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Max Berland war viel auf Reisen. Zu wiederholten Malen reiste er im Jahre von Lodz nach Moskau und von Moskau nach Lodz. Er war mit sämtlichen Verkäufern an den Büfetts bekannt, stand mit sämtlichen Schaffnern auf vertraulichem Fuß. Auch nach den entferntesten russischen Gouvernements kam er, wo den Juden nur ein Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden erlaubt war, plagte sich in den Polizeirevieren herum und mußte so manche Demütigung, so manchen Ärger über sich ergehen lassen. Alles wegen des Judentums! Nicht weil es ein Judentum gab, sondern weil er unglücklicherweise ein Jude war, obendrein von echt jüdischem Aussehen, nach dem Ebenbild Gottes, ja, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen: mit echt jüdischen, schwarzen, glänzenden Augen, echt jüdischem, schwarzem, gekräuseltem Haar, mit echt jüdischer, röchelnder Aussprache und dazu eine Nase, oh, eine Nase! ...
Wie zum Trotz hatte unser Held einen Beruf, bei dem er seine Nase aller Welt zeigen mußte, bei dem er reden, immer wieder reden, sich überall sehen und hören lassen mußte, – denn der Bedauernswerte war – Reisender.
Zwar hatte er alles mögliche getan: Seinen Bart geopfert, die Schnurrbartsenden nach oben gedreht, er putzte sich wie ein junges Mädchen, trug lange Nägel und die sonderbarsten Krawatten, die man kaum ein zweites Mal in der Welt finden konnte. Er hatte sich auch an die Speisen gewöhnt, die man ihm auf den Bahnhöfen vorsetzte, und ließ seinen Ärger nur an dem Schweinebraten aus, über den er nicht schlecht geflucht hatte, als er ihn zum erstenmal aß.
Aber trotz aller Bemühungen gelang es Max Berland nicht, seine Abstammung vor den Juden wie vor den Andersgläubigen zu verleugnen. Man erkannte ihn, wie einen bösen Schilling, genau so wie den vermaledeiten Kain: Auf Schritt und Tritt ließ man ihn fühlen, wer er ist und was er ist. Kurz, er war tatsächlich zu bedauern.
*
War Max Berland vor seiner Reise nach Kischinew ein bedauernswerter Mann, so gab es nach dieser Reise überhaupt keinen unglücklicheren Menschen als ihn. Nur der vermag zu begreifen, welche Höllenqual es ist, im Innern des Herzens einen tiefen Schmerz zu tragen und sich seiner zu schämen, wer diese Pein selbst durchgemacht hat.
Max schämte sich der Stadt Kischinew, als würde sie ihm gehören. Wie zum Trotz wurde er gerade kurz nach den Ereignissen in Kischinew nach Beßarabien, in jene Gegend, geschickt. Er fühlte, daß er neuen Qualen ausgesetzt sein würde. Er wußte genau, daß er dort die umständlichen ausführlichen Erzählungen, das Jammern und Seufzen seiner Glaubensgenossen und die spöttischen Bemerkungen der Fremden würde anhören müssen; je mehr er sich jener Gegend näherte, um so mehr hätte er vor sich selbst fliehen mögen.
Als der Zug hielt, wollte er noch eine Weile in seinem Abteil sitzen bleiben, doch besann er sich eines Besseren, stieg gleich mit den anderen Reisenden aus, betrat den Bahnsteig, ging zum Büfett so zwanglos, als wäre er in der besten Laune, trank ein Schnäpschen, aß dazu einen Imbiß von all den guten Sachen, die den Juden eigentlich verboten waren, steckte eine Zigarre an und ging auf den Tisch mit Zeitungen und Büchern zu ... Sein Blick fiel auf »Die Standarte«, ein feines antisemitisches Blatt, das von einem Herrn Kruschewan, einem feinen Antisemiten, herausgegeben wurde ... Das Blatt blieb gewöhnlich unberührt liegen, weil kein Mensch nach ihm verlangte. Die Juden nahmen es nicht in die Hand, weil es zu abscheulich war, die Nichtjuden hatten sich an ihm schon satt gelesen. So ruhte es friedlich und gemahnte die Menge nur daran, daß es einen Herrn Kruschewan gab, der nicht schlief und nicht ruhte und immer nach neuen Mitteln suchte, die Welt vor, der Krankheit, genannt »das Judentum«, zu beschützen und zu bewahren.
Max Berland war also der einzige Mensch, der eine Nummer der »Standarte« verlangte. Zu welchem Zweck? Warum tat er das? Womöglich aus demselben Grunde, aus dem er sich vorhin am Büfett Krebse geben ließ? Oder wollte er vielleicht wirklich lesen, was jener Erzhund über die Juden schrieb? ...
