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Das Tagebuch eines Knaben.

Ich und das Kälbchen.

Ich wette, daß sich niemand über die warmen, hellen Tage, die gleich nach Ostern eingetreten sind, so gefreut hat, wie ich, Mottel, der jüngere Sohn des Kantors Pesche, und des Nachbars Kälbchen ›Mich‹, wie ich es nannte.

Wir fühlten gleichzeitig die ersten Sonnenstrahlen des ersten warmen Tages nach Ostern; wir witterten zusammen den Duft des ersten grünen Grases, das soeben aus der unlängst vom Schnee befreiten Erde hervorgebrochen war. Wir schlüpften auch zusammen aus unseren engen, finsteren Löchern. Ich, Mottel, kam aus der kalten, feuchten Stube, in der es ewig nach Sauerteig, Essig, Rauch, Spülicht und Arzneien roch; das Kälbchen entkam aus einem noch schlimmeren Gestank, einem finsteren, schmutzigen Stall mit schiefen, wurmstichigen Wänden, durch die im Winter der Schnee und im Sommer der Regen eindrang.

Als wir endlich in die freie Welt Gottes gelangt waren, gaben wir beide unsere große Freude kund. Ich breitete: die Arme aus, öffnete den Mund und atmete die frische, warme Luft ein; es schien mir, als zöge mich etwas in die Höhe, zu der tiefen, blauen Kappe, mit den weißen, dahineilenden Wolken und den winzigen Vögelchen, die auftauchen und wieder entschwinden. Aus meiner übervollen Brust drang unbewußt ein Lied, ein Lied ohne Worte, ohne Noten, ja, ohne Melodie; doch es klang fröhlicher als jenes, das mein Vater, der Kantor, am Feiertag in der Synagoge zu singen pflegte.

Des Nachbars Kälbchen ›Mich‹ äußerte seine Freude in etwas anderer Weise. Vor allem versenkte es seine schwarze, nasse Schnauze in den Müllhaufen, scharrte zwei-, dreimal mit den Vorderfüßchen die Erde fort, hob den Schwanz in die Höhe, sprang auf allen vier Füßen hoch und stieß ein dumpfes »Mäh« aus. Dieser Laut belustigte mich so, daß ich ihn nachzuahmen versuchte. Da kam das Kälbchen auf mich zu, beschnüffelte mich, streckte den Hals vor, blickte mich mit seinen klugen, runden Augen an und machte »mmm«, »mmm«, als freue es sich darüber, daß ich seine Sprache nachahme. Es begann zu springen, ich ebenfalls. Es tanzte, – ich tanzte auch. Ich wiederholte jede Bewegung des Tierchens, jede Miene, das Kopfwackeln und das »mmm«, »mmm« ...

Wer weiß, wie lange dieses Spiel angehalten hätte, wenn mich nicht plötzlich hinten etwas am Halse gepackt hätte; – es war die Faust meines älteren Bruders Elia.

»Verderben sollst du! Ein siebenjähriger Bursche soll mit einem Kälbchen spielen! Sofort gehst du nach Hause, nichtsnutziger Bengel! Warte nur, der Vater wird's dir schon beibringen!«

*

Unsinn! Der Vater wird mir nichts beibringen, es wird mir nichts geschehen, der Vater war nämlich krank. Seit dem Laubhüttenfest betete er nicht mehr in der Synagoge vor; er hustete stundenlang. Ein schwarzer, dicker Doktor mit schwarzem Schnurrbart und lachenden Augen kam zu uns ins Haus. Ein lustiger Mann. Mich nannte er ›Knirps‹ und klatschte mich auf den Bauch. Er warnte die Mutter immer, mich mit Kartoffeln zu nähren und riet, dem Kranken nichts anderes als Bouillon und Milch, Milch und Bouillon zu geben ... Die Mutter hörte aufmerksam zu, aber wenn er fort war, verbarg sie ihr Gesicht in der Schürze, und ihre Schultern und ihr Rücken zuckten heftig. Dann wischte sie sich die Augen, rief Bruder Elia zur Seite, und sie flüsterten geschäftig zusammen. Ich verstand ihre Unterhaltung nicht, aber es schien mir, als ob sie stritten. Die Mutter wollte ihn überreden, irgendwo hinzugehen, doch er wollte nicht gehen und sagte:

»Ehe ich mich an diese Leute wende, wollen wir lieber ins Grab! So wahr ich mich von dieser Stelle nicht fortrühren soll!«

»Beiß dich in die Zunge, Verrückter! Was redest du denn!« entgegnete ihm die Mutter, preßte die Zähne zusammen und fuchtelte mit den Händen, als wollte sie ihn in Stücke reißen; aber im nächsten Augenblick wurde sie wieder weich und sagte:

»Was soll ich denn tun, lieber Junge, der Vater tut mir leid. Man muß ihn doch irgendwie retten.«

»Wir werden etwas verkaufen müssen!« sagte Elia mit einem Blick auf den Spiegelschrank.

Auch die Mutter betrachtete den Schrank, wischte sich die Augen und sagte:

»Was soll man denn verkaufen? Die eigene Seele? Es bleibt, nichts mehr zum Verkaufen. Diesen leeren Schrank etwa?«

»Warum denn nicht?«

»Spitzbube!« schrie die Mutter. »Wem bist du eigentlich nachgeraten?«

Die Mutter geriet auf Neue in Wut, weinte, schrie, wischte sich die Augen und beruhigte sich wieder. Das wiederholte sich jedesmal, wenn etwas verkauft werden sollte. Denn alle Sachen, die einst in der Stube standen, sind verkauft worden, um den Vater zu retten. So war's mit den Büchern, mit der Silberborte auf dem Betschal, mit zwei vergoldeten Bechern, drei silbernen Tabletts, einem halben Dutzend silberner Löffel, mit dem Seidenkleid der Mutter und sämtlichen Möbelstücken, die sich früher im Zimmer befunden haben.

Die Bücher kaufte der Bücherhändler Michael, ein Jude mit einem spärlichen Bart, an dem er unaufhörlich zupfte.

Elia hatte Michael dreimal aufgesucht, bevor er uns mit seinem Besuch beehrte. Die Mutter deutete ihm mit dem Finger, er solle leise sprechen, damit der Vater es nicht höre. Michael verstand sofort, riß den Kopf in die Höhe, zum Regal, streichelte seinen Bart und sagte:

»Nun, also zeigt, was Ihr habt!«

Die Mutter winkte mir, daß ich auf den Tisch steige und die Bücher herunterreiche. Ich stürzte so stürmisch herbei, daß ich stolperte und fiel und mich tüchtig zerschlug. Bruder Elia fügte noch ein paar Schläge hinzu, damit ich ein anderes Mal keine Purzelbäume schieße. Dann stieg Elia allein auf den Tisch und reichte die Bücher herunter. Michael blätterte mit der einen Hand in den Büchern, mit der anderen zupfte er seinen Bart und machte dabei seine Bemerkungen. Er hatte an jedem Buch etwas auszusetzen: dieses hatte einen schlechten Einband, das zweite hatten die Mäuse zernagt, ein drittes hatten die Motten zerfressen, ein viertes taugte überhaupt nichts. Nachdem er alle Bücher und sämtliche Einbände gemustert hatte, sagte Michael:

»Wenn Ihr die Gesamtausgabe von ›Mischnajos‹ hättet, – die würde ich sicher kaufen!«

Die Mutter wurde blaß, aber Bruder Elia fuhr mit feuerrotem Gesicht den Buchhändler an:

»Warum haben Sie nicht gleich gesagt, daß Sie nur ›Mischnajos‹ kaufen? Warum haben Sie uns die ganze Zeit an der Nase herumgeführt und uns den Kopf verdreht?«

»Still!« sagte die Mutter. Aus dem Nebenzimmer ließ sich eine heisere Stimme vernehmen:

»Wer ist dort?«

»Niemand!« erwiderte die Mutter, schickte den Bruder zum Vater und begann mit Michael zu feilschen. Sie hat ihm die Bücher sicher billig verkauft. Als Bruder Elia hereinkam und fragte: »Wieviel?«, antwortete die Mutter: »Das geht dich nichts an.« Michael aber packte die Bücher – es waren fast lauter Gebetbücher – eilig zusammen, schob sie in seinen Sack und ging davon.

