Alexis / Hitzig
Der neue Pitaval - Band 7
Alexis / Hitzig

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Vorwort

»Meine Absicht war, einen historischen Abriß von jedem einzelnen Falle zu geben, und zwar nach einer sorgfältigen Prüfung und Abwägung aller damit in Verbindung stehenden Thatsachen, in einer lesbaren Erzählung. Aber es springt in die Augen, daß kein allgemeiner Plan eines Werkes, wie das vorliegende, so umfassend und zusammenfassend sein kann, als daß er nicht mannichfache Abkürzungen in Bezug auf jeden einzelnen Fall erleiden müßte. Gewiß erklären sich manche Criminalfälle von selbst, und hier ist es nur nöthig, einen getreuen Bericht des wirklichen Processes zu liefern, vielleicht mit der Nebenaufgabe, die minder oder mehr entfernten Nebenumstände und Beziehungen so zu verarbeiten, daß sie mit dem Ganzen in eine harmonische Wirkung treten. In andern Fällen ist das Verhör, die Zeugenaufnahme, kurz der eigentliche Proceß, das Allerunwesentlichste an dem Criminalfalle und mag ganz beiläufig erwähnt werden. Wieder in andern beruht das ganze Interesse auf der Gerichtsprocedur und hier muß Sorge getragen werden, den ganzen dramatischen Verlauf des Processes bis auf die kleinsten Begebenheiten wieder zu geben, und Kläger, Verklagte und Zeugen selbst reden zu lassen, wie sie geredet haben. In noch andern Fällen sind die Reden der Advocaten, die von ihnen hervorgehobenen Argumente und Ansichten die eigentlichen Lichtpunkte der Verhandung, welche alles Uebrige in Schatten treten lassen – und hier wird es wieder nöthig, die nebenliegenden Umstände und Thatsachen zu beleuchten, auf welche die Anwalte fußen, ohne daß sie doch im Processe selbst zur Sprache gekommen wären. Einleuchtend ist daher, daß jeder Criminalproceß seinen eigenen, selbständigen Plan haben muß, um das Interesse der Leser zu fesseln und den dramatischen Effect sich zu bewahren für die Namen und Begebenheiten, welche er darstellt.«

Mit diesen Worten leitet Peleg W. Chandler ein seine treffliche Sammlung der »American Criminal Trials«, welche er 1844 herauszugeben begonnen hat (Boston, Tymothy H. Carter und Comp.). Wir werden aus den Ameriean Trials einige in unsern Pitaval aufnehmen, und bringen schon in diesem Theile einen dieser transatlantischen Processe, welche klar, anschaulich und psychologisch tief eingehend in das geistige Leben der Individuen, wie der Völker und Zeiten geschrieben sind. Wichtiger ist für uns in diesem Augenblicke das Zeugniß des Amerikaners für unsere eigene Auffassung der Stoffe, welche uns zur Bearbeitung vorliegen. Für die Darstellung von Criminalfällen läßt sich keine allgemeine Regel geben, so wenig für den Schriftsteller, der an ein größeres Publicum denkt, als für den Juristen, der vor einem Collegium, oder einem Geschworenengericht referiren soll. Jeder Fall bedingt seine eigene Form, und eine Auffassungsart, die hier vortrefflich war und den Gegenstand erschöpfte, kann dort zum Uebel werden.

Wenngleich wir uns versündigten, wollten wir über die Aufnahme unseres Werkes im deutschen Publicum klagen, indem wir im Gegentheil uns nur über die immer steigende Theilnahme für unsere Bemühungen zu erfreuen haben, so treten uns doch noch immer Ansichten entgegen, die wir schon oft bekämpfen mußten, um uns auf unserm Standpunkte zu erhalten. Wir geben gern zu, daß wir auch von diesem aus betrachtet, fehlen mögen, wir würden aber von demselben ganz abirren, wenn wir auf die mannichfachen, wenngleich freundlichen, Stimmen hätten hören wollen, die uns zurechtzuweisen bemüht waren. Wir meinen hier vorzugsweise die Juristen vom Fach, gegen deren Anfoderungen, nur solche Fälle aufzunehmen und zu behandeln, welche ein kriminalistisches Interesse im speciellen und engsten Sinne betreffen, wir uns schon voriges Jahr verwahrten. Unsere Aufgabe ist eine umfassendere, als nur jene Fälle hervorzuheben, wo das Interesse sich an die Zweifel in der thatsächlichen und der juristischen Beurtheilung hängt, und im Streit darüber sich jene monströsen Gebäude aufthürmen, an denen die Vergangenheit und Gegenwart so reich ist, und die man vorzugsweise als causes célèbres bezeichnet. Wir suchen die Celebrität nicht allein in den Auswüchsen und Anomalien der Lebenskraft, sondern auch in ihrer naturgemäßen Entwickelung, und die allereinfachsten Hergänge, die zweifellosesten Begebenheiten und Verbrechen können für uns von Wichtigkeit sein, wenn andere Lebensfragen, psychologische wie historische, sich in den Thatsachen des Verbrechens selbst, seinen Vorbedingungen oder seinen Folgen abspiegeln. Die Behandlungsweise muß in diesen verschiedenen Fällen verschieden sein, und es läßt sich keine Norm dafür von vornherein angeben, wie unser Bundesgenoß jenseits des atlantischen Oceans mit so kräftigen Worten ausgesprochen hat.