Man sagt, allgemein, daß die antisemitischen Blätter hauptsächlich von den Juden gelesen werden. Das wissen die Herausgeber jener Blätter ganz genau, sie finden, daß die Juden nichts taugen, ihr Geld aber tauglich ist.
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Max Berland kaufte also eine Nummer der »Standarte«, nahm sie in sein Abteil mit, streckte sich auf der Bank aus und bedeckte sich mit der Zeitung, als wäre sie ein Plaid. Plötzlich kam ihm der Gedanke:
Was würde wohl ein Jude denken, wenn er jetzt einstiege und einen Menschen mit der »Standarte« zugedeckt sehen würde? Keinesfalls würde er jenen Menschen für einen Juden halten ... Das ist eine Idee! Bei Gott, ein vortreffliches Mittel, sich den Juden vom Hals zu schaffen und für die Nacht, wie ein großer Herr, auf der Bank liegenzubleiben! ...
So dachte unser Herr. Damit auch niemand erkenne, wer auf der Bank lag, zog er die Zeitung über das Gesicht und verdeckte Nase, Augen, Haar, kurz, das ganze Ebenbild Gottes. Dann stellte er sich vor, wie in der Nacht ein Jude mit zahllosen Gepäckstücken einstieg, einen Platz suchte und plötzlich auf der Bank einen Menschen bemerkte, der mit der »Standarte« bedeckt war ...
›Ein vornehmer Christ und ein schlimmer Judenfeind, vielleicht gar Kruschewan in eigenster Person ...‹ würde der arme Jude glauben. Er würde mit seinem Gepäck schnell wieder kehrtmachen und dreimal ausspeien; er aber, Max, würde allein, wie ein Graf, auf der Bank liegenbleiben. Ha, ha, ha!
Ihr wißt doch, ein Mensch, der gut gegessen und getrunken, eine gute Zigarre geraucht hat und am späten Abend wie ein Graf auf der Bank ausgestreckt liegt, sinkt allmählich in einen leichten Schlummer und zuletzt in einen festen Schlaf. Pst! Still! Max Berland, unser Held, der Reisende, der von Lodz nach Moskau und von Moskau nach Lodz reist, liegt ganz allein auf der Bank ausgestreckt, mit der »Standarte« zugedeckt und schläft sanft. Wir wollen ihn nicht stören.
Max Berland ist zwar ein schlauer Jude, aber diesmal kam es anders, als er es sich vorgestellt hatte.
In das Abteil stieg zwar keuchend ein Reisender, ein dicker, derber Mann, mit Koffern beladen, der sich wirklich Max näherte, ihn wirklich betrachtete und die »Standarte« bemerkte, mit der er sich zugedeckt hatte, – aber er spie nicht dreimal aus und verließ auch nicht das Abteil. Er sah sich diesen sonderbaren Menschen, den Antisemiten mit der semitischen Nase genau an. Das Blatt war nämlich, während Max schlief, heruntergerutscht, und die Schande, das heißt, die Nase, ragte unter der Zeitung in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit hervor.
Der neue Reisende blieb eine Weile mit lächelndem Antlitz stehen, legte seine Koffer auf die Bank gegenüber, ging noch einmal auf den Bahnsteig und betrat nach einer Weile das Abteil, eine Nummer der »Standarte« in der Hand. Hierauf öffnete er einen Koffer, nahm ein Kissen, Morgenschuhe und ein Fläschchen mit Kölnischem Wasser heraus, machte es sich bequem, streckte sich auf der Bank aus, steckte sich eine Zigarre an und las die »Standarte« so lange, bis ihm zuerst das eine, dann das andere Auge zufiel und er in einen leichten Schlummer versank. Sehr bald begann er zu schnarchen und zu röcheln, wie es oft geschieht, wenn man nachts in der Eisenbahn fährt, im Wagen hin und her geschüttelt wird und die Räder rasseln: Tiderderachtach, Tiderderachtach, Tiderderachtach, tach! ...
Wir lassen jetzt die beiden »Standartenträger« schlafen und machen den Leser mit dem zweiten Reisenden bekannt.
Er ist General ... Nicht ein General vom Militär und auch kein Generalgouverneur, sondern Generalinspektor, das heißt Agent einer Gesellschaft. Er heißt Niemtschyk ... Sein Vorname ist Chaim, aber er schreibt sich Albert und wird Peti genannt ... Es mag merkwürdig erscheinen, aber es verhält sich tatsächlich so. Sic transit gloria mundi ... So wird aus einer Ente ein Puthahn. Daß er Peti genannt wird und Generalinspektor ist, ändert aber nichts an der Tatsache, daß er Jude ist, so gut wie alle anderen, daß er die Juden gern hat und für den jüdischen Sabbat mit jüdischen Fischen, jüdischen Frauen und echt jüdischen Anekdoten schwärmt.