*

Am drolligsten ging es beim Verkauf des Glasschranks zu. Es wollte mir nicht in den Sinn, daß er fortkommen könnte. Ich glaubte immer, der Schrank wäre an die Wand angewachsen. Außerdem würde die Mutter keinen Raum mehr haben, in dem sie das Brot, den Sabbatstriezel, die Teller, die Zinnlöffel und Gabeln (zwei silberne Löffel und Gabeln, die wir hatten, waren schon verkauft) verschließen könnte. ›Wo würde sie Ostern die Mazze halten?‹ fragte ich mich, als der Tischler Nachman kam und unseren Schrank mit dem großen, roten Daumennagel seiner schmutzigen Hand maß. Der Tischler behauptete, daß der Schrank nicht durch die Tür durchginge und zeigte zum Beweis die Breite des Schrankes und der Tür.

»Wie ist er denn hereingekommen?« fragte Elia.

»Frag ihn doch!« erwiderte Nachman ärgerlich, »wie soll ich das wissen? Man hat ihn hereingetragen, da ist er eben hereingegangen, Schlaukopf,« erwiderte der Tischler gereizt.

Ein Wort ergab das andere, man fing an zu zanken, es fehlte, nicht viel, daß man sich ohrfeigte. Wenn mein Bruder Elia zornig wurde, konnte man vor ihm Angst bekommen. Er drohte dem Gegner immer mit Ohrfeigen, aber schließlich endete es so, daß er geohrfeigt wurde. Obgleich er seinen Jahren nach ein erwachsener Mensch war und sogar schon einen Anflug von Schnurrbart hatte, war er schmächtig und klein. Alle Leute nannten ihn ›der Kleine‹. Unsere Schachne Pesche pflegte von ihm zu sagen, er sei nur um einige Köpfe größer als ein Hund sozusagen. Aber halt! Ihr kennt unsere Schachne Pesche noch nicht und ihren Mann kennt ihr auch nicht. Er ist Buchbinder, schielt mit dem linken Auge, heißt Mojsche und ist ein furchtbar böser Mensch. Wenn er mit seiner Arbeit beschäftigt ist, läßt er keinen herein. Aber zum Glück hat er nicht immer zu tun, er geht sogar meistens unbeschäftigt herum. Er teilt mit uns die Wohnung. Die eine Hälfte gehört ihm, die andere uns. Ich weiß nicht, wie die Einteilung ist, aber ich weiß, daß wir ihm die Hälfte unserer Wohnung für dreiunddreißig Rubel abgetreten und für dieses Geld eine Kuh für den Vater gekauft haben. Das hatte uns der schwarze Doktor geraten ... Diese Kuh ist die Mutter des Kälbchens, von dem ich euch erzähle. Ich habe das Kälbchen also dem Doktor zu verdanken, aber den Doktor selbst habe ich nicht gern. Die Mutter hat ihn auch nicht gern. Wieso ich das weiß? Aus einem Gespräch, das ich belauscht habe. Ich will euch das Gespräch zwischen meiner Mutter und Bruder Elia Wort für Wort wiedererzählen.

Die Mutter: »Auch ein Doktor!« –

Elia: »Was hast du denn gegen den Doktor? Ist er etwa ein schlechter Doktor?«

Die Mutter: »Sag ich denn, er ist ein schlechter Doktor? Ich sage nur, er ist ein sonderbarer Doktor.«

Elia: »Wieso denn?«

Die Mutter: »Wenn sonst ein Doktor zu einem Kranken kommt, verschreibt er ihm Medizin, Pillen oder ein Pulver. Der verordnet immer nur Milch und Bouillon. Wie oft habe ich ihn gebeten, er möge eine Medizin verschreiben. Aber, er tut's nicht. Ist das ein Doktor?«

Elia: »Warum läßt du ihn denn kommen?«

Die Mutter: »Wen soll ich denn sonst kommen lassen?«

Elia: »Gibt's nicht genug Doktoren?«

Die Mutter: »Die anderen nehmen bezahlt, dieser kommt umsonst.«

Elia: »Was willst du also noch mehr?«

Die Mutter: »Was ich will? Den Vater will ich retten.«

Elia: »Warum rettest du ihn nicht?«

Die Mutter: »Womit? Mit den zehn Fingern? Oder mit den leeren Wänden?«

Nun will ich wieder auf den Glasschrank zurückkommen.

Nachdem mein Bruder Elia sich mit dem Tischler verzankt hatte, und dieser böse nach Hause gegangen war, begann die Mutter zu weinen, ganz leise, damit der Vater es nicht höre.

»Du hast kein Mitleid mit dem Vater,« sagte sie zu Bruder Elia, »du vertreibst die Käufer.«

Mein Bruder Elia verzerrte das Gesicht, daß man nicht wissen konnte, ob er weinte oder lachte, und sprach:

»Käufer? Solche Käufer sollen dicht gesät werden und spärlich aufsprießen!« Trotzdem ging er auf das Drängen der Mutter zum Tischler Nachman, der bald darauf mit seinen beiden Söhnen, ebenfalls Tischlern, ankam. Nachman ergriff den Schrank mit festen Händen am oberen Teil, die beiden Söhne stützten ihn zu beiden Seiten, während er kommandierte: »Koppel zur Seite!« »Mendel nach rechts!« »Koppel, nicht eilen!« »Mendel, festhalten! Aufgepaßt, blöde Burschen!«

Die Mutter und Elia standen regungslos und starrten auf die nackte Wand, die mit Spinngewebe bedeckt war. Sie weinten. Was haben sie nur? Sie können nichts als weinen. Da plötzlich gab's einen Krach! Die Scheibe war zerbrochen, der Tischler und seine Söhne begannen zu schimpfen und die Schuld aufeinander abzuwälzen. Der Vater hörte das Krachen und fragte mit seiner heiseren Stimme vom Krankenbett:

»Was ist dort geschehen?«

»Es ist nichts, es ist nichts!« antwortete die Mutter und machte die Tür zu. Wir aber hörten, wie der Tischler mit seinen Söhnen schimpfte:

»Rührt Euch doch, verfluchte Kerls! Ihr kriecht ja, als hättet ihr bleierne Füße. Die reinen Bären! Der Teufel soll euch holen! Das Genick sollt ihr brechen!«

Die Mutter blieb in der leeren Stube zurück und wischte sich die Augen. Die Stube sah ohne Schrank wirklich aus wie ein Mensch, den man ganz nackt ausgezogen hatte. Eine Spinne lief über die befleckte Wand, so schnell sie konnte, um die Flucht zu ergreifen. Fort war sie!

Meine Mutter und Bruder Elia standen noch immer da und weinten. Komisch! Bei der geringsten Veranlassung weinen sie! Ich sehe es nicht gern, wenn man weint. Ich laufe lieber zu meinem Kälbchen und spiele mit ihm.

*

»Was soll man weiter tun?« fragte eines Morgens meine Mutter den Bruder Elia, indem sie stirnrunzelnd die nackten Wände betrachtete. Wir folgten beide ihren Blicken. Elia sah mich voll Mitleid an.

