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»Sie reisen wohl nach Kolomea?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hörte, wie Sie mit dem Schaffner sprachen. Sind Sie ein Kolomeaer, oder reisen Sie nur nach Kolomea?«
»Ich bin ein Kolomeaer ...Wieso?«
»Ich frage nur so ... Ich möchte wissen, ob Kolomea eine hübsche Stadt ist?«
»Was heißt eine hübsche Stadt? Es ist eine Stadt, wie alle anderen Städte in Galizien ... Ein hübsches Städtchen, ein sehr hübsches Städtchen ...«
»Ich meine, ob es dort viele feine Leute gibt, ich meine reiche Leute ...«
»Es gibt verschiedene, Reiche und Arme, wie gewöhnlich mehr Arme als Reiche!«
»Genau so wie bei uns. Auf einem reichen Mann kommen unberufen tausend Arme ... Es gibt doch in Kolomea einen reichen Mann, einen gewissen Finkelstein.«
»Ja, ein Finkelstein wohnt in Kolomea. Was ist mit ihm? Kennen Sie ihn?«
»Ich kenne ihn nicht. Ich habe nur von ihm gehört. Heißt er nicht Reb Schaje?«
»Ja! Er heißt Reb Schaje. Wieso?«
»Ich frage mir so. Ist er wirklich so reich, wie man sagt, dieser Reb Schaje?«
»Weiß ich? Ich habe sein Vermögen nicht gezählt. Wieso fragen Sie denn eigentlich? Wollen Sie es wegen eines Kredits wissen?«
»Nein, nur so. Er soll eine Tochter haben.«
»Drei Töchter hat er. Ist es vielleicht wegen einer Partie?«
»Haben Sie vielleicht gehört, wieviel Mitgift er mitgibt?«
»Es handelt sich nicht um die Mitgift, verstehen Sie, sondern um das Haus. Was führt er denn für ein Haus? Wie lebt er?«
»Was soll er für ein Haus führen? Er lebt wie alle Leute. Er führt ein jüdisches Haus, ein feines, frommes, sehr feines Haus. Es heißt zwar, daß das Jüdische bei ihm in letzter Zeit ... aber das, ist eine Lüge ...«
»Was ist eine Lüge?«
»Alles, was man sagt, ist Lüge ... Sie müssen nämlich wissen, Kolomea ist eine Stadt voller Lügen.«
»Dann ist es gerade interessant zu wissen, was für einen Ruf sein Haus genießt.«
»Die Leute reden, es sei jetzt nicht mehr so wie früher. In früheren Zeiten gab es zu Ostern in seinem Hause ›Schmura‹-Mazze, streng rituell zubereitet, er selber reiste zweimal im Jahre zum Rabbi ... aber heute, heute ist es nicht mehr so ...«
»Das ist alles?«
»Was wollen Sie mehr? Soll er sich vielleicht den Bart und die Seitenlocken abschneiden lassen und öffentlich Schweinefleisch essen?«
»Sie sagen, die Leute reden, da dachte ich, Gott weiß, was die Leute reden ... Die Hauptsache ist, ob der Mann ein Mensch ist, das heißt, ich meine, ob Reb Schaje Finkelstein ein feiner, ordentlicher Mann ist – das meine ich.«
»Was heißt ein feiner Mensch? Er ist ein Mensch, wie alle Menschen. Ein feiner Mensch. Warum sollte ich es leugnen? Ein sehr feiner Mensch. Man sagt zwar bei uns, daß er etwas ... aber das ist eine Lüge.«
»Was ist eine Lüge?«
»Alles, was über ihn gesagt wird, ist Lüge. Kolomea ist eine Stadt, in der die Leute einander gern bereden. Ich möchte es nicht wiedersagen, das wäre Klatsch.«
»Wenn Sie wissen, daß es gelogen ist, so ist es doch nicht mehr Klatsch!«
»Man sagt ... er ist ... ein kleiner ... Drehkopf.«
»Drehkopf? ... Jeder Jude ist ein Drehkopf ... Der Jude dreht eben. Sind Sie nicht auch ein Drehkopf?«