Peti Niemtschyk ist wegen seiner jüdischen Anekdoten berühmt. Seine jedesmalige Versicherung, daß er die betreffende Anekdote selbst erlebt habe, darf man nicht wörtlich nehmen, wenn er es auch mit dem heiligen Eid beschwert: Er vergißt nämlich, daß er sie jedesmal an einem anderen Ort erlebt hat. Peti Niemtschyk nimmt es mit der Wahrheit nicht immer genau, er liebt es zuweilen, ein wenig aufzuschneiden, er ist, wie es bei uns, mit Verlaub zu sagen, heißt: ein Lügner. Ihr dürft es nicht übelnehmen, wenn wir uns ein wenig derb ausdrücken, eigentlich brauchte man nur zu sagen, daß er Agent ist; denn was ein Agent ist, – das wißt ihr selbst.
Wenden wir uns jetzt von dem Antisemiten Nr. 2, dem Generalinspektor Peti Niemtschyk, ab und kehren wir zu dem Antisemiten Nr. 1, dem Reisenden Max Berland, zurück.
*
Max Berland hatte eine böse Nacht. Jedenfalls waren die am Bahnhofsbüfett verzehrten Speisen daran schuld, denn die sonderbarsten, verworrensten Träume zogen durch sein Hirn. Es schien ihm beispielsweise, er sei nicht Max Berland, sondern Herr Kruschewan, der Herausgeber der »Standarte«, und er fahre nicht in der Eisenbahn, sondern er reise auf einem Schwein und höre aus der Ferne ein Jammern und Winseln: Ki–schi–new. Ein leiser Wind säuselte ihm in den Ohren, er vernahm das Rascheln der Blätter; er wollte die Augen öffnen, doch er konnte es nicht, er griff nach seiner Nase, doch die Nase war fort, spurlos verschwunden; an Stelle der Nase berührte er die »Standarte«. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Er wollte sich bewegen, aber er konnte nicht, er wollte schreien, aber er konnte nicht. Er wußte wohl, daß er träumte, doch er vermochte sich nicht zu ermannen und den Schlaf zu überwinden. Hilflos lag er da, in furchtbaren Qualen, ein schweres Alpdrücken auf der Brust. Er fühlte, wie seine Kräfte schwanden. Endlich gab er sich einen Ruck und stieß einen leisen Seufzer aus, den kein anderer hörte als er allein. Dann öffnete er halb ein Auge, mit dem er einen Lichtstrahl und eine menschliche Gestalt wahrnahm, die ebenso wie er auf der Bank ausgestreckt lag und mit der »Standarte« zugedeckt war ... Erschrocken fuhr unser Max zusammen. Es war ihm, als ob er sich selbst auf jener Bank sah, aber es war ihm rätselhaft, wieso er dort liegen konnte, und wie ein Mensch sich ohne Spiegel sehen konnte ... Er fühlte, wie sein Haar sich sträubte, wie ein kalter Schauer ihn von Kopf zu Fuß überlief.
Allmählich sammelte er seine Gedanken und machte sich klar, daß jener Mann, der auf der Bank gegenüber ausgestreckt lag, nicht er, Max, sondern ein anderer war. Doch er konnte es sich immer noch nicht erklären, auf welche Weise der Reisende in sein Abteil gelangt war und wieso er sich gerade mit der »Standarte« zugedeckt hatte.
Was sollte das bedeuten?
Er bewegte sich, so daß das Zeitungsblatt knisterte; im selben Augenblick vernahm er, daß der Reisende auf der gegenüberliegenden Bank sich ebenfalls bewegte und daß dessen Zeitung ebenfalls knisterte. Er betrachtete ihn stillschweigend und bemerkte, daß der Mitreisende ihn lächelnd beobachtete.
So lagen unsere beiden Antisemiten sich gegenüber und glotzten sich stillschweigend an. Obgleich sie beide von Neugierde verzehrt wurden, zu erfahren, wer sie waren, legten sie sich Zwang auf und schwiegen. Plötzlich kam aber Peti auf einen klugen Gedanken: er begann die Melodie eines bekannten jüdischen Liedes leise zu pfeifen:
»Im Ofen brennt das Feuer ...«
Leise pfeifend stimmte Max ein:
»Im Stübchen ist's so warm.«
Nun richteten sich unsere beiden »Standarten«träger auf und tauschten einen Händedruck.
»Schalom alechem – Friede mit euch!«