässig darauf hin, die Großen seines Reiches zu bewegen, ein Gleiches zu tun. Er schaffte die Folter ab und ließ keinen Angeklagten mehr in die Bastille werfen ohne Verhör und richterlichen Urteilsspruch, wie dies seine Vorgänger oft aus bloßer Laune getan. Auch lebte er für sich selbst sparsam und erhob nie persönliche Steuern.
Das waren für die damalige Zeit große Dinge, aber das verbitterte Volk war nicht mehr fähig, sie zu begreifen, an selbstlose Pflichttreue auf dem Throne zu glauben.
Als im Jahre 1789 eine Hungersnot ausbrach, Weiber und Kinder vor Erschöpfung und Entkräftung auf den Straßen niederfielen und starben, da kam die lang unterdrückte Empörung zum Ausbruch. Und je länger sie unterdrückt gewesen, je schweigender Haß und Erbitterung hatten getragen werden müssen, desto furchtbarer machte sie nun sich Luft. Maßlos waren die Forderungen, mit welchen die Empörer vor den Thron traten, und ohne Grenzen ihre Wut, als dieselben nicht erfüllt wurden, nicht erfüllt werden konnten. »Gewalt« ward nun das Losungswort derer, die so lange geduldet. Grausamkeit erfüllte die, die so lange gelitten. Die vordem Sklaven gewesen, wurden nun Tyrannen. Das Blut der Lebenden sollte den Frevel der Toten sühnen.
Der König hatte die Gefahr zu spät erkannt. Und selbst, als einsichtsvolle Ratgeber ihn dann beschworen, die ihm anfangs noch treu ergebenen Soldaten wider die Aufständischen zu schicken, mit den Waffen in der Hand seine Königsrechte, seine Königsmacht sich zurückzuerobern – selbst da siegte noch das milde, gütige Herz Ludwigs des Sechzehnten über seine Einsicht. »Nein,« sprach er mit sanfter Festigkeit, »ich will nicht, daß das Blut auch nur eines der mir anvertrauten Bürger um meinetwillen fließe!«
Und doch floß Blut bereits in Strömen. Aus der Mitte des in seiner wilden Rachgier fast wahnsinnig werdenden Volkes hatte sich ein Tribunal gebildet, eine Art oberster Gerichtshof, um den grausamen Hinrichtungen wenigstens einen Schein von Rechtmäßigkeit zu verleihen. »Wohlfahrts-Ausschuß« nannte es sich, ein Name, der wie Hohn klang, da es doch nur dem Schrecken, welchen seine Urteilssprüche verbreiteten, die Dauer seiner Macht und seiner Gewalt verdankte.
Bald gab es nicht mehr Menschenhände genug zu all der Henkersarbeit, da wurde die Guillotine errichtet, jenes fürchterliche Fallbeil, das durch Maschinengeschwindigkeit sie ersetzte. A bas les aristocrates! Nieder mit den Aristokraten! Es genügte, gut oder gar reich gekleidet über die Straße zu gehen, um jenen gellenden Ruf zu erwecken und damit der Wut der Menge preisgegeben zu sein. Brave Männer, tugendhafte Frauen, unschuldige Kinder wurden zum Tode geschleppt um – ein Nichts. Der Schatten nur des Verdachtes, einem der verhaßten Aristokraten in Zuneigung oder Treue ergeben zu sein, war hinreichend zur Anklage vor dem Tribunal. Jede Verteidigung war wirkungslos, eine Freisprechung selten.
Eine lange Reihe elender, hölzerner Karren fuhr allmorgendlich die Verurteilten aus dem Gefängnis zur Guillotine. Arm und reich saß darauf, die höchstgestellt gewesenen Herren, die angesehensten Familien neben dem niedrigsten ihrer Diener.
Mit Grauen, aber ohne Furcht hatten die Bewohner des Hauses Cazotte das Wachsen der Volkswut und ihr gewaltiges Umsichgreifen beobachtet. Der Dichter selbst war ein Freund der Armen, der Wohltäter seiner Leute. Kein Bittender kam vergebens, kein Unglücklicher ging ungetröstet von seiner Tür. Selbst Elisabeth und Aglae hatte er schon im zartesten Alter gelehrt, Gutes zu tun mit ihren kleinen Händchen.
Deshalb fühlte er sich auch vollkommen sicher inmitten der ihn umgebenden Bevölkerung, während Tausende von aristokratischen Familien aus allen Teilen des Landes glaubten, sich nur durch Flucht über die Grenze der ihnen drohenden Gefahr entziehen zu können. Wie oft er und die Seinen auch durch das wüste Toben und Schreien in nächster Nähe erschreckt wurden, noch immer hatten sich die Arbeiter und die Armen seines Viertels schützend um die Tore seines Hauses geschart, wenn sich je einmal die blinde Verfolgungswut der trunkenen Menge wider ihn zu kehren drohte. Auch seine Diener waren ihm treu und zugetan.
Nur um den Anblick der täglich sich wiederholenden blutigen Greuel- und Gewaltszenen zu vermeiden, nicht aus Furcht, hielt er sich still und ruhig innerhalb seines Besitztums und erlaubte weder seiner Frau, noch den jungen Mädchen, sich auf die Straße zu wagen.
Wie auf einer geschützten Insel, welche des Ozeans wilde Wogen vergebens zürnend umbranden, verlebten der Dichter und seine Familie die Sommermonate des Jahres 1792 in ihrem stillen, grünen Park, über dessen Mauern und Hecken das Tosen des öffentlichen Lebens nur gedämpft hereinklang. Der heitere Schwarm früherer Gäste hatte sich freilich in Furcht verloren, und die Muse schwieg erschreckt, aber sie lebten doch glücklich und froh im Hochgefühl ihrer gegenseitigen Zuneigung und Liebe.
Aber als im August die Kunde zu ihnen drang, daß man gewagt hatte, die geheiligte Person des Königs, der Königin und ihrer Kinder ins Gefängnis zu bringen, da litt es Cazotte nicht mehr in seiner Verborgenheit. Denn er war treu monarchisch gesinnt und Ludwig dem Sechzehnten auch persönlich von ganzem Herzen ergeben. Umsonst flehte sein Weib ihn an, sich nicht Gefahren, nicht Wagnissen auszusetzen, deren Mißlingen sicherer Tod hieß. Er war ihm, als habe er eine heilige Pflicht versäumt, daß er so lange nur an sich und die Seinen gedacht, nur für sich und die Seinen gesorgt hatte. Undenkbar schien ihm, daß des Königs Leben nicht zu schützen, nicht zu retten sein solle, wenn die Besonnenen seiner Anhänger sich zusammentaten, freimütig und offen den öffentlichen Anklägern gegenübertraten. In diesem Sinne schrieb er an einen Bekannten, einen früheren Beamten des königlichen Hofes, wenige unverdächtige Zeilen nur, die er wie stets seiner Tochter Elisabeth in die Feder diktierte. Der Unglückliche ahnte nicht, daß er schon damit ihrer beiden verderben heraufbeschwor, denn kein Briefgeheimnis ward geachtet in jener mißtrauischen, gesetzlosen Zeit. Die Tatsache, mit einem früheren Diener oder Anhänger des entthronten Königs bekannt zu sein, war ja allein schon Hochverrat gegen die wilde Republik. Sobald dem Diktator Danton Danton, Marat und Robespierre waren nacheinander die jeweiligen Herrscher und obersten Richter jenes grausamen Wohlfahrtsausschusses. Alle drei starben desselben blutigen Todes, den sie so tausendfach andere hatten erleiden lassen, Danton und Robespierre durch die Guillotine, Marat durch Mörderhand. der Frevel hinterbracht ward, daß der Dichter Cazotte gewagt hatte, sein Mitgefühl für den unglücklichen Ludwig auszusprechen, – wenn auch nur in einem verschlossenen Privatbrief, – schickte derselbe noch in der Nacht seine Häscher aus, diesen »gefährlichen Feind des Volkes« zu verhaften. Ein Trupp Soldaten sollte sie begleiten und Haus und Park umstellen, um jeden etwaigen Fluchtversuch zu vereiteln.
Kolbenstöße donnerten gegen Mitternacht an das Tor der friedlichen Besitzung. »Aufgemacht! Im Namen der Republik!« klang es von rauhen Stimmen. Erschreckt lief die Dienerschaft zusammen. Besorgt um die Sicherheit ihres gütigen Herrn, überlegte sie flüsternd die Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Doch dieser selbst verhinderte sie an solch törichtem, nutzlosem Vorhaben.
Als er durch den rasselnden Lärm aus ruhigem Schlaf gestört ward, hatte er sich nur so viel Zeit genommen, wie er brauchte, um die nötigsten Kleidungsstücke überzuwerfen, dann war er schnell hinabgeeilt und öffnete nun den Soldaten im Bewußtsein seiner Unschuld ruhig die Tür. Besorgt und ängstlich waren ihm die Seinigen gefolgt.
»Auf Befehl des Wohlfahrtsausschusses fürs Volk erkläre ich dich für verhaftet, Bürger Cazotte!« sprach kalt und gewohnheitsmäßig der befehlhabende Sergeant.
»Wessen klagt man mich an?«
»Als hochverräterischer Aristokrat mit den Feinden der Republik zu konspirieren!«
Alle Hausgenossen erbleichten ob der Schwere der Anklage. A bas les aristocrates! Die Bezeichnung Aristokrat – sie wußten es – war die der blutigem Tode Geweihten. Nur Cazotte selbst blieb unbefangen. »Sollte das nicht ein Irrtum sein, Bürger Sergeant? Meine früheren Kriegstaten auf den Inseln können noch nicht vergessen sein, dort schlug ich mein Leben in die Schanze für den Ruhm und die Ehre Frankreichs. Und jetzt bin ich ein harmloser Dichter, der ganz zurückgezogen lebt, ein Freund der Armen und Bedrängten, wie meine Nachbarn mir bezeugen werden.« Und dabei blickte er freundlich auf die Menge, welche – durch den ungewöhnlichen Lärm zu so ungewöhnlicher Stunde angelockt – sich bis in die große Flurhalle gedrängt hatte und hier teils müßig gaffend, teils voll ernster Teilnahme dem Vorgang zuschaute. Als aber Jacques Cazottes auffordernder Blick sie traf, da schlugen die meisten scheu und furchtsam die Augen zu Boden. Kein einziger wagte, Zeugnis abzulegen für ihrer aller Wohltäter, so groß war die Furcht vor jener entsetzlichen Schreckensherrschaft.