»Geh einen Augenblick hinaus. Ich muß mit Mama etwas besprechen.«

Mit einem Satz war ich auf der Straße bei dem Kälbchen des Nachbarn. In der letzten Zeit war das Kälbchen auffallend gewachsen und schöner geworden; sein schwarzes Schnäuzchen war lieblicher anzusehen; seine klugen, runden Augen schauten so vernünftig drein und warteten, ob man ihm nicht etwas zu essen geben würde; ›Mich‹ liebte es, wenn man es mit zwei Fingern unter dem Hals kraulte.

»Mottl! Gibst du dich schon wieder mit dem Kälbchen ab? Kannst du nicht einen Augenblick ohne deinen besten Freund leben?« rief Elia, aber er schalt mich nicht, sondern er nahm mich bei der Hand und führte mich zu dem Kantor Reb Hirsch-Beer. –

»Bei Hirsch-Beer«, sagte Bruder Elia, »wirst du es sehr gut haben, du wirst gut zu essen bekommen ... Bei uns zu Hause ist es schlimm. Der Vater liegt krank, man muß ihn retten und alles tun, was möglich ist ...«

Bei diesen Worten knöpfte Elia seinen Rock auf und zeigte auf die Weste.

»Sieh her, ich hatte eine Uhr, ein Geschenk meines Schwiegervaters (Elia war verlobt), ich habe sie verkauft! Wenn mein Schwiegervater das erfährt, stellt er die ganze Welt auf den Kopf!«

Ich dankte Gott, daß der Schwiegervater es bis jetzt noch nicht erfahren und die ganze Welt nicht auf den Kopf gestellt hat! Was wäre dann mit dem Kälbchen, dem armen Tier, geschehen!

Der Plan gefiel mir! Ich würde in der Lehre sein und gut zu essen bekommen. In letzter Zeit aßen wir zu Hause so gut wie gar nichts. Wenn es etwas gab, wurde es dem kranken Vater vorgesetzt, um ihn zu retten. Nur das Kälbchen tut mir leid, ich werde mich nach ihm sehnen.

»Wir sind angelangt,« sagte Elia, der jeden Augenblick weicher und gütiger gegen mich wurde.

*

Der Kantor Hirsch-Beer liebte den Gesang. Er selbst konnte nicht singen, er konnte überhaupt keinen Ton hervorbringen – wie mein Vater behauptete –, aber er verstand sich auf das Singen. Er hatte einen Sängerchor von fünfzehn Knaben, mit denen er sehr streng umging. Als Hirsch-Beer meine Stimme hörte, streichelte er mir die Wange und erklärte mir, ich hätte eine Sopranstimme.

»Eine Prachtstimme,« meinte mein Bruder. Dann feilschte er lange mit Hirsch-Beer, bekam eine Anzahlung und sagte mir im Fortgehen, ich würde nun hier bleiben, riet mir, Hirsch-Beer zu gehorchen und mich nicht zu sehr zu bangen.

Das sagt sich leicht: »Laß es dir nicht bange werden ...« Aber ist es möglich, sich nicht zu bangen? Draußen ist Sommer, die Sonne brennt, der Himmel ist rein wie Kristall, der Schmutz ist längst getrocknet, vor unserem Hause liegen die Klötze des Millionärs Reb Jossi ... Dieser Reb Jossi beabsichtigt nämlich, sich ein Haus zu bauen und ließ das Holz dazu vor unserem Hause niederlegen. Meine Mutter war darüber entrüstet. »Einem armen, kranken Mann«, sagte sie, »soll man auf den Kopf kriechen,« da muß man ohne Gottesfurcht sein!« Mein Bruder Elia will ihn ohrfeigen. Ausgerechnet Reb Jossi, den reichen Reb Jossi will er ohrfeigen! Vorläufig bleibt es aber bei der Drohung, und das Holz liegt unberührt vor unserem Hause. Mir ist es sehr recht, dem Kälbchen ebenfalls. Ich wünsche dem Millionär Reb Jossi ein langes, gesundes Leben! Ich kann mir aus den Klötzen eine Festung bauen. Zwischen den Klötzen wachsen Brennesseln, Disteln und Schneebeeren. Die weißen Schneebeeren pustet man auf, legt sie an die Stirn und knallt sie auf. Das Kälbchen frißt sie. Das Kälbchen frißt alles, selbst »Schaufäden«. Eines Tages saß ich in Gedanken versunken zwischen den Klötzen und blickte in die blaue Himmelskappe hinein. Plötzlich fühlte ich, wie jemand an den Schaufäden zog. Wer kann das sein? Ich strecke den Kopf vor und sehe, mein Kälbchen kaut mit Wohlgefallen an meinen Schaufäden und verschluckt sich dabei. Ein Glück, daß auf mein Geschrei mein Bruder Elia herbeikam. Er zog die Schaufäden aus dem Maul des Kälbchens heraus, mir aber versetzte er eine Tracht Prügel, an die ich noch lange denken werde.

Glaubt Ihr etwa, daß mein Bruder Elia schlecht ist? Bewahre, er ist nicht schlecht, nur jähzornig!

Aber befreundet war ich nur mit dem Kälbchen! Wie sollte ich mich nicht nach ihm sehnen?

*

Ich bin nun beinahe drei Wochen in der Lehre bei Hirsch-Beer und brauchte noch gar nicht zu singen.

Ich habe eine andere Beschäftigung: ich muß das Spülwasser ausgießen, Wasser holen, Plätteisen wärmen ... Hirsch-Beer ist nämlich Damenschneider. Er trägt langes Haar, das immer voll von weißen Fäden oder Watte ist. Eine Hand hat er ... verdorren soll sie ihm! Und Finger wie Stecknadeln! Wenn er einen beim Ohr packt, dann fühlt man's! Es prickelt wie bei Frost! Seine Frau heißt Minze, sie ist pockennarbig und hat das ganze Gesicht mit Sommersprossen bedeckt. Sie ist nicht böse, sie prügelt nicht, aber sie schimpft unausgesetzt und gebraucht die allerschlimmsten Fluchworte ... Wenn man sich zum Essen niedersetzt, guckt sie einem in den Mund und zählt jeden Bissen nach. Kinder haben sie nicht, nur einen kleinen Unglückswurm, eine Dobcia. Wie alt sie ist, weiß ich nicht. Dobcia ist ein Krüppel, ein ganz merkwürdiger Krüppel. Und schwer ist sie ... schwerer als ich ... Ich schleppe mich krank an ihr. Sie kann überhaupt nicht gehen, denn sie hat ganz wunderlich verbogene Füße. Man muß sie immer tragen. Vom ersten Tage an übergab man mir Dobcia: Da, schlepp sie! ... Dobcia hat mich furchtbar gern. Sie umfaßt mich mit ihren krummen, dünnen, kalten Ärmchen und will gar nicht von meinem Arm herunter.

»Kika-ki, kika-pi!« – das ist ihre Sprache. Wißt ihr, was das zu bedeuten hat? ... Wenn ihr achtzehn Köpfe hättet, würdet ihr es auch nicht erraten! ... Glaubt ihr, sie schläft in der Nacht? Kein Gedanke! Sie reißt mir die Augen auf, kriecht mir an den Hals ... »Kika-ki! Kika-pi!« ... Was meint ihr zu solcher Mißgeburt?! Ich soll sie schaukeln ... bedeutet das. Dobcia hat mich furchtbar gern: Wenn ich esse, reißt sie mir alles aus den Händen: »Kiko-pi! – Gib her!« ... Ich sehne mich nach Hause ... Das Essen ist hier auch nicht besonders ... Morgen ist Feiertag ... Pfingsten. Die Frösche quaken: quak, quak, quak ... Sie rufen mich nach Hause, zu den Holzklötzen, zu den Disteln, zu dem Kälbchen, dem lieben Kälbchen! Das gute Tierchen hat mich auch nicht vergessen. Es ist zu Besuch zu mir gekommen und schaut mich mit seinen guten Augen an und sagt: »Komm mit!« Wir gehen zum Flüßchen hinauf. Ich wickle die Höschen hoch und hopp! ... ins Wasser hinein! Ich bin schon im Fluß, ich schwimme ... das Kälbchen hinter mir her ... An jenem Ufer ist ein ganz anderes Leben: Da gibt's weder einen Kantor, noch eine Dobcia, noch einen kranken Vater ...