Es wird neuerdings zur Pflicht, gegen einen ebenso freundlich gesinnten als umsichtigen Kritiker uns abermals zu verwahren, welcher in den Blättern für literarische Unterhaltung die fünf ersten Theile des neuen Pitaval einer sehr ernsten und klaren Beurtheilung gewürdigt hat. Käme es nur auf persönliche Gefühle an, dürften wir dem uns unbekannten Verfasser nur zu Dank verpflichtet sein, wie wir es ihm denn auch, abgesehen davon, für viele treffliche Winke sind. Dagegen scheint es, als könnten wir uns, ungeachtet so vieler Protestationen, vor Misverständnissen nicht schützen. Der Kritiker belobt uns zwar, daß wir parteilos zwischen den Parteien für das öffentliche und das schriftliche Gerichtsverfahren (um nicht heimliche zu sagen) blieben, und mit Ernst und Wahrhaftigkeit die vorgetragenen Rechtsfälle behandelten; aber schon in seinem Lobe, daß wir berühmte Processe aus jenem und aus diesem umschichtig vorführten, liegt eine Imputation, die, so ehrenvoll sie gemeint ist, wir von uns ablehnen müssen. Wenn es der Fall ist, so gebührt dem Zufall das Lob, aber die Mischung beider Arten ergab sich aus andern Verhältnissen, nicht aber aus der Lust Analogien oder Antithesen hinsichts der Form neben- und gegeneinander zu stellen. Die Form des Rechtsverfahrens steht uns überall nur im zweiten Gliede; wir waren und sind weit davon entfernt, in unserm Pitaval nur ein Compendium zum Studium Dessen, was das beste Gerichtsverfahren sei, liefern zu wollen. Im ersten Gliede steht uns die historische und psychologische Bedeutung des Falles. Wie das Verbrechen und der Verbrecher sie gewinnen, im Verhältniß zu der Geschichte und Sitte ihrer Zeit, zu den Kreisen der Gesellschaft, des Glaubens, des Wahnes, aus denen die That hervorging, wie sie von ihnen beurtheilt ward. Zunächst die Fälle, welche, abgesehen von Ort und Zeit (wenn das möglich wäre!) uns besondere Blicke in die innere psychologische Werkstatt des Verbrecherlebens gewähren, und zuletzt erst die, wo das Interesse nur in den wunderbaren Verwickelungen liegt, welche die Beurtheilung zweifelhaft machen, und wo die Lösung den ganzen Scharfsinn des Richters auffodert, sie oft nur dem Zufalle verdankt, und oft gänzlich ausbleibt.

Daß die Criminalfälle dieser letzten Art, die zugleich Räthsel und Novellen sind, weil sie durch Steigerung und Spannung Verstand und Phantasie anreizen und befriedigen, auch für das größere Publicum die beliebteren und geleseneren sind, und daß sie zu gleicher Zeit einen Probestein für das zu ihrer Entdeckung angewandte Verfahren abgeben, kann uns nicht bestimmen, ihnen einen ersten Rang in unserer Schätzung anzuweisen.

Der geehrte Kritiker verweist uns besonders auf historische Stoffe, als die, welche die allgemeinste Theilnahme in Anspruch nehmen. Wir sind davon überzeugt, aber wir gehen weiter als er; wir meinen, daß nicht allein die Processe, in denen über historische Personen gerichtet wurde, daß vielmehr die überwiegende Mehrzahl aller bedeutenden Criminalprocesse nicht als isolirte Begebenheiten dastehen, sondern der Geschichte angehören, daß sie lebendige Theile derselben bilden, daß man auch in ihnen ein Volk, eine Zeitepoche studiren kann und soll. Wir meinen, daß man die Historie einer Nation nicht dadurch allein vollständig macht, wenn man die ehemalige trockene chronologische Herzählung der Haupt- und Staatsactionen durch eine Sittengeschichte ergänzt, ja daß auch die geistigen Bewegungen im Volke, seine Verfassungskämpfe, seine Entdeckungen und Erfindungen, seine vorragenden Dichter, Künstler und Gelehrte, seine Handelsoperationen und seine Industrie, das Gemälde einer Zeitepoche noch nicht vollenden, wenn nicht auch die bedeutenden Verbrechen und ihre Verfolgung darin Aufnahme finden; denn erst aus diesem düstern Schlagschatten der Civilisation gewinnen wir die richtige Würdigung, die Probe für die Darstellung der Lichtmomente. So haben schon Hume und seine Nachfolger mit richtigem Takte die englische Geschichte geschrieben, freilich weil dort der Criminalproceß von früh an zum öffentlichen Leben gehörte. Wenn wir erst spät nachkommen, Das als ein Stück unserer Sittengeschichte zu erkennen, was man vordem nur als einen Auswuchs derselben ansah, ist es für uns um so dringendere Pflicht, die Fühlfäden und Fibern, welche die herausgerissene That mit dem Gesammtleben verbinden, aufzusuchen, und es unsere Hauptaufgabe sein zu lassen, was bis jetzt nur als schaudervolles Grauenstück die rohen Sinne ergötzte, oder als Rechenexempel der Inquisitionskunst den Verstand beschäftigte, als ein Symbol der verirrten Lebenskräfte in einem Volke zu betrachten und darzustellen.