Mit boshaftem Lächeln hatte der Sergeant diese Bewegung beobachtet. Dann zog er ein Papier aus der Tasche und sprach, dasselbe entfaltend, kurz: »Ein Irrtum ist ausgeschlossen, Bürger Cazotte! Du bist es, der diesen Brief geschrieben hat.«
»Nein, nein!« rief da in höchster Angst vorstürzend Elisabeth, den geliebten Vater mit ihren Armen umschlingend, als könne sie ihn schützen. »Ich schrieb den Brief – ich bin die Schuldige – mich müßt ihr verhaften – zweifelt nicht! Es ist meine Handschrift!«
Schmerzlich bewegt drückte Cazotte seine heldenmütige Tochter an sich. »Armes Kind,« flüsterte er leise, »du hast dich umsonst geopfert – nun trifft uns beide der schwere Schlag.«
Der gefühllose Häscher aber erwiderte, mit höhnischer Galanterie sich verbeugend: »Desto besser, schöne Bürgerin! Dann nehme ich zwei Gefangene mit mir. Eine glückliche Nacht fürwahr! Nicht immer gelingt mir doppelter Fang, und seltener noch liefert ein so reizendes Kind sich freiwillig mir aus.« Er griff dabei brutal nach ihren Händen, um ihr die Handschellen anzulegen.
»Bürger,« wehrte ihm der erschreckte Vater, nur mühsam seine äußere Fassung bewahrend. »Du sagst selbst, daß sie ein Kind ist. Gib sie frei! Sieh, es ist wahr, sie hat diesen Brief geschrieben, aber für mich, nach meinem Diktat. Begnüge dich daher mit meiner Verhaftung. Das Tribunal zieht sicher nicht die Buchstaben vor seinen Richterstuhl, sondern den Geist, der daraus spricht.«
»Spare deine hohen Worte und laß das vom Tribunal entscheiden. Ich habe nur seinen Befehl auszuführen, den Schreiber dieses Briefes zu verhaften. Seid ihr eurer zwei – mir gilt's gleich. Und nun vorwärts!«
Im Nu hatten die Soldaten Cazotte und seine Tochter gefesselt, sie in ihre Mitte genommen und das Haus verlassen. Sie gestatteten ihnen nicht, Abschied zu nehmen von der zu wortlosem Schreck erstarrten Mutter, von der schluchzenden Aglae, die jene angstvoll umklammert hielt. Ein stummer Blick auf ihre zurückbleibenden Lieben mußte dem Gatten, mußte der Tochter genügen, – dann wurden sie auf die dunkle Straße hinausgestoßen und weiter durch die schweigende, nächtliche Einsamkeit, bis sie die entlegene Conciergerie erreichten.
Das war das große, unerbittliche Gefängnis, hinter dessen düstere, steinerne Mauern alle Angeklagten in grausamer Unparteilichkeit geborgen wurden: Alte und Junge, Schuldige und Unschuldige, Verbrecher und Märtyrer. Ganze Familien aus den edelsten Geschlechtern erwarteten hier ergeben den sicheren Tod. Weißhaarige Greise saßen zusammengekauert auf den feuchten, ungesunden Steinfliesen, vor Kälte zitternd und geistig stumpf werdend durch Elend und Entbehrungen. Am Nötigsten selbst mußten die Eingekerkerten Mangel leiden, Nahrung, Trinkwasser, frische Wäsche, alles erhielten sie nur mangelhaft und selten. Weiß man doch, daß sogar die Königin Marie Antoinette in Lumpen und zerrissenen Schuhen vor ihren Richtern erscheinen mußte. Junge, unschuldige Kinder, deren ganzes Verbrechen darin bestand, daß sie einen mißliebigen aristokratischen Namen trugen, weinten vor Furcht, ohne ihre rauhen Wächter durch solche Tränen zum Mitleid bewegen zu können.
Viel Standhaftigkeit und edlen Mut bewiesen die Männer, und selbst schwache Frauen und Mädchen, verzärtelte Damen ertrugen mit sanfter Würde ihr hartes Los und die rohen Beschimpfungen, welche sie erfuhren. Und die meisten begrüßten den drohenden Tod als ersehnten Erlöser aus diesen Szenen herzzerreißenden Jammers, die täglich sich wiederholten, sobald der Henker kam, seine Opfer zu holen, und in launenhafter Willkür bald hier die Eltern von den Kindern riß, bald dort den Gatten von der verzweifelnden Gattin trennte, oder ganze Familien auf seine blutbespritzten Karren schleppen ließ, damit ihre Qual auf dem Schafott verlängert würde, wenn sie ihre Teuren einen nach dem anderen vor ihren Augen hinmorden sahen.
Als auch Cazotte und Elisabeth hier hereingebracht wurden, ließ der Anblick all der Leidensgefährten, welche schon so viel länger geduldet hatten, sie fast die Größe der Gefahr vergessen, in der sie schwebten. Im teilnahmvollen Anhören und gegenseitigen Mitteilen ihrer traurigen Schicksale vergingen ihnen Stunden, Tage, Wochen. – –
Angst und Verzweiflung hatten sich inzwischen Aglaes und der Mutter bemächtigt. Beide waren zwar fest von der Schuldlosigkeit der ihnen so grausam Entrissenen überzeugt, aber sie wußten gar nicht, daß es für jenes Tribunal der Willkür keiner Schuldbeweise bedurfte, wenn es verurteilen wollte. Die Mutter verzagte ganz. Das Gefühl ihrer Ohnmacht gegenüber dem Schicksal ihres Gatten und ihres Kindes machte sie willensschwach und ließ sie jede Hoffnung verlieren. Anders Aglae. In ihr entfaltete sich unter dem Druck der Angst, der Ahnung von etwas Schrecklichem alles, was an Mut und Entschlossenheit in ihrer Natur verborgen war. Sie, die bis dahin nichts als ein heiteres, sorgloses Kind gewesen, unberührt vom Ernst des Lebens, allzeit scherzbereit, gleich einem lieblichen Schmetterling von einer Freude zur anderen flatternd; sie, der verzärtelte Liebling aller – sie ward in diesen wenigen Tagen zu einem ernsten, erwachsenen Mädchen. Die hilflose Schwäche ihrer Tante erkennend, fühlte sie, daß – trotz ihrer sechzehn Jahre – sie diejenige sei, die handeln müsse, fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen, wo sie – so Gott ihr beistand – dem Onkel und den Seinen alle Liebe vergelten könne, die sie ihr, der armen, verlassenen Waise, allzeit erwiesen hatten.
Zuerst galt es zu versuchen, die Gefangenen – wenn auch nur aus der Ferne – einmal wiederzusehen. Der Anblick des süßen Gesichtchens ihrer lieben, lieben petite maman, ein inniger Blick aus den Augen ihres gütigen Oheims dünkte sie ein unaussprechlicher Gewinn.
An Pierre, dem alten, erprobten Diener der Familie Cazotte, hatte sie treuen Beistand und einen erfinderischen Helfer. In ihrer gewohnten vornehmen Kleidung sich überhaupt nur auf die Straße zu wagen, war gefährlich, und ganz unmöglich, sich darin bis zur Conciergerie vorzudrängen, ohne aufzufallen und sich verdächtig zu machen. Pierre war es, der Rat wußte. Von seiner auf dem Lande verheirateten Schwester verschaffte er sich die einfachen Arbeitskleider ihres Mannes und ihrer jüngsten Tochter. Die der letzteren wußte sich Aglae mit Hilfe der Kammerfrau ihrer Tante für ihre zierliche Gestalt passend zu machen, und nach wenigen Tagen schon stand sie eines Morgens als zwar ärmlich, aber sauber gekleidetes Landmädchen bereit, Pierre in die innere Stadt zu begleiten. Auch dieser hatte seine gewohnte Tracht abgelegt und dafür die Kleider seines Schwagers angezogen, so daß sie beide nun recht gut als Großvater und Enkelin passieren konnten, die etwa von der Provinz hereingekommen waren, um Einkäufe zu machen. Ein Körbchen, das Aglae am Arm trug, vervollständigte die Täuschung. In Wirklichkeit war dasselbe jedoch schon gefüllt. Das junge Mädchen hatte etwas Braten und Weißbrot hineingelegt und einiges an reiner Wäsche – in der unbestimmten Hoffnung, daß es ihr vielleicht gelingen könne, dies Körbchen Elisabeth oder dem Oheim unbemerkt zuzustecken.
Unbelästigt und unaufgehalten erreichte das ländliche Paar auch wirklich das Gefängnis, an dessen Eingangstor sich schon eine große Menge Menschen versammelt hatte. Denn bald war es zehn Uhr, die Zeit, zu welcher der Henker kam, diejenigen der Gefangenen abzuholen, an denen heute das Todesurteil vollstreckt werden sollte.
Aglae hielt sich zitternd an Pierres Arm. Zwar hatte er ihr vorher mitgeteilt, daß dies die einzige Stunde sei, zu welcher es einem und dem anderen gelingen möchte, mit in den Hof der Conciergerie zu dringen, aber als sie die rohe Lustigkeit in den Mienen der Umstehenden sah, die gräßlichen Späße hörte, mit welchen dieselben sich die Zeit vertrieben, bis der Augenblick des täglichen, traurigen – ihnen bereits gleichgültig gewordenen – Schauspiels gekommen war, da verging ihr fast der Mut. Bis in die Lippen erblaßte sie, als die schrecklichen Holzkarren herangerasselt kamen und plötzlich aus tausend rauhen Kehlen der wilde Ruf » à bas les aristocrates« wie Donner an ihr Ohr schlug.