Ich erwache – es war nur ein Traum! ... Soll ich davonlaufen? Wohin? ... Nach Hause selbstverständlich! ... Aber Hirsch-Beer ist früher erwacht als ich. Er hält die Stimmgabel, legt sie ans Ohr, prüft sie mit den Zähnen ... Dann befiehlt er mir, mich schnell anzukleiden und mit ihm in die Synagoge zu gehen. Wir sollen heute während des Gebets den »einstudierten« Gesang vortragen. In der Synagoge sehe ich den Bruder Elia. Warum ist er hier? Er betet doch sonst bei den Fleischern, wo der Vater Kantor ist. Bruder Elia flüsterte lange mit Hirsch-Beer. Hirsch-Beer machte ein verdrießliches Gesicht. Schließlich sagte er zu meinem Bruder: »Also gut! Gleich nach Tisch!

»Du kommst mit mir! Du sollst den Vater wiedersehen,« sagte Elia zu mir, und wir gingen nach Hause. Elia ging mit gemessenen Schatten, ich aber sprang, rannte, flog!

»Warte doch, warum eilst du so?« sagte Elia und faßte mich bei der Hand. Er wollte mir offenbar etwas sagen.

»Weißt du, der Vater ist krank, sehr krank ... Gott weiß, wie das noch endet ... er muß gerettet werden, wir sind aber arm ... niemand will uns helfen ... ins Krankenhaus will ihn die Mutter auf keinen Fall geben ... lieber würde sie sterben, – sagt sie, als ihn ins Krankenhaus schicken ... Da kommt die Mama! ...«

Mit ausgestreckten Händen kam sie uns entgegen. Sie umarmte mich stürmisch, ich fühlte fremde Tränen auf meiner Wange. Mein Bruder Elia ging zu dem Kranken hinein, ich blieb mit der Mutter auf der Straße. Im Nu bildete sich ein Kreis um uns: Unsere Nachbarin Pesche, ihre Tochter Mendel, ihre Schwägerin Perle und noch zwei andere Frauen.

»Ihr habt einen Gast zu den Feiertagen! Wir gratulieren!«

Die Mutter ließ ihre geschwollenen Augen sinken.

»Ein Gast, was für ein Gast ... mein armer Junge ist gekommen, den kranken Vater zu besuchen. Er ist doch noch ein Kind ...« erwiderte die Mutter den versammelten Frauen. Dann wandte sie sich zu unserer Nachbarin Pesche und flüsterte mit ihr:

»Ist das eine Stadt! Wenn wenigstens ein Mensch daran gedacht hätte, nach ihm zu sehen ... dreiundzwanzig Jahre hat er vorgebetet ... seine Gesundheit hat er geopfert ... Ich könnte ihn vielleicht retten, aber womit? ... Ich habe alles verkauft, das letzte Federbett ... den Jungen habe ich zum Kantor gegeben. Alles um seinetwillen, alles dem Kranken zuliebe ...« Pesche nickte mitleidsvoll mit dem Kopf, ich drehte mich hin und her.

»Wen suchst du denn?«

»Wen kann der Taugenichts suchen? Wahrscheinlich das Kälbchen,« erwiderte statt meiner die Nachbarin Pesche und wandte sich dann freundschaftlich zu mir:

»Ach, lieber Junge, das Kälbchen ist nicht mehr da! Man mußte es dem Fleischer verkaufen; es ist schwer genug, ein Vieh durchzufüttern. Wo soll man es für zwei hernehmen?«

Das Kälbchen ist bei ihr also auch ein ›Vieh‹?

Eine sonderbare Frau, diese Pesche, überall steckt sie ihre Nase hinein; sie muß wissen, ob wir heute milchiges Mittagbrot haben.

»Wozu wollt Ihr das wissen?« fragte die Mutter.

»Nur so,« erwiderte Pesche und hielt ihr unter dem Tuch hervor einen Topf Milch hin.

Die Mutter wehrte mit beiden Händen ab.

»Erbarmt Euch, Pesche! Was tut Ihr? Sind wir denn Bettler? Kennt Ihr uns denn nicht?«

»Eben weil ich euch kenne, darf ich es tun,« rechtfertigte sich Pesche. »Unsere liebe Kuh hat sich in letzter Zeit unberufen erholt, wir haben Gott sei Dank Quark und Butter. Ich borge euch etwas, so Gott will, werdet ihr es mir abgeben ...«

Pesche sprach noch lange mit Mama, mich zog's zu den Holzklötzen vors Haus, zum Kälbchen ... Ich hätte weinen mögen, aber ich schämte mich ...

»Wenn der Vater dich noch etwas fragen sollte,« sagte die Mutter zu mir in abgerissenen Worten, so sage nur: Gelobt sei Gott ... Hörst du? Nichts weiter, nur gelobt sei Gott! Und mein Bruder Elia fügte noch hinzu:

»Beklage dich über nichts, erzähle keine Geschichten, sag nur: Gelobt sei Gott! ... Hast du verstanden?«

Elia führte mich zu dem Kranken hinein. Der Tisch war mit Gläsern, Büchsen, Schropfköpfen vollgestellt, es roch nach Apotheke, – das Fenster war verschlossen. Zu Ehren von Pfingsten hatten sie das Zimmer mit Grün geschmückt, am Kopfende des Bettes hatten sie ›Davids Schild‹ aus Blumen aufgehängt, auf dem Fußboden lagen duftende Gräser umher. Bruder Elia hatte dafür gesorgt.

Als der Vater mich erblickte, winkte er mich mit seinem langen, dünnen Finger herbei. Elia stieß mich sanft, ich ging ans Bett heran. Ich habe den Vater kaum erkannt. Sein Gesicht war fahl, sein weißes Haar glänzte und hing strähnenweise herunter, wie falsche Locken; die schwarzen Augen saßen tief, wie eingesetzte, fremde Augen; die Zähne sahen aus wie künstlich; der Hals war so dünn, daß der Kopf ohne Stütze zu sein schien. Ein Glück, daß er nicht aufrecht sitzen konnte ... Er bewegte die Lippen ganz seltsam, als ob er schwimmen würde: mffu! ... Der Vater legte seine heiße Hand mit den knöchernen Fingern an mein Gesicht und verzog den Mund zum Lächeln wie ein Toter.

Die Mutter trat ein und nach ihr der Arzt, der lustige, schwarze Doktor mit den, langen Schnurrbart. Er begrüßte mich wie einen alten Freund, gab mir einen Nasenstüber auf den Bauch und sagte lustig zu meinem Vater:

»Sie haben einen Gast zum Feiertag. Ich gratuliere.«

»Ich danke,« antwortete die Mutter und blinzelte dem Arzt zu, er möchte den Kranken so schnell wie möglich untersuchen und ihm etwas verschreiben. Der schwarze Doktor öffnete geräuschvoll das Fenster und schalt den Bruder, daß er es verschlossen hielt. »Ich habe Ihnen tausendmal gesagt, daß das Fenster offen bleiben soll.« Elia zeigte auf die Mutter, – sie sei daran schuld, sie lasse das Fenster nicht öffnen, weil sie Angst hat, der Kranke könne sich erkälten. Der schwarze Doktor nahm die Uhr heraus, eine große, goldene Uhr. Elia starrte sie an, so daß der Doktor fragte: »Wollen Sie wissen, wie spät es ist? – Vier Minuten vor elf ... Wie spät ist es bei Ihnen?«

»Meine Uhr steht,« erwiderte der Bruder und errötete von der Nasenspitze bis zum Nacken.