»Ein Drehkopf und ein Drehkopf ist doch nicht dasselbe. Von ihm sagt man ... verstehen Sie mich ... aber das ist eine Lüge.«
»Was sagt man denn eigentlich von ihm?«
»Ich sage Ihnen doch, daß es eine Lüge ist.«
»Ich möchte also die Lüge kennen, die man sagt.«
»Man behauptet, er habe schon dreimal Pleite gemacht, ... aber das ist eine Lüge, mir ist nur von einem Mal etwas bekannt.«
»Das ist alles? Haben Sie schon einmal einen Kaufmann gekannt, der nicht Pleite gemacht hat? Ein Kaufmann macht so lange Geschäfte, bis er in der Patsche sitzt; stirbt ein Kaufmann, ohne Pleite gegangen zu sein, so ist das ein Zeichen, daß er frühzeitig gestorben ist. Ist es nicht so?«
»Alles heißt ›Pleite machen‹ ... Er soll aber einen sehr häßlichen Bankrott gemacht haben, er hat das Geld in seine Tasche schlüpfen lassen und der Welt die Zunge herausgestreckt. Verstehen Sie?«
»Gar nicht dumm ... Sonst nichts?«
»Was wollen Sie noch mehr? Soll er Menschen totschlagen, Verbrechen begehen? Man erzählt sich sogar von ihm keine schönen Sachen, aber das ... ist eine Lüge.«
»Zum Beispiel, was denn?«
»Eine Sache mit einem Gutsbesitzer, aber es ist nichts dahinter.«
»Was für eine Sache ist denn das mit dem Gutsbesitzer?«
»Irgendein Gutsbesitzer ... Wechsel ... weiß ich, was man sich in Kolomea alles ausdenken kann ... Es ist alles Lüge ... Ich bin überzeugt, daß es Lüge ist.«
»Wenn Sie überzeugt sind, daß alles gelogen ist, so kann es ihm doch nicht schaden.«
»Er soll mit einem Gutsbesitzer Geschäfte gemacht haben, bei dem er sehr angesehen war, sehr angesehen. Eines Tages starb der Gutsbesitzer; da setzte er einige Wechsel von ihm in Umlauf. Nun erhob sich in der Stadt eine allgemeine Empörung, wieso er zu den Wechseln gekommen wäre, denn man wußte, daß der Gutsbesitzer während seines ganzen Lebens kein Papier unterschrieben hatte ... Kolomea, müssen Sie wissen, ist eine Stadt, die aufpaßt.«
»Nun?«
»Nun. Da hatte er sein Päckel zu tragen.«
»Das ist alles? Ein Päckel hat jeder Jude zu tragen. Haben Sie schon einmal einen Juden gesehen, der kein Päckel zu tragen hätte?«
»Dieser hatte aber, wie man sich erzählte, drei Päckel auf seinen Schultern.«
»Drei Päckel? Was soll er denn noch verbrochen haben?«
»Er soll mit einer Mühle zu tun gehabt haben ... dort soll etwas vorgekommen sein ... Aber das ist ganz sicher eine Lüge.«
»Die Mühle ist wohl abgebrannt, und da sagen die Leute, er hätte geholfen, das Feuer zu schüren? Die Mühle war alt, da hat er sie gut versichert, um eine neue bauen zu können?«
»Wieso wissen Sie, daß die Geschichte sich so abgespielt hat?«
»Ich weiß es nicht, ich denke mir nur, daß es so gewesen sein muß.«
»So erzählt man es sich bei uns in Kolomea, aber ... das ist eine Lüge, ich kann es beschwören, daß es eine Lüge ist.«
»Und wenn es wahr wäre, würde es mich auch nicht stören. Was hat er sich noch zuschulden kommen lassen, – sagen Sie?«
»Ich sage? In der Stadt wird es erzählt. Das ist aber nur, um ihm etwas nachzusagen, eine Verleumdung ist es, reine Verleumdung!«
»Eine Verleumdung? Falschmünzer etwa?«
»Noch schlimmer.«
»Was kann noch schlimmer sein?«
»Es ist eine Schande zu erzählen, was die Leute sich in Kolomea alles ausdenken! Die Hohlköpfe, ... die Müßiggänger! Womöglich war es eine angezettelte Sache, um Geld herauszupressen! Sie wissen doch, ein kleines Städtchen – da hat der reiche Mann Feinde!«