Zum Glück bemerkte Pierre, daß sie anfing, die Blicke der Umstehenden auf sich zu ziehen, und sagte mit schneller Geistesgegenwart laut und sich zum Lachen zwingend: »Nun, kleine Bürgerin, wie gefällt dir der Spaß? Wir sind heute zum erstenmal dabei,« setzte er, wie gemütlich für die Umstehenden erklärend, hinzu, »wir sind vom Dorf und kommen nur selten mal bis in die Stadt. Aber sie wollte doch auch so gern die verdammten Aristokraten sehen. Na komm! Wollen mal probieren, ob wir mit hinein können.« Sie bei diesen Worten mit bedeutungsvollem Druck an das Gefährliche ihrer Lage erinnernd, faßte er Aglae fest an der Hand und zog sie mit fort auf den jetzt geöffneten Vorhof des Gefängnisses, aus dessen Tor man soeben die Verurteilten hinausführte.
Gleichgültig sah die wache zu, wie ein Teil des Volkes dafür hereinströmte. Sie war gewöhnt, den niederen Pöbel als Herren der Zeit zu betrachten, und – überdies – das Hereinkommen hatte ja keine Gefahr, wenn nur niemand hinauskam, der nicht hinaus sollte.
In Gruppen standen einzelne der unglücklichen Gefangenen in der weiten Halle zusammen, deren geöffnete Tür auf den Hof mündete. Von hier aus hatten sie den abfahrenden Gefährten den letzten Liebesgruß zugewinkt, ihnen tränenden Auges den letzten Segen mit auf den Todesweg gegeben. Manche sahen ihnen neidvoll nach und wünschten sich glühenden Herzens gleich baldige Erlösung aus der gegenwärtigen Qual.
Den Schein müßiger Neugier annehmend, drängten sich Pierre und seine Begleiterin durch die Menge und wendeten ihre Blicke so unbemerkt als möglich suchend bald hierhin, bald dorthin, in der Hoffnung, den Dichter und seine Tochter zu entdecken. Endlich sahen sie sie. Schwermütig lehnten beide an einem der grauen Steinpfeiler der Halle und sahen wortlos zum blauen Himmel empor, dessen Anblick ihnen ja nur während dieser kurzen Stunde täglich vergönnt ward. Wie blaß, wie leidend erschienen sie Aglae! Tränen traten in ihre Augen. »Kind, beherrsche dich,« flüsterte der alte, treue Diener mit leiser Stimme, die achtungsvollere Anrede »Mademoiselle« selbst im Flüstern als zu gefährlich vermeidend. Aber schon hatte das junge Mädchen seine Fassung wieder gewonnen. Mit bewunderungswürdiger Festigkeit hob sie den Kopf, lächelte und trällerte halblaut eines jener heiteren Kinderlieder, welche Cazotte selbst gedichtet, in Musik gesetzt und sie gelehrt hatte. Ihre Berechnung erwies sich als richtig. Diese sanfte, zärtliche Melodie, die wohl noch nie an solchem Ort des Schreckens ertönt war, berührte überraschend das Ohr Cazottes und Elisabeths und weckte sie dadurch aus ihren trüben Träumen. Erstaunt wendeten sie das Haupt; wer mochte hier so leichten Sinnes sein? Großer Gott, was sahen sie? Konnte das Aglae sein? In solcher Verkleidung? Nein, unmöglich, ja – doch! Und neben ihr – das war ja Pierre, der gute, alte, treue Pierre!
Zum Glück achtete von den wachthabenden Soldaten niemand auf den Dichter und sein Kind. Da beide weder eines großen öffentlichen Verbrechens angeklagt waren, noch von dem Pöbel der Straße sonderlich gehaßt wurden, waren sie für niemand von großem Interesse. So hatten sie unbemerkt Zeit, sich schweigend zu fassen, ihren Schreck, ihr Staunen zu verwinden. Dann versuchten sie, sich dem Paare langsam und unauffällig zu nähern. Es gelang. Fast streiften sie einander, aber diese wie zufällige Begegnung, ein einziger Blick in die treuen Augen mußte ihnen auch genügen – jedes Wort, jedes Zeichen des Erkennens wäre sicherer Tod gewesen für das tapfere Kind und den anhänglichen Alten.
Dieser selbst zog anscheinend scheltend und polternd seine Begleiterin bald mit sich fort und trat zu einem der wachthabenden Soldaten: »Bürger, Soldat!« rief er in absichtlich grobem und ländlichem Platt, doch so laut, daß Cazotte und seine Tochter ihn hören mußten und seine Meinung erfuhren, » ce coquin là hat mich angesprochen, ihm zu verkaufen, was meine Enkelin in ihrem Korb hat. Es ist etwas Wäsche, die wir meiner Tochter und ihrem Mann mitbringen sollten, und unser Mundvorrat für den heutigen Tag. Aber wenn er gut zahlen kann, mag er es haben; wenn auch die Aristokraten selbst nichts taugen, ihre Goldstücke sind gut und – er wird sie nicht lange mehr brauchen.« Es brach dem ehrlichen Alten fast das Herz, in solchem Ton von seinem verehrten gütigen Herrn sprechen zu müssen, aber wie konnte er es anders verhindern, daß man Verdacht schöpfe?
Da den Gefangenen bei ihrer Verhaftung selten Zeit gelassen ward, sich irgendwie zu versorgen, und sie oft an den nötigsten Sachen Mangel litten, war es nichts Ungewöhnliches, daß sie von zufälligen, ganz unverdächtigen Besuchern des Gefängnishofes dies oder das erhandeln durften. Und so kam auch Aglaes Körbchen in ihres Oheims Hände, nachdem der Befehlshaber der Wache sie selbst einem strengen Examen unterworfen, den Inhalt aufs genaueste durchsucht und nichts als Wäsche und wenige Lebensmittel darin gefunden hatte, keinerlei Zettel, Messer, Feilen oder sonst Verdächtiges. Danach durfte sie selbst mit einem Soldaten zurückgehen, der das Körbchen an Cazotte gab. Ein leises »Danke« von Elisabeth, die unmerkliche Berührung von der Hand ihres Onkels, als er einige Geldstücke in die ihrige legte, war Aglaes Lohn, der sie köstlich dünkte. Daß der Soldat die Hälfte des Geldes sich aneignete, merkte sie in ihrer aus Glück und Schmerz gemischten Aufregung kaum, was ihr von ihm ein halb verächtliches, halb erfreutes » bête« als Schmeichelei eintrug.
Solange das Einfahrtstor offen blieb, zögerten sie und Pierre mit einigen anderen im Hof, um den Ihrigen so lange wie möglich nahe zu sein. Dann ward der Befehl zum Räumen gegeben, die Ausgehenden wurden mit mißtrauischer Wachsamkeit gemustert und die schweren Torflügel dröhnend hinter ihnen geschlossen.
Tief auf atmete Aglae, aber noch getraute sie sich nicht, zu sprechen, ebensowenig der Alte. Schweigend schritten sie vorwärts. Nur auf Umwegen wagten sie, sich dem Cazotteschen Hause zu nähern. Absichtlich durchwanderten sie erst einige der ärmeren Arbeiterviertel, um sich hier – wo ihre Verkleidung noch hinpaßte – in der Menge zu verlieren. Endlich waren sie wieder unter dem eigenen, schützenden Dach angelangt, endlich lag Aglae wieder in den Armen ihrer geängstigten Tante. Immer von neuem mußte sie derselben jede Einzelheit ihres gewagten Ganges erzählen, bis ins kleinste ihr das Aussehen des Oheims und Elisabeths schildern. Ob sie sehr blaß, sehr traurig, sehr hoffnungslos erschienen? Ach, sie mußte das alles bejahen, und bald flossen ihre eigenen Tränen nicht minder reichlich als die der Tante, wie wenig hatte sie doch eigentlich erreicht! Auf dem Heimweg war sie innerlich noch so stolz gewesen über das erste Gelingen ihres Planes, hatte so viele Hoffnungen daran geknüpft von einem regelmäßigen – wenn auch stummen – Verkehr mit den teuren Gefangenen; ja, es war ihr nicht unmöglich erschienen, denselben nach und nach die Mittel zur Flucht zustecken zu können. Und nun? Wenn sie sich jetzt die hohen Mauern, die zahlreichen Wachen, die strengen Vorsichtsmaßregeln vergegenwärtigte, welche sie von den geliebten beiden trennte – dann sank ihr ganz der Mut. Aber nein, das durfte nicht sein! Energisch raffte sie sich auf. Müßige Trauer und lähmende Verzweiflung mochten wohl dem hilflosen Alter von Frau Cazotte ziemen, doch sie selbst? Sie war jung, sie mußte tatkräftig sein, wer sollte handeln, wenn nicht sie?
Sie beschloß also, vorläufig den Gang zur Conciergerie täglich zu wiederholen und dabei gut achtzugeben, ob sich irgendwo ein günstiger Zufall zu weiteren Schritten böte. Nur den zuverlässigen, alten Pierre ins Vertrauen ziehend, führte sie diesen Beschluß dann aus. Oft sagte sie selbst ihrer Tante nicht, ob und wohin sie ging, um derselben die nutzlose Aufregung zu ersparen. Denn nicht jedesmal gelang es ihr, bis zum Hof des Gefängnisses vorzudringen, und auch dann hatte sie nicht immer das Glück, den Oheim oder Elisabeth zu sehen, und noch viel, viel seltener konnte sie wieder ein gefülltes Körbchen in ihre Hände spielen.