Die Mutter wurde immer unruhiger, sie wünschte, daß der Doktor den Kranken untersuche und ihm eine Medizin verschreibe. Aber der Doktor hatte keine Eile. Er fragte die Mutter nach allen möglichen anderen Dingen aus: Wann der Bruder Hochzeit machte? Was Hirsch-Beer von meiner Stimme hielt? ... Er muß eine angenehme Stimme haben,« sagte der Doktor, die Stimme vererbt sich gewöhnlich.« ... Die Mutter wurde immer ungeduldiger. Endlich schob der Doktor die Bank zum Bett des Kranken und ergriff seine trockene, heiße Hand.

»Nun, Kantor, wie geht's denn heute, am Feiertag?«

»Gott sei Dank!« antwortete der Vater mit dem Lächeln eines Toten.

»Nun, haben Sie weniger gehustet, gut geschlafen? ...« erkundigte sich der Arzt und trat näher ans Bett heran.

»Nein,« erwiderte der Vater, kaum atmend, »im Gegenteil, ich habe nicht aufgehört zu husten und schlafen konnte ich auch nicht ... aber ... Gott sei Dank ... es ist Feiertag ... hoher Festtag ... Gesetzesfreude ... und einen Gast ... haben wir auch ... zum Feiertag ...«

Alle Augen waren auf den ›Gast‹ gewandt, ich aber senkte die Augen zu Boden, während meine Gedanken hinausschweiften, zu den Holzklötzen, dem Stall, dem Kälbchen, das ein ›Vieh‹ geworden war, nach dem Flüßchen, das im Tale rauschte und zu der blauen Kappe, die man Himmel nennt.

»Was suchst du denn?« fragte irgendeiner.

»Das Kälbchen ...«

»Das Kälbchen? Ach, mein Kind, das ist längst verkauft ... Dem Schlächter haben wir es verkauft, um den Vater zu retten.«

Ich sah in Gedanken das unschuldige Kälbchen, leider schon geschlachtet, wie es mich mit seinen weit aufgerissenen Augen liebevoll, um Mitleid flehend, anblickte. Alles tanzte vor meinen Augen, Tränen preßten mir die Kehle zusammen.

»Das arme Kind, das Herz tut ihm weh um den Vater,« sagte unsere Nachbarin Pesche zur Mutter.

»Weine nicht, mein Söhnchen, Gott ist ein großer Vater. Wenn er nur will, kann der Vater noch gesund werden,« beruhigte mich die Mutter und weinte selber.

Mir ist sehr wohl: Ich bin Waise.

Soweit ich zurückdenken kann, wurde ich nie so beachtet wie jetzt, seit dem Tode meines Vaters. Er ist am ersten Pfingstfeiertag gestorben, – ich wurde Waise. Gleich nach den Feiertagen begannen wir – ich und mein Bruder – das Totengebet: ›Kadisch‹ – zu sagen. Izchok lehrte mich dieses Gebet. Er schlug das Gebetbuch auf, setzte sich neben mich und begann zu lesen: »Isgadal wiskadasch schme raba ...« Izchok ist ein guter Bruder, aber ein schlechter Lehrer; er wird oft zornig und schlägt mich; er möchte, daß ich die langen, unverständlichen, aramäischen Worte nach dem ersten Mal behalte. Izchok wiederholt das Gebet zwei-, dreimal und läßt mich dann allein lesen ... Ich lese, aber es will nicht recht gehen; bei den Worten: »wiz' mach purkone« mache ich halt. Mein Bruder stößt mich mit dem Ellenbogen und sagt, meine Gedanken seien scheinbar mit anderen Dingen beschäftigt, vielleicht mit dem Kälbchen? ... Wieso er das nur wissen, mag? Als wäre er mir ins Gehirn hineingekrochen! ... Izchok wiederholt fleißig das Gebet; ich stammele die Worte: »Lejlo ulelo min kol birchoso wchiroso tusch bechoso,« weiter komme ich nicht von der Stelle. Mein Bruder zieht mich am Ohr und schreit: »Ach, wenn der Vater aufstehen und sehen würde, was für einen Jungen er hat ...«

»... Dann brauchte ich nicht ›Kadisch‹ zu sagen,« schließe ich und bekomme mit der linken Hand einen Schlag auf die rechte Wange. Als die Mutter das hörte, schalt sie meinen Bruder, Elia, er möge mich nicht schlagen, denn ich sei – ein Waisenknabe.

»Erbarme dich! Was tust du? Wen schlägst du?« schrie meine Mutter, »du hast wohl vergessen, daß das Kind – eine Waise ist?!«

Ich schlafe jetzt mit Mama in Papas Bett; das ist das einzige Möbelstück, das zurückgeblieben ist; Mama überläßt mir fast die ganze Decke.

»Deck dich zu, schlaf ein, mein teurer Waisenjunge, zu essen gibt's nichts ...«

Ich decke mich zu, aber ich schlafe nicht; ich wiederhole die Worte des ›Kaddisch‹. Die Schule besuche ich nicht, ich lerne nicht, bete nicht, singe nicht beim Kantor, ich bin ganz frei von allem.

Mir ist wohl: Ich bin Waise.

*

Ich bin sehr vergnügt, ich kann den ›Kaddisch‹ schon auswendig. Im Tempel stehe ich auf der Bank und schnurre das Gehet herunter. Ich habe vom Vater eine tönende Stimme geerbt, einen echten Sopran. Knaben stehen um mich herum, Frauen weinen. Fremde schenken mir Kopeken. Der Sohn des reichen Jossele, der einäugige Henoch, ein furchtbar neidischer Junge, steckt mir die Zunge aus, wenn die Zeit zum Kaddischsagen naht; er macht alles mögliche, um mich zum Lachen zu bringen; ihm zum Trotz lache ich aber nicht. Der Tempeldiener Aron bemerkt Henochs Treiben, er packt ihn beim Ohr und führt ihn zur Tür hinaus. Das ist ihm ganz recht!

Da ich des Morgens und des Abends den Tempel besuchen muß, gehe ich nicht mehr zu Hirsch-Beer und warte die kleine Dobzia nicht mehr. Ich verbringe die ganzen Tage am Fluß, angle Fische oder bade. Das Fischeangeln habe ich allein gelernt; ich kann es euch auch beibringen, wenn ihr wollt: man zieht das Hemd ab, macht einen Knoten in den Ärmel und geht langsam, das Hemd in der Hand, ins Wasser hinein, bis der Kopf nur noch heraussteckt; wenn man fühlt, daß das Hemd schwer ist, geht man rasch ans Ufer, schüttelt aus dem Ärmel das Gras und den Schlamm heraus und besieht sich den Fang. Am Tang haben sich oft Frösche verwickelt, die wirft man hinaus, denn man soll ein Tier nicht unnütz quälen! In dem dichten Tang befinden sich aber oft auch Blutegel, – Blutegel sind Geld; für ein Dutzend Blutegel kann man drei polnische Groschen – anderthalb Kopeken – bekommen. Nach Fischen braucht man nicht erst zu suchen; früher gab's welche bei uns, jetzt sind sie anderswo hingezogen; ich gehe gar nicht nach Fischen aus. Ich bin froh, wenn es Blutegel gibt, – die fängt man auch nicht immer; den ganzen Sommer habe ich keinen einzigen gefangen. Mein Bruder erfuhr irgendwie von meinem Angeln und riß mir beinahe die Ohren dafür ab. Glücklicherweise hatte unsere Nachbarin Feige es beobachtet; die eigene Mutter könnte sich ihres Kindes nicht wärmer annehmen.

»Einen Waisenknaben so zu schlagen?«

Mein Bruder schämte sich und ließ mein Ohr los.

Alle Leute nehmen sich meiner an. Mir ist wohl: Ich bin Waise.