So ist unsere Aufgabe eine historische, und war es schon, ehe wir uns entschlossen, den interessanteren Fällen aus dem Privatleben die großen Criminalprocesse aus dem öffentlichen und Staatsleben anzureihen. In diesem Sinne wählen und arbeiten wir, und in diesem Sinne sind uns gewisse Fälle vom höchsten Interesse, welche dem Criminalisten von Fach gar nicht dahin zn gehören scheinen, weil die kunstgerechte Abrundung zum Criminalproceß entweder zurücktritt, oder ganz fehlt. Allerdings war die Erzählung von Nickel List und seinen Gesellen und waren die Processe der Highwaymen keine Criminalfälle in dem speciell juridischen Sinne; aber uns verdrießt nicht die Mühe, welche die Relation aus vielfach zerstreutem Material uns kostete, weil gerade aus beiden ein umfassendes Gemälde einer vergangenen Zeit uns so lebendig ins Auge trat, wie es weder die Geschichte noch die Dichtung uns lieferte. In all den grauenvollen Verbrechen, welche der Volkswahn in gewissen Zeitepochen hervorrief, ist die einzelne That, der eigentliche Gegenstand des Processes, in der Regel unbedeutend. Eine nur actenmäßige Darstellung des Thatsächlichen würde zur dürren unverständlichen Skizze werden; vielleicht ein Beitrag mehr zu den Ungerechtigkeiten, zu dem unschuldig vergossenen Blute, das von allen Richterstühlen träuft, denen, wo im Namen Gottes, des Königs oder des Volkes, gerichtet wurde. Aber die einzelne Handlung, Verbrechen und Strafen, als Glied eines organischen Ganzen, einer gewaltigen Bewegung, einer furchtbaren Strömung im großen Lebensprocesse der Völker gedacht, gibt die Abrundung, die Abgeschlossenheit, die der Jurist von jedem Falle mit Recht fodert, aber mit Unrecht in zu engen Grenzen sucht.

Sind wir doch auch schon besorgt, daß man uns von dieser Seite die Aufnahme der Geschichte Cagliostro's in unserm Pitaval verargen wird; denn allerdings ist das Rechtsverfahren gegen ihn vor der römischen Inquisition nichts weniger als Das, was man von einem Criminalproceß fodert, ja es wird sogar zur lächerlichen Nebensache gegen die colossale Bedeutung dieses großartigen Charlatans selbst! Aber was wollen alle Graunerprocesse, mit den allerinteressantesten und vollständigsten Actenbelegen, mit der spannendsten und befriedigendsten Untersuchungsprocedur bedeuten gegen die Erscheinung dieses Betrügers, in der uns zur Anschauung gebracht werden die Sünden eines ganzen Zeitalters, die absurdeste Verirrung des menschlichen Geistes auf dem Höhenpunkte einer geistigen Ausbildung, welche mit stolzem Selbstbewußtsein sich der Vollendung nahe dünkte? Da ist der Spiegel eines Verbrechers, wie er in der ganzen Geschichte wahrscheinlich nicht zum zweiten Male vorkommt, ein Betrüger und eine Schar von niedern und hohen, ja von erlauchten Betrogenen, der eine so unglaublich keck, frech, als die andern in unglaublicher Verblendung befangen. Noch war Cagliostro's Geschichte nicht geschrieben, und schon gehen die zahllosen Zeugnisse, in den Bibliotheken und Archiven vermodernd und vermaculirt, verloren, als unsere Aufgabe uns auch zu ihm führte. Wenn es uns gelungen wäre, die Geschichte seiner Erscheinung noch einmal vor ihrem Erlöschen aufzufangen, und ein anschauliches, warnendes Bild zu entwerfen, hätten wir da Unrecht gethan, weil sein Proceß des rechten Stempels einer juristischen Untersuchung entbehrt?

Aber man will doch nicht auf unsere Betheuerung achten, daß es der Stoff ist, der uns zuerst ergreift, daß seine geistigen Beziehungen zu den Individuen und zur Gesammtheit uns die Werthschätzung des einzelnen Falles geben; man möchte uns die Pistole auf die Brust setzen, über eine freilich hochwichtige, aber doch nur eine Zeitfrage. Wir sollen Rede stehen, welcher Ansicht wir über das Gerichtsverfahren sind. Dort warf man uns vor, ohne Plan in den Tag hineinzuarbeiten, nur eine Blumenlese ohne Tendenz zu geben, uneingedenk der großen Aufgabe, die Nothwendigkeit des öffentlichen Verfahrens durch unsere Darstellung des ältern Gerichtsverfahrens auszusprechen. Hier lobt man uns, daß wir es nicht gethan, daß wir uns parteilos gehalten, erwartet aber von uns, daß unsere Arbeit uns zur Ueberzeugung gebracht habe, wie die Wahrheit, Schutz und Sicherheit des Unschuldigen, wenn nicht allein, doch vorzugsweise durch das Inquisitionsverfahren, durch gelehrte Richter geschützt werde, und wir, wie Alle, ins unabwendbare Verderben uns stürzten, wenn die öffentliche Stimme mit ihrem krankhaften Verlangen nach öffentlichen und Volksgerichten durchdringe. Wenn wir denn durchaus antworten sollen, ist es hier nöthig, das wir entschieden zu trennen, und in dem folgenden Bekenntniß dasselbe allein auf den Namen des Unterzeichneten zu beziehen; wie denn derselbe von seinem geehrten Mitherausgeber, Dr. I.E. Hitzig, aufgefodert wird, es nochmals auszusprechen: daß er, Schreiber, für die in diesem Werke enthaltenen Ansichten und Darstellungen, sowol wo sie Angriffe als Beistimmung finden, allein vor dem Publicum aufzukommen hat. Von dem collegialischen Wir kann der jüngere Mitarbeiter sich nur um deshalb zu trennen noch nicht entschließen, weil er vom Rathe und den Kenntnissen des ältern Freundes begleitet, auch in den vorhin vorgetragenen Ansichten seiner unbedingten Beistimmung sich zu erfreuen hat.

