Alexis / Hitzig
Der neue Pitaval - Band 11
Alexis / Hitzig

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Vorwort

Politische Processe aus der französischen Revolutionszeit gehörten nicht in den Plan unsers Werks. Wir sagten darüber in der vorigen Auflage:

»Die Französische Revolution erschien uns selbst als ein ungeheurer Proceß, mehr mit siegenden und unterliegenden Ideen, mit schuldig und unschuldig vergossenem Blute, als mit Rechtsformen durchwebt und verkittet, ein Proceß, der also in seiner Totalität aufgefaßt werden muß, nicht in seinen einzelnen Acten, und demgemäß weit über die Grenzmarken unserer berühmten Rechtsfälle hinausragt. Die Theilnahme indeß, welche gerade die einzelnen in das politisch-historische Gebiet einschlagenden und von uns in den früheren Bänden aufgenommenen Processe beim Publicum fanden, und die Aufforderungen, von sehr geachteten Stimmen, an uns ergehend, in diesen Darstellungen fortzufahren, veranlaßten, jene Geschichtsperiode von unserm Standpunkte aus näher ins Auge zu fassen. Wäre es doch vielleicht« – sagten wir damals, in der Epoche eines großen Gährungsprocesses im eigenen Vaterlande – »gerade für die Wissenschaft an der Zeit, die Momente zu betrachten, wo die Streitfragen zwischen dem Privat- und dem öffentlichen Rechte in andern Völkern zu einer blutigen Lösung gelangten, um zu lernen, wie wir sie friedlich und im Wege des Rechtes herbeiführen. Von welcher der streitenden Parteien erschallt nicht der Ruf: am Rechtsboden festzuhalten! Schade nur, daß die große Weltgeschichte lehrt, wie sie ihn überall, wo sie vorwärts ging, verließ, wie das gefestetste Feste durch Wort und Schrift nicht Stich hielt, wo ein neuer Gedanke geboren ward, ein neuer Geist, um die Welt zu beherrschen. Die Löblichkeit des Bestrebens, auch in diesen Umwälzungen an Satzungen und Formen zum Schuß gegen die Willkür sich zu klammern, leidet um deswillen, daß die Geschichte so ganz anders arbeitete, als unsere Rechtswissenschaft für Recht hält, keinen Eintrag; wirke Jeder, was er kann. Aber verhehlen können wir es uns nicht, daß dies Bestreben auch zur Carricatur wird, und mehr als das, zum furchtbaren Hohn, wo die Macht nach Rechtsformeln sucht, abgestandenen alten, oder neu erfundenen, um die nackten Acte ihrer grausamsten Willkür einigermaßen zu verhüllen.

»In diesem Lichte erscheinen die Processe aus der Zeit des Terrorismus. Wenn wir aus diesen endlosen Blutgerichten in der Folge einige auswählen, kann es formell nur des Beispiels, der Vervollständigung wegen geschehen, um ex ungue leonem zu erkennen, oder wo besondere Persönlichkeiten ein anderartiges Interesse für uns daran knüpfen. Die lange Reihe der Girondisten auf der Guillotine ist für uns nur ein historisches Factum, eine große Tragödie, die Besiegten unterlagen den Siegern; Siegern, welche die Ueberwundenen opfern mußten, die Processe gegen sie waren nur die Ausfüllung einer Chablone.

»Nach der Beendigung des großen Blutgemäldes tritt dagegen eine andere Reihe politisch bedeutungsvoller und durch ihre Intriguen, Incidenzpunkte und das beobachtete processualische Verfahren, interessanter Criminalfälle in den Verschwörungen gegen Napoleon als Consul und Kaiser hervor, Fälle, die vollen Anspruch haben, auch neben ihrer geschichtlichen Bedeutung durch ihre Verwickelungen, die Schwierigkeit der Ermittelung, die Charakteristik der handelnden Personen, als Einzelfälle in unserm »Pitaval« aufzutreten. Der Proceß gegen die Urheber der Höllenmaschine, schwierig und interessant durch den künstlichen Indicienbeweis, der gegen Georges Cadoudal, ein colossales Nachtstück voll romanhafter Situationen, gegen den General Mallet, dessen Intrigue und Verschwörung fast einzig dasteht in der Geschichte, wären, auch wenn sie sich nicht als neckische Dämonen an den Siegeslauf des Heros annestelten, durch die Wucht ihrer eigenen Verwickelungen und Charaktere von criminalistischer Bedeutung.«

Diese drei letztgenannten Fälle, wovon der erste und der dritte im folgenden zwölften Theile aufgenommen sind, waren, als wir sie niederschrieben, in der Gegenwart von mehr als historischem Interesse, da man von den Höllenmaschinen und andern Mordversuchen gegen Louis Philipp noch den Brand- und Pulverdampf in der Luft zu riechen glaubte. Neuerdings sind wir durch die Höllenmaschine des 14.Januar 1858 noch lebhafter an dieselbe erinnert.

Hinsichts der Criminalfälle aus dem Privatleben, die in mannichfacher Zahl und bunter Verschiedenheit in diesem Theile den politischen folgen, wird bemerkt, was wir auch hier noch wiederholen: »Wir leugnen nicht den Einfluß ab, welchen oft der bewegte Augenblick auf die Darstellung eines oder des andern Processes aus der Vergangenheit übte, und daß die Frage über Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverhandlungen den Schreiber dieses gerade während mehrerer in diesen Bänden enthaltener Fälle, so lebhaft beschäftigte, daß sich in die Darstellung eine Abhandlung einschlich. Wer sich für die Frage über die Geschwornengerichte interessirt, sei in dieser Beziehung insbesondere auf den merkwürdigen Proceß des Obrist Charteris verwiesen, der uns deutlicher als irgend ein anderer über die oft bestrittene Bedeutung Zeugniß ablegt, welche das Geschwornengericht in England, dem Buchstaben des Gesetzes entgegen, gewonnen hat. Noch wichtiger für den Juristen und Politiker ist der außerordentliche Proceß, der unter dem Namen Der Richter von Rhode Island zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts in dem eben zu seiner Freiheit gelangten Amerika über das Verhältniß der Staatsgewalt zur Justiz mit fast erschöpfender Gründlichkeit geführt ward. Beide Processe, jener ein aus der Vergessenheit von uns hervorgezogener, dieser in Chandler's trefflicher Sammlung («American trials») enthalten, dürften der Mehrzahl unserer Leser ganz neu sein.«

Der zweite ist erst im dreizehnten Theile aufgenommen; hinsichts des erstern hat inzwischen ein aufmerksamer Leser unsers «Pitaval» daran erinnert, daß Obrist Charteris weit bekannter sei als wir denken. Mit anderm Namen finden wir das moralische Scheusal in einer der Hogarth'schen Meistertafeln wieder; übrigens meldet eine andere Notiz, daß es ihm doch gelungen natürlichen Todes, bald nach seiner Verurtheilung, zu sterben, worüber unsere Berichterstatter die Sache in der Schwebe ließen.

Lacenaire, Die Müllerin von Fockendorf sind jeder in seiner Art psychologische, wenn nicht Räthsel, doch merkwürdige Verirrungen der Menschennatur. Ein grauenvolles Nachtstück, dem nur zu viel nahe Verwandtes voraufging, bietet Delacollonge; welche eigenthümlichen tiefen Blicke in das Menschenherz dagegen, und wie Umstände und Aberglaube die gesündesten Charaktere zum Verbrechen hinreißen können, das von frischer Meeresluft durchhauchte Seestück, die Geschichte und die Bekenntnisse der fünf Mörder auf der Esperance!

Die Fälle: Der Jahrmarkt zu Leerdam und Der blinde Zeuge, sind nicht aus, actenmäßigen, sondern geschickt vermittelten Mittheilungen entnommen, es bleibt daher jedem Leser überlassen, wieviel er davon geschminkt annehmen will; criminalistische Novellen, wie so viele, aber mit einem unwiderlegbaren Kern.

Actenmäßig dagegen sind die beiden französischen Fälle aus jüngerer Zeit: Euphemie Lacoste und Bletry. Die Mehrzahl unserer Leser werden sich derselben aus den Zeitungen entsinnen, von denen sie als eine wahre cause célèbre Tag für Tag behandelt wurden; man wettete für und gegen die Angeschuldigten, die beide frei gesprochen wurden. Unser Referent ließ in beiden Fällen vielleicht andere Ansicht durchblicken, ohne das gefallene Verdict anfechten zu wollen. Eine Stimme protestirte gegen die Redaction in Bezug der Ansicht über die Lacoste. Die Darstellung war die Ausführung eines jungen praktischen Juristen, der von seinem altpreußischen Rechtsverfahren sich nicht entfernen konnte, übrigens sich wol selbst zu vertheidigen gewußt hätte, wenn die Anklage eine allgemeine geworden wäre. Hinsichts des Falles Bletry ist das wunderbare Geheimniß noch immer Geheimniß, das Urtheil des Publicums aber immer dasselbe geblieben.

W. Häring.


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