Um die Wachen über ihr Häufiges wiederkommen zu täuschen, mußte sie mit erfinderischer List immer neue Verkleidungen ersinnen. Bald umschloß die saubere Tracht eines jungen Wäschermädchens ihre zierliche Gestalt, bald hüllte sie sich in Bettlerlumpen, strich das Haar wirr in die Stirn und färbte Gesicht und Hände mit dem Saft grüner Nußschalen braun bis zur Unkenntlichkeit. Ja, sie dünkte sich nicht zu gut, in bäuerliche Knabenkleider zu fahren und mit den Straßenjungen am Tore sich zu drängen.
Viel, viel Mut gehörte zu diesen Ausgängen für ein junges Mädchen, das so verzärtelt worden war und kaum jemals allein über den Park hinausgedurft hatte. Und allein mußte sie gehen, denn Pierres Begleitung hätte zu leicht Verdacht erwecken können, weil sein charakteristisches, runzelvolles Gesicht sich trotz des besten Willens schwerlich solcher täglich wechselnden Mummerei hätte anpassen lassen.
Am meisten Überwindung kostete Aglae die Berührung mit der Volksmenge, der Weg durch die Straßen, welche sie in glücklichen Tagen kaum je mit ihren Füßchen betreten, sondern meist in stattlicher Karosse durchfahren hatte, devot gegrüßt von den Anwohnern, deren Ehrfurcht dem Reichtum und der Stellung ihres Oheims galt. In ihrem ganzen Denken und Tun war sie Aristokratin. Obgleich man sie von Jugend auf gelehrt hatte, Mitleid, Barmherzigkeit und Wohltätigkeit gegen Arme zu üben, hatte man sie doch auch zugleich in den hochmütigen Anschauungen ihrer Standesgenossen der damaligen Zeit erzogen, nach welchen die Vornehmen und Reichen einer auch vor Gott bevorzugten Klasse angehörten, die schon durch ihre Geburt hoch über dem allgemeinen Volk stände, welches weder durch Vermehrung seiner Kenntnisse, noch durch steigenden Wohlstand je aus der Niedrigkeit seiner Gesinnung und seiner Sitten zu erheben sei. Daß der Heiland uns das Evangelium gebracht hat: »In der Reinheit des Herzens allein besteht die Gleichheit vor Gott« – das war in Frankreich jahrhundertelang vergessen worden, und für dies Vergessen war die Revolution die Strafe. Eine fürchterliche, eine grausame, doch nicht ungerechte Strafe. Nur daß sie mit den Schuldigen auch so viel Unschuldige traf.
Zu den Unschuldigen gehörte Aglae, und das Herz drohte ihr stillzustehen, wenn der wüste, betrunkene Pöbel mit gellendem Geschrei » à bas les aristocrates!« an ihr vorübereilte, dem Greveplatz zu, wo die schreckliche Guillotine stand, und sich dort kreischend um den besten Platz stritt, an den letzten Zuckungen ihrer Opfer sich zu weiden. A bas les aristocrates! In jedem Augenblick konnte das ja auch ihr gelten, konnte die Wut der Menge sich gegen sie richten. Selbst nachts, wenn sie im Hause in Sicherheit war, in dem traulich kleinen Mädchenzimmer, welches sie in langen, glücklichen Jahren mit Elisabeth geteilt, auf ihrem Lager lag und nach den schmerzlichen Aufregungen des Tages endlich unter Tränen eingeschlummert war – selbst dann hörte sie im Traum den drohenden, gellenden Ruf, richtete sich zitternd auf und preßte ihre kleinen Hände fest auf die Ohren, als könne sie damit die entsetzlichen Worte von sich abwehren.
War aber der Morgen gekommen, fand sie immer wieder die Kraft, ihr Grauen zu überwinden, mutig an ihr Liebeswerk zu gehen, bis dann der Tag erschien, der grausiger war als alle vorhergegangenen und auch ihr tapferes Herz bezwang, ihren starken Geist lähmte.
Wie sonst war sie ausgegangen, zu versuchen, ob es ihr gelingen möge, Elisabeth oder den Oheim in der Conciergerie zu sehen. Als sie in die Nähe des sogenannten Temple kam, in welchem Marie Antoinette gefangen gehalten ward, hörte sie schon von fern ungewöhnlich erregtes Lärmen, das sich zu nähern schien. Einen Auflauf vermutend, wie er damals nicht selten war, beschleunigte sie ihre Schritte, um nicht in das sich schnell verdichtende Gewühl hineingezogen zu werden. Doch es gelang ihr nicht mehr, eine stillere Nebenstraße zu erreichen, von allen Seiten strömten wilde Gestalten herbei. Sie konnte nichts tun, als in einen Torbogen schlüpfen und hier, dicht an die Mauer geschmiegt, hoffentlich unbemerkt, warten, bis der Weg wieder frei sein werde.
Es war ein frischer, klarer Septembermorgen, und die Sonne, die schon so oft über Gerechte und Ungerechte geschienen, stand auch heute strahlend am Himmel, obgleich ihr reines Gotteslicht durch den tückischen Mord der Prinzessin Lamballe, der zärtlichsten und aufrichtigsten Freundin der Königin, befleckt werden sollte.
Sie war die erste Dame des Hofes gewesen und hatte standhaft bei Marie Antoinette und deren Kindern ausgehalten, bis die Möglichkeit eines Fluchtversuches für alle sich bot. Man trennte sich unter Tränen in Versailles und hoffte in England sich wieder vereinen zu können. Der Prinzessin Lamballe war es geglückt, zu entkommen; als sie jedoch erfuhr, daß die Flucht der Königsfamilie mißlungen sei, verließ sie sofort wieder den sicheren Boden der Fremde und kehrte nach Frankreich zurück, um hochherzig das Schicksal ihrer königlichen Freunde zu teilen. Aber das ward ihr von dem machthabenden Pöbel nicht gestattet. Sie ward für sich allein eingekerkert und ihr sofort kurzer Prozeß gemacht. Auf keinerlei Verteidigung hörend, ließ man ihr nur die Wahl, zu sterben – oder zu schwören: Daß sie die »Freiheit und Gleichheit der Republik« liebe, daß sie das Königshaus hasse.
»Den ersten Schwur will ich gerne leisten,« erwiderte die Prinzessin mit Würde, »aber den zweiten muß ich verweigern, denn er würde ein Meineid sein, den Gott straft. Von ganzem Herzen liebe ich meine Königin, ihren erlauchten Gemahl und ihre Kinder!«
Vergebens winkten anwesende Freunde, daß sie schweigen solle. Sie war unfähig, ihr Leben mit einer Lüge zu erkaufen! Kaum hatte sie ausgesprochen, da winkte der Richter – ungerührt von ihrer Treue, der Henker sprang von rückwärts an sie heran und versetzte ihr einen Beilenhieb in den Nacken. Mit lautem Wehruf sank die Unglückliche zu Boden, da sauste ein zweiter Hieb und trennte ihr das schöne blondgelockte vom Rumpf, Und der Mörder ergriff es an seinen langen Locken, steckte es auf eine Pike und trug es hoch im Triumph vor seinen Mordgesellen her, die den blutigen Leichnam durch die Straßen schleiften, mit wildem Geheul den Weg zum Temple nehmend: »Zur Königin! Zur Königin! Sie soll sehen, wie es den Feinden der Republik ergeht!«
Das war der Lärm, von welchem Aglae geflüchtet war, und der Torbogen, in dem sie Zuflucht gefunden, war gerade den Gemächern Marie Antoinettes gegenüber, und so ward die Zitternde Zeuge der empörendsten aller Roheiten, welche an der beklagenswerten Herrscherin Frankreichs verübt worden sind. Sie sah, wie die königliche Frau gezwungen ward, an das vergitterte Fenster zu treten und in die starren Augen der toten Freundin zu blicken, deren Haupt der rohe Henker auf seiner Pike bis dicht zu ihr emporhob. –
Das war Aglaes letzter Gang zur Conciergerie gewesen – sie hatte sie nicht mehr erreicht. Als der grause Tumult sich gelegt, die wüsten Banden sich zerstreut – da war sie nur mechanisch aus ihrem Versteck geschlüpft und hatte kaum noch die Kraft besessen, sich nach Hause zu finden. Tag und Nacht stand das Erlebte vor ihrer Seele, und sobald sie versuchen wollte, ihren wieder auf die Straße zu setzen, wich sie schaudernd zurück; überall sah sie Blut auf den Steinen und das bleiche Haupt der Toten und den entweihten Leichnam.
Und mußte die Schreckensszene sie nicht lehren, das Schlimmste für ihre teuren Verwandten zu fürchten? Kaum wagte sie Pierre, wenn er von einem Gang in die innere Stadt zurückkam, zu fragen, ob er etwas von den Vorgängen im Wohlfahrtsausschuß erfahren, ob etwa schon ein Tag zur Verhandlung wider den Oheim, wider Elisabeth angesetzt sei? Und doch war der Alte ihre einzige, ihre letzte Zuflucht. Umsonst hatte Frau Cazotte gleich in den ersten Tagen nach der Verhaftung die Freunde ihres Gatten um Beistand für ihn angefleht. Ach, in jenen Tagen hatten die Angeklagten keine Freunde mehr! Die Angst um das eigene Leben machte eben jeden feige und übervorsichtig. Man mied selbst ihr Haus, das einst von lebensfrohen Gästen durchschwärmte Gebäude war einsam und öde geworden.
Mitte September wurden Herr Cazotte und seine Tochter vor das Tribunal geladen und des Hochverrats angeklagt auf Grund jenes kleinen, an seinen Freund gerichteten Briefes.
Vergebens beteuerte der Dichter seine Unschuld, bewies durch den Wortlaut des Schreibens, daß er offen und loyal in der Verteidigung seines Königs hatte zu Werke gehen wollen, flehte in feuriger, schwungvoller Rede wenigstens um Erbarmen für sein Kind. Vergebens – vergebens! In grausamer Unerbittlichkeit wurde der Tod über Vater und Tochter verhängt.
Am nächsten Tage schon sollten beide zu derselben Stunde unter der Guillotine sterben.
Und nichts wußten davon die beiden geängstigten Frauen zu Hause. Erst durch einen mit Bleistift gekritzelten Zettel von Herrn Cazotte erfuhren sie das Entsetzliche. Er bat sie, zu kommen, damit sie sich noch einmal lebend wiedersehen, noch einen letzten Abschied voneinander nehmen könnten. Mit Mühe hatte er die Erlaubnis zu dieser Zusammenkunft von seinen Wächtern erbeten.
Bis in ihr spätestes Alter hat Aglae nie an den Augenblick, in welchem sie das Schreiben erhielt, zurückdenken können, ohne daß sich ihr das Herz zusammenkrampfte vor Schmerz und Pein. Wie sie danach ihre leidende Tante auf die Botschaft vorbereitete, wie sie beide in heißem Gebet Gott anflehten, ihnen Kraft zu verleihen, daß sie den geliebten beiden die schwere Stunde durch ihre eigene Schwäche nicht noch schwerer machten, wie sie dann in das Gefängnis kamen und die Teuren wiedersahen, blaß und abgemagert, tieftraurig, aber ergeben! Wie sie einander in die Arme fielen und mit Schluchzen und Liebkosungen, mit Küssen und Tränen die allzu kurz bewilligte Zeit ausfüllten, das war ihr lebenslang nur ein schwerer, schwerer Traum, der ihr, Gott sei's gedankt, nie wieder zu voller Klarheit kam.
Am anderen Vormittag knieten Frau Cazotte und Aglae in tiefe Trauer gekleidet vor dem Altar der Hauskapelle. Die Uhr hatte soeben zehn Uhr geschlagen. Sie wußten, daß das die Zeit war, in welcher die Verurteilten zur Einrichtung abgeholt wurden. Ihre Gedanken begleiteten die Teuren bei jedem Schritt, aber sie hatten sich gelobt, während dieser schwersten Stunde, der Todesstunde, ihre Gedanken nur auf den Allmächtigen zu richten, in stillem Flehen für das Seelenheil derer zu beten, die eben jetzt durch das dunkle Tor in seinen Himmel einzogen.
Als das Glöcklein über ihnen elf helle Schläge tat, sanken sie sich weinend in die Arme. Nun war alles vorüber – nun durften sie ihre Toten betrauern.
Da – was war das? Geräusch am Portal? Wirres Durcheinander der Diener, welche eine stille Totenmesse auch soeben vereinte! Was konnte das bedeuten? Seltsame Schritte auf der Treppe – auf flog die Tür – und – herein traten – lebend Herr Cazotte und Elisabeth!
Ein jubelnder Freudenschrei entrang sich Aglaes Brust, Frau Cazotte sank überwältigt in ihres Gatten weitgeöffnete Arme, während die nachdrängende Dienerschaft die Hände ihres gütigen Herrn, das Kleid ihrer jungen Gebieterin küßten – alle das anscheinend Unmögliche wie ein Wunder anstaunend.
Und wie ein Wunder auch hatte es sich vollzogen. Schon hatten Vater und Tochter auf dem Schafott gestanden und die rohen Henkersknechte Hand an den ersteren gelegt, da war es gewesen, als ob Elisabeth erst jetzt die ganze furchtbare Wirklichkeit fasse, daß ihr Vater, ihr einzig geliebter Vater, vor ihren Augen sterben solle. Innerhalb der düsteren Gefängnismauern war es ihr nie so deutlich zum Bewußtsein gekommen, was es hieß: Tot sein, ganz tot, wie hier unter dem lachenden, blauen Septemberhimmel, welchen Jacques Cazotte, der Dichter, immer so geliebt hatte, und welchen er nun nie, nie wiedersehen sollte. Vollständig vergessend, daß sie binnen wenigen Minuten die Qual des gleichen grausamen Todes erleiden sollte, warf sie sich vor dem Henker auf die Knie und flehte in den eindringlichsten Worten, die ihre heiße Kindesliebe ihr eingab, um ihres Vaters Leben. Und siehe, war es die Selbstlosigkeit ihres angstvollen Flehens oder die reine Lieblichkeit ihrer Schönheit, welche durch die lange Haft zu fast überirdischer Zartheit geworden, ihr schwärmerisches, in Tränen schwimmendes Auge, ihr süßer Mund? Selbst der von grausamer, blutgieriger Neugier hergetriebene Pöbel empfand Rührung, und wie ein Ruf erscholl es plötzlich aus viel hundert rauhen Kehlen: »Leben! Leben! Sie sollen beide leben!«
Rasch hatte der Henker die Bande gelöst, welcher beider Arme gefesselt hielten, fragend sah er hinüber zu den anwesenden Richtern. Glitt auch über ihre harten, kalten Gesichter ein Zug der Bewegung? Ein zustimmendes Zeichen – und mit rauher Gutmütigkeit schob der sonst so Gefühllose die beiden Begnadigten vom Blutgerüst hinunter. »Geht, geht, ihr seid frei. – Ihr – Ihr – würdet mir wohl nicht die Hand geben, Mademoiselle?« setzte er nach einem Moment stockend hinzu. »Doch!« sagte Elisabeth sanft, ihre kleine schmale Hand furchtlos in seine große, braune Hand legend, »ich danke Euch, Freund, daß Ihr meinen Vater nicht getötet habt.«
»Gut, gut, Bürgerin,« war seine abwehrende, doch nicht unfreundliche Antwort gewesen, »aber nun geht nach Hause, hier oben weht solch milder Wind nicht lange.«
Wie Elisabeth und ihr Vater zu den Ihren zurückgekommen, wußten sie kaum. Dieselbe wüste, lärmende Volksmenge, die sie noch eben – auf dem Wege zur Guillotine – mit rohen Beschimpfungen überhäuft hatte, war gutmütig und teilnehmend vor ihnen zurückgewichen, so daß sie ungehindert und ohne Aufenthalt den schrecklichen Platz hatten verlassen können.
Nachdem der erste stürmische Wonnerausch des Wiedersehens sich gelegt, versammelten sich alle Angehörigen des Hauses, Familie und Dienerschaft, nochmals in der Kapelle, um dem allgütigen Gott Dankgebete darzubringen für seine gnädige Errettung der schon Totgeglaubten. Denn wer anders als er hatte die rechten Worte auf die Lippen der Tochter gelegt? wer anders als er den grausamen Sinn der Richter und Henker zum guten gelenkt?
Dann – zum erstenmal wieder nach so langer, schmerzensreicher Zeit – vereint im traulichen Wohnzimmer niedersitzend, begannen die Heimgekehrten ausführlich zu erzählen und zu berichten. Lebhaft schilderte Herr Cazotte, was sie empfunden, als sie Aglae und Pierre zum erstenmal im Hof ihres Gefängnisses erblickt und trotz ihrer Verkleidung bald erkannt hatten, welch ein Trost ihnen der bloße Anblick des lieben, tapferen Mädchens gewesen, wie sie teils gehofft, teils gefürchtet hätten, daß es ihr gelingen möge, wiederzukommen, und wie sie jedesmal gezittert hätten, daß sie sich verraten und in Gefahr bringen könne.
Freudigen Herzens hörte Aglae dem zu und fühlte sich reich belohnt für alle ausgestandene Angst und Qual, als Elisabeth sie küßte, sie ihre Heldin, ihre tapfere Kleine nannte, der ihre petite maman nie vergessen werde, was sie für sie getan.
Jacques Cazotte war im Glücksgefühl, dem Leben und den Seinen wiedergegeben zu sein, bald so fröhlich und sorglos wie früher und deshalb sehr erstaunt, als am Abend der alte Pierre eintrat und ihn allein zu sprechen wünschte. »Aber Alter,« rief er fast mißmutig, »mußt du mich gleich in den ersten Stunden meines Hierseins stören? Du hast ja inzwischen alles allein besorgt, warum nicht auch heute?«
»Ich möchte Ihnen gern Rechenschaft ablegen, Monsieur,« erwiderte ehrerbietig der alte Diener, »bitte, kommen Sie mit mir.«
Sein Ton war so ernst und dringend, daß sein Gebieter nicht länger zögerte. »Zürnt mir nicht, Monsieur,« sprach Pierre, sobald er sich mit ihm allein sah. »wird mir's doch schwer genug, was ich Euch zu sagen habe. Als Ihr an jenem Abend fortgeführt wurdet und ich schwacher Alter weder die Kraft noch die Macht besaß, Euch helfen zu können, da schwur ich mir selbst, wenigstens die Eurigen zu schützen und ihnen beizustehen, soweit ein armer Diener dies kann. Mein Leben, das ich mit Freuden für Euch geopfert hätte, sollte fortan Madame und Mademoiselle geweiht sein. Zwar wußte ich, daß deren Leben keine Gefahr drohe – wohl aber ihrem Wohlstand, ihrem Besitz. Denn Sie wissen ja auch, Monsieur, daß die, die jetzt die Gewalt haben, sich nicht damit begnügen, Schuldlose zu morden, sondern auch ihre Hinterbliebenen berauben, indem sie alles Eigentum, Haus und Hof der Verurteilten unter der Bezeichnung Nationaleigentum einziehen. An demselben bereichern sich dann einzelne, die mehr Schurken sind als ihre Genossen, indem sie es für einen Spottpreis an sich kaufen. Ein Gleiches hier fürchtend, habe ich – möge Monsieur mir nicht zürnen – alles verkauft und zu Geld gemacht, was ich ohne Aufsehen veräußern konnte, habe Erkundigungen eingezogen und Vorbereitungen getroffen zur Flucht für Madame und Mademoiselle, um sie selbst und alles, was ich zusammenraffen konnte, im Ausland in Sicherheit zu bringen. Denn sobald Monsieurs Tod bekannt geworden, würden die Sansculotten auch hier geplündert haben –.« Tränen verhinderten den Alten, weiterzusprechen.
In lebhafter Dankbarkeit ergriff Herr Cazotte seine Hand und drückte sie herzlich. »Du alter Getreuer! Nie will ich dir die Umsicht und Treue vergessen, die du in dieser schweren Zeit bewiesen, obgleich ja nun, Gott sei Dank, alles nicht nötig ist, da ich am Leben geblieben bin! wie konntest du denken, daß ich dir zürne?«
»Ach, Monsieur, es ist nicht deshalb allein,« sprach Pierre traurig weiter, »obgleich es mir schwer ward, alles auf meine eigene Verantwortung zu tun und ohne Madame zu fragen. Denn Madame dachte nur an Monsieur und war ganz verzweifelt und tat nichts als weinen und beten. Nein,« fuhr er mit zitternder Lippe fort, »daß ich mich erdreistete, Monsieur jetzt in der ersten Stunde des Wiedersehens abzurufen, das bitte ich einer Furcht zuzuschreiben, die mich inmitten aller Freude ergriffen hat, einer Ahnung, als ob der Kelch des Leides noch nicht ganz geleert sei. Auf meinen Knien bitte ich Sie, führen Sie aus, was ich geplant, raffen Sie Ihr Gold und Ihre Juwelen zusammen und benutzen Sie für sich und die Ihrigen die Pässe und den Reisewagen. Fliehen Sie! Brechen Sie noch in dieser Nacht auf! Ich bleibe vorläufig zurück und versuche, noch Ihr Haus, Ihren Garten zu verkaufen, und folge dann später, wohin Monsieur befiehlt. Ich kann das ohne Gefahr, ein armer Diener ist heutzutage – Gott sei's geklagt – in größerer Sicherheit als die Herren, die gehetzt sind wie das Wild des Waldes.«
Herr Cazotte erblaßte; das entsetzliche Schicksal, dem er erst eben entronnen, trat bei diesen Worten mit schreckhafter Deutlichkeit wieder vor seiner Seele. Doch sprach er gelassen, indem er freundlich den alten Diener aufhob: »Du meinst es gut, Pierre, aber ich hoffe, deiner Furcht liegt nur die Sorge für uns und nicht etwa etwas Wirkliches zugrunde?«
»Doch, Monsieur, doch! Scapin, der Geizhals, der Wucherer, ist es, der auf Ihre Besitzung spekuliert. Seit Ihrer Verhaftung ist er fast alle Tage hier vorübergegangen und hat unser Haus angesehen mit solchen Augen, o, als ob es ihm schon gehöre. Und man munkelt, daß er gleich nach Ihrer Verurteilung hingeeilt sei, dem Wohlfahrtsausschuß ein Gebot für dasselbe zu machen. O, Monsieur, die Habsucht ist ein zäher Feind, der seine Beute nicht so leicht fahren läßt. Wie bald kann der Schuft Scapin das Volk gegen Sie aufhetzen – Sie aufs neue verdächtigen – mir ist so angst, o, so angst!«
Verstört schritt Herr Cazotte im Gemach auf und ab. Er wußte nur zu gut, daß der Alte nicht übertrieb. Aber fliehen? Heimat und Vaterland auf immer verlassen? Er, der sich stets nach seinem geliebten Paris, den Fluren Frankreichs zurückgesehnt hatte, solange sein Dienst ihn in den Kolonien fesselte, obgleich er dort reich, geehrt und angesehen war, – er sollte nun als mittelloser Flüchtling von neuem in die Fremde – in das nebelige England – in die rauhen, unwirtlichen Gegenden Deutschlands? In bedrückter Unentschlossenheit blieb er stehen.
Da klopfte es leise an seine Tür. »Wer ist da?« – »Ich, Oheim,« ertönte ängstlich Aglaes Stimme, »die Tante läßt dich bitten, zu ihr zu kommen, Elisabeth scheint krank, sehr krank.« – »Ich komme!« Und sich zu Pierre wendend, flüsterte der Erschreckte hastig: »Ich muß jetzt fort. Laß dir deine Angst zu niemand merken. Von einer augenblicklichen Abreise kann, du siehst es, keine Rede sein. Erst muß mein Kind, meine Elisabeth gesunden. Ihr Leben ist mir kostbarer als das meine, als alle Schätze der Welt. Aber fahre in deinen Vorbereitungen, deinen Beobachtungen fort. Bestätigt sich dein Argwohn, dann wollen wir nicht zögern, deinen Rat zu befolgen. Mein Liebling wird sich inzwischen erholen.« – »Gott gebe es!« murmelte innig der alte Diener, seinem Herrn traurig nachblickend.
Als dieser das kleine, lauschige Zimmer betrat, welches die jungen Mädchen während ihrer ganzen sorglosen Jugendzeit zusammen bewohnt hatten, fand er Elisabeth auf ihrem Bett, ohne daß sie ihn erkannte. Gleich, als er vorhin die Seinen verlassen hatte, war sie matt und bleich geworden, sie hatte still dem stürmischen Jubel gewehrt, der immer von neuem in Aglae ausbrach, hatte still die Liebkosungen der Mutter nur geduldet. Dann war sie plötzlich mit einem Wehruf zusammengebrochen und lag nun fiebernd und ohne Bewußtsein da.
Die dunklen Augen starr zur Decke gerichtet, schien sie dort wie undeutliche Bilder die Schreckensszenen aber- und abermals zu sehen, welche sie in den letzten Wochen miterlebt hatte. Irre, wirre Worte kamen hastig und stoßweise über ihre trockenen, heißen Lippen. Bald waren es Gebete und milde sanfte Tröstungen, durch die sie ihren Leidensgefährten manche trübe Stunde in der Conciergerie erhellt haben mochte, bald die flehenden Angstrufe ihrer Seele, mit welchen sie heute den teuren Vater dem Tode abgerungen hatte. Der Mutter zerriß es das Herz, sie so zu hören, erschüttert und fassungslos saß der Vater zu den Füßen der Tochter, Aglae allein besaß die Geistesgegenwart, schnell zum Arzt zu schicken. Dieser beobachtete die Kranke ein Weilchen, mischte ihr kühlenden Trank, zuckte schweigend die Achseln und ging: Hier war die Seele krank und nicht der Körper – das überstieg die Grenzen seiner Kunst.
Langsam verstrich die Nacht, ohne daß sich Elisabeths Zustand zum Besseren wendete. Die fortgesetzte Selbstbeherrschung, welche sie während der vielen Wochen im Gefängnis unausgesetzt geübt hatte, um die Leiden ihres Vaters nicht dadurch zu vermehren, daß er auch sie leiden sah, – der lange Aufenthalt zwischen den feuchten, dumpfen Mauern ihres Gefängnisses, – die ungeheure Aufregung des letzten Tages schienen ihre Kräfte vollständig erschöpft zu haben. Ab und zu schlummerte sie wohl ein, aber nur, um nach einigen Minuten schon mit einem Schreckensschrei wieder in die Höhe zu fahren. Erst als die Mutter sich zu ihr setzte, die Arme um ihren Hals schlang und ihr Haupt wie schützend an die eigene Brust zog, erst da ward das geängstigte junge Mädchen ruhig. Aber ihre Augen blieben trotzdem wach, und ihr Geist konnte sich nicht loslösen von den Erinnerungen des Grausens.
So verging der folgende Tag und die folgende Nacht. Keines verließ die Kranke, die fortwährend ängstlich und klagend nach ihrem Vater rief, als solle ihr der abermals entrissen werden, den sie selbst sich doch erst erkämpft hatte. Am Abend des dritten Tages kam Pierre leise in das Krankenzimmer; er sah totenbleich aus und winkte – ohne ein Wort zu sprechen – seinem Gebieter.
Erstaunt, aber ohne Aufregung, folgte ihm dieser und – kam nicht wieder. Von dem Augenblick an verschlimmerte Elisabeths Zustand sich zusehends. Die fieberhafte Aufgeregtheit ward zu gänzlicher Erschöpfung, regungslos lag sie da mit geschlossenen Augen, nur leises, angstvolles Wimmern verriet, daß noch Leben in ihr war. Von Zeit zu Zeit machte sie einen schwachen Versuch, die Hände zu falten, aber selbst dazu reichten die Kräfte nicht mehr aus. »Soll ich mit dir beten, meine Elisabeth?« fragte Aglae, sich mit unterdrücktem Schluchzen über sie beugend. Keine Antwort, kein Zeichen, daß die Kranke sie verstanden, aber die Versuche des Händefaltens wiederholten sich.
Die Mutter saß wie gelähmt am Bett ihrer Tochter, zu viel war auf sie eingestürmt, sie konnte nicht mehr weinen, nicht mehr denken. Aglae wußte kaum, ob sie der Abwesenheit ihres Mannes sich bewußt war. Sie selbst ward durch das Ausbleiben des Onkels aufs äußerste erschreckt und von den bangsten Ahnungen gequält. Was konnte ihn, der sein einziges Kind von je so zärtlich geliebt, der jede Stunde ihres jungen Lebens mit ihr geteilt hatte – in seiner Arbeit wie in ihrem Spiel, der ihr in jener höchsten Pein sein Leben verdankte, wie er ihr einst das ihrige gegeben, was konnte ihn bewegen, dies Kind allein zu lassen in ihrer Todesstunde?
Ach, Aglaes schrecklichste Vermutungen wurden durch die noch schrecklichere Wirklichkeit übertroffen. Das Unerhörte, das Unglaubliche war geschehen: Jacques Cazotte, den der Wohlfahrtsausschuß vor drei Tagen erst begnadigt hatte, dessen einziges Verbrechen es war, seinen König zu lieben, auf den sein Vaterland stolz sein durfte als Dichter und als Held – der war von diesem selben Wohlfahrtsausschuß aufs neue verhaftet, angeklagt und verurteilt worden, ohne daß man ihm auch nur ein Wort zu seiner Verteidigung gestattete. Und in der Frühe des nächsten Morgens ward er durch dieselbe Guillotine, auf demselben Platze enthauptet, auf welchem man ihn drei Tage früher dem Leben zurückgeschenkt hatte, gerührt durch die Schönheit und das Flehen seines Kindes!
Ob Pierres Vermutung richtig war, daß der habgierige Scapin, der sein Auge auf das Cazottesche Haus geworfen, diese neue Anklage beantragt hatte? Ob es die harten Richter reute, jener Regung des Erbarmens nachgegeben zu haben? Wer weiß! Aber – wie dem auch sei – solange die Sonne die Erde bescheint, ist wohl Unmenschlicheres nie geschehen, als dieser Mord des Märtyrer-Dichters, den sie des Todes Qual zweimal erleiden ließen.
Elisabeth überlebte den geliebten Vater nicht. In der Stunde, in der sein Haupt fiel, neigte sie auch das ihre zum letzten Schlummer. Als sähe sie den Verklärten, streckte sie mit dem Ruf: »Vater, mein lieber Vater!« noch einmal die Arme aus und war dann auf immer mit ihm vereint. Vereint bei Gott. »Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das erste ist vergangen.«
Gebrochen sank die Mutter zusammen, und langsam umnachtete sich ihr Geist – für immer. Der Herr war barmherzig und nahm ihr die Erinnerung an alles, was geschehen. Ohne Wunsch, ohne Willen lebte sie von nun an dahin, nur wie ein Kind, dem das Gestern und das Morgen ein gleich leeres Blatt.
Arme Aglae, du zum zweitenmal Verwaiste!
Weinend kam der alte Pierre und brachte ihr einen kleinen Zettel, auf welchen ihr unglücklicher Oheim, bevor die Häscher ihn fortführten, unbemerkt ein paar Worte hatte kritzeln können: »Lebt alle wohl! Folgt Pierre. Gott segne euch!« Das war sein letzter Liebesgruß, sein Vermächtnis.
Mit wehmütiger Zärtlichkeit küßte Aglae die Worte, auf denen noch des Toten Auge, des Toten Hand geruht, und barg das Blättchen sorgsam in ihrem Kleide.
Dann wandte sie sich zu dem alten Diener, der ihr als einziger Freund und Ratgeber geblieben war. Mit ihm vereint mußte sie die Sorge für die hilflose Tante übernehmen, mit ihm die Verantwortlichkeit teilen für alles, was geschah. Er drängte zu schneller, heimlichster Flucht. Aglae erschrak und zauderte. Aber als Pierre ihr alles wiederholte, was er an jenem ersten Abend schon Herrn Cazotte gesagt und was auch diesen von der Notwendigkeit solchen Entschlusses überzeugt hatte, da willigte sie ohne Widerspruch in alles. Mit dem nächsten Morgengrauen wollten sie versuchen, Paris zu verlassen.
Aber zuvor mußte Elisabeth bestattet werden. Das sollte hier geschehen – in der verschwiegenen Stille des heimatlichen Gartens. Mit Aufbietung aller seiner Kräfte grub der alte Pierre allein das tiefe Grab unter einer hängenden Weide, dem Lieblingsplätzchen der Verstorbenen. Aglae hüllte die Schwester in weiße Gewänder und schmückte sie liebreich mit den letzten Rosen, die die falbe Herbstsonne noch zur Blüte gebracht. Den schlichten, schmucklosen Sarg, wie er in der Eile beschafft werden konnte, umwand sie mit blühenden Astern, Levkojen und duftenden Reseden, daß es war, als solle die Zarte unter lauter Blumen schlummern, selbst eine zu früh dahingewelkte Blume. Keine fremde Hand berührte sie, Aglaes linder Kuß schloß ihr die Augen, Aglaes Lippen flüsterten ihr das letzte Lebewohl.
Frau Cazotte, die vor Erschöpfung fest eingeschlafen war, gewahrte nichts von alledem. Als die Abendschatten heraufdämmerten, trug Pierre mit Hilfe der anderen Diener den Sarg hinab und senkte ihn in die Gruft. Dann knieten alle nieder, und Aglae sprach, alle Kraft zusammennehmend, mit lauter Stimme ein Totengebet, feierlich klang es durch die abendliche Stille.
Danach schaufelte der alte Pierre sorgfältig das Grab zu, machte die Stelle dem übrigen Boden gleich, belegte sie mit Rasen und pflanzte ein Rosenbäumchen darauf. Niemand konnte nun die heilige Stätte entweihen, wo das Herz der liebevollsten und unglücklichsten Tochter ausruhte von aller Qual.
Die Nachtstunden benutzte das umsichtige junge Mädchen, um von ihren und der Tante Sachen zusammenzupacken, soviel in die großen Koffer des von Pierre vorsorglich angekauften Reisewagens hineinging.
Er selbst barg in einer unscheinbaren Ledertasche alles Geld, das er hatte auftreiben können, und die Juwelen. Dann weckte Aglae Frau Cazotte, die gedankenlos lächelnd alles mit sich geschehen ließ, ohne zu fragen; und nachdem sie mit reichen Geschenken Abschied von der zurückbleibenden Dienerschaft genommen hatten, bestiegen sie den Wagen und fuhren in der ersten Morgendämmerung aus Paris, die grausame Stadt hinter sich lassend, deren entfesselte Leidenschaften ihnen alles geraubt hatten, das sie liebten: Vater und Tochter und Heimat und Glück.
Pierre selbst saß als Kutscher auf dem Bock und lenkte die Pferde. Die von ihm besorgten Pässe wurden überall gültig befunden, ungehindert rollten sie der Grenze zu und erreichten nach wenig mehr denn einer Woche Deutschlands Boden.
Viele, unzählig viele französische Aristokratenfamilien suchten damals in gastfreundlichen Nachbarländern Schutz vor den Verfolgungen der Schreckensherrschaft in Frankreich, welche in ihrem blinden Haß Reiche und Arme ächtete, mordete, verbannte und ins Elend trieb. Aber trotz des wohlwollenden Entgegenkommens der deutschen Höfe und Städte ward es ihnen schwer, sich in die neuen Verhältnisse einzuleben.
Selbst diejenigen, denen es gelungen war, einen Teil ihrer Reichtümer zu retten und sich eine neue, behagliche Wohnstätte zu schaffen, litten am Heimweh. Die fremde Sprache dünkte sie roh, das Klima kalt und das Leben unfreundlich und rauh. Leichter fanden sich die Armen in den Wechsel. Gewöhnt, sich auch im Vaterlande durch ihrer Hände Arbeit zu ernähren, fühlten sie sich auch in der veränderten Umgebung bald überall da zufrieden, wo lohnende Beschäftigung ihnen Obdach, Brot und Kleidung verschaffte.
Am härtesten traf das Los der Verbannung diejenigen der vornehmen Familien, die auf der Flucht nichts als das Leben hatten retten können. Im Überfluß aufgewachsen, verwöhnt und zu keinerlei Arbeit erzogen, waren sie ganz auf das gastfreundliche Mitleid der fremden Nation und der wenigen ihrer eigenen Standesgenossen angewiesen, die so glücklich waren, geben zu können, weil sie mehr hatten, als sie gebrauchten. Aber solcher waren wenige und die Not oft groß. Für die Jüngeren ward dies freilich eine gute, wenn auch harte Schule. Manches anspruchsvolle Muttersöhnchen, das zu Hause nichts gelernt, schätzte sich glücklich, mit der Zeit als Sprachlehrer, Tanzmeister, Sekretär oder Hofmeister eine bescheidene Selbständigkeit zu finden. Manches verzogene Töchterchen mußte sich daran gewöhnen, Stickereien und anderes für Geld anzufertigen, mußte von früh bis spät arbeiten, um die alten Eltern vor Mangel zu schützen, viele auch nahmen Stellen als Gesellschafterinnen oder Erzieherinnen an.
Ähnlich erging es Aglae. Solange ihre unglückliche Tante lebte, wohnten sie mit dem treuen Pierre unfern der Grenze in einem freundlichen, kleinen Landstädtchen der bayerischen Rheinpfalz. Aber wenige Jahre nur, da schloß jene ihre Augen für immer. Still und lächelnd, wie sie in ihren kranken Wahnideen einem Kinde gleich dahingelebt hatte, starb sie auch. Aglae empfand für sich selbst weder Schmerz noch Trauer mehr. Sie dankte nur Gott, daß er die Tante zu sich gerufen hatte, ohne sie noch einmal zum Bewußtsein des durchlebten Jammers erwachen zu lassen.
Der alte Pierre hatte treu bei seinen Herrinnen ausgehalten, sich allem ohne Murren, ohne Klage unterworfen. Aber Aglae – nun seit Jahren daran gewöhnt, nicht mehr an sich, sondern nur noch an und für andere zu denken – hatte trotzdem wohl gefühlt, daß es ihm schwer ward, sich in die fremde Art des fremden Landes zu schicken, daß er mit der Zeit die Schrecken, welche er miterlebt hatte, vergaß und sich nach seinem Vaterlande zurücksehnte. Deshalb rief sie ihn zu sich, sobald die Beerdigung vorüber war, hieß ihn sich niedersetzen, sprach freundlich und offen mit ihm und riet ihm, nach Frankreich zurückzukehren und seine alten Tage in Ruhe dort zu verleben, wo er noch manchen Freund und Genossen aus früherer Zeit finden würde. Das kleine Vermögen, welches sie noch besitze und welches der Rest dessen sei, was nur seine Umsicht und Fürsorglichkeit einst für Frau Cazotte und sie gerettet habe, wolle sie mit ihm teilen, daß er vor jeder Not geschützt sei.
Anfänglich sträubte sich der Alte und wies den Gedanken weit von sich, »Mademoiselle zu verlassen oder Mademoiselle zu berauben,« wie er es nannte. Aber seine Augen leuchteten doch bei dem Gedanken, sein schönes Frankreich wiederzusehen, und so ließ er sich endlich zur Rückkehr bestimmen. Sein gutgemeinter Vorschlag, daß Aglae mit ihm heimkehren solle, ward von dieser mit stummem, aber so entschiedenem, erschrecktem Kopfschütteln zurückgewiesen, daß er ihn nicht zu erneuern wagte. Bald nahm er unter vielen Tränen von seiner gütigen jungen Herrin Abschied, nicht ahnend, daß sie mit der verhältnismäßig großen Summe, welche sie bei der Abreise in seine Tasche steckte, ihm fast alles gab, was sie selbst noch besaß.
Die Krankheit und Pflege von Frau Cazotte hatte weit mehr Geld gekostet, als Pierre wußte. Aber sollte der in seinen alten Tagen Mangel leiden, der mit ihr und für sie das Schwerste getragen, was das Leben ihr auferlegen konnte? Niemals! Sie war jung, sie konnte und wollte arbeiten.
Pierres Vorschlag, gleichfalls nach Frankreich heimzukehren, hatte ihr nur Grauen erweckt. Obgleich die revolutionären Greuel dort seit längerer Zeit ein Ende gefunden hatten, dem unglücklichen Lande Ruhe und Ordnung zurückgegeben war und jedem ungehinderte Rückkehr freistand, krampfte sich ihr das Herz zusammen bei dem bloßen Gedanken, die Stätte wiedersehen zu sollen, wo die so unendlich gelitten, die sie so unendlich geliebt. Und gleich ihr blieben viele andere in der Fremde zurück. Auch ihnen graute vor der alten Heimat, in der man ihre Wohnstätten verwüstet, die Gräber ihrer Vorfahren geschändet, das Blut ihrer Eltern vergossen hatte.
Aber nicht an diese schloß sich Aglae an, denn sie konnte es nicht über sich gewinnen, von den Schrecken der Vergangenheit zu sprechen, mit denen doch auch diese verknüpft waren. Abgestumpft gegen alles, was von außen kam, allein ihren schmerzlichen Erinnerungen sich hingebend, war es ihr gleichgültig, wie ihr Leben sich gestaltete. Sie verkaufte ihre Möbel und überflüssigen Sachen, steckte den Erlös als Notpfennig zu sich und bewarb sich um eine Stellung als französische Gouvernante in einer deutschen Familie. Aber niemals in einer hochgestellten, ihr schauderte vor dem Wort »Aristokrat«. Die einfachsten Verhältnisse waren ihr die liebsten.
Doch ward sie nirgends recht heimisch, denn daß sie nie von ihrem früheren Leben sprach, ließ sie kalt und verschlossen erscheinen, und niemand gab sich je die Mühe, zu ergründen, welch warmes, aufopferndes Herz sich unter dieser gleichmäßig ruhigen Außenseite barg. In keiner Familie gewann die nun langsam Alternde die Zuneigung, welche sie verdiente, welche zu dauernder Freundschaft hätte werden können. Gleichgültig trat sie ihre Stellungen an, gleichgültig verließ sie dieselben und kam bei diesem häufigen Wechsel vom sonnigen Rheinland schließlich bis in unsere kalte, nordische Provinz.
Das war zur Zeit der napoleonischen Kriege, nach der unglücklichen Schlacht von Jena, wo alles vor dem französischen Eroberer auf der Flucht war. Auch die Familie, in welcher sich Mademoiselle Aglae gerade befand, versuchte nach Memel zu gelangen, wohin sich der preußische König und sein Hof zurückgezogen hatten. Auf der Durchreise erkrankte sie in unserem Städtchen – man mußte sie zurücklassen.
Lange lag die Ärmste hier matt und erschöpft und den Tod ersehnend. Aber noch war ihre Zeit nicht gekommen. Sie genas. Doch bis sie ganz gesundete, war es Winter geworden und eine Reise bis Memel vorläufig unmöglich.
Die freundlichen Besitzer des einfachen Gasthofes, die sich mitleidig ihrer angenommen hatten, fragten sie, ob sie nicht in ihre Heimat zurückkehren wolle? Nein, nein! Ihr Grauen vor Paris war noch immer dasselbe und Napoleon für sie nur der Erbe und Nachfolger jener unbarmherzigen Gewalthaber, die einst ihren zweiten Vater, ihre unvergeßliche, süße Schwester gemordet hatten.
So kam es fast von selbst, daß sie in unserem kleinen Städtchen blieb. Warum sollte sie fort? Nirgends auf dem weiten Erdenrund lebte auch nur eine Seele, die sie liebte. Und sie fühlte sich so müde, so abgehetzt in ihrer Heimatlosigkeit, daß sie die Ruhe des einfachen Stübchens bei den braven Leuten als eine Wohltat empfand. So mietete sie es mit dem Rest der wenigen Geldmittel, welche sie noch besaß, kaufte eine bescheidene Einrichtung dazu und beschloß, hier französische Sprachstunden zu geben und zu versuchen, von der Einnahme zu leben – sei es auch noch so kärglich.
*
Das war die Geschichte Aglaes de Saint Brissac, wie sie sie meinem ihr aufmerksam und teilnahmvoll zuhörenden Mütterchen erzählte. Freilich nicht an einem Tage.
Unser kindlicher Scherz, das laute » comme vous êtes aristocrate,« das ihr den alten, fast vergessenen Drohruf jener Schreckenszeit » à bas les aristocrates!« so plötzlich wieder ins Gedächtnis zurückrief, hatte die arme Mademoiselle mehr erschreckt und erschüttert, als es anfangs den Anschein hatte. Ihr gebrechlicher alter Körper konnte solche Aufregungen nicht mehr ertragen. Sie wurde ernstlich krank.
Umsonst versuchte mein lieber Vater seine ganze Kunst, seine stärkendsten Weine und Arzneien, es gelang ihm nicht, sie wiederherzustellen. Langsam siechte sie dahin. Es war Winter, und auch die Kälte zehrte an ihren Kräften. In der Dämmerung jedes Tages ging Mütterchen zu ihr, stets sehnsüchtig von der Kranken erwartet, die, nun sie einmal das Siegel gelöst hatte, das ihre Lippen und ihre Erinnerungen so lange verschlossen hielt, immer wieder auf alle Einzelheiten dieser schmerzlichen Erlebnisse zurückkam, als ob warme, aufrichtige Herzensteilnahme noch jetzt das so viele Jahre in Einsamkeit getragene Leid lindern helfen könne.
Ich sah sie an einem Frühlingsabend zum letztenmal. Der Winter war ungewöhnlich lang und hart gewesen. Der März kam, ehe die Sonne so viel Macht gewann, Eis und Schnee zu schmelzen. Endlich blaute der Himmel wieder hell und klar, und statt der schmutziggrauen Masse des absickernden Schneewassers glänzten die Pflastersteine wie frisch gewaschen auf den Straßen, so recht einladend zu Kinderspiel und Kinderlust, wir suchten unsere Reifen, Murmeln und die großen bunten Gummibälle hervor und konnten nachmittags kaum die Zeit erwarten, bis die Schularbeiten fertig waren und wir hinausdurften. Auch die Vögel fingen an sich zu rühren, besonders die Herren Spatzen, die sich piepsend und zausternd um die vorjährigen Schwalbennester zankten, um darin ihren Hausstand mit möglichst wenig Mühe gründen zu können.
An einem Aprilabend war die Luft ganz besonders lau und mild. Selbst die Erwachsenen freuten sich vor den Türen oder am offenen Fenster ihres erquickenden Hauches. Auf allen Plätzen und Straßen lärmten Kinder, wir Mädchen spielten auf dem Marktplatz Ball, und laut und lustig ging es dabei zu, das kann ich euch sagen, wir warfen hinüber und herüber und kamen so im wilden Jagen auch in das stille Gäßchen, wo Mademoiselle wohnte, bis an ihr Haus – fast ohne es zu wissen. Sie saß an ihrem Fenster und sah nachdenklich den Spatzen zu, welche in das Nest unterm niederen Dachsims zwitschernd ein und aus flogen. Wir aber bemerkten sie nicht. Hoch und höher warfen wir jubelnd unseren großen Ball, da – ein unbedachter Wurf – schlecht gezielt und – gerade an das Nestchen flog unser buntes Ungetüm, riß es herab, prallte an das Fenster zurück und zertrümmerte auch noch die Scheibe.
Mit erschrecktem Zirpen flatterten die aufgescheuchten Vögelchen davon. Hinter ihrem Fenster erhob sich langsam die Greisin; sie mochte sich bald haben zur Ruhe begeben wollen und sah fast feierlich aus in dem langen, weißen Nachtkleid und dem weißen Häubchen, das ihr graues Haar bedeckte. Stumm standen wir da, es tat uns so leid, sie erschreckt zu haben, und doch fanden wir nicht gleich ein Wort der Entschuldigung.
Da tönte ihre milde zitternde Stimme zu uns heraus, nicht mahnend, noch strafend, nur warnend hob sie ihre abgemagerte Hand dabei in die Höhe: »Das arme Vogerl, das arme Vogel – Ihr jung, ihr nicks wissen, wie schwerr, wie schwerr es sein, sick ein neu Aus und Eimat bauen!«
Das waren ihre letzten Worte. In derselben Nacht noch starb die Arme.
Mein Mütterchen aber versammelte ihre Schülerinnen alle bei uns im großen Hausflur, damit wir von Schneeglöckchen, Tannenreisern und den ersten Veilchen Girlanden und Kränze wänden, um den schlichten Sarg unserer alten Lehrerin damit zu schmücken. Und während wir die grünen Zweige zerpflückten und die kleinen Frühlingsblumen zu einzelnen Sträußchen fügten und einander zureichten und ernst und eifrig bei unserem Werk waren, erzählte sie uns – viel schöner, als ich es hier gekonnt – die ergreifende Geschichte von Mademoiselle.