»Er hat wohl mit dem Dienstmädchen etwas vorgehabt?«
»Wieso wissen Sie? Hat man es Ihnen schon erzählt?«
»Erzählt hat man es mir nicht, aber ich kann es mir denken. Diese Verleumdung hat ihn wahrscheinlich ein schönes Stück Geld gekostet?«
»Ich wünschte, wir beide – und ich bin Ihnen kein Feind – könnten jede Woche so viel verdienen, wie ihn diese Sache gekostet hat, obgleich er ein unschuldiges Lamm ist. Einem reichen Juden, dem es gut geht, gönnt man in einem kleinen Städtchen einfach nichts Gutes!«
»Möglich! Hat er nette Kinder, gute Kinder? Drei Töchter, scheint mir, haben Sie gesagt?«
»Jawohl. Zwei sind verheiratet, eine ledig. Nette Kinder, sehr gute Kinder!«
»Von der ältesten wird zwar gesagt ... aber ... das ist eine Lüge ...«
»Was wird denn von ihr gesagt?«
»Ich sage Ihnen doch, es ist eine Lüge.«
»Ich weiß, daß es eine Lüge ist. Ich will aber die Lüge kennen.«
»Wenn Sie alle Lügen, die in Kolomea umgehen, anhören wollen, dann reichen drei Tage und drei Nächte nicht aus. Von der ältesten erzählt man sich, daß sie die vorschriftsmäßige Perücke abgelegt hat und ihr eigenes Haar trägt. Ich kann aber bezeugen, daß es eine Lüge ist, denn sie ist nicht so gebildet, daß sie eigenes Haar tragen sollte. Von der zweiten Tochter geht das Gerücht, daß sie noch als Mädchen ... Aber was Kolomea sich nicht alles ausdenken kann ... Das ist eine Lüge.«
»Es lohnt sich wirklich anzuhören, was bei Euch in Kolomea alles ausgedacht wird!«
»Ich sage Ihnen doch, daß Kolomea eine Stadt voller Lügen ist, eine Stadt voller Verleumder und langen Zungen. Sie wissen doch, wenn ein Mädchen in einer kleinen Stadt am Abend in dunklen Straßen allein spazieren geht, dann wird daraus eine große Sache gemacht: Was hat ein junges Mädchen in Kolomea am Abend allein mit dem Provisor spazierenzugehen? ...«
»Das ist alles?«
»Was wollen Sie noch mehr? Sollte sie am Versöhnungstag mit dem Provisor nach Tschernowitz durchgehen, wie man sich von der jüngeren erzählt? Solch einen Streich sollte sie machen?«
»Was für einen Streich hat denn die jüngere gemacht?«
»Es lohnt sich wirklich nicht, alle Albernheiten, die bei uns in Kolomea umgehen, wiederzuerzählen. Ich rede nicht gern alle Lügengeschichten nach.«
»Sie haben schon so viele Lügen erzählt, erzählen Sie noch die eine.«
»Ich erzähle nicht meine Lügen, mein Herr, sondern die Lügen anderer. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso Sie mich nach jedem einzeln ausfragen, als wären Sie ein Staatsanwalt. Sie gehören, wie mir scheint, zu den Leuten, die von den anderen alles herausziehen, sie bis aufs Blut ausfragen und selbst Angst haben, auch nur ein Wort zu sagen ... Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich Ihnen die Wahrheit sage, Sie sind wohl ein russischer Jude? Die russischen Juden haben eine sehr schlechte Gewohnheit: sie kriechen mit ihren schmutzigen Stiefeln dem anderen bis ins Herz hinein ... Die russischen Juden sind, wie mir scheint, Klatschmäuler ... Übrigens sind wir sehr bald in Kolomea ... Es ist Zeit, die Sachen zusammenzupacken ... Verzeihen Sie!«