Wir wurden auferzogen unter dem ältern Gerichtsverfahren und haben selbst darin gearbeitet. Wir lernten es in seinen Mängeln, aber auch in seinen Vorzügen kennen, und glaubten, daß die letzteren die ersteren überwögen. Das freilich konnten wir uns schon damals, in unserer Jugend nicht verbergen, daß dieses Recht, was zwischen geschriebenen Blättern klebte, dem Volke großentheils ein fremdes blieb, von ihm, wie alles Fremde, mit Mißtrauen angeblickt; daß das Volk von dem Gedanken an Gunst und Abgunst sich nicht lossagen konnte, auch wo die Urtheile aus der ernstesten Erwägung, aus der geläutertsten Kenntniß hervorgegangen waren. Denn es sah nur das Product, nicht den innern Mechanismus. Aber die ernste Durchbildung unserer Richter, ihre gewissenhafte Erforschung der Wahrheit, die Unabhängigkeit ihrer Stellung und die Gewißheit, daß der Unschuldige bei einem so vorsichtig, ja ängstlich geleiteten Verfahren vor ungerechter Verurtheilung relativ am besten geschützt sei, erschienen uns als soviel überwiegende Lichtseiten vor dem Anklageproceß und dem Geschworenengerichte, daß jene dunkle Seite dagegen in den Hintergrund trat. Auch als im Verlauf umschwungreicher Jahre die öffentliche Stimme sich immer entschiedener und dringender für das öffentliche Verfahren aussprach, mochte uns dies nicht umstimmen. Uns erschreckten zwar nicht die von den Vertretern des Alten geflissentlich zur Schau gestellten und verschrieenen einzelnen Falle, wo die Geschworenenverdicte sichtlich von der Wahrheit abgeirrt waren, noch weniger die, wo man unter den Flügeln der Autorität sie als falsch dem Publicum zu zeigen bestrebt war; denn der Irrthum ist die Beigabe aller menschlichen Institutionen. Wir überzeugten uns bald davon, daß der Feuereifer, mit dem die Bevölkerung aller der Länder, wo das öffentliche Verfahren eingeführt ist, für die Behaltung desselben kämpfte, ein echter sei, und nicht, wie man uns glauben machen wollte, nur angefacht von politischen Leidenschaften. Wir überzeugten uns, daß die Geschworenengerichte, trotz aller ihrer Mängel, auch im deutschen Volke Wurzel gefaßt, daß man ein schreiendes Unrecht gegen das Volksgefühl beginge, sie aus einer subjectiv besseren Ansicht, dort wieder ausrotten zu wollen. Aber diese Ueberzeugung rief darum nicht den Glauben hervor, daß, was in andern Provinzen so leicht Wurzel geschossen, darum auch für unsern Boden zuträglich sei; wir meinten nach wie vor, daß wir für unsere gesellschaftliche Bildung, unsere Sitten das zuträglichste Gerichtsverfahren, was so lange geprüft und geläutert worden, was uns vor Ungerechtigkeiten am besten schütze, besaßen. Auch mit der Ueberzeugung, daß jenes kein aus der Fremde willkürlich herübergebürgertes, daß es in seinen Grundzügen ein ursprünglich deutsches Volksgericht sei, schien uns nicht der Beweis geführt, daß es darum auch bei uns, und heute, aus seiner Vergessenheit müsse erweckt und ins Leben zurückgerufen werden; denn was in den germanischen Wäldern gut war, ist es um deshalb nicht heute mehr. Die Bildung hat aus uns ein anderes Volk gemacht, sie fodert andere Gesetze, andere Verfahrungsweisen.