*

Unsere Nachbarin Feige hat sich in mich verliebt. Sie quält meine Mutter und hat sich wie ein Schropfkopf an sie geklammert; ich soll eine Zeitlang bei ihr wohnen.

»Was schadet es Euch,« redete sie der Mutter zu, »bei mir setzen sich jeden Tag zwölf Menschen zu Tisch, also werden auch dreizehn Platz haben. Die Mutter ließ sich endlich überreden, aber Bruder Izchok entgegnete:

»Wer wird bei Euch auf ihn aufpassen, daß er ›Kaddisch‹ sage?«

»Ich werde selbst dafür sorgen. Sind Sie nun zufrieden? Haben Sie sonst nichts einzuwenden?«

Feige ist durchaus nicht reich. Ihr Mann ist der Buchbinder Mojsche, ein tüchtiger Meister, aber das genügt noch nicht. »Man muß auch Glück haben,« pflegt Feige oft zu meiner Mutter zu sagen. Meine Mutter gibt ihr recht und fügt hinzu: »Auch im Unglück braucht man Glück.« Als Beweis führt sie mich an. Ich sei Waise, aber jeder ist bereit, mich zu sich zu nehmen; manche wären nicht abgeneigt, mich überhaupt zu adoptieren. »Aber das werden meine Feinde nicht erleben, daß ich auf mein Kind verzichte,« sagt die Mutter und weint. Sie beratet sich mit dem Bruder.

»Wie meinst du? Soll ich ihn Feige für einige Zeit geben?«

Bruder Izchok ist erwachsen, er wird zu Rate gezogen, Er glättet sein sauberes, bartloses Gesicht – er möchte leidenschaftlich gern einen Bart haben – und redet wie ein Erwachsener: »Warum denn nicht? Wenn er nur nicht zu sehr verwöhnt wird!«

Es wird also beschlossen – ich ziehe zu unserer Nachbarin, unter der Bedingung, nicht übermütig zu sein. In ihren Augen heißt alles – Übermut. Bindet man der Katze ein Stück Papier an den Schwanz, damit sie sich im Kreise drehe, – so ist das Uebermut; klopft man mit dem Stock auf den Gartenzaun des Popen, daß alle Hunde zusammenrennen, – so ist das ebenfalls Übermut; zieht man dem Wasserfahrer Leibe den Pfropfen aus dem Wagen, daß ein halbes Faß Wasser ausläuft, – so ist auch das Übermut.

»Dein Glück, daß du ein Waisenknabe bist!« ruft mir der Wasserfahrer Leibe zu, sonst würde ich dir die Hände und Füße lahm prügeln. Kannst es mir bei meinem Gewissen glauben!«

Ich glaube ihm. Ich weiß, daß mich jetzt niemand anzurühren wagt, weil ich Waise bin.

Mir ist wohl: – Ich bin Waise.

*

Unsere Nachbarin Feige – sie wird es mir verzeihen – hat gelogen; sie hat behauptet, daß zwölf Personen bei ihr zu Tisch gehen; nach meiner Berechnung bin ich der vierzehnte. Sie vergaß den blinden Greis Boruch mitzuzählen. Vielleicht rechnet er als Esser nicht mit, weil er alt ist und keine Zähne hat. Ich will nicht streiten, der Alte kann zwar nicht kauen, aber er schluckt wie eine Gans und greift nach allem. Alle greifen zu, ich geniere mich auch nicht, aber ich bekomme dafür Fußtritte unter dem Tisch. Am schlimmsten setzt mir ›Waschdich‹ zu, – der ist der reine Verbrecher. Eigentlich heißt er Herschel, aber wegen einer ewigen Flechte auf der Stirn bekam er den Spitznamen ›Wasch dich‹. – Die Königin von Mydien hatte eine ähnliche Zeichnung auf der Stirn. – Feiges Kinder haben sämtlich Spitznamen: Faß, Katze, Storch, Gib-Gibher, Schmierfink usw. Jeder Spitzname hat seine Ursache. Pinkus ist dick und rund wie ein Faß, Welwel ist schwarz wie eine Katze; Mendel hat eine Storchnase; Berel ist genäschig: – gibt man ihm ein Stück Brot mit Schmalz, verlangt er sofort mehr, man könnte ihm immer nur geben und geben; Sorach hat einen sehr häßlichen Beinamen; er kann sicher nichts dafür, eher hat die Mutter schuld, weil sie ihn, als er klein war, zu selten gekämmt hat, aber ... vielleicht hat auch sie keine Schuld ... Selbst die Katze, das stumme Geschöpf, das sicher niemandem zu nahe kommt, hat den Beinamen ›Feige-Lea die Lumpensammlerin‹ bekommen, weil sie dick und fett ist wie Feige-Lea, die Frau des Lumpensammlers ... Man hat die Knaben oft geschlagen, weil sie der Katze einen Menschennamen gegeben haben, aber es glitt an ihnen ab, wie Wasser von den Gänsen.

Mir haben sie den Beinamen ›Mottele mit den Lippen‹ gegeben, – wahrscheinlich haben ihnen meine Lippen nicht gefallen. Sie sagen, ich schlürfe beim Essen mit den Lippen. Als ob es möglich wäre, beim Essen nicht zu schlürfen! ... Ich weiß nicht warum, aber mir gefällt mein Spitzname nicht; sie uzen mich und nennen mich absichtlich mit diesem Namen. Allmählich wurde ›Mottele mit den Lippen‹ abgekürzt, ich hieß nur noch ›mit den Lippen‹ und schließlich nur noch ›Lippen‹.

»Lippen, wo wart Ihr?«

»Lippen, wischt die Lichtchen ab!«

Ich sitze und weine. Meine Tränen bemerkt Mojsche, der Buchbinder, er fragt mich, warum ich weine. Ich antworte: »Wie soll ich nicht weinen, wenn sie meinen wirklichen Namen ›Mottele‹ in ›Lippen‹ verwandelt haben?«

»Wer?«

»Waschdich!«

Mojsche will ihn schlagen. ›Waschdich‹ rechtfertigt sich und schiebt die Schuld auf das ›Faß‹, das ›Faß‹ auf die ›Katze‹ usw. Mojsche wird aus der Sache nicht klug, streckt die Jungen alle der Reihe nach aus, zählt jedem eine tüchtige Tracht Prügel mit einem dicken Ledereinband auf und schreit:

»Ich werde euch zeigen, ihr herzlosen Bengel! ... Sich über einen Waisenknaben lustig zu machen! Ich werde euch eure Streiche austreiben!«

Jeder nimmt sich meiner an. Mir ist wohl: Ich bin Waise.

Was soll aus mir werden?

Zeigt mir, wo das Paradies ist, liebe Menschen! Ihr könnt's sicher nicht, denn jeder Mensch hat seinen Platz für das Paradies. Meine Mutter behauptet zum Beispiel, das Paradies wäre dort, wo mein verstorbener Vater Reb Pejsche sich jetzt aufhält und wo sich alle ehrenwerten Menschen befinden, die in dieser Welt genug gelitten haben; sie haben sich gequält hier auf Erden, deshalb stand ihnen das himmlische Reich offen.

»Wo könnte dein Vater sein, wenn nicht im Paradies? Hat er wenig Unglück zu Lebzeiten erfahren?« sagt zu mir die Mutter und wischt sich die Augen, wie jedesmal, wenn vom Vater die Rede ist.

Meine Kameraden aus dem Cheder, der Religionsschule, werden euch sagen, das Paradies sei ganz weit, auf einem kristallenen Berg, dessen Gipfel bis zum Himmel reicht; die Knaben spielen dort frei herum, brauchen nicht zu lernen, baden den ganzen Tag in Milchflüssen und essen Honigkuchen. Der Buchbinder Mojsche hat oft gesagt: »Das wahre Paradies ist Freitags in der Badeanstalt«. Wenn ihr mich fragt, so sage ich euch, ein echtes Paradies ist der Garten des Arztes Mnasche.

Das ist der einzige Garten, nicht nur in unserer Straße, sondern in der ganzen Stadt. Ich bin bereit zu glauben, daß es in der ganzen Welt keinen zweiten solchen Garten gibt, niemals gegeben hat und geben wird! Das werden euch alle Leute sagen. Was soll ich zuerst schildern: den Arzt Mnasche und seine Frau, oder das Paradies selbst? Ich fange lieber mit Mnasche und der Frau Mnasche an, sie sind die Eigentümer dieses Paradieses, sie haben also das Vorrecht.

*

Der Arzt Mnasche trägt Winter und Sommer einen Pelzkragen und ahmt den schwarzen Doktor in allem nach. Er hat ein Auge, das etwas kleiner ist als das andere, der Mund ist ein wenig schief. Mnasche behauptet, es sei vom Wind. Ich verstehe nicht, wie der Mund vom Wind schief werden kann. Ich bin so oft im Wind und Sturm herumgelaufen, daß mein Kopf eigentlich ganz schief sitzen müßte. Ich denke, das ist Gewohnheitssache. Ich habe einen Freund Berel, der zwinkert unaufhörlich mit den Augen. Ein anderer Freund Welwel spricht, als ob er Klöße im Munde hätte. Man weiß doch: Gewohnheit ist die zweite Natur.

Trotz des schiefen Mundes verdient Mnasche mehr als irgendein anderer Arzt, weil er sich nicht erst lange bitten läßt und sich nicht Gott weiß was einbildet, wie die anderen Arzte; sobald man ihn ruft, rennt er, wie besessen ... Außerdem ist er kein Freund von Rezepten und bereitet die Arzneien allein zu.

Unlängst bekam ich Fieber und Seitenstiche, – ich habe wohl zu lange im kalten Wasser gesessen – die Mutter ließ sofort Dr. Mnasche rufen. Er sah mich an und sagte:

»Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, es ist nichts ... er hat sich nur die Lunge ein wenig erkältet. Hieraus zog er ein hübsches blaues Fläschchen aus der Tasche, schüttelte etwas Weißes heraus und bereitete sechs Pulver. Ein Pulver sollte ich sofort nehmen. Ich wand und wehrte mich, mein Herz sagte mir, daß das Pulver bitter sei. Es stimmte auch. Habt ihr einmal versucht, junge Baumrinde zu kauen? Solchen Geschmack hatten die Pulver. Bei mir ist es Gesetz: wenn es ein Pulver ist, so muß es bitter sein! Im Fortgehen sagte Dr. Mnasche meiner Mutter, sie soll mir alle zwei Stunden ein Pulver geben. So dumm, ich sollte diese Galle trinken! Die Mutter teilte dem Bruder Elia von meiner Krankheit mit ... Ich schüttete die Arznei sofort in den Eimer und füllte die Papierchen mit Mehl ... Arme Mama! Wieviel Arbeit habe ich ihr, verschafft! Alle zwei Stunden mußte sie zur Nachbarin rennen und fragen, ob es Zeit ist, die Arznei zu geben. Nach jedem Pulver stellte die Mutter fest, daß mir besser war. Nach dem sechsten Pulver stand ich gesund auf.

»Was es heißt, einen guten Doktor haben!« sagte die Mutter. Sie ließ mich nicht in den Cheder gehen, hielt mich zu Hause und gab mir Weißbrot und süßen Tee.

»Dr. Mnasche ist der beste Arzt in der Stadt, Gott schenke ihm Gesundheit und lange Jahre! Er hat Pulver, die den Kranken sofort auf die Beine stellen und einen Toten kurieren!« erzählte meine Mutter den Nachbarn, während die Tränen über ihre Wangen rollten.

*

Die Frau des Dr. Mnasche, die bei uns nach dem Mann: ›Frau Dr. Mnaschen‹ genannt wird, ist dagegen eine Hexe! Sie hat ein freches, böses Gesicht, eine Baßstimme, wie ein Mann, geht in Männerstiefeln und schimpft beständig. Sie ist in der ganzen Gegend dafür bekannt, daß sie in ihrem ganzen Leben noch nie einem Armen ein Stück Brot gegeben hat. Dabei hat sie ein Haus voll von Vorräten. Man findet bei ihr Eingemachtes vom vorigen und vom vorletzten Jahr. Wozu braucht sie so viel Eingemachtes? ... Sie weiß es wohl selber nicht. Das ist schon ihre Natur, sie wird nicht mehr anders werden ... Ein Lahmer hinkt so lange, bis er ins Grab kommt ... Kaum, daß es Sommer wird, da fängt die Mnaschen an, Eingemachtes einzukochen. Sie heizt nicht etwa mit Kohlen oder Holz, sondern sie sammelt Reisig, Tannenzapfen, trockenes Laub und macht solchen Rauch dabei, daß man beinahe erstickt. Solltet ihr zufällig im Sommer in unsere Gegend kommen, so erschreckt nicht vor dem Rauch: Es ist keine Feuersbrunst, sondern die Frau Mnaschen kocht Früchte ein. Sie kocht immer ihre eigenen Beeren aus ihrem eigenen Garten.

Nun sind wir zu dem Garten angelangt.

Was findet ihr nicht alles in diesem Garten? Da gibt's Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen, Stachelbeeren, Johannis- und Himbeeren, Aprikosen und noch viel mehr. Auch Weintrauben kann man zu Neujahr bei Frau Mnasche bekommen. Zwar ist dieser Wein so sauer, daß man ›bis Krakau sehen kann‹, wenn man eine Traube in den Mund nimmt; aber auch hierfür finden sich Käufer. Für Frau Mnasche bedeutet jede Frucht Geld, – selbst die Sonnenblumenkörner. Gott behüte, wenn man sie um ein paar Körner bittet, sie läßt sich lieber einen Zahn ausreißen, als eine Sonnenblume aus dem Garten.

Ich kenne in dem Garten jeden Baum sicher besser als die Worte des ›Kadisch‹; ich weiß, ob und wann ein Baum Früchte trägt, und auch wie viel, obgleich ich niemals drin war.

In den Garten der Mnaschen hineinzukommen ist nicht so leicht: er ist nämlich von einem hohen Zaun umgeben, in dem Nägel stecken.

Im Garten wacht stets ein Hund, – ein wahrer Wolf – der an einer langen Schnur angebunden ist. Sobald er wittert, daß jemand in den Garten will, so erhebt er ein Gebell und rennt wie besessen hin und her.

Wie habe ich aber trotzdem mit diesem Paradies Bekanntschaft geschlossen? – Das sollt ihr hören.

*

Neben dem Haus des Dr. Mnasche steht das Haus des Fleischers Mendel. Wenn man auf dem Dach des Fleischers Mendel sitzt, kann man alles sehen, was im Garten bei Frau Mnaschen vorgeht. Das ganze Kunststück besteht darin, auf das Dach zu geraten. Mir fällt das nicht schwer. Mendels Haus steht dicht bei unserem und ist viel niedriger. Man braucht nur auf unseren Dachboden zu klettern – ich tue es ohne Leiter – und den Fuß durch das kleine Fenster zu stecken – dann ist man auf Mendels Dach. Dort kann man sich hinlegen, wie es einem paßt: mit dem Bauch nach oben oder nach unten, die Hauptsache ist, daß man liegt, weil man sonst gesehen wird. Die beste Zeit für mich ist gegen Abend, wenn ich in der Synagoge sein soll. Ich schwöre euch, dann erscheint einem der Garten wie ein wahres Paradies.

Wenn der Sommer kommt und die Bäume sich im Garten mit weißen Blüten bedecken, dann darf man erwarten, daß die kleinen stachligen Büsche sehr bald voll mit Stachelbeeren sein werden. Die erste Beere ist es, die man kosten muß. Es gibt Leute, die imstande sind, zu warten, bis die Stachelbeeren groß werden. Die Dummköpfe wissen nicht, daß die grünen, harten Stachelbeeren viel besser schmecken. Zwar sind sie sauer und machen die Zähne stumpf, aber man empfindet im Mund eine angenehme Kühle von der Säure, und gegen stumpfe Zähne ist Salz das beste Mittel: Man streut Salz auf die Zähne und hält es eine halbe Stunde lang im Mund, dann geht alle Stumpfheit weg, und man kann von neuem Stachelbeeren essen. Nach den Stachelbeeren kommen die Johannisbeeren, kleine, rote Beeren mit einem schwarzen Pünktchen und gelben Körnchen; sie sitzen zu Dutzenden an jedem Zweig. Zieht man einen solchen kleinen Zweig zwischen den Lippen durch, so hat man den Mund voll duftiger, säuerlicher Johannisbeeren. Wenn sie reif werden, kauft die Mutter für einen polnischen Groschen (fünfzehn Kopeken) ein Töpfchen Johannisbeeren, die sie mir aufs Brot streicht.

Bei der Frau Dr. Mnasche im Garten ziehen sich zwei Reihen niedriger Sträucher, die ganz dicht mit Johannisbeeren bewachsen sind. In der Sonne strahlt ein roter Glanz von ihnen aus. Könnte man doch ein einziges Zweiglein oder wenigstens eine einzige Johannisbeere mit zwei Fingern abzupfen, und – hinein in den Mund! Glaubt mir, ich brauche von Stachelbeeren oder Johannisbeeren nur zu sprechen, und das Wasser läuft mir schon im Munde zusammen.

Dann kommt die Kirschzeit. Die Kirschen bleiben nicht lange grün, sie reifen schnell.

Wenn ich bei Mendel auf dem Dach lag, beobachtete ich die Kirschen: des Morgens waren sie noch grün, in der Mittagssonne färbten sie sich rötlich, und gegen Abend warm sie bereits ganz rot.

Bei Dr. Mnasche im Garten gibt es Kirschen wie Sterne am Himmel. Ich habe versucht zu zählen, wie viele an einem Ast saßen, aber ich kam nicht zu Ende. Die Kirschen sitzen fest am Zweig. Nur selten fällt eine herunter, dann ist sie überreif, blau-schwarz wie eine Pflaume. Die Pfirsiche dagegen fallen herunter, wenn sie kaum gelb sind. Ach, Pfirsiche! Für die schwärme ich am meisten. Ich habe nur ein einziges Mal eine Pfirsich gegessen, – das war im vergangenen Jahr, ich war noch nicht fünf Jahre alt, mein Vater lebte noch, und alle Sachen waren noch im Hause: der Spiegelschrank, die Bücher, das kleine Sofa und die Federbetten. Jeden Tag, wenn der Vater aus der Synagoge nach Hause kam, rief er mich und den Bruder Elia, versenkte die Hand in die Hintere Rocktasche und sagte: »Kinder, wollt ihr Pfirsiche? Ich habe euch Pfirsiche gebracht!« Bei diesen Worten hielt er uns ein paar große, runde, duftige, saftige, gelbe Pfirsiche hin. Elia, der gefräßige Bursche – sagte kaum das Gebet zu Ende und steckte die Frucht sofort in den Mund. Ich beeilte mich nicht so, ich spielte zuerst mit ihr, sah mich an ihr satt und aß sie dann mit kleinen Bissen zum Brot. Seit jener Zeit habe ich nie mehr Pfirsiche gegessen, aber ich erinnere mich noch ihres Geschmacks. Nun habe ich einen ganzen Pfirsichstrauch vor mir. Ich liege auf dem Dach, schaue und sehe, wie eine Pfirsich nach der anderen hinunterfällt; eine gelblich-rote ist aufgeplatzt, so daß der feste Kern hervorblitzt. Was mag sie mit dieser Menge Pfirsiche anfangen, die Frau Mnasche? ... Sie wird sie wahrscheinlich einmachen, in die Speisekammer stellen, im Winter in den Keller hinuntertragen, und dort werden sie stehen, bis sie verzuckern oder verschimmeln.

Bald werden auch die Pflaumen reif. Bei Mnasches im Garten gibt es zwei Sorten: feste, süße, harte, schwarze Pflaumen und eine andere Sorte mit dünner Haut, glitschig, wässerig im Geschmack; sie werden eimerweise verkauft, aber sie sind nicht etwa schlecht, ich würde sie gern nehmen. Jedoch die Mnaschen gehört nicht zu den Freigebigen.

Endlich kommen die Äpfel an die Reihe, Äpfel! – nicht Birnen. Birnen, selbst die besten – Bergamotten – haben, solange sie nicht reif sind, keinen Geschmack; es ist, als wenn man Holz kauen würde. Bei Äpfeln ist das ganz anders. Wie grün auch ein Apfel sein mag, wie weiß die Kernchen auch sein mögen, er hat immer einen Geschmack ... Beißt man mit den Zähnen hinein, so spürt man Säure. Ein grüner Apfel ist meiner Ansicht nach besser als zwei reife. Auf die reifen Apfel muß man immer warten, die grünen sind aber zu jeder Zeit bereit. Einen Unterschied macht nur die Größe aus, aber ein großer Apfel ist auch nicht immer schmackhaft, manchmal schmecken die kleinen Äpfel besser als die großen.

In diesem Jahr ist eine vorzügliche Apfelernte.

»Es wird so viele geben, daß man sie mit Wagen wird herausfahren können,« sagte die Mnaschen zu dem Apfelhändler Ruwin, als er kam, den Garten zu besichtigen. Ruwin wollte die Äpfel und Birnen schon damals abkaufen, als sie erst blühten. Er ist ein großer Apfel- und Birnenkenner. Er weiß im voraus, wieviel ein Baum einbringen kann, und irrt sich niemals, höchstens, wenn ein Sturmwind kommt oder Würmer und Raupen sich einnisten. Das kann ein Mensch nicht voraussehen. Die schickt Gott. Aber warum gibt es überhaupt Raupen und Würmer? Etwa deshalb, damit die Familie des Ruwin nichts zu essen hat? Ruwin sagt, er verlange von einem Baum nicht mehr als ein Stück Brot. Er habe, sagt er, Frau und Kinder, und die wollen alle essen. Die Mnaschen garantiert nicht nur für Brot, sondern auch für Fleisch.

»Das sind keine Bäume, sondern Gold!« fügt sie hinzu. »Glaubt mir, ich bin Euch kein Feind. Auf meinen Kopf soll herabfallen, was ich Euch wünsche.«

»Amen!« antwortet Ruwin mit einem Lächeln auf seinem roten, sonnenverbrannten Gesicht. »Garantieren Sie mir, daß es keinen Sturmwind, keine Würmer und keine Raupen geben wird, dann werde ich Ihnen sogar mehr bezahlen, als Sie verlangen.«

»Garantiert Ihr mir, daß Ihr auf dem Nachhausewege an einer glatten Stelle nicht ausrutscht und Euch nicht den Fuß brecht,« erwidert ihm die Mnaschen mit Baßstimme.

»Dem Zufall entrinnt niemand!« sagt Ruwin mit einem gutmütigen Lächeln, »fallen kann jeder, der Reiche noch eher als der Arme, denn reiche Leute haben Mittel, um sich zu kurieren.«

»Die Zunge soll dem Schlauberger eintrocknen, der den Menschen wünscht, daß sie die Füße brechen,« erwidert die Mnaschen erregt

»Gewiß,« gibt Ruwin zu, »die Zunge ist das richtige, mag sie nur eintrocknen, aber nicht bei armen Leuten.«

Schade, daß der