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Von zwei Mädchen, die gern selbständig sein wollten.

Nicht nur an den Ufern unseres stolzen deutschen Rheins strecken sich rebengrüne Weinberge hin, auch die malerischen Höhen, welche das Bett des Elbstromes an seinem mittleren Lauf begrenzen, sind mit Rebengeländen bestanden, und wer unten zu Boot oder auf dem Dampfer vorüberfährt, sieht gar manches idyllische Weinberghäuschen aus dem sommerlichen Grün hervorlugen. Die Besitzer derselben sind meist wohlhabende Bewohner Dresdens, welche während der Sommerferien mit ihren Familien dort Aufenthalt nehmen, oder auch nur Sonnabend nachmittags mit Kind und Kegel hinausziehen, um den Sonntag auf eigenem Besitz inmitten Gottes freier Natur zu verleben. Deshalb sind diese Häuschen jederzeit vollständig, wenn auch einfach eingerichtet, und ein zuverlässiger Arbeiter, der zugleich den dazugehörigen Weinberg und Garten zu besorgen hat, ist ihr Wächter, Verwalter und Mitbewohner.

An einem schönen Sommerabend nun sah solch ein schmuckes Nest im Grünen – etwa eine Stunde von Dresden gelegen – ganz besonders schmuck und einladend aus. Gartentor und Haustür standen weit geöffnet, und in den blanken Fensterscheiben blitzten die Strahlen der untergehenden Sonne mit rötlichgoldenem Schein. Uber das einhegende, rebenumzogene Geländer beugte sich ein junges Mädchen im lichten Sommerkleid und spähte erwartungsvoll hinab auf den Weg, der von der kleinen Eisenbahnstation unten nach hier heraufführte. Es war ein niedliches, kleines Persönchen von etwa fünfzehn Jahren, das da in den grünen Ranken stand, aber ein wenig blaß sah es aus, gar nicht, als ob es die frische, erquickliche Luft hier oben schon oft und lange genossen habe. Und richtig! als es, sich rückwärts wendend, ungeduldig in das Haus hineinrief: »Nein, Tantchen, sie bleibt aber auch zu lange!« da konnte jeder hören, daß es kein sächsisches Landeskind war, sondern ein Berliner Pflänzchen, welches vermutlich hier auf dem sonnigen Höhenboden der Lößnitzberge frische Kräfte sammeln sollte.

Gestern erst war Lucie Kempen aus der norddeutschen Residenz zum Besuch hier eingetroffen, um die schönen Sommerferien bei Tante Braumann und ihrem lieben Bäschen Doris zu verleben. Sie war zwar seit Ostern konfirmiert und daher nicht mehr so streng an die Schulferien gebunden, welche sie bis dahin stets mit der Mutter und den jüngeren Brüdern in einem kleinen Badeort an der Ostsee verlebt hatte; aber Doris war, obgleich auch sie schon eingesegnet, noch im Institut, und dasselbe schloß erst heute. Gegen Abend konnte sie eintreffen. Daher Lucies erwartungsvolle Ungeduld.

Wie hatte ihr gestern das Herz vor Freude geklopft, als sie zuerst die Berge erblickte! Wirkliche Berge, an deren waldbestandenen Abhängen hier und da sogar felsige Schroffen zutage traten, oder die steilen, lichtgelben Wände der Kalksteinbrüche. Das war doch noch etwas anderes als der Berliner Kreuzberg oder die sandigen Dünen von Misdroy mitsamt dem Kaffeeberg – die einzigen Höhen, welche sie bis dahin gesehen hatte. Armer, alter Kaffeeberg! Sonst war er Lucies Ideal gewesen und ihr eigentlich sehr großartig erschienen, wenn sie oben von seinem Gipfel auf Strand und See hinuntergesehen hatte, jetzt – dachte sie ordentlich mitleidig an ihn zurück. Er kam ihr so klein vor – so klein – und sie sich so groß, nun sie vor dem auf halber Bergeshöhe gelegenen Weinberghäuschen stand und bis zum fernen, blauen Horizont die weite Talsenkung zu ihren Füßen überschaute, die der helle Elbfluß in breiten Windungen durchzieht und in der zahllose Ortschaften mit zierlich aufragenden Kirchtürmen, von stattlichen Bäumen umschattet, inmitten üppiggrüner Wiesen sich erheben. Wie schön mußte es sein, dort überall mit einer gleichaltrigen Gefährtin herumzustreifen. »Wäre sie doch erst da! Wäre sie doch erst da!« sagte sie zum wer weiß wievielten Male zu der neben ihr stehenden Tante.

Und siehe, als ob ihre Wünsche Zauberkraft besäßen, ward plötzlich auf dem gewundenen Fahrweg unten ein Wagen sichtbar. Weiße Tücher wurden geschwenkt, und in wenigen Minuten hielten die Ersehnten vor der Türe. »Willkommen, willkommen!« jubelte Lucie und sprang und tanzte vor Freude. Puck, der Pinscher, bellte, als ob der Besuch ihm ganz allein gälte; Henriette, das Hausmädchen, hatte eine reine weiße Schürze vorgebunden, und etwas weiter zurück knickste freundlich die alte Frau, die mit ihrem Mann, dem Arbeiter, hier oben wohnte, während dieser seinen zerfaserten Strohhut in den arbeitsbraunen Händen verlegen hin und her drehte. Dorchen hatte ordentlich zu tun, bis sie alle Begrüßungen freundlich erwidert hatte: Pucks Wonne zu beschwichtigen, war dabei das schwierigste.

Im Gartenzimmer, dessen breite Flügeltüren sich auf eine weinumrankte Veranda öffneten, hatte der Papa, der, sein Töchterchen herbegleitend, über Sonntag hierbleiben wollte, es sich inzwischen am Abendbrottisch bequem gemacht, den Lucie zum Empfang gar zierlich gedeckt hatte. Waldblumensträußchen schmückten jeden Teller. Aber so hübsch es auch war und so sehr Dorchen sich auch freute, wieder daheim bei ihrer lieben Mama zu sein, heute litt es sie nicht lange am Tisch. Sie mußte doch der neuen Freundin möglichst schnell die Herrlichkeiten ihrer elterlichen Besitzung hier draußen zeigen, und als der Papa, nachdem sie abgesessen, einen Brief aus der Tasche zog und ihn mit den Worten: »Hier ist etwas für dich! Aus Leipzig von der Großmama,« an seine Frau gab, war es beiden jungen Mädchen eine willkommene Gelegenheit, sich Erlaubnis zum Aufstehen zu erbitten.

»Warst du schon bei unserer alten Gotthardt?« war draußen Dorchens erste Frage.

»Ist das die alte Frau, die in eurem kleinen Arbeiterhäuschen wohnt?«

»Ja! Ich besuche sie immer zu allererst, wenn wir herauskommen. Sie ist Mamas Kindermädchen gewesen, als Mama noch ganz klein war, ist nachher immer bei ihr und den Großeltern geblieben und hat sich erst verheiratet, als Mama sich auch verheiratete. Und weil sie so treu und redlich war, hat Großpapa ihrem Mann, den er auch als sehr ordentlich kannte, die Stelle auf dem Weinberg hier oben gegeben, wo sie nun seitdem leben. Und weil sie selbst keine Kinder hat, sagt sie immer, Mamas Kind sei auch ihr Kind. Und da ich das bin, ist sie jederzeit sehr gut und nachsichtig zu mir gewesen, und ich habe sie sehr lieb.«

Diese Erklärung stimmte Lucie, welche anfangs ein klein wenig hochmütig auf die einfachen Arbeiterleute herabgesehen hatte, um, und freundlich gab auch sie der Alten die Hand, als ihr Bäschen dieselbe zutraulich begrüßte. Im schönsten sächsischen Dialekt klang der Gegengruß zurück: »Ei, scheenen kut'n Abend ooch, mei kutstes Freileinchen, nä, was sin Se kroß keworden!«

»Na, Frau Gotthardt, das sagst du jedesmal,« erwiderte Doris lachend. »Sieh mal meine Cousine an, die ist beinahe einen halben Kopf größer als ich.«

»Ei Herrchäses ja, das is se woll,« nickte die Alte, »aber Sie wärn's ooch noch,« setzte sie sofort tröstend hinzu, da sie ihren Liebling niemals und durch nichts je verkleinern ließ. »Wo is se denn här?« fragte sie vernehmlich flüsternd weiter.

»Aus Berlin.«

»Nä aber, da is se jo ä Breiße!«

Dorchen warf einen schnellen Seitenblick auf Lucie. »Ja, das ist sie. Aber sie ist doch gut. Sie wird dir schon gefallen, wenn wir dich öfter besuchen. Für heute müssen wir weiter, ich muß ihr noch die Hühner zeigen und die Ziegen und die Starenkästen im Garten. Adieu!«

»Du,« fragte Lucie, der das Gespräch sehr komisch erschienen, draußen, »warum ist eure Alte denn so erschrocken, daß ich ›ä Breiße‹ bin?«

Dorchen wurde ein wenig verlegen. »Ja,« stotterte sie endlich, »das darfst du ihr nicht übel nehmen. Alle Sachsen nennen euch Preußen die ›päsen Breißen‹.«

»Du auch?«

»Nein, ich nicht, ich habe die Preußen sehr lieb und dich am aller-allerliebsten!« Beruhigend küßte das fröhliche Sachsenkind dabei ihr Berliner Bäschen.

Das erwiderte dieses herzlich, und in also neubesiegelter Freundschaft faßten sich beide unter und streiften Arm in Arm wohl eine Stunde lang umher. Eifrig fragend, noch eifriger erklärend, alles besichtigend, ihre neugierigen Näschen in jede Tür und jeden Winkel steckend, waren sie ganz rot und erhitzt und sehr erfüllt von allem, was sie gesehen, als sie endlich wieder ins Zimmer zurückkehrten.

Dort saßen Herr und Frau Braumann noch zusammen auf dem Sofa, der Brief aus Leipzig lag geöffnet vor ihnen, und sie sahen so nachdenklich aus, daß selbst Lucies stets bereites Plappermäulchen bei ihrem Anblick verstummte. »Liebe Mama,« flüsterte Doris bestürzt, »fehlt dir etwas? Ist Großmama krank?«

»Nein, mein Kind, Gott sei Dank, nein. Sie ist gesund und munter. Sehr munter sogar, da sie Onkel Moritz mit seiner jungen Frau aus London zum Besuch erwartet. Auf Dienstag hat er sich auf einige Tage angemeldet und nun – nun ladet sie Papa und mich für dieselbe Zeit ein.«

»Und darüber bist du nicht vergnügt?« rief das Töchterchen stürmisch. »Ich fahre furchtbar gern zu Großmama, ach, Lucie, du sollst mal sehen, dort ist es so gemütlich.« Sie nahm als selbstverständlich an, daß Cousine Lucie mit eingeladen war.

»Ach, Kind, das ist es ja eben, was mich ein wenig bedrückt. Großmama bittet, daß wir dich diesmal nicht mitbringen möchten, weil ihre Wohnung nicht allzu geräumig ist, wie du weißt, und die junge Frau – eine Engländerin – vermutlich sehr verwöhnt sei.«

Dorchen war ein wenig enttäuscht, aber da sie ein gutes Kind, ließ sie es nicht merken, sondern tröstete: »O Mamachen, mach dir keine Sorgen. Ich bleibe ebensogern zu Hause. Hier oben im Weinberg ist es auch schön und mit Lucie zusammen noch viel, viel schöner als sonst. Nicht wahr?« wendete sie sich an diese. Energisches Nicken antwortete ihr. Das Berliner Kind, welches das ganze Jahr hindurch in der Stadt leben mußte, hätte die grünen Berge nur sehr ungern mit Leipzig vertauscht.

»Ja, aber meine lieben Kinder,« fuhr Frau Braumann bedauernden Tones fort, »hier oben könnt ihr ja leider nicht bleiben. Großmama hat mich gebeten, unsere Jette zur Aushilfe mitzubringen, weil ihre alte Köchin nichts anderes als die einfachste Hausmannskost zu kochen versteht. Und da wir euch doch unmöglich ganz allein lassen können, haben Papa und ich gedacht, es wird am besten sein, daß ihr beide während unserer Abwesenheit in deine Pension zurückgeht. Es ist ja nicht für lange. Ich werde gleich an die Vorsteherin schreiben.«

»Ach bitte, Mama, nein! Das tue uns nicht zuleide,« flehte Doris erschrocken. »Da muß man so furchtbar verständig sein, – und ich habe mich schon so auf unsern Weinberg gefreut, – und daß ich Lucie unsere Berge und den Wald und die anderen Spaziergänge zeigen kann. Können wir denn nicht hierbleiben? Wir sind ja nicht allein, Gotthardts sind ja auch oben.«

»Aber Kind –«

»Bitte, bitte, liebe Mama, sage doch ja! Lieber Papa, erlaube du es!« Schmeichelnd lief Dorchen von einem zum anderen. Und Lucie, der bei der Aussicht auf ein achttägiges, strenges Institutsleben gar nicht sehr vergnüglich zumute gewesen, unterstützte sie höchst erfreut mit ihren Bitten. »Ach ja, liebste, beste Tante, erlaube es uns! Wir wollen auch so verständig sein.«

»Es geht nicht, Kinder, abends so allein – ihr würdet euch ja halb zu Tode fürchten.«

»Ich nicht, Tantchen, ich bin kein bißchen graulich und beschütze Dorchen mit.«

»Und Papa,« fiel diese wieder ein, »du schiltst oft, daß ich so unselbständig bin. Siehst du, wenn wir Mädchen hier oben beide allein wären, müßten wir doch selbständig sein, und ich lernte es dann mit einem Male.«

Herr und Frau Braumann lachten. Da sie aber sahen, wie sehr gern die jungen Mädchen im Weinberg bleiben wollten, und wußten, wie zuverlässig und treu die alten Gotthardts waren, gaben sie schließlich ihre Einwilligung. Es war ja nur für vier oder fünf Tage und eigentlich gar nichts Seltenes, daß Dresdener Familien ihre Kinder auf kurze Zeit mit den Dienstboten allein hier oben ließen, wo es so durchaus sicher und ganz ungefährlich war. Nachts konnte die alte Frau zum Schutz mit im Wohnhäuschen schlafen – und Puck der Pinscher auch. Den Morgenkaffee sollten Lucie und Dorchen sich selbst kochen und mittags – – »Mittags kochen wir uns auch selbst, ja?« – »Das würde etwas Schönes werden! Nein, zu Mittag geht nur immer zur Tante Anna hinunter, ich werde sie morgen noch selbst bitten, daß sie euch hungrige Vagabunden speist, wenn ihr an ihre Türe klopft.«

»Ach, wir möchten so gern auch selbst Mittag kochen. Bitte, erlaube uns das auch.«

»Kinder, ihr könnt ja nicht –«

»Doch, wir können es,« – »ich kann Bratkartoffeln kochen,« – »ich Kakao,« – »ich habe schon mal Beefsteak geklopft,« – »ich schon Salat geputzt und sauren Hering zurechtgemacht,« – »und Kalte Schale zu machen verstehe ich auch,« so klang es eifrig durcheinander.

Über diesen Speisezettel mußte Herr Braumann herzlich lachen und meinte, es würde ewig schade sein, wenn solch wertvolle Kenntnisse unbenutzt einrosten sollten. Damit wurde unter lautem Jubel der beiden Mädchen auch Mamas letzter Widerspruch besiegt, die sich nur im stillen vorbehielt, heimlich an die gute Tante Anna zu schreiben, um ihr die verlassenen Kinder ans Herz zu legen.

Diese kamen sich gar nicht so verlassen vor, sie entwarfen im Gegenteil die kühnsten Pläne für die glorreiche Zeit ihrer Selbstregierung, wie sie es nannten, nachdem sie sich vorsichtig noch erkundigt: »Dürfen wir uns auch alles kochen, was wir wollen?«

»Wenigstens das, was ihr könnt.«

»O, du sollst mal sehen, wir können alles, wir können alles.«

»Wer kann denn Feuer anmachen?« fragte neckend Herr Braumann.

O weh! Kleine Pause. »Frau Gotthardt kann es!« riefen plötzlich beide beruhigt und triumphierend.

Selbst noch im Bett spannen die zwei unternehmungslustigen Backfischchen ihr interessantes Thema aus und fanden des eifrigen Plauderns kein Ende.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und alle vier verlebten ihn noch im fröhlichsten Beisammensein. Für ihre Ratschläge und Ermahnungen zwar fand Frau Braumann nur zerstreute Zuhörer; wäre sie allein gewesen, hätte Dorchen den gütigen, fürsorglichen Worten ihrer lieben Mama wohl aufmerksamer gelauscht, allein heute riß Lucies lustige Lebhaftigkeit sie mit fort. »Wir sind ja fünfzehn, sogar bald sechzehn Jahre alt, nicht wahr, Onkelchen, und Tantchen tut, als ob wir kleine Kinder seien.« Nur im allgemeinen versicherten sie immer wieder und wieder, ganz ausnehmend überlegsam und verständig sein zu wollen, und so mischten sich bis zuletzt Beteuerungen und Ermahnungen mit den Abschiedsküssen und Grüßen für die Großmama, als die Eltern gegen Abend abreisten und Doris und Lucie sie bis zur kleinen Bahnstation hinunterbegleitet hatten.

»Also, zu fürchten braucht ihr euch nicht,« schloß endlich Herrn Braumanns Baßstimme.

»I, wie werden wir denn, Onkelchen!«

»Aber seid ja vorsichtig mit eurer Gesundheit, erkältet euch nicht.«

»Unbesorgt, Mama, wir binden immer Tücher um.«

»Und wenn ihr um irgend etwas verlegen seid, geht zu Tante Anna, ich habe ihr geschrieben. Du weißt, wie gut sie ist.«

»Ja, ja!« »Adieu, adieu!« »Auf Wiedersehen!«

Aber als der Zug dann so brausend schnell die lieben Eltern davonführte und beide junge Mädchen nun wirklich allein und sich selbst überlassen auf dem Bahnsteig standen, da ward ihnen doch ganz wehmütig ums Herz, und sie gelobten auf dem Rückwege feierlich, alle Anweisungen der guten Mama aufs gewissenhafteste zu erfüllen und sich dadurch am besten des bewiesenen Vertrauens würdig zu erweisen, »wenn ihr durchaus selbständig sein wollt,« hatte diese ihnen gesagt, »dann müßt ihr auch alle Arbeit selbst tun, erstens, weil ihr nur dadurch in dieser Zeit wirklich etwas lernen könnt, und zweitens, weil Frau Gotthardt die Tiere und den Garten zu besorgen hat und zu alt ist, als daß ihr ihr besondere Arbeit zumuten dürftet. Feuer anmachen, Wasser holen und Geschirr abwaschen, das kann sie für euch tun, aber alles andere besorgt euch nur selbst, da ihr es nicht besser haben wollt!« Gewiß, gewiß, ja, das wollten sie auch tun. Sie wiederholten das Versprechen jetzt vor sich selbst aufs neue. Mama sollte mit Tochter und Nichte zufrieden sein.

Oben angekommen, fanden sie zu ihrer höchst angenehmen Überraschung, daß Jette vor ihrem Fortgehen noch alles zum Abendbrot auf der Veranda zurechtgestellt hatte. Kalten Pudding mit Obstsauce – wie erfrischend das war nach dem langen Spaziergang! Auch die Butterbrote ließen sie mit dem besten Appetit verschwinden. Dann räumten sie ab, teilten den Rest dieser Herrlichkeiten an Gotthardts, gaben dem Pinscher seine gewohnte Portion und kamen sich ordentlich wichtig und erwachsen vor, als bald darauf die alte Frau erschien, um zu fragen, »ob's die Freileinchens recht wär, wenn se zu Bedde gehn dhäde, se stünde früh auf und würd auch früh müd.« Wohlwollend gaben sie ihre Erlaubnis, sie erkundigten sich, ob Gartentor und Haustür gut verschlossen seien, und fanden, als sie bejahende Antwort erhalten, daß es gar nicht schwer sei, einen Hausstand zu führen. Puck sollte nur mit in die kleine Kammer gehen, wo das Bett für Frau Gotthardt aufgestellt war, während sie selbst nach Frau Braumanns Bestimmung daneben in der Eltern Schlafzimmer, das nach vorn heraus an das große Gartenzimmer stieß, schlafen würden. Vorläufig wollten sie noch ein wenig auf der Veranda bleiben.

Aber als es nun so ganz still im Hause ward und in die Büsche und Bäume vor ihnen das schweigende Dunkel der Nacht sich senkte, da ward beiden – sie wußten selbst nicht wie – mit einem Male so eigentümlich, so beklommen, daß sie, ohne sich's zu gestehen, weshalb, plötzlich schnell aufstanden und in rührender Übereinstimmung erklärten, heute ausnahmsweise lieber auch früh zu Bett gehen zu wollen. Eilfertig zündeten sie die Lampe an, verriegelten hastig die Tür zur Veranda und legten die Sicherheitsketten vor die Fensterladen. »Nun müssen wir aber noch unter die Betten gucken, ob sich da auch kein Dieb versteckt hat,« flüsterte Doris danach ganz leise, als fürchte sie, daß der Betreffende sie hören und sich durch diesen Argwohn beleidigt fühlen könne. Im heimatlichen Berlin würde Lucie, die Großstädterin, solche Zumutung schnöde verspottet haben – wofür gab es denn Portiers und Schutzleute – aber hier – – der Wind rauschte so unheimlich in den Baumwipfeln – hier nahm sie zu ihrer eigenen Beruhigung das Licht, kniete nieder und leuchtete, während Dorchen, in ihrer ganzen Länge auf dem Boden liegend, herumrutschte, jedes Eckchen durchspähte und – natürlich nichts fand. Trotzdem entkleideten sich beide mit merkwürdiger Geschwindigkeit und sprangen, »die letzte muß das Licht auspusten,« eine noch schneller als die andere in ihre Betten. Nun erst fühlten sie sich ganz sicher, lachten und gestanden sich beide, daß es ihnen beim Einsteigen gerade so gewesen wäre, als wolle irgend eine unsichtbare Hand nach ihren Fersen greifen.

Behaglich in ihre Decke gewickelt, war Lucie dem Einschlafen nahe, als ein gellender Schrei ihrer Cousine sie plötzlich wieder erweckte. »Dorchen! was ist dir?« rief sie erschreckt.

»Lucie, Lucie!« klang es bebend vor Furcht zurück, »es ist doch etwas in der Stube.«

»Um Gottes willen, was denn?«

»Ich weiß es ja nicht, aber es geht immer so über mich hin, ganz nahe, als wollte es mich anfassen, und dann höre ich solch Klappen in der Luft, ach Gott, mach doch nur Licht an.«

»Ich will Frau Gotthardt rufen.«

»Nein, nein, erst Licht,« jammerte ihre geängstigte Cousine.

Manches Schwefelholz entfiel der nun auch zitternden Lucie, ehe eins zündete und das Zimmer hell war. Furchtsam blickten beide Mädchen sich um. Nichts war zu sehen. Was konnte es gewesen sein? Gespenster sollen das Licht scheuen! Aber sie schämten sich, dies kindische Wort auszusprechen, und doch war es seltsam.

»Mama, Mama! Ach, wäre doch Mama hier!«

»Vielleicht hattest du schon geträumt?« fragte Lucie zweifelnd, deren Mut mit dem Lichtschein nach und nach zurückkam.

»Nein, nein, gewiß nicht. Ich war ganz wach und fühlte es ganz deutlich – wie Grabeshauch war es – hu!« schrie die Ärmste gellend, »schon wieder! Und siehst du den großen Schatten?«

Lucie hatte ihn gesehen. »Hilfe!« rief sie halb verzweifelt, stürzte aus ihrem Bett und riß die Kammertür auf, hinter der Frau Gotthardt schlief. Diese trat ihr schon entgegen, geweckt von dem ängstlichen Sprechen. »Ei Herrchäses, mei kutestes Dorche, mei Herzche, was is Se?«

»Ach, Frau Gotthardt, ich weiß es ja nicht – es ist so schrecklich – es streicht immer so kalt über mich – das hat gewiß was zu bedeuten.«

»Ei jo, ä Fledermeischen hot's zu bedeiten, sähn Se nich? Do fliegt se jo!« Damit zeigte sie auf eine Fledermaus von mittlerer Größe, die sich in der Dämmerung durchs offene Fenster herein verirrt haben mußte und nun verstört hin und her flatterte.

»Eine Fledermaus?« kreischten einstimmig die beiden tapferen Backfischchen. Das war ja noch viel, viel schlimmer als ein Gespenst! Die krallt und nestelt sich einem ja ins Haar! Im Nu krochen beide wieder unter ihre Decken und zogen sich die Kopfkissen so tief über die Ohren, daß nur ihre Nasenspitzen hervorsahen. Lucie hat später Dorchen oft damit geneckt, daß sie zur größeren Bekräftigung ihres Abscheus und ihres Protestes gegen den geflügelten Eindringling mächtig mit ihren langen Beinen gestrampelt habe, während diese wieder behauptete, daß Lucie zur Kugel zusammengekrochen sei, damit sie recht klein erscheine und das dräuende Ungetüm sie weniger leicht finden könne. Erwiesen ist beides nicht. In Sachsen heißt's:

»Kann mer's wissen, weeß mersch denn?
Wenn mer frägt, erfährt mersch denn?«

Und die einzige, die hätte gefragt werden können, war die alte Frau, die sich nicht viel um sie kümmerte, sondern gutmütig Fenster und Läden öffnete, und einen langen Haarbesen holte, um das »arm klähn Dhierche« hinauszujagen, ohne ihm Schaden zu tun. Endlich war es ihr gelungen, und die beiden Heldinnen, die nun beruhigt ihre Kissen zurechtrückten, bedankten sich tausendmal bei der lieben Frau Gotthardt, als diese alles wieder sorgfältig schloß und, in ihre Kammer zurückgehend, ihnen eine »wohlschlafende Nacht« wünschte.

Dieser Wunsch ging freilich bei den törichten Dingern, die sich so unnötig aufgeregt, erst spät in Erfüllung. Dann aber schliefen sie wirklich »wohl« und fest und erwachten am anderen Morgen frisch – wenn auch ein wenig beschämt über die Einzelheiten der ersten Nacht ihrer Selbständigkeit. Es war nur ein Trost, daß niemand etwas davon wußte, sie wollten es ganz gewiß keinem Menschen erzählen und von nun an dafür um so verständiger sein.

Mit den besten Vorsätzen gingen sie an die erste Morgenarbeit: Das Bett machen und ihre Waschtische säubern, wie lustig das gleich war! Eine wollte es immer besser machen als die andere, wieviel Wasser verplanschten sie in ihrem lachenden Eifer! wie glänzten dann aber auch die Dielen!

Das Kaffeekochen hatte Lucie übernommen, Dorchen sollte inzwischen Staub wischen und den Frühstückstisch fertigmachen. Allzu schnell ging freilich beides bei beiden nicht vonstatten, und Lucie hatte sogar eine kleine Brandblase an der Hand zu verstecken, – sie schämte sich, für ungeschickt zu gelten, als sie schließlich mit der dampfenden Kanne antrat. Aber dafür schmeckte es nun auch um so besser. Jubelnd erklärten beide, nie so schön gefrühstückt zu haben wie heute auf der Veranda, wo linde Sommerluft sie umwehte und vor ihren entzückten Augen das liebliche Tal im schönsten Morgensonnenschein sich breitete. Zwitschernde Vögelchen kamen und pickten die Krumen vom Tisch, und selbst Puck, der Pinscher, genehmigte zuletzt herablassend ein Schälchen Milch von ihrer Hand, während er anfangs sehr verdrießlich und mißtrauisch an ihren blauen Küchenschürzen herumgeschnuppert hatte, die der Mama gehörten und ihnen so viel zu lang waren, daß er glaubte, sie hätten diese nur aus Schabernack vorgebunden, um ihm graulich zu machen, und solch Scherz schien ihm denn doch allzu kränkend für seine Hundehre.

Nach dem Kaffeetrinken ging es für ein Weilchen in den Garten, dann ward die übrige Zeit des Vormittags dazu benutzt, Schränke und Schubfächer zu ordnen, sowie Dorchens Kleider und Wäsche einzuräumen. Und mit solcher Gewissenhaftigkeit vertieften sich die zwei Cousinen in diese Beschäftigung, daß sie gar nicht merkten, wie es inzwischen hohe Mittagszeit geworden war, bis endlich die alte Frau Gotthardt ihren Kopf in die Tür streckte: »Ei Herrchäses, wolln denn die Freileins nichts essen? Soll ich kähn Feuer nich anmachen?« Erschrocken fuhren beide in die Höhe, aber Lucie faßte sich schnell und sprach würdevoll: »Jawohl, liebe Frau! Bitte, machen Sie jetzt Feuer und setzen Sie Kartoffeln auf – wir werden Bratkartoffeln essen – wir sind gewohnt, später zu speisen.« Dabei ward sie rot, und Dorchen lachte herzlich, als die gutmütige alte Frau kopfschüttelnd verschwunden war. »O Lucie, du bist köstlich! Wie kannst du nur in so hohem Ton von »später speisen« sprechen, während wir doch nur vergessen hatten, daß wir in unserer ersehnten Selbständigkeit auch selbst kochen müssen, was wir essen wollen.« – »Du mußt nicht lachen, Dorchen,« meinte Lucie weise, »dergleichen dürfen wir uns jetzt nicht merken lassen, sonst werden wir nachher von anderen ausgelacht, wir müssen stets tun, als sei alles unser freier Wille und in der besten Ordnung. Komm, laß uns in der Speisekammer nachsehen, was wir haben.«

Da noch Schinken und allerlei kalte Bratenreste vom Sonntag sich vorfanden, fiel das Mittagessen bei weitem nicht so kläglich aus, wie es die Vergeßlichkeit der jungen Dämchen eigentlich verdient hätte, und als sie am Nachmittag an die Eltern schrieben, wie es ihnen ergangen sei und wie sie die ersten vierundzwanzig Stunden ihrer Selbständigkeit verlebt hätten, da schilderten sie alles wunderschön und stellten ihrer beiderseitigen Kochkunst und Wirtschaftlichkeit das beste Zeugnis aus.

Aber der Abendbrothunger meldete sich doch etwas früher als sonst, und beide beschlossen, sich Schokolade zu kochen, die sie »schrecklich« gern tranken. Eine Büchse pulverisierter Kakao stand im Schrank, und auf der außen angeklebten Gebrauchsanweisung war gedruckt: »Man rechnet auf jede Tasse einen gehäuften Kaffeelöffel voll, verrührt ihn mit der kalten Milch, läßt es zusammen einmal aufkochen und quirlt das Ganze dann mit ein bis zwei Eiern ab.« O, nun war die Sache leicht! Auf ihre Frage nach Eiern erwiderte Frau Gotthardt zwar, daß »oogenplicklich kähn ähnzigdes nich do wäre, weil die Hennen grad prüden dhäden,« aber Lucie erinnerte sich, daß ihre Mama in Berlin eines Tages, als sehr schnell Schokolade gekocht werden sollte und keine Eier im Hause waren, zur Köchin gesagt, sie möge statt dessen nur Kraftmehl nehmen, das täte es auch zur Not. Nun, das konnten sie ja ebenfalls, und so gingen sie wohlgemut an die Bereitung ihres Lieblingsgetränkes, maßen die Milch ab, setzten sie aufs Feuer, zählten sorgfältig die nötigen Löffel Kakao ab, taten Zucker daran und – – »Wieviel Kraftmehl nimmst du denn?« fragte Doris, welche der einige Wochen älteren Cousine unwillkürlich die Führung überließ. »Nun, wir sind zwei Personen, also an Stelle von zwei Eiern – zwei eigroße Löffel voll, denke ich!« antwortete die flinke Berlinerin so rasch und sicher, daß niemand an ihrer überlegenen Erfahrung hätte zweifeln können. »Aber erst muß der Kakao etwas kochen und dabei immer gequirlt werden. Das werde ich tun und dabei aufpassen, daß er nicht überkocht! Stelle du inzwischen Tassen und Kanne zurecht.« Dorchen tat's, kam aber schnell zur Hilfe, als ein ängstlicher Schrei Lucies sie darauf aufmerksam machte, daß das schäumende Getränk überzulaufen drohe. Mit rascher Umsicht goß sie das schon klar gerührte Kraftmehl hinein, die hochgestiegene Flüssigkeit kühlte sich ab und fiel wieder. »Nun noch einmal aufkochen, dann können wir trinken. Das soll schmecken! Gotthardts kriegen auch etwas ab.« Aber – was war das? Die Schokolade wollte nicht wieder kochen, Lucies Quirl sich nicht mehr drehen. Statt des ersten schönen Schaumes bildeten sich dicke Ringe, und im Nu war aus dem erhofften wundervollen Getränk ein steifer Brei geworden, auf dem »ein Schneider hätte tanzen können,« wie es im Sprichwort heißt. Mit langen Gesichtern sahen die beiden Köchinnen sich an, die nicht gewußt, daß für ihre Portion ein kleines Kaffeelöffelchen voll Kraftmehl reichlich genug gewesen wäre. »Unsere schöne Schokolade! Das dumme Kraftmehl!« schalt Lucie, vor Ärger mit dem Fuß aufstampfend.

»Wir können es ja als Flammeri essen,« tröstete Dorchen gutmütig und goß das merkwürdige Getränk aus, damit es zum Überfluß nicht auch noch anbrenne.

»Ach, ich hatte mich schon so gefreut,« klagte die andere zurück, die weniger kaltblütig war.

Und als sie von diesem fragwürdigen Resultat ihrer Küchenweisheit der alten Frau ein Schälchen voll brachten, flüsterte diese ihrem Liebling zu: »Däs is woll Perliner Schacklotte, mei Herzche? Hier daheeme da drinken mer se merschtendehls aus Dassen.«

Zum Glück hielten Ärger und Enttäuschung nicht lange an. Trotz ihres veränderten Charakters ward die selbstfabrizierte Schokolade lachend und mit bestem Appetit verzehrt. Und als die beiden Heldinnen zu Bett gegangen, schliefen sie auch ungestört die ganze Nacht. Nur daß Dorchen, als das Licht schon ausgeblasen war, zur größeren Sicherheit nochmals aus dem Bett kletterte und als barfüßiger Hemdenmatz zum Kleiderspind lief und hineinfühlte, ob sich auch nicht etwa ein Räuber hinter Papas großem Schlafrock versteckt habe, und daß sie ein Weilchen später Lucie beruhigen mußte, welche ganz aufgeregt geworden, weil sie deutlich leises, regelmäßiges Feilen einbrechender Diebe zu vernehmen glaubte. Es waren aber nur Pucks sanfte Schnarchtöne, welche mit solcher Regelmäßigkeit durch die verschlossene Türe drangen und deren Tonart Dörtchen aus Erfahrung kannte.

Der erste Sonnenstrahl, welcher in der Frühe des nächsten Tages Lucies Lager streifte, weckte die Lebhafte; auf bloßen Füßen lief sie gleich zum Fenster und trank in vollen Zügen die frische, belebende Morgenluft. Weit lehnte sie sich hinaus – es konnten ja nur die blühenden Bäume des Gartens zu ihr hereinnicken, wonniges Frohgefühl durchströmte sie.

»Schnell, Dorchen, wach auf! Es ist heute draußen so wunderschön – wir müssen gleich in den Wald – in den Lößnitzgrund, wie du mir gestern versprochen hast.« Auch Dorchen war keine Langschläferin. Beim ersten Anruf sprang sie auf und eilte gleichfalls ans Fenster. Glänzenden Blickes schaute auch sie hinaus, und sobald sie der Drossel ansichtig ward, welche, auf dem höchsten Wipfel eines nahen Baumes sitzend, ihre süßen Töne in den blauen Himmel flötete, als wolle sie dem Herrn droben Dank sagen für seinen gnädigen Schutz in der Nacht, für die neugeschenkte Herrlichkeit des neuen Tages, da faltete sie ihre Hände und vereinte ihr stilles Gebet mit dem melodischen Morgenlied der geflügelten Sängerin. Beschämt neigte Lucie das Haupt, von ihrem lieben Dorchen wollte sie sich gern übertreffen lassen, aber daß ihr sogar ein Vögelchen zuvorgekommen mit seinem Dank an den allmächtigen Schöpfer …

Nach kurzem, andachtvollem Schweigen kehrte ihre alte Lebensfreudigkeit jedoch unvermindert zurück, und schon während des Ankleidens spornte sie ihre Gefährtin zu immer größerer Eile. In den Wald – in den Wald! »Aber Lucie, wir müssen uns doch erst Kaffee kochen und unser Zimmer aufräumen.«

»Kaffee kochen, ja! Die dummen Stuben können bleiben bis nachher.« – »Das wäre sehr unverständig von uns, nach unserem Spaziergang werden wir sehr müde sein.« – »Ach, sei kein kleiner Philister!« – »Was würde Mama sagen?« – »Wir sind gestern so furchtbar verständig gewesen, das gilt für heute mit – das Wetter ist so schön:

– komme doch, komme doch, komm, du Schöne«

sang sie im Polkatakt, bis Doris nicht länger widerstand.

Bald wanderten sie lustig auf der oberen Bergstraße dahin, die zwischen den höchsten Weinanpflanzungen und kahlen Gipfeln an abschüssigen Halden entlangführt. Tiefblau und wolkenlos wölbte sich der Himmel über ihnen. Golden strahlte die Morgensonne herab und funkelte in den tausend und abertausend Tautropfen, welche an den Halmen und Gräsern des Feldraines hingen. Die Luft war klar und frisch, und bald hier, bald da stieg eine trillernde Lerche jubilierend auf. Offenen Auges und offenen Herzens genoß die kleine Großstädterin diese ihr so neue Pracht. Als die Sonne höher zu steigen begann und ihre Strahlen heißer brannten, fing der Weg an, sich zu senken, kühler Schatten winkte – der Lößnitzgrund war erreicht. O, wie jubelte Lucie über dieses stillen Waldtals nie geschaute Schönheit! Ein klares Bergwässerlein durchströmte in raschem Lauf den moosigen Grund, breitwipfelige Linden, stolze Eichen und schlanke Buchen strebten zur Höhe, während wundervolle Nadelhölzer ihre dunklen Zweige bis tief auf den Boden breiteten. Geheimnisvoll und romantisch. Die Windungen des bequem geebneten Weges führten bald diesseits, bald jenseits des Wassers weiter und boten die schönsten Bilder und Aussichten in überraschendem Wechsel. Bevor die das Tal begrenzenden Berge dasselbe noch enger umschlossen, war das Wasser des Baches zu einem kleinen Teich gestaut, an dessen Ufern eine ländliche Schankwirtschaft stand. Sauber und behäbig stand die Frau Wirtin in der Tür und winkte den vorübergehenden jungen Mädchen fröhlichen Gruß zu. Freundlich dankte Dorchen. »Wollen die Freileinchens nicht eintreten?« klang es einladend zu ihr herüber. – »Danke, Frau Wirtin, wir wollen noch bis zur Friedensburg hinauf.« – »Ei, hären Se, das wird Se aber heeße, das ließ ich bis auf ein andermal!« – »Meine Cousine möchte gern bald hinauf, sie ist fremd hier und will so schnell wie möglich alles sehen – sie hat bange, die Berge laufen ihr sonst weg,« war die scherzende Antwort. – »Nu, da wünsche ich viel Vergnügen!« – »Du, wer ist das?« fragte Lucie, sobald sie aus der Hörweite der freundlichen Frau waren, »kennst du sie?«

»Wenigstens kennt sie mich und Mama sehr gut, wir sind des Nachmittags oft ihre Kaffeegäste.«

»Doris, wie hübsch!« Das galt einer Gruppe Schweizerhäuschen, welche der lebhaften Gefährtin eben ins Auge fiel. Ihren Vorbildern in den Alpen getreu nachgeahmt, sahen dieselben mit ihren hölzernen Läden, den tiefreichenden Schindeldächern und geschnitzten Holzgalerien aus, als seien sie direkt aus dem Lande der Freiheit, der Lawinen und der großen Käse hierherversetzt. Es war wie ein Märchen. »Sind sie bewohnt?«

»Gewiß! Tante Anna, bei der uns Mama als Mittagsgäste anmelden wollte, wohnt auch hier.«

»Ach – wie schade!« Ein begehrlicher Blick streifte die fremden und doch anheimelnden Häuschen. Vorwurfsvoll sah das Bäschen sie an und meinte in eifersüchtiger Vorliebe für den geliebten Weinberg wegwerfend: »Sie sind gar nicht so hübsch, wie sie aussehen, man kann hier unten die Sonne nicht aufgehen sehen, und abends wird es auch viel früher dunkel als bei uns oben.«

»Lang lebe der Weinberg! Es freue sich,
Wer da atmet in rosigem Licht;
Da unten, da ist's zu dämmerig,
Und der Mensch besuche Tant' Änne nicht,«

parodierte Lucie schnell und lustig Schillers Taucher, um das patriotische Sachsenkind wieder zu versöhnen.

Bei solchem Plaudern bemerkten die jugendlichen Wanderinnen kaum, daß ihre Füßchen ebenso beweglich waren wie ihre Lippen, und daß die Zeit ebenso rastlos vorwärtsschritt wie sie selber. Schon hatte die Landschaft ihren Charakter geändert. Die Berge waren von beiden Seiten näher zusammengerückt, der Waldwuchs hatte sich gelichtet, Steinbrüche traten schroff hervor, und der Weg – zum schmalen Pfad geworden – wand sich längst wieder steiler in die Höhe. Endlich standen sie still, Schweißtropfen perlten auf ihren erhitzten Stirnen und ihr Atem ging rasch. »Wollen wir nicht etwas ausruhen?« fragte Doris. – »Ach ja!« rief Lucie und warf sich mit einem Seufzer der Erleichterung ins Gras. Nach einer Pause meinte sie kleinlaut: »Weißt du, hungrig und durstig bin ich auch, sehr durstig sogar!«

»Wir hätten uns Frühstück einstecken sollen, schade, daß wir nicht daran gedacht haben!«

»Ja, das war sehr dumm von uns,« bekannte Lucie offenherzig.

»Mama würde daran gedacht haben,« meinte Dorchen nachdenklich.

Aber Lucie wollte auf keine versteckte Mahnung hören, die das Glück der so sehnlich gewünschten Selbständigkeit zu bezweifeln wagte. »Wir können ja auf der Friedensburg etwas essen, komm!« rief sie abweisend und sprang trotzig auf. Die sogenannte Friedensburg ist ein im romanischen Stil erbauter Aussichtsturm auf dem höchsten Vorsprung in den Ausläufern der Lößnitzberge. In seinen burgartigen Vorbauen und luftigen Hallen bietet eine gute Restauration dem müden Wanderer Erfrischungen aller Art, wie Doris ihrem Gast erzählt hatte. Aber der Aufstieg war nicht leicht. Es war Mittag geworden, kein Lüftchen regte sich, und die Sonne brannte senkrecht herab auf das helle Felsgestein. So energisch Lucie auch vorwärtsschritt, sie mußte oft stehen bleiben, bald um Atem zu schöpfen, bald um ihre glühende Stirn mit dem Taschentuch zu trocknen oder um ärgerlich allzu zudringliche Mücken zu verjagen. Dorchen stieg gleichmäßiger, weil sie teils mehr daran gewöhnt, teils ruhigeren Gemütes war als jene. Fast weinerlich klagte das Kind der Ebene nach einer Weile: »Sind wir noch nicht bald oben? Ich kann gar nicht mehr und habe schon solchen schrecklichen Hunger –«

»Halte nur noch zehn Minuten aus,« tröstete die geduldigere Gefährtin, »dann haben wir die Burg erreicht und du kannst gleich essen.«

»Aber auch etwas Ordentliches. Ich könnte einen Stein anbeißen, wenn er gebraten wäre!« Und nach der kleinen Uhr sehend, welche sie am Einsegnungstage zum Geschenk bekommen, rief sie: »Es ist ja auch bald zwölf! weißt du, wenn es dort oben Braten oder Beefsteak oder so etwas gibt, wollen wir gleich Mittag essen, ja? So viel Geld hast du doch bei dir?«

»Ich?« erschrak Dorchen, »ich habe gar keins. Ich dachte, du hättest das Portemonnaie eingesteckt.«

Das war ein harter Schlag. Verzweifelt rang Lucie die Hände: »Dann muß ich verhungern! Ich bin jetzt schon fast tot!«

Über dies Jammerwort mußte Dorchen wieder lachen. »Komm nur, ich habe ebensowenig gegessen wie du, aber hinauf müssen wir doch, wir sehen doch wenigstens die Aussicht. Und vielleicht,« setzte sie schüchtern hinzu, »sind Bekannte meiner Eltern oben, die uns Geld zum Mittagessen borgen, wenn wir ihnen erzählen, wie sehr hungrig wir sind.«

Diese Möglichkeit gab Lucie neue Kräfte, und ohne weiteres Murren erklomm sie den letzten steilen Gipfel. Als aber auf dem Burgplateau schnelle Umschau sie belehrte, daß überhaupt keine Gäste, also auch keine Bekannte von Braumanns hier seien, sank ihre Stimmung sofort wieder unter Null, und sie hatte kein Auge für den wundervollen Rundblick über die weite Ebene, die sich vor ihr auftat, kein Ohr für Dorchens Erklärungen, die ihr die hochaufragenden Türme und Schlösser Dresdens, das sie in voller Klarheit vor sich sahen, bezeichnete, ihr die zu beiden Seiten des hellen Elbstromes malerisch gelegenen kleineren Ortschaften bei Namen nannte, sie auf die im blauen Dunst verschwimmenden Konturen der fernen Berge aufmerksam machte. Sie schielte nur nach dem reichbesetzten Büfett im Hintergrund der Halle, fühlte sich trotz des Sonnenscheins ringsum ganz als Tantalus in der Unterwelt und trieb verdrossen zum Rückweg. Seufzend folgte ihr nicht minder hungriges Bäschen. Langsam, schweigend und schwer stiegen sie hinab – daß doch Hunger wirklich so weh tut! Da mit einem Male fiel Dorchen die Schankwirtschaft am Teich ein und damit auch der Trost, daß diese – auf halbem Weg zum Weinberg im Waldesschatten gelegen – Rast und Kühlung bot und die freundliche Wirtin daselbst ihnen gewiß gern einen kräftigen Imbiß gab, den sie morgen bezahlen könnten. Das war ein guter Gedanke. Noch einmal belebte er die erhitzten, übermüdeten Wanderinnen zu einer letzten Anstrengung, in kurzer Zeit erreichten sie den Grund. Schon plätscherte das Bächlein neben ihrem Wege und bot Puck, dem Pinscher, der auch längst hatte Schwanz und Ohren hängen lassen, willkommene Labung. Munter bellend sprang er das steile Ufer hinab, und Lucie sah ordentlich neidisch zu, wie seine rote Zunge so gierig das klare Wasser schlürfte. Doch – da schimmerte ja auch schon der Teich. Viktoria! Das Ziel ihrer Sehnsucht war erreicht.

Was kommt dort von der Höh?
Was kommt dort von der Höh?
Was kommt dort von der ledernen Höh,
Ci, ça ledernen Höh,
Was kommt dort von der Höh?

Laut und lustig schallte ihnen dies alte Studentenlied entgegen. Eine ganze Schar frischer, übermütiger Jünglinge saß – die bunten Mützen keck aufs Haupt gedrückt – bei schäumendem Gerstensaft an den Tischen vor der Waldschenke und hatte kaum die beiden jugendlichen Gestalten bemerkt, da variierten sie auch schon neckend den nächsten Vers:

Es sind zwei Backfischlein!
Es sind zwei Backfischlein!
Es sind zwei lederne Backfischlein,
Ci, ça Backfischlein –
Es sind zwei Backfischlein.

Die so Angesungenen hatten eben die kleine Brücke, welche zum Wirtshaus führte, überschreiten wollen. Erschreckt stutzten sie einen Augenblick, dann wendete Lucie den Sängern voller Entrüstung den Rücken, während Dorchen, dunkelrot werdend, sie am Kleide zupfte: »Laß uns schnell laufen!«

»Das fehlt noch gerade! Nein, sie dürfen gar nicht merken, daß wir uns getroffen fühlen – wir müssen tun, als hätten wir nichts gehört,« und sich zu möglichst würdevoller Haltung gerade rückend, zwang die resolute Berlinerin ihr verlegenes Bäschen zu ganz kleinen, langsamen Schritten. Aber freilich – vorüber! Um keinen Preis wäre sie jetzt hier eingekehrt. Und leider konnte sie doch nicht verhindern, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg und ihr Mienenspiel ihren Ärger verriet. Das reizte die übermütigen Studenten erst recht. Lachend stimmte einer das alte Volkslied an:

»Schaust so freundlich aus, Gretelein,«

und ihr den Eichenzweig von seiner Mütze zuwerfend, sang er weiter:

»Nimm den Blumenstrauß, er sei dein.«

Jubelnd fielen seine Kommilitonen ein:

»Bist ein Kind nicht mehr, Gretelein,
Tust mir eine Ehr', sag nicht nein!
Schaust so freundlich aus, schaust so freundlich aus,
Sag nicht nein – Gretelein.«

Vergessen war Hunger, Durst und Müdigkeit, die beiden Leidensgefährtinnen eilten, so schnell sie konnten, ihren musikalischen Peinigern zu entfliehen.

»Es ist empörend, Damen so zu behandeln!«

»O Lucie, wir sind doch noch keine Damen.«

»Wir werden aber welche,« zürnte diese mehr gereizt als logisch. Lange noch schallte das spöttische »Schaust so freundlich aus« hinter ihnen her. Erst als auch nicht das leiseste »Gretelein« mehr zu ihnen drang, standen beide still. Da sahen sie, daß sie in ihrem Zorn auch bei Tante Annas Schweizerhäuschen vorbeigestürmt waren – nun mußten sie, ohne Rast gehalten zu haben, nach Hause auf den Weinberg. Mit hungrigem Magen und müden Füßen ging's weiter, hinauf auf die schattenlose Höhe. Die Zunge klebte ihnen am Gaumen, und ihr Atem keuchte. Erbarmungslos brannte die Mittagssonne. Endlich erreichten sie ihr Häuschen. »Beste Frau Gotthardt, etwas zu essen!« rief Dorchen schon in der Tür. Aber o weh! Die alte Frau kam zwar, doch ihre Mittagszeit war vorüber und der Herd längst kalt, sie hatte geglaubt, die jungen Mädchen wollten auswärts essen. Denn diese hatten ihr ja nicht Bescheid gesagt, hatten am Morgen über dem köstlichen Recht ihrer Selbständigkeit, das ihnen den frühen Ausflug erlaubte, die Pflichten derselben vergessen. Nun gab es weder Essen noch Vorräte. Ein Glas Milch und etwas Weißbrot war das einzige, das sich für ihren nagenden Hunger fand, denn jetzt noch kochen? Dazu waren sie zu müde. Tränen traten in ihre Augen, und schlafen war ihr einziger Gedanke, nachdem der erste heftige Durst gestillt. Überhungert und ermüdet schlichen sie in ihr Schlafzimmer, Hu, wie sah es hier aus! Wie ungemütlich – wie wüst! Die Betten waren nicht gemacht, nichts war aufgeräumt, auf allen Stühlen und Tischen lagen ihre Sachen umher. Ordentlich vorwurfsvoll sah die Unordnung sie an. Großmütig unterdrückte Dorchen die Bemerkung, daß es Lucies Schuld sei. Still zogen sie ihre bestaubten Kleider aus, die Morgenröcke über und streckten sich auf den vorläufig flüchtig glattgestrichenen Matratzen aus. Aber das Maß ihrer Betrübnis ward erst übervoll, als die alte Frau noch einmal hereinkam, erzählte, daß die Tante Anna oben gewesen sei, sie zu besuchen, und da sie sie nicht fand, ein Zettelchen geschrieben habe, das Dorchen nun las: »Meine lieben Kinder! Heute früh erst erhielt ich Nachricht von der Mama, daß ihr beide hier oben allein in sehnlichst gewünschter Selbständigkeit haust. Ich kam, um zu sehen, wie ihr euch dabei befindet, und euch zu Tisch mit herunterzunehmen, da wir Rehbraten haben – fand die Vögelchen aber ausgeflogen. Hoffend, daß ihr dafür morgen oder doch recht bald einmal die stolze Höhe eurer Selbstherrlichkeit verlaßt, um in meine niedere Schweizerhütte herabzusteigen, grüßt euch beide liebe Prinzessinnen Backfischlein – Tante Anna.«

Schluchzend drehte sich Lucie zur Wand: »Rehbraten hätten wir essen können – und sie spottet auch noch.«

»Rehbraten, mein Leibgericht,« echote Dorchen gleichfalls mit Tränen in der Stimme.

Wie Kinder weinten sie sich endlich in den Schlaf.

»Hoffentlich hat Tante Anna nicht in unsere Stuben geguckt,« war Dorchens letzter reuiger Gedanke.

Gegen Abend kam die gutmütige Alte, sie zu wecken. Müde und steif und ein wenig niedergeschlagen dazu erhoben sie sich. Aber – was roch denn da so schön, so gebraten? Wie elektrisiert stürzten beide zur Tür und erblickten – auf der Veranda sauber für sie angerichtet – heiß und dampfend die schönsten, appetitlichsten Speckeierkuchen, welche Frau Gotthardt soeben gebacken. Ein Fläschchen Johannisbeerwein stand daneben. »Den hab ich mer exdrah fürs Freilnchen von der kuten Dante Walz schenken lassen, weil die en immer so scheene hat und 's Freilnchen en so kar kern drinkt,« schmunzelte die alte Frau, deren Pflegebefohlenen sie ein übers andere Mal dankbar umarmten. Und als wahre Wundertäter erwiesen bald sich Speise und Trank. Gute Laune, Selbstvertrauen und Unternehmungslust erwachten aufs neue, sobald der letzte Bissen des duftenden Gebäckes verschwunden – ehrlich mit dem nicht minder hungrigen Pinscher geteilt. Lucie wie Dorchen waren fest entschlossen, am nächsten Vormittag in Wirtschaft und Küche erst Außerordentliches zu leisten, ehe sie am Nachmittag Tante Annas freundlicher Einladung folgten. Denn wenn sie nur von Mißlungenem zu berichten haben würden, fände das Necken sicher kein Ende. Die Hälfte des feurigen Weines auf Tantchen Walz' Wohl leerend, – mit einem Pereat der »gräßlichen« Studenten gedenkend, – tranken sie den Rest auf das Gelingen all ihrer zukünftigen Heldentaten.

– Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew'ger Bund zu flechten. –

Vorläufig zwar ging alles gut. Rechtzeitiger, gesunder Schlaf ließ die beiden Backfischchen am nächsten Morgen früh und ganz erfrischt erwachen. Mit vergnügter Zuversicht gingen sie an die Ausführung ihrer guten Vorsätze. Sie reinigten und lüfteten Schlaf- und Wohnzimmer ganz besonders sorgfältig, um das gestern versäumte nachzuholen, bürsteten ihre arg eingestaubten Kleider und hielten sich gar nicht lange beim Frühstück auf, so gut der von Lucie zubereitete schwarze Mokkatrank im Freien auch wieder mundete. Zu ziemlich zeitiger Stunde waren sie samt Puck, der bellend voraussprang, zum Gang ins Städtchen bereit, um Fleisch, frische Butter und alles sonst Nötige einzukaufen.

Wie war der Weg talab so schön! Aber umsonst lachten die Blumen am Rain heute die jugendlichen Wanderinnen an – heute wollten diese ja – sie hatten sich's gelobt – »furchtbar« verständig sein. Fest und gleichmäßig schritten sie geradeaus, blickten weder rechts noch links und wendeten ihr ganzes Interesse der Frage zu: Was wollen wir kochen? »Weißt du, Filetbeefsteaks,« schlug Lucie vor, »die sind rasch fertig und schmecken gut.«

»Ja – aber ich habe noch nie welche gebraten, du schon?« fragte Dorchen zögernd. – »Nein, aber das ist ganz leicht, ich habe schon oft zugesehen, und ich esse sie so riesig gern.« – »Ich auch,« bekannte die zweite kleine Gutschmeckerin. – »Na, dann nehmen wir Beefsteaks –.« – »Ja, aber du mußt sie braten!« – »Und du sie kaufen!« – »Schön!« – »Und recht viel Zwiebeln braucht man dazu!«

Bald war der Fleischerladen erreicht. Ruhig trat Doris zu den übrigen Käufern und wartete, bis die Reihe an sie kommen würde, während Lucies lebhafte Augen neugierig überall herumschweiften. Dabei erblickte sie durch die offene Tür auf der anderen Seite der Straße das Schaufenster eines Kuchenbäckers, in welchem allerlei köstliche Kuchen, Torten und Törtchen ausgestellt waren. »Ach, wenn wir etwas davon zum Nachtisch hätten!« dachte das Leckermäulchen begehrlich und hörte in dem Augenblicke gerade, wie die Fleischersfrau 1 Mark 40 Pfennig als Preis für ein Pfund Beefsteak nannte. Schnell wendete sie sich um und flüsterte ihrer Cousine ins Ohr: »Du, das ist ja schrecklich teuer! Nimm doch nur ein halbes Pfund oder etwas, was billiger ist, dann können wir uns für das übrige Geld Kuchen kaufen – sieh nur, drüben liegt solch schöner!« – »Was meint das Freilnchen?« fragte die Verkäuferin. – »Sie findet das Fleisch zu teuer,« erwiderte Dorchen errötend. – »Ei nee, das ist der gewöhnliche Preis, aber Sie können ja die Frau Mama noch fragen.« Da wurde Dorchen noch verlegener, stammelte eine Entschuldigung, und schließlich kam durch freundliche Fragen und verworrene Antworten an den Tag, daß die beiden jungen Dämchen auf eigene Hand wirtschafteten und gern etwas kochen möchten, was gut schmeckt und doch nicht viel Mühe macht.

»Ei Herrchäses, da nähmen Se doch eene Schöpsenkeule von ä Pfundner sächse, wenn Sie die heut praten, dann haben Sie kleich een bar Dage was dran und reene kar nichts weider mit dem Middage zu dun – das wär Se doch scheene, ei ja!« Und damit hatte die redselige Frau die besprochene Schöpsenkeule schon resolut vom Haken genommen und sie – ehe die überraschten Mädchen Zeit zum Widerspruch fanden – in Dorchens Korb praktiziert. »Drei Mark sechzig Pfennig is Sie ja ooch kaar keen Geld nich for so ä scheenes Stück Fleisch!«

Verdutzt sahen Doris und Lucie einander an, als sie wieder auf der Straße standen. Das war ja ganz etwas anderes, als sie eigentlich hatten haben wollen – und so viel Geld kostete es – nun war an Kuchenkaufen nicht mehr zu denken – in ihrem Portemonnaie war nur gerade so viel geblieben, daß sie ein Stück frische Butter, Salat und einige Eier erstehen konnten. Anfangs hatten sie noch Humor genug, über ihren unfreiwilligen Einkauf zu lachen, der sich für das zierliche Körbchen als viel zu groß erwies und seinen langen Beinknochen, trotz aller Versuche, ihn mit grünen Zweigen zu verhüllen, patzig in die Luft streckte und an der anderen Seite seinen Schwanz weit über den Rand hinausbaumeln ließ. Letzteres hielt Puck wieder für eine ihm erwiesene Aufmerksamkeit, die seinen Appetit reizen sollte, weshalb er unaufhörlich bellend daran in die Höhe sprang. Aber als ihnen einige Bekannte begegneten, die sie verwundert lächelnd grüßten, da fing Lucie an, sich entsetzlich zu genieren. Sofort war ihre Gastfreundin gutmütig bereit, ihre Last mit ihr zu tauschen. Aber Salat im offenen Netz tragen und neben der Butter noch eine Mandel Eier vorsichtig zu balancieren, das war noch weniger nach ihrem Geschmack. »Es schickt sich gar nicht, einen Schwanz zu haben, wenn man von jungen Damen getragen und gegessen werden soll,« schalt sie die unglückliche Keule, als sei diese schuld, daß der gierige Pinscher eben mit einem erneuten Freudenjauchzer an ihr hochtanzte, während gerade ein junger Offizier vorüberging, der mit mokantem Zucken den Kneifer ins Auge klemmte, um ihnen nachzusehen.

»Du brauchst gar nicht böse zu sein,« sprach Dorchen, »ich bin viel schlimmer dran als du, ich esse Schöpsenfleisch nicht mal gern.«

»Denkst du denn, ich? In Berlin rühre ich es nicht an!«

»Na, da werden wir ja hübsch lange an unserem Vorrat zu zehren haben,« klang es philosophisch zurück. »Und wie fett das Scheusal ist,« schmollte Lucie ganz trostlos, »das kann ich erst recht nicht essen.«

Frau Gotthardt gegenüber – die beim Anblick des übervollen Korbes ganz verwundert ausrief: »Nä aber! Is däs viel Fleisch for so zwee Freilnchens kanz alleene« – glaubte sie es jedoch ihrer Würde schuldig zu sein, den Einkauf für ganz freiwillig und sehr vorteilhaft erklären zu müssen. Dorchen dagegen beichtete halb lachend, halb unglücklich die ganze Geschichte wortgetreu. Und die Alte streichelte ihr »kutestes Herzchen« und tröstete, daß »recht scheene gebraten, es ooch recht scheene schmecken däte.« Aufs »schön braten« kam es also zuerst an. Das Kochbuch ward hervorgeholt, und beide Mädchen steckten die Näschen hinein. Wo ist das Register? Aha hier; Hammelbraten Seite 214. Nach sorgfältigem Durchstudieren des betreffenden Abschnittes erklärte das Haustöchterchen, das Wagnis übernehmen zu wollen. Und während die alte Frau den Bratofen heizte, klopfte sie die Keule tüchtig, wie es vorgeschrieben, nahm dann ein scharfes Messer, um sie zu entfetten und zu enthäuten. Leicht war das nicht, und mancher Schnitt ging in die ungeübten Finger. Aber Dorchen hatte Ausdauer und pflegte durchzuführen, was sie sich vornahm. Lucie saß ihr gegenüber auf dem Fensterbrett, sah bewundernd zu und baumelte mit den Beinen, fühlte sich jedoch erst dann ganz beruhigt, als jene auf Frau Gotthardts Rat den langen Beinknochen ausgelöst und auf ihre eigene Bitte den Schwanz, des »Scheusals scheusäligstes Ende,« wie sie es nannte, abgeschnitten hatte. Als danach das vielgescholtene Schöpsenviertel so rund und sauber und unschuldig – wie es doch auch war – in die heiße Pfanne gelegt war und alsbald sonntäglicher Bratenduft Küche und Flur durchzog, erwachte mit dem Interesse für dies erste selbstbereitete Mittagessen auch wieder unzähmbarer Tatendrang in ihrer Brust. Rasch schälte sie Kartoffeln, putzte und wusch den Salat und erklärte, noch schnell auf den Berg gehen zu wollen, um Erdbeeren zum Nachtisch zu suchen.

Dorchen war's zufrieden und hörte die Leichtfüßige bald lustig jodeln und sah ihr helles Kleid wie einen lichtfarbigen Punkt bald hier, bald da durch die grünen Rebstöcke schimmern. Sie selbst blieb anfangs mit unvermindertem Eifer bei ihrem Braten zurück, wendete und begoß ihn fleißig. Aber mit der Zeit ward es ihr doch etwas langweilig; es war so still in der Küche, als auch Frau Gotthardt wieder an ihre Arbeit draußen gegangen. Sehnsüchtig trat sie oft auf den Hof, sah nach dem Berg hinauf und wünschte, auch droben zu sein – bis ein warnendes Zischen des Bratens sie benachrichtigte, daß er sich durch Anbrennen zu rächen gedächte, falls sie ihn etwa vernachlässigen würde. Dann lief sie schnell wieder in die Küche zurück zu ihrer selbstübernommenen Pflicht. »Wenn Mama hier wäre, brauchte ich nicht am Herd zu stehen und mir die Finger zu verbrennen,« dachte sie seufzend, als ein Tropfen des prasselnden Fettes an ihre Hand spritzte und einen kleinen, roten Brandfleck zurückließ. Ärgerlich goß sie jetzt reichlich Wasser in die Pfanne und wollte wenigstens in den Garten gehen, um Blumen zu schneiden und Lucie mit einem Tafelbukett zu überraschen. »Ich brauche ja nicht lange zu bleiben,« beschwichtigte sie sich selbst. Auf ihre Kunstfertigkeit im Sträußewinden war sie stolz – einmal drin im bunten Blumenflor, konnte sie sich nur schwer wieder trennen. Mit vielem Eifer und Verständnis wählte und prüfte sie die miteinander harmonierenden Farben, bückte sich wohl hundertmal, pflückte und verwarf und lief emsig hin und her. Hier fehlte noch etwas Rot, dort mußten ein paar schlanke Halme hinein, endlich war ein kleines Meisterstück fertig. Als sie es in Wasser gesetzt, sah sie wieder nach ihrem Braten und fand ihn – wider Erwarten – artig in seiner Sauce schmorend, wie sich's gehörte. Mißmutig warf sie sich in der Küche auf einen Stuhl. Braten machen schien ihr eine rechte Geduldsprobe – wenn dabei wenigstens was Rechtes zu tun gewesen wäre – und Lucie blieb auch gar zu lange – und die Luft war so schwül – und die Fliegen waren so zudringlich. – Machte wohl die Müdigkeit nach der gestrigen Anstrengung sich bemerklich? Nur wenige Minuten, da sank ihr der Kopf auf die Brust, es umfing sie sanfter Schlaf. Und der ward fester und fester, trotzdem die Schöpsenkeule vor Ärger über die säumige Köchin anfing zu zischen und zu prasseln. Vergebens! Sie konnte Dorchen nicht erwecken, deren Lippen freundliches Lächeln umspielte, als träume sie noch immer von Blumenduft und Blumenschöne. Zisch, zisch, zisch! machte boshaft der vor Zorn schon ganz dunkel gewordene Braten. Das klang der Schäferin nur süß und leis ins Ohr wie Flügelschlag vom Schmetterling.

»Dörte, wie riecht das hier?« rief da plötzlich Lucies Stimme sie aus dem Feenland der Blüten und der Poesie in das rauhe Reich der Wirklichkeit zurück.

Himmel, was war das? Brenzlichter Qualm erfüllte die Küche. Ganz blaß vor Schreck lief die arme Sünderin zu dem Braten. Brrr! Alle Sauce war eingebrannt, und eine schwarze Kruste bedeckte die Unglückskeule.

»So wechselt die Herrlichkeit der Welt!« deklamierte Lucie pathetisch. Als sie aber sah, daß ihr liebes Dorchen ganz überwältigt auf einen Schemel sank und ernstlich betrübt aussah, da faßte sie tatkräftig zu, zog die Pfanne aus dem Ofen, nahm das Fleisch heraus und tröstete sie gutmütig: »Laß gut sein, Herzens-Doris, es schmeckt doch, ich werde es gleich anrichten.«

»Ach,« jammerte diese, »er ist gewiß noch nicht gar.«

»Das schadet nichts! Innen rot und außen schwarz ist englisch – also sehr vornehm.«

Scherzend half sie Dorchen so über ihren Kummer und ihre Reue fort und würzte mit allerlei Scherz das zweifelhafte Mahl, an welchem der große Tafelstrauß schließlich das Beste war. Die mühsam gesammelten Erdbeeren hatte sie selbst im ersten Schreck über den Brandgeruch fallen lassen, als sie in die Küche trat, und dieselben waren boshafterweise gerade in den Ausgußeimer geraten.

Ja, ja! Wirtschaften ist nicht so leicht.

Am Nachmittag wurde der Besuch bei Tante Anna ausgeführt, welche die beiden jungen Mädchen mit großer Herzlichkeit empfing und sich eingehend und teilnehmend nach allem erkundigte: Wo sie gestern gewesen, als sie sich nicht getroffen? Ob sie sich auch nicht fürchteten, so allein? Ob das Kochen immer gut geraten?

»O vorzüglich! Dorchen hat uns heute einen Braten gemacht – ganz englisch, innen so schön rot!« prahlte Lucie, die sich schon vorher vorgenommen, daß sie ja niemand Ursache zum Bemitleiden oder – noch schlimmer! – zum Auslachen geben wolle, und die auch fühlte, daß sie dem ehrlicheren Bäschen, welches über diese Frage ganz rot geworden, zu Hilfe kommen müsse. Zum Glück war Tante Anna so eifrig mit ihrer Spiritusmaschine beschäftigt, daß sie weder Dorchens Verlegenheit noch Lucies vergnügtes Schelmengesicht beobachten konnte. Dann fand der Onkel Hofmann sich ein, ein Vetter von Frau Braumann und Bruder von Tante Anna, der, wie er sagte, extra gekommen, um sich die beiden »Einsiedler vom Berge« einmal anzusehen.

»Einsiedler? Wir könnten doch höchstens Zweisiedler sein, Onkel.«

»Ganz richtig! Auch tragt ihr, wie ich sehe, kein hären Gewand.«

»Nein,« erwiderte Dorchen, die ihres Onkels Liebling war, schnippisch wie ein echter Backfisch, »gestern, als wir auf die Friedensburg gingen, hatten wir rosa Kleider an.«

»So, so! Und darf man fragen, wie es den Friedensengeln auf der Burg gefallen hat?«

Lucie sah ganz perplex aus bei dieser Art der Unterhaltung, aber Tante Anna lachte und erklärte ihr, das sei immer so – Onkel Hofmann necke gar zu gern. Heute aber sollten Engel und Onkel nur Frieden machen und zum Kaffee auf die Galerie kommen.

Da war nun Lucies gestriger Wunsch erfüllt, und sie saß wirklich auf der wirklichen Galerie eines wirklichen Schweizerhauses, tannenbewaldete Berge vor sich und den grünen Lößnitzgrund zu ihren Füßen. Offenen Auges freute sie sich der Schönheit und rühmte zu Dorchen, wie ganz anders das alles doch sich ausnähme »stolz vom Altan herab«, als wenn man unten müde auf Schusters Rappen einhertrabe. In ihrer lebhaften Weise vergaß sie ganz, wie ungern sie sich auslachen ließ, und verriet bald alle Erlebnisse des gestrigen Tages, die ihr sehr tragisch und den Zuhörern sehr komisch erschienen. Onkel Hofmann besonders amüsierte sich sehr und zog aus dem Erzählten die belustigsten Schlüsse auf die »Wirtschaft« im Weinberghäuschen. Das aber nahm Dorchen übel, und sie erklärte, daß beide – Onkel und Tante – auf den Weinberg kommen müßten, um sich von der Ungerechtigkeit ihres kränkenden Argwohns zu überzeugen. Feierlich lud sie sie auf morgen nachmittag ein, wo feurige Kohlen – in Gestalt von Kaffee und Kuchen – auf ihre Häupter gesammelt werden sollten.

Lachend und dankend nahmen beide an, dagegen lehnten die jungen Mädchen Tante Annas Einladung, vorher bei ihr Mittag zu essen, ab. Sie erklärten, noch reichlichen Vorrat von dem »wundervollen englischen« Braten zu haben und ihre ganze Zeit und Kraft den »Festvorbereitungen« widmen zu wollen. –

Hei! Was war das am anderen Tage für ein fröhliches Rumoren im Weinberghäuschen! In frühester Frühe schon erhoben sich die ehrgeizigen Backfischchen, welche in ihrem Revier vor der Tante kritischen und des Onkels spöttischen Blicken durchaus glänzend bestehen wollten. In allen Räumen, von der Veranda bis zur Küche, ward jedes Stäubchen weggewischt und jedes Gerät und jedes Möbel so lange gerieben und poliert, bis es so lustig funkelte wie ihre eigenen lustigen Augen. Dann gingen sie gemeinsam auf den Berg, suchten emsig Erdbeeren, die den zweiten Gang ihres Kaffeefestes bilden sollten, und heimsten im nahen Gehölz zugleich riesige Büsche von Farnblättern, Waldblumen und Gräsern ein, die sie, unten angekommen, in geschmackvolle Sträuße banden und zu festlichem Schmuck in den Zimmern verteilten. Sogar eine Girlande von Eichenlaub und Tannen wanden sie und hängten sie Über die Eingangspforte zur Veranda – ein weißes Stück Pappe darunter befestigend, auf welches sie mit den schönsten und größten Buchstaben, deren ihre zierliche Schulmädchenhandschrift fähig war, das Wort »Willkommen!« gemalt hatten. Danach machten sie sich zum Gang ins Städtchen fertig, wo sie süße Sahne zum Kaffee und vor allem recht, recht schönen Kuchen bestellen wollten. Das Mittagessen für sich selbst kümmerte sie wenig. »Der dumme Schöps kann noch einmal in den Kochtopf spazieren,« meinte Lucie, »wir werden schon satt werden.« – »Ich bin es schon vor Freude,« war Dorchens zustimmende Antwort.

Als beide – von ihrem Besorgungsgang zurückgekehrt – sich im kühlen Zimmer ein wenig ausruhten, »überhörten« sie sich währenddessen gegenseitig ihre Vorbereitungen und Arrangements zum Nachmittag und fanden zu ihrer Befriedigung, daß nichts vergessen und alles gut sei.

»Hoffentlich gerät uns auch der Kaffee!«

»Ja, das ist natürlich die Hauptsache. Blümchenkaffee dürfen wir Onkel Hofmann nicht vorsetzen. Er würde uns schön necken.«

Überlegend steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten und beichteten sich gegenseitig, daß Lucies Leistungen darin bis jetzt eigentlich so sehr gut nicht geschmeckt hätten, »trotzdem ich jedesmal mehr Kaffeebohnen genommen habe,« klagte diese, die sich das Mißlingen nicht erklären konnte. Da holte Doris eine Zeitung, in die sie heute zufällig geguckt, und machte ihre Cousine auf eine Kaffeenotiz: »Karlsbader Mischung!« aufmerksam, welche als unübertrefflich gepriesen wurde, und erzählte ihr zugleich, was für eine Büchse sie vorhin in der Ecke des Speiseschrankes gefunden habe. Darüber war die kluge kleine Berlinerin sehr erfreut, denn sie entsann sich sofort, daß ihre Mama zu Hause auch jedesmal von der Köchin Karlsbader Mischung holen lasse, wenn es Extra-Kaffee zu bereiten galt. Es war ja ein wunderbarer Zufall, daß Dorchen dies gerade heute gefunden. Nun sollten Onkel und Tante sich einmal wundern.

Das flüchtig hergestellte Mittagessen ward in gleichgültiger Eile verzehrt, und lange vor der festgesetzten Zeit standen die beiden jugendlichen Gastgeberinnen, mit zierlichen weißen Schürzchen geschmückt, draußen am Gartengeländer, um nach ihren Besuchern auszuspähen. Als die Uhr dann vier schlug, lief zuerst Doris ins Haus, die – zur Erhöhung der Feierlichkeit ihnen unbedingt nötig scheinende – Schlagsahne zu schlagen. Das kleine Leckermäulchen hatte Übung darin, und so gelang das Kunstwerk schnell. Sorgsam trug sie die Schale voll süßen Schaumes in den kühlen Keller und löste dann Lucie auf ihrem Beobachtungsposten ab, die jedoch erst in die Küche eilte, als die Erwarteten schon auf dem unteren Bergwerk sichtbar wurden – der Kaffee sollte ganz frisch und heiß auf den Tisch kommen.

Ihre Berechnung erwies sich auch als ganz richtig. Ein Weilchen dauerte es, bis Onkel und Tante heraufkamen, dann standen sie gerührt vor der Empfangsgirlande und dem schönen »Willkommen!« still und bewunderten weiterhin den sauber gedeckten Kaffeetisch und die schmucken Sträuße so eingehend, daß Doris kaum der Tante Anna hatte Hut und Sonnenschirm abnehmen können, als Lucie auch schon mit der dampfenden Kanne und der appetitlichen, schaumigen Sahne erschien. Auch diese ward gebührend gelobt und anerkannt. Onkel Hofmann tat ganz enttäuscht und zerknirscht, daß er gar nichts zu necken fand. Nun begann Lucie einzuschenken, und Dorchen reichte ihren Gästen Zucker, Sahne und Kuchen.

»Kinder, wie freue ich mich auf euren schönen Kaffee! Der Weg hier herauf war bei der heutigen Hitze wirklich beschwerlich. Dafür soll es mir aber auch schmecken.«

Lucies eitles Herzchen klopfte ordentlich vor unterdrückter Wonne. Es war ja ihr Werk, auf das die Tante sich so freute. Selbst ungeduldig und neugierig, wie es geraten, wartete sie gar nicht, bis Zucker und Sahne zu ihr herumkamen. Schnell tauchte sie den Teelöffel in ihre Tasse, um vorläufig wenigstens zu wissen, wie es – wenn auch schwarz – schmecke.

Aber ebensoschnell sprudelte sie das Kostschlückchen wieder heraus. »Tante Anna, trink nicht!« rief sie voller Schrecken.

Zu spät! Diese hatte schon ein wenig Kaffee in den Mund genommen, was nun wohl oder übel hinunter mußte. »Kinder, was habt ihr damit gemacht?« schrie sie mit allen Zeichen des Abscheus.

Verwundert blickte Dorchen von einer zur anderen, Lucie war ganz blaß! Sollte ihr Kaffee, ihr schöner Karlsbader Mischung-Kaffee daran schuld sein? Oder – konnte etwas anderes in der bezeichneten Büchse gewesen sein? Auch Arsenik war ein weißes Pulver.

»Gift,« keuchte sie händeringend, »und ich, ich bin es, die sie vergiftet hat.« Trostlos fiel sie Onkel Hofmann um den Hals.

»Na, na,« wehrte dieser, der die Sache kaltblütig nahm, weil er noch nichts getrunken hatte, »so schlimm wird es wohl nicht sein. Erzähle mal erst, wie ihr den Kaffee gekocht habt.«

Schluchzend erklärte die Betrübte, während Lucie und Tante Anna hinausliefen, um den abscheulichen Geschmack draußen mit Wasser wegzuspülen, daß sie ihren Gästen gern so recht, recht schönen Kaffee hätten vorsetzen wollen und deshalb Karlsbader Mischung genommen hätten.

»Davon kann es nicht sein, die ist ja berühmt wegen ihres Wohlgeschmackes.«

»Ja – aber vielleicht ist es keine – ich fand die Büchse erst heute im Schrank.«

»So, so! Hole sie doch mal her, Kleine.«

Dorchen gehorchte. Und kaum war sie mit der geforderten zurück, als der Onkel in ein unbändiges Gelächter ausbrach. Schnell kam Tante Anna dazugelaufen, während Lucie verlegen zu ihrem Bäschen schlich.

»Denke dir,« erklärte der Onkel seiner Schwester, sobald er wieder zu Atem kam, »sie haben uns zum Kaffee Karlsbader Mischung als etwas extra Gutes kochen wollen und – um diese zu erzielen – Karlsbader Salz zu ihren Bohnen getan.«

Tante Annas ungeheucheltes: »Na, so was! Das ist ja Medizin!« war noch viel kränkender für die jungen Mädchen, als des Onkels Lachen, mit welchem er weiter fragte: »Und ihr habt wohl ordentlich viel genommen?«

»Zwei große Eßlöffel voll,« gaben die Beschämten kleinlaut zu. »Er sollte recht stark werden, damit du uns nicht mit Blümchenkaffee necken dürftest.«

»Aber Karlsbader Salz ist doch kein Kaffee?«

»Nein, das nicht! Aber in den Chemie-Vorträgen hat unser Lehrer immer gesagt, daß Salze sich in den meisten Nährstoffen finden. Und da mußte es doch, wenn wir es mit Kaffeebohnen mischten, Karlsbader Mischung werden.«

»Ganz richtig, ganz richtig!« nickte der Onkel seinem Liebling Doris zu, die schon halb getröstet war, als sie sah, daß sie die lieben Verwandten nicht vergiftet, sondern nur mit ihres Papas Arznei bewirtet hatte.

Tante Anna aber eiferte: »Wie kannst du das sagen! Nicht richtig ist's. Doch zu grämen braucht ihr euch deshalb nicht, liebe Kinder. Das machen wir bald wieder gut. Kommt nur mit in die Küche, da wollen wir neuen Kaffee kochen, und ich erkläre euch dabei gleich, daß die bekannte Karlsbader Mischung nur zwei bestimmte Sorten Bohnen bedeutet, welche in diesem großen Badeort, der wegen seines Kaffees berühmt ist, beim Gebrauch zu gleichen Teilen gemischt werden.«

Der unter Tante Annas Leitung bereitete schwarze Trank gelang – wie zu erwarten – aufs beste und löste Lucie zugleich das Rätsel, weshalb der von ihr gebraute trotz der vielen Bohnen, die sie dazu genommen, stets matt und dünn geschmeckt hatte. Tante Anna goß das brausend kochende Wasser nur in ganz kleinen Portionen auf und sorgte durch jedesmaliges schnelles Zudecken dafür, daß das kräftige Aroma sich nicht verflüchtigen konnte. Zwei kleine Kunstgriffe, die Fräulein Sausewind natürlich nie beobachtet hatte, obwohl ihre Mama in Berlin sie ihr schon oft eingeprägt.

Heiter saßen alle vier bald wieder um die neugefüllte Kanne, der nun doppelte Ehre angetan ward. Auch die beiden Hausmütterchen ließen sich's rückhaltlos schmecken und bewiesen Verständlichkeit und gute Laune genug, über ihren Mißgriff zu lachen und alle Neckereien ruhig hinzunehmen oder lustig zu erwidern, zumal die große Schale voll schöner, roter Erdbeeren, welche sie später präsentierten, ihre Gäste wirklich überraschte und erfreute. Als der Onkel gar erfuhr, daß sie sie selbst in früher Morgenstunde auf dem Berg gepflückt, erklärte er, sich revanchieren zu müssen, und lud die beiden jungen Mädchen samt seiner Schwester zu morgen nachmittag nach Blasewitz ein zu Kaffee und Käsekeulchen Ein delikates, den norddeutschen Pfannkuchen ähnliches Kaffeegebäck, welches eine Spezialität des genannten kleinen Vergnügungsortes ist. und zu Konzert und Abendbrot auf der Brühlschen Terrasse. Mit jubelndem Dankruf antworteten Lucie und Dorchen, Tante Anna aber hatte leider schon eine Einladung zum Diner in Dresden angenommen. »Vielleicht könntest du es auf einen anderen Nachmittag verlegen?« meinte sie zweifelnd.

O, wie lang wurden da die eben noch so verklärten Gesichter der beiden Backfischchen.

Zum Glück wies der Onkel den Vorschlag zurück. »Wer weiß, wie lange wir gutes Wetter haben! Es ist heute schon recht schwül. Nein, wenn du versagt bist, machen wir drei die Nachmittagspartie allein, und du findest dich am Abend auf der Terrasse zu uns.«

Das leuchtete der Tante ein, und so wurde, bevor sie sich trennten, endgültig verabredet, daß die beiden jungen Mädchen morgen mit dem Zwei-Uhr-Zuge allein nach Dresden fahren sollten, wo der Onkel, der am Vormittag dort zu tun hatte, sie auf dem Bahnhof erwarten und für den übrigen Teil des Tages in Empfang nehmen wollte.

Erwartungsvollstes Frohgefühl weckte die beiden Bäschen am nächsten Morgen. Lachend und singend beeilten sie die häuslichen kleinen Verrichtungen, welche ihnen nun schon ganz geläufig waren, um sich mit ganzem Ernst der wichtigen Frage: »Was ziehen wir an?« zu widmen. Da der Himmel, von dem die Sonne fast zu heiß herabstrahlte, blau und wolkenlos war, fiel ihre Wahl nach langem Zweifeln endlich auf die zarten, cremefarbenen Batistkleider, welche beide fast ganz gleich besaßen. Dorchen steckte dazu hellblaue Schleifen ins Haar und eine blaßrosa Rose in den gleichfalls hellblauen Gürtel. Lucie dagegen schmückte sich mit roten Schleifen und einer dunkelroten Nelke im Gürtel. Mit beiden Farben harmonierten ihre duftigen Sonntagshütchen aufs beste, und so waren die zwei Backfischchen ganz mit sich zufrieden, als sie vor dem großen Spiegel standen und sich mit einem letzten prüfenden Blick musterten. Die Regenschirme und warmen Tücher, an welche Frau Gotthardt sie vorsorglich erinnerte, wiesen sie mit großer Entrüstung zurück. Es war ja so heiß und solch schönes Wetter! Ihr ganzer Staat wäre ja dadurch verunglimpft und verdeckt worden. Leichte gehäkelte Tüchlein über den Arm nehmend, sagten sie der Alten vergnügt adieu und eilten leichtfüßig den Berg hinunter zur Station, wo sie auch rechtzeitig eintrafen.

Nach ganz kurzer Zeit erreichten sie Dresden und erblickten auf dem Perron auch sogleich den Onkel, der ihnen ein Kompliment über ihre zarten Toiletten machte und sie – trotz ihres errötenden Protestes – zwang, im Vordersitz der offenen Droschke Platz zu nehmen, welche er schnell heranwinkte, während er selbst sich auf den Rücksitz setzte, »wie es sich so eleganten Damen gegenüber geziemt.«

Schon der Weg durch die Altstadt bis zur Dampfschiff-Anlegestelle war Lucie sehr interessant – bot er doch so viel Neues und anderes, wie sie dergleichen in den regelmäßig gebauten Straßen Berlins nie zu Gesicht bekommen. Wie überraschten sie aber erst die reichen und wechselvollen Bilder an beiden Ufern der Elbe, als sie mit dem Dampfer stromauf zogen! Von dem altdeutschen Renaissancebau der Jägerkaserne, welche sie bald rechter Hand zurückließen, schweifte ihr Auge bewundernd nach links hinüber, wo auf mehr und mehr ansteigenden Höhen Villa an Villa sich reihte, deren Gärten miteinander an Schönheit zu wetteifern schienen, bis weiterhin auf den dichtbelaubten Abhängen die königlichen und prinzlichen Schlösser in vornehmer Pracht über alle sich erhoben. Doris hatte viel zu tun, alles gehörig zu erklären, was das wißbegierige Bäschen fragte, und darüber verging die Zeit so schnell, daß beide es bedauerten, als der Dampfer schon anlegte. Noch dazu in Blasewitz! Ihr Sinn war weit mehr auf das gegenüberliegende Loschwitz gerichtet, dessen anmutig begrünte Höhen in ihren Augen durch Schillers einstigen Nimbus umflossen waren, der sie unwiderstehlich anzog. Onkel Hofmann aber erklärte, Blasewitz habe durch seine berühmte Gustel im Wallenstein gleichfalls klassische Weihe erhalten, und überdies seien Blasewitzer Kaffee, Aussicht und Käsekeulchen um vieles besser als drüben.

Und als die jungen Mädchen erst unter den wundervollen alten Bäumen des großen Kaffeegartens saßen und von ihrem Tischchen an der Umfassungsmauer einen so prächtigen Blick auf Loschwitz, den Strom und seine vielen Fahrzeuge hatten, da waren sie ganz ausgesöhnt mit des Onkels Wahl. Er war auch gar zu gut heute, der gute Onkel, und neckte gar nicht. Nur einmal, als Dorchen ihre Tasse ein wenig zurückschob, weil ihr der Kaffee noch zu heiß war, sagte er, diese Bewegung absichtlich mißverstehend: »O, du kannst ruhig trinken, hier kocht man nicht Karlsbader Mischung!« Doch tat dieser Scherz ihm leid, sobald er ihn ausgesprochen, denn dunkle Glut der Beschämung überflog dabei die Gesichter seiner jungen Gäste, und er tat alles, um ihn bald vergessen zu machen. Das war auch nicht schwer, denn Doris und Lucie waren entzückt von allem: Der Kaffee schmeckte so gut, die Käsekeulchen waren so frisch und knusperig, und der Kellner, der alles mit einer kleinen Verbeugung präsentierte, war so ehrerbietig. Im Grunde ihres Herzens waren sie, obgleich sie sich geniert haben würden, es laut zu sagen, fast froh, daß Tante Anna nicht dabei war. Sie fühlten sich so erwachsen in ihrer heutigen Selbständigkeit, und der Gedanke, auch von anderen dafür gehalten zu werden, erfüllte die kleinen Gänschen mit wonnevollem Stolz.

Als die Sonne sich zum Untergange neigte, erfüllte der Onkel ihre Bitte und ließ sie und sich nach Loschwitz übersetzen, um dort – wie Lucie es pathetisch nannte – auf den Spuren des Dichters zu wandeln. Aber die vielen »prosaischen« Spaziergänger, die ihnen auf Weg und Steg begegneten, störten zu der jungen Mädchen Ärger den Genuß der Schönheiten leider sehr und ließen ihre pietätvolle Begeisterung sich nicht recht zur Blüte entfalten. So fuhren alle drei mit dem nächsten Schiff wieder zu Tal und begaben sich ungesäumt auf die Brühlsche Terrasse.

Diese imposante Anlage, in ihrer Art wohl die einzige der Welt, an den wundervollen Monumentgruppen von Schilling vorüber in ganzer Länge durchschreitend, erreichten sie das Belvedere derselben gerade noch rechtzeitig genug, um einen Tisch in der Nähe des Einganges zum Konzertsaal frei zu finden, von wo aus man das bunte Gewühl am besten beobachten kann. Bald füllten sich die Innen- und Außenräume mit dem bunten, eleganten Publikum, das während des Sommers aus aller Herren Ländern in der anziehenden Elbstadt zusammenströmt. Lucie ward ganz aufgeregt von all den wechselnden, interessanten Erscheinungen, die sich ihrem Auge aufdrängten, und als gar erst überall die reichen Kandelaber und Lichtgehänge aufflammten, war sie ganz geblendet. Unwillkürlich wandte sie ihre Blicke, wie Erholung suchend, dem ruhigen Strome zu, aber auch jenseits schimmerte es in bunter, phantastischer Beleuchtung. Es war das sogenannte italienische Dörfchen, eine zierliche Schmuckanlage, welche ihre Laubengänge, Bosketts und Blumenplätze allabendlich mit vielen hundert buntfarbigen Lampen erleuchtet. Lucie schien es wie ein Feenmärchen – von der Wirklichkeit durch die breite, dunkle Wasserfläche geschieden. Doris war der Anblick nicht neu, aber das Entzücken ihrer Cousine steckte sie an, und als in diesem Augenblick die herrliche Musik begann, da saßen sie wie verzaubert, stumm und regungslos, und wünschten nur, daß sie die ganze Nacht so sitzen dürften und lauschen und schauen.

»Nun, Kinder, gut amüsiert?« brach plötzlich Tante Annas Stimme den Bann.

»Himmlisch, Tante!« riefen beide wie aus einem Munde.

»Ich konnte leider nicht eher kommen und habe auch versprechen müssen, bis morgen abend bei meinen Freunden zu bleiben. Aber ein Stündchen wollte ich doch noch mit euch zusammen sein. Hoffentlich habt ihr euch ordentlich mit Tüchern und Regenmänteln vorgesehen?«

»Ach, Tantchen, es ist so warm!«

»Eben darum! Wir werden ein tüchtiges Gewitter bekommen – und zwar bald. Was – Regenschirme habt ihr auch nicht?« fuhr sie erstaunt fort und maß mißbilligenden Blickes die beiden jungen Dämchen, die in ihren lichten Sommertoiletten allerdings sehr niedlich, jedoch sehr wenig wetterfest aussahen. »Dann dürft ihr nicht hierbleiben.«

»Onkel!« protestierten zwei Schreckensschreie unisono gegen dies Verbannungsurteil.

Der Angerufene sah sie unsicher an. Dann ging er von dem hellerleuchteten Platz nach dem dunkleren Teil der Promenade, um den Himmel besser mustern zu können. Als er zurückkam, war sein Blick wenig tröstlich. »Tante Anna hat recht, der Horizont ist ringsum dunkel bezogen, und die Wolken sehen böse aus. Es tut mir ja leid, eure Freude zu stören, aber –«

»Ach, liebster, bester Herzensonkel, laß uns doch noch ein kleines bißchen hier.« – »Vielleicht kommt das Gewitter gar nicht herauf.«

»Und wenn es kommt, können wir ja in den Saal gehen und warten, bis es vorbei ist –«

»Und euch nachher schönstens erkälten in euren dünnen Kleidern, den ausgeschnittenen Schühchen und durchbrochenen Strümpfen,« schalt Tante Anna, der die Enttäuschung, welche sie den jungen Mädchen bereiten mußte, zwar auch wehe tat, die sich aber den Eltern gegenüber doch für ihre Gesundheit verantwortlich hielt. »Bedenkt doch, wie sich die Luft nach einem Gewitter abkühlt! Und warum habt ihr nur nichts Warmes mitgenommen, Dorchen? Du weißt doch, daß deine Mama es stets tut.«

Betrübt ließen die beiden Gescholtenen ihre Köpfe hängen. Recht hatte ja die Tante, aber – war es nicht zu grausam, daß sie sie gerade jetzt wegschicken wollte, wo die Herrlichkeiten des Abends erst eben ihren Anfang genommen?

Der Onkel wurde durch den Kummer seiner jungen Schutzbefohlenen ordentlich angesteckt und hätte gern irgend einen Ausweg ersonnen, ihnen den Genuß des Vergnügens bis zum Ende zu ermöglichen. Aber umsonst! Die Wetterwand am Himmel stieg drohend höher, und als gar schon fahles Wetterleuchten darüber hinzuckte, entschied er fest: »Es hilft nichts – wir müssen augenblicklich aufbrechen. Und zwar zu Wagen, denn wenn das Gewitter inzwischen heraufkommen und sich entladen sollte, könntet ihr in eurem dünnen Schuhzeug ja auf den durchweichten Wegen nicht einmal von der Station bis zum Weinberg hinaufgehen, während ich euch – wenn ich hier eine Droschke nehme – dicht vor eurer Tür absetzen kann. Kommt, kommt,« fügte er gütig tröstend hinzu, als er sogar Tränen in ihren Augen sah, »wenn deine Mama wieder hier ist, Dorchen, lade ich euch noch einmal ein, die sorgt dann für Schirme und Tücher, und wir amüsieren uns ungestört, solange wir wollen.«

Das war zwar ein kleiner Trost, aber für den Augenblick nur ein sehr kleiner, und Tante Annas abwechselnd bald bedauernde, bald scheltende Besorgnis vergrößerte ihn auch gerade nicht. Die beiden törichten Mädchen schmollten ordentlich mit der Tante, welche doch nur ihr Bestes im Auge hatte und – als die Droschke vorfuhr – sich sogar erbot, ihren Freunden abzusagen und mit ihnen nach Hause zu fahren, damit sie sich im Dunklen im Walde nicht fürchten möchten. Beide versicherten kühl: »O bitte, Tante, nein! Wir fürchten uns gar nicht. Laß dich unsertwegen nicht stören.«

Was so gut gemeint war, empfanden sie nur als Kränkung, die sie schweigend verschluckten. Der Abstand war auch zu groß: Am Nachmittag von dem ritterlichen Onkel wie wirkliche junge Damen eingeladen und umhergeführt, mußten sie sich jetzt wie Kinder schelten, nach Hause schicken und noch dazu fragen lassen, ob sie sich fürchteten? Mußten dem gedeckten Tischchen den Rücken kehren, über dessen Besorgung ihr liebenswürdiger Gastgeber so lange und verheißungsvoll mit dem Kellner geflüstert hatte, mußten aus der fröhlichen Menge, dem herrlichen Konzert, dem blendenden Lichtmeer fort in die enge rumpelnde Droschke – hinaus in Dunkelheit und Einsamkeit!

Als der Wagenschlag geschlossen, stieg der Onkel mit auf den Sitz des Kutschers, denn da letzterer ihm fremd war, schien es ihm sicherer, selbst mit auf Weg und Pferde achtzugeben, falls sie das Gewitter erreichen sollte. Und das geschah nur allzu bald. Kaum hatten sie die letzten Häuser Dresdens hinter sich, da wurden aus dem Wetterleuchten Blitze, und in das Rauschen der Bäume mischte sich der erst fern, dann immer näher und lauter rollende Donner. Brausender Sturm erhob sich, jagte den Staub und scharfen Sand vor sich her und trieb die noch vereinzelt fallenden Regentropfen mit kurzen, scharfen Schlägen gegen die Fenster der Droschke. Der Waldweg, der am Tage so schön ist, war in vollständige Finsternis gehüllt, nur beim bläulichen, rasch vergehenden Schein der aufzuckenden Blitze konnte der Kutscher ihn erkennen, der deshalb langsam fahren mußte und seine ganze Kraft brauchte, um die unruhig werdenden Pferde fest im Zügel zu behalten. Onkel Hofmann durfte nicht daran denken, seinen Außenplatz zu verlassen, er mußte jeden Augenblick bereit sein, selbst die Leine zu nehmen, falls es nötig wurde, daß der Kutscher die durch das Getöse unbeschreiblich geängstigten Tiere mit der Hand am Kopfe führte. Er durfte es nicht achten, daß Sturm und Regen ihn ins Gesicht peitschten, durfte nicht wagen, nach den Kindern zu sehen und ihnen gut zuzureden, wie er es gern getan hätte.

Ach ja! Jetzt waren sie die richtigen Kinder. Eng aneinandergekauert saßen sie da – sie froren nicht, aber sie zitterten vor Aufregung und Furcht. Die schneller und schneller aufeinander folgenden Blitze erfüllten sie mit schier sinnloser Angst, und jeder krachende Donnerschlag entlockte ihnen schrille Jammerrufe. Bald hielten sie sich mit beiden Händen die Ohren zu, bald fielen sie sich um den Hals und schluchzten laut. »Ach, Dorchen, Dorchen! Es ist so schrecklich finster!« jammerte Lucie, »wenn doch Mama hier wäre, daß wir wenigstens ihre Hand anfassen könnten.«

Das Brausen, Donnern und Tosen dieses fürchterlichen Unwetters zu vermehren, fing nun auch der Regen an, in Strömen herabzurauschen, was die Unbehaglichkeit der Situation noch vermehrte. Denn das Wasser drang durch die schlecht schließenden Fenster, rann auf den Boden und durchnäßte ihr leichtes Schuhzeug, es tropfte durch die Fugen des Lederverdecks auf die duftigen Hüte, auf die cremefarbenen Staatskleider. Umsonst versuchten die armen Dinger, sich wenigstens dagegen zu schützen! Sie hatten weder Mäntel noch Tücher und mußten alles über sich ergehen lassen.

Die Stunde, welche der Weg bis zum Weinberg in Anspruch nehmen sollte, ward ihnen zur Ewigkeit. Endlich – als auch die Blitze nachgelassen hatten und der Donner schwächer geworden war – hielt der Wagen vor ihrem Hause.

»Nun, wie hat euch das Sturmkonzert gefallen?« scherzte der Onkel, als er ihnen die Tür des Wagens öffnete.

In diesem Augenblick erschien – durch das Rädergerassel aufmerksam gemacht – die alte Frau Gotthardt mit der Lampe. O weh! Wie sahen bei deren Schein die beiden am Nachmittag so stolzen jungen Dämchen aus! Kläglich, blaß und verregnet; die lustigen bunten Schleifen hingen schlaff und aufgeweicht herunter, und ihre Farben waren in breiten blauen und roten Streifen auf die zarten Kleider herabgelaufen.

»Aber Backfischchen? Ihr seid ja gar keine richtigen Fischchen, wenn ihr das Wasser so wenig vertragen könnt.«

Um den Mund beider Mädchen zuckte es verräterisch, als sei ihnen das Weinen näher, als das Lachen.

»Besorgen Sie schnell etwas Warmes, Frau Gotthardt, und bringen Sie Ihre jungen Damen bald zu Bett. Adieu, Kinder! Ich muß auch rasch nach Hause, um in trockene Kleider zu kommen, hoffentlich erkältet ihr euch nicht!«

»Adieu, Onkel! Habe Dank für deine Einladung!« kam es leise und gedrückt zurück.

Die alte Frau tat ihr Bestes, sie half den verregneten »Freilenchens« so schnell als möglich die nassen Kleider abziehen und brachte ihnen, als sie im Bett lagen, einige Tassen draußen schnell heißgemachter Milch. Das erwärmte und belebte freilich ein wenig. Aber die Stimmung! Lange sprach keine ein Wort.

Endlich seufzte Lucie: »Das ist nun das Ende unseres glorreichen Nachmittags.«

Aber Dorchen war vernünftig genug, einzusehen: »Wir sind selbst schuld, Lucie. Mama hätte Regenmäntel und Tücher mitgenommen, und wir könnten noch auf der Terrasse sein und uns amüsieren.«

»Wer kann an alles denken. Wenn deine Mama hier wäre, hätten wir gestern unsern Kaffee auch nicht mit Karlsbader Salz gekocht –«

»Und ich wäre vorgestern nicht am Bratofen eingeschlafen –«

»Wir hätten uns überhaupt das Ungetüm von Schöpsenkeule gar nicht aufschwatzen lassen –«

»Und hätten neulich auf der Friedensburg nicht zu hungern brauchen –«

»Und die Fledermaus wäre vielleicht auch nicht hereingekommen.«

Da trat Frau Gotthardt noch einmal herein. »Balde hädde ich's vergessen. Der Bostbode hat Se ooch äne Karde kepracht!«

»Aus Leipzig von Mama!« jauchzte Dörtchen. »Sie kommt! Sie kommt!«

»Wann? Wann?« rief ungeduldig Lucie.

»Morgen vormittag mit dem ersten Zug.«

»Hurra!« schmetterte das Preußenkind mit Stentorstimme, sprang aus dem Bett, zerrte Dörtchen aus dem ihrigen und zwang sie zu einigen Freudensprüngen und einem kühnen Jubelgalopp mit bloßen Füßen auf bloßer Diele.

»Lucie, Lucie!« flehte diese, »wir erkälten uns.«

»Nein, nein! Freude macht warm.«

»Und wir sind nicht mehr selbständig, wenn Mama erst wieder hier ist.«

»Gott sei Dank, nein! Das ist es ja eben, worüber ich mich so freue!«


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