Aber diese Bildung hat inzwischen nach anderer Richtung hin unermeßliche Fortschritte gemacht. Wie viele imaginaire, wie viele wirkliche Schranken sind in kurzer Frist eingerissen; wie viele unserer Vorstellungen haben sich gänzlich danach umgeändert; wie Vieles, was nach unserer Sitte bis da im Privatverschluß blieb, ist schon ans Licht der Oeffentlichkeit getreten; es verlangt nach dieser Sonne, es bedarf ihrer schon, um vor sich, um vor dem Publicum Geltung zu erlangen. Ob dies gut, ob dies verderblich ist, was es fördert, was es schadet, das sind Fragen, die uns hier nicht berühren. Genug, es ist so, und unsere Justiz hat sich dieser allgemeinen Federung so wenig entziehen können, daß sie schon jetzt, mehr und mehr nachgebend, nur noch in einem Defensivzustande gegen zu starke Foderungen sich befindet. Unser Kritiker (in den Bl. f. liter. Unt.), ein freisinniger, hellblickender Jurist und wohlwollender Mann, aber ein strenger Verehrer des alten schriftlichen Verfahrens (der uns an die meisterhafte Vertheidigung desselben durch den Minister von Nostiz in der sächsischen Kammer erinnert), spricht es geradezu aus, daß die alte Norm nicht länger dem stürmischen Verlangen werde widerstehen können, es werde geschehen, was die Zeit fodert, auch in Deutschland, aber ehe denn fünfundzwanzig Jahre vergingen, werde der besonnene deutsche Charakter zu sich selbst kommen und einsehen, daß er etwas Falsches gefodert. Wir bezweifeln diese Prophezeiung in ihren beiden Theilen. Wir halten die Einführung des Geschworenengerichts im östlichen Deutschland für nicht so nahe bevorstehend; es sind bis dahin noch mancherlei Barrieren, viele schwierige Uebergänge zu passiren, was nur allmälig geschieht. Vorerst, so lange und wo der Richterstand sich der vollen Unabhängigkeit erfreut und der ernsten Universitäts- und umfassenderen Weltbildung rühmen darf, wie gegenwärtig noch in den meisten deutschen Ländern, hat er das Vertrauen des gebildeten Publicums für sich; es bedarf vielleicht nur, daß man die Schranken öffnet, dem Volke Zutritt gestattet zu dem Mechanismus, der ihm hinter dem Verschluß so grauenhaft geheimnißvoll erscheint, wie dem Hindu ehemals das englische GeschworenengerichtSiehe den Fall Wanen Hastings. Pit. V., um auch diesem wieder Vertrauen einzuflößen. Vielleicht genügt es noch für eine Reihe von Jahren, daß gelehrte Richter als Geschworene sitzen. Unser Bürger verlangt noch nicht danach, über Tod und Leben seiner Mitbürger zu richten; er will nur wissen und sehen, daß es mit Rechten zugeht, d.h. mit den Rechten, die er begreift, daß nicht Rücksichten, Gunst und Abgunst mitsprechen. Aber der Richter muß ihm nicht eine fremde Größe, er muß ein Mensch, ein Bürger, ein ganz unabhängiger und ihm zugänglicher Mensch sein. Gelingt es, dieses Verwandtschaftsgefühl wieder herzustellen zwischen den Männern in den verschlossenen Stuben, an dem grünen Tische, mit den wichtigen Mienen und den Acten unterm Arm, und dem Bürger, der dort sein Recht holen will, gelingt es, letzterem ins Bewußtsein zu bringen, daß diese Richter eines Fleisches, eines Blutes und eines Rechtsgefühls mit ihm sind, dann wird er noch lange nicht Begehren tragen, sich auf ihre Stühle zu setzen. Dieses leider verscherzte, dieses wünschenswerthe Vertrauen wird aber dadurch am wenigsten wieder zu gewinnen sein, wenn man einerseits dem Richter seine Autorität dadurch beschränkt, daß man seine Absetzbarkeit ohne Urtheil und Recht ausspricht, und andererseits durch äußere eitle Abzeichen ihm vor den Volke eine Würde beilegen will. Durch Uniformen und Talare läßt sich der Norddeutsche heute so wenig mehr imponiren, als durch Perücken, Tressen und Lakeienglanz.

Wäre es aber geschehen, so können wir aus der Geschichte aller Geschworenengerichte nichts entdecken, was eine Umwandelung der Volksstimme zu ihren Ungunsten vorausverkündete. Einzelne Misgriffe, auch nachher vollständig erkannte, erschütterten weder die Vorliebe, noch das Vertrauen, wo sie einmal da waren. Ihre Geschichte lehrt uns, daß auch die Geschworenengerichte mannichfache Bildungsstufen durchmachen mußten; daß aber, wo Wahn und Leidenschaften vorherrschen, ob religiöse oder politische, royalistische oder demokratische, die gelehrten Gerichte ebenso wenig als die Volksgerichte ein Schutz für die verfolgte Unschuld waren. Sie lehrt uns in Frankreich, am Rhein und neuerdings in Amerika, wie jene gefürchteten Misgriffe bei der wachsenden Bildung im Volke verschwinden, wie Tact und Besonnenheit sich mehr und mehr einstellen. Keine der neuen Proceduren in Frankreich ist im entferntesten mehr jener Verurtheilung der angeblichen Mörder des Fualdes zur Zeit der Restauration zu vergleichen. Wir haben zur Hand den vollständigen Bericht eines vor Kurzem in den vereinigten Staaten abgeurtheilten Falles, in welchem die Jury über einen Deutschen wegen Mordes das Schuldig aussprachTrial of Charles Getter for the murder of his wife. Northhampton county an commonwealth of Pennsylvania. Reported by a member of the Easton Bar. Philadelphia 1833.. Wenn uns in künftigen Bänden Raum dafür bleibt, werden wir ihn unsern Lesern, nicht des persönlichen oder thatsächlichen Interesses wegen, welches nur gering ist, sondern als einen Beleg dafür mittheilen, mit welcher Sorgfalt, mit welcher ängstlichen Genauigkeit auch hier von einem Volksgerichte alle Umstände abgewogen wurden, welche die Indicien verstärken, noch mehr aber die, welche die Unschuld des Angeschuldigten, oder mildernde Gründe ins Licht stellen könnten. Kein preußisches, kein sächsisches Gericht darf sich rühmen, mit mehr Umsicht alle Spuren verfolgt zu haben, die zur Entdeckung der Wahrheit führen. Wenn das bei dem öffentlichen Verfahren an einem Orte möglich ist, warum nicht an jedem andern, wenn dieselbe Sorgfalt, dieselbe Gewissenhaftigkeit angewandt wird? Und der Angeschuldigte gehörte nicht den höhern Standen an, es war kein eclatanter Fall, wo in Frankreich Geld, Einfluß, Scharfsinn, Kenntnisse, die Macht der Presse aufgeboten werden, um die Sache von allen Seiten zu beleuchten, es war ein armer Tagelöhner in einem Steinbruche und sein ermordetes Weib eine Dienstmagd. Volksgerichte sollen dem Einflusse der Zeitstimmungen zugänglicher sein; dafür warf man den gelehrten vor, daß sie es dem der Macht zu allen Zeiten gewesen. So compensirt sich wenigstens der Vorwurf, wenn er begründet ist. Wir geben nicht viel auf diese allgemeinen Vorwürfe. Das Höchstengericht, welches Struensee, das Militärgericht, welches Admiral Byng verurtheilte, wodurch unterschieden sie sich von den Bluttribunalen der französischen Revolution? Daß sie um ihre Ungerechtigkeit den Mantel der Formalität etwas enger schlangen. Und was heißt überhaupt Volksgerichte? Wo ist die Aehnlichkeit zwischen den Criminalgerichten in den Urcantonen der Schweiz und denen in dem gesitteten Nordamerika?

In den meisten Fällen, dies lernten wir ferner während unserer Arbeit, wo die Geschworenen ungerechte Verdicte vorbrachten, wo anscheinend durch ihre Vereingenommenheit ein freches Spiel mit der Gerechtigkeit gespielt wurde, lag die erste und Hauptschuld in der ungenügenden Voruntersuchung. Wie soll ein Gebäude gut werden auf schlechten Fundamenten? Wir hören es von vielen glaubwürdigen Zeugen, daß der gegenwärtige Richterstand in Frankreich zwar in der Mehrzahl moralisch ehrenwerthe Mitglieder zählt, aber daß die Zeiten der D'Aguesseau's in der Justiz nicht mehr blühen. Es fehlt ein Genius, der die Form durchdringt, es fehlt an den ernsteren, langjährigen juristischen Vorstudien. Der Stand ist ehrenwerth, aber nicht vortheilbringend. Das Talent ergreift die glänzendere und einträglichere Advocatenlaufbahn. Wäre die erste Untersuchung anders gewesen, hätten die policei- und richterlichen Behörden in dem Falle La-Ronciere nicht mit zu scheuer Hand angeklopft an die Palastthüren des Reichthums und der Geburt, so hätten sie das Verbrechen, welches sie draußen suchten, vielleicht in deren Mauern gefunden, und statt einen Unschuldigen zu verurtheilen, wäre vielleicht eine Schuldige entdeckt worden. Auch darin ist ein Fortschritt sichtbar. Die im Fonck'schen Falle begangenen Fehltritte kommen heute nicht mehr vor. Die neuesten, berühmt gewordenen Criminalprocesse diesseits und jenseits des Rheins, verrathen unbeschadet des oratorischen Schmuckes der Anwalte hüben und drüben, eine ernst gründliche, oft eine in unserm Sinne erschöpfende Untersuchung.

Wir haben im Verlauf unserer Arbeit noch mehr gelernt, und dies ist unser letztes Bekenntniß. Sei es, daß die gelehrten Gerichte vor unschuldig vergossenem Blute die sicherste Bürgschaft gewähren, wer schützt vor einer qualvollen langen Gefangenschaft die Unglücklichen, die man nicht den raschen Muth hat, trotz der vollen moralischen Ueberzeugung ihrer Schuld zu verdammen, wol aber den zähen, sie Jahre lang Tag für Tag sterben zu lassen, um ihnen ein Geständniß abzufoltern? Spielt nicht verrätherisch durch diese Humanität die moralische Selbstsucht hindurch? Die Justiz wäscht ihre Hände in Pilatuswasser, im Grunde genommen mehr um sich, um ihre Ehre, ihr Gewissen, als um den Angeschuldigten bekümmert. Denn was ist gräßlicher, ein ungerechtes Bluturtheil, welches nur den Leib verdirbt, oder eine Jahre lange effective Strafe, die doch keine Strafe sein soll, welche aber der unsterblichen Seele ihre Elasticität aussaugt, welche in neun Fällen unter zehn das Heiligthum des Menschen, seinen Glauben, seine Hoffnung verdirbt? Wie gebrochen, physisch und geistig vernichtet, wie dumpf und stumpf treten die meisten nach Jahre langer Gefangenschaft ans Licht der Freiheit! Es sind nicht mehr dieselben, die hineingingen. Ein weit höherer Grad, sei es heroischer Freiheit, sei es religiösen Glaubens, gehört dazu, dieser momentanen Qual zu widerstehen, als dem Schrecklichen, welches nur einen Augenblick wirkt, ins Auge zu blicken. Und war die Folter vor dem höchsten Richterstuhle der Humanität schrecklicher, welche Stunden lang dauerte, die Glieder zerquetschend, oder die, welche Jahre lang dauert, mit dem Preßdruck auf die Brust gesetzt: Du sollst und mußt bekennen?

Wir haben unsere Ansicht in dem Bericht des Ramcke'schen Falles ausgesprochen. Es ist nur eine individuelle Ansicht, wir wissen, daß sie Vielen widerstreben wird, daß sie aus vielfachen Gründen angefochten werden kann; aber es ist eine Ansicht, die schon oft leise, oft stürmisch anklopfte, die wir nicht mehr von uns weisen können. Die neuesten Demagogenprocesse, die Göttinger Gefangenen, die fünfjährige Untersuchungshaft Sylvester Jordans sind nicht geeignet, uns davon zu bekehren. Das Mittelalter mit seinen raschen, grausamen Strafen erscheint uns danach in vielen Fällen menschlicher als unsere Menschlichkeit, die vor jedem ungerechten Blutstropfen zittert, aber nicht vor dem Erstickungsproceß. Seine Schaffotte waren für einen Tag gezimmert; unsere Zuchthäuser und Festungen und Detentionshäuser sind es für die Ewigkeit. Welches Gerichtsverfahren das Menschengeschlecht von diesem die Seele langsam Hinmorden befreie, wir würden ihr manche Unvollkommenheiten zu Gute halten.

Aber wenn die allgemeine Stimme über alle conservative Bedenklichkeiten obsiegte, wenn auch bei uns mit dem Anklageproceß das öffentliche Verfahren und endlich die Geschworenengerichte eingeführt würden, so meinen wir nicht, daß man die neue Aera mit einem Verdammungsurtheil über das alte abgethane Verfahren beginnen solle. Vielmehr sollte man ein historisches Ehrendenkmal dem Inquisitionsproceß errichten. Denn wie er in Deutschland gehandhabt wurde, war er eine gute wissenschaftliche Erziehungsschule, zum sorgfaltigen Inquiriren, zur strengsten, gewissenhaftesten Vorsicht; seine Formen waren zum Schutz für die Unschuld erfunden. Wenn der Geist inzwischen reif genug wurde, um sie zu zerschlagen, weil nun im Gefühl und Bewußtsein die unsichtbaren Grenzen feststehen, so ist das kein Grund, sie verächtlich mit dem Fuße fortzustoßen, da sie einst, als wir noch nicht reif waren, vor mancher Unbill und Willkür geschirmt haben. Unsere Nachbarn über dem Rheine hatten diese Schule nicht durchgemacht, als die Geschworenengerichte eingeführt wurden. Die Parlamente und Untergerichte Frankreichs waren keine Justiz, die wir loben dürfen; wir hatten oftmals Gelegenheit, sie in ihrer Blöße, in ihrem Parteieifer, in ihrer blinden Voreingenommenheit und mit ihrer barbarischen Gesetzesauslegung kennen zu lernen. Der Uebergang von diesem alten Parlament zur Jury war ein rascher, nur vermittelt durch eine Revolution; wer durfte da erwarten, daß das unruhige Wasser so schnell sich setzen würde? Auch in England fehlte diese Schule; es ist nur die praktische Erfahrung, die tüchtige Gesinnung des Briten, die ihm auf dem bloßen Erfahrungswege so viele Kenntniß für das Geschworenengericht beigebracht haben; aber die Criminalprocesse dort sind auch heute noch nicht das Vollkommenste in den britischen Institutionen. Der Scharfblick des Einzelnen muß die mangelnde Schule ersetzen. Von den deutschen Geschworenengerichten, welche die sorgsame Untersuchungstheorie des ältern Verfahrens zur Grundlage haben, dürfen wir hoffen, daß sie unserer Erwartung näher kommen werden, wie denn viele Processe vor den Assisen in neuester Zeit den unzweifelhaften Fortschritt auch dieses Instituts bekundet haben, so an Gründlichkeit der Voruntersuchung, umsichtiger Leitung der Verhandlungen, strenger Unparteilichkeit der Richter, als an Tact, Aufmerksamkeit und ernster Bildung der Geschworenen.


Die beiden Theile, welche in diesem Jahre die Presse verlassen, enthalten mehre sehr bedeutende Fälle aus dem öffentlichen und dem Privatleben, welche ihrer Zeit, und noch heute die Federn der Publicistik in Bewegung gesetzt, und wir bekennen es, auch uns, indem wir eine möglichst unparteiische Darstellung versuchten, nicht geringe Arbeit und Schwierigkeiten verursacht haben.

In den höchsten Regionen der Geschichte, wo die ewigen Rechtsfragen zwischen Herrscher und Volk abgehandelt werden, bewegen sich die Processe über das Papistische Complot und die gegen William Russell und Algernon Sidney geführten. Was wir darüber im Allgemeinen zu sagen hatten, findet sich in der Erzählung beider Fälle. Wir schicken nur voraus, daß wir, durch vieljährige Studien unterstützt, hier an die Behandlung einer Geschichtsepoche mit besonderer Vorliebe gingen, welche uns von ewiger Bedeutung für alle Zeiten erscheint, und wünschen, daß unsere Leser ihnen einen Theil der Theilnahme schenken mögen, welche wir während der Arbeit selbst empfanden. Wenn das Gefühl hier aufgeregt wird, so liegt die Beruhigung zugleich in der Krisis, in dem weltgeschichtlichen Gerichte, welches so sichtlich schnell und auffällig eintritt. Wenn die düstern Wahngebilde, die zur herzzerreißendsten Ungerechtigkeit ein ganzes edles Volk hinrissen, unser Gefühl empören, so fühlen wir gleich darauf mit desto mehr Beruhigung den Lufthauch, welcher den Dunst und Spuk vertreibt und das dunkele und verworrene Gemälde erscheint plötzlich wieder hell und klar. Nicht von allen, von Wahn erschütterten, von Leidenschaften aufgeregten Epochen laßt sich Dasselbe sagen. Wohl aber auch von der aus der neuen Welt, die wir unter dem Namen der Tragödie von Salem hier nach dem schon erwähnten amerikanischen Schriftsteller aufgenommen haben. Die Hexenprocesse von Salem waren schon früher durch gelegentliche Schriften in Europa bekannt, noch aber kein so großartiges und erschütterndes Bild, als Chandler es aus den sorgfältigsten Studien uns entwirft.

Auch in hohe, jedoch höchst trübe Sphären versetzt uns Cagliostro's Leben. Aus seiner Geschichte ist nichts Erhebendes für den Menschenfreund, aber viel zu lernen, in welche Irrgärten der von Betrügern geschickt bearbeitete Aberglaube auch die Ersten und Besten, und in hoch aufgeklarten Jahrhunderten, verstricken kann. Eine Klage des englischen Kritikers, Thomas Carlyle, der Cagliostro's Geschichte vor einigen Jahren behandelt hat, doch nicht mit dem Ernst, welchen auch dieser Gegenstand in Anspruch nimmt, müssen wir gleichfalls wiederholen: das Material über ihn, welches in seiner Zeit in Uebermasse vorhanden war, scheint im Zeitraum eines halben Jahrhunderts verkommen zu sein. Selbst einige der früher gangbarsten Schriften konnten wir nur mit Mühe auftreiben. Aus der Bibliothek eines fleißigen Sammlers der Merkwürdigkeiten jener Zeit, des bekannten Stadtrath David Friedländer, hofften wir durch die Güte seines Enkels, des Bibliothekars und Custos an der hiesigen königlichen Bibliothek (die uns nicht viel Stoff gewähren konnte), von Herrn Dr. Friedländer einige selten gewordene Schriften zu erhalten; aber auch hier war das Nachsuchen umsonst, und es ist wahrscheinlich, daß, worüber auch Carlyle in England klagt, der Besitzer Das, was er für Plunder einer überlebten Zeit hielt, verbrannt hat. Indessen hoffen wir, daß es uns gelungen, aus den noch vorhandenen und uns zugänglich gewordenen Schriften, die dort näher angegeben sind, das Bild eines Betrügers in noch ziemlich kennbaren Zügen zu entwerfen, welcher so bedeutend für seine Zeit war, daß er um deshalb der Geschichte aller Zeiten angehört. Die Halsbandgeschichte, ein großer historischer Proceß, mit noch weltgeschichtlicheren Folgen, reiht sich, in Cagliostro's Geschichte nur ein Intermezzo, der letzteren an.

Gewissermaßen zu den historischen Fällen mögen wir auch den wunderbaren Proceß über die Identität des Sohnes des Herrn von Caille rechnen, eines jener romanhaften Ereignisse aus dem alten feudalistischen Frankreich, von denen Pitaval uns eine so merkwürdige Reihe erhalten hat. Aehnliches kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft kaum mehr vorkommen, wie wunderbar auch die Consticte zuweilen hier sich gegenübertreten und mischen. Leider ist er einer der letzten Falle dieser Gattung im ältern Pitaval.

Die Fälle: Wilster, genannt von Essen, Mingrat und Ramcke, echte causes célèbres der jüngst vergangenen Zeit und der Gegenwart, sprechen, hinsichts ihrer juristischen und psychologischen Bedeutung, für sich selbst.

Nach ernsten und umfassenden Arbeiten verlangt der Geist im Schaffen, wie im Lesen einige Erholung bei leichterem Stoffe. Nach der mühsamen Zusammenstellung und Sichtung jener großen Processe erholten wir uns bei der Geschichte zweier Gauner und Räuber, die in England und Frankreich zu europäischem Rufe sich aufgeschwungen hatten, des berühmten Jack Sheppard und des berüchtigten Louis Mandrin, beide auch als Sittenbilder ihrer Zeit nicht ohne Werth. Auch das fatalistische Interesse muß wenigstens als Accidens, wenn nicht als Naturale, bei einer Sammlung von Criminalgeschichten vertreten sein; wir nehmen deshalb für zwei scheinbar unbedeutende Fälle: der Ring als Verräther und das Gelöbniß der drei Diebe die Nachsicht bei den Lesern in Anspruch, welche in beiden nichts mehr als gewöhnliche Verbrechen und Theater erblicken wollen. Der erste Fall ist uns auch um deswillen werth, weil er wahrscheinlich der letzte ist, den wir aus Feuerbach's trefflichem Werke entlehnen.

Der in seiner Verwickelung und Entwickelung sehr interessante Criminalfall: der blaue Reiter, ward uns in einer Uebersetzung aus dem Holländischen des J.B. Christemair zugesandt. Der Titel dieses Werkchens, in welchem er enthalten, lautet: Oorkonden uir de Gedenkschriften van het Strafregt, en uit die der menschlyke Mishappen; te Amsterdam by J.H. van Kersteren 1820. Wir theilen ihn mit einiger Bedenklichkeit mit, obgleich eine innere Wahrscheinlichkeit für ihn spricht, und die halbnovellistische Umkleidung, die uns zuerst stutzig machte, leicht abzustreifen war, ja nachdem sie, wie von selbst bei der ersten schärferen Berührung abgefallen war, ein sehr glaubwürdiger criminalistischer Zusammenhang sich uns darstellte. Sollte eine Berichtigung erfolgen, so wünschen wir nur, daß sie unsere Mittheilung nicht mehr über den Haufen wirft, als diejenige, welche durch Herrn Bibliothekar Dr. Ghillany aus den Nürnberger Urkunden über den früher von uns nach einem französischen Bearbeiter mitgetheilten Fall der »beiden Nürnbergerinnen« erfolgte. Diese wichtige, actenmäßige Darstellung Herrn Ghillany's, in Brans Miscellen, bestätigt in allem Wesentlichen jenen merkwürdigen Justizmord, sie läßt also mehr daran, als wir selbst im voraus zuzugestehen uns getrauten, indem wir nur einen Kern von Wahrheit annahmen.

Berlin, im Mai 1845.
Dr. W. Häring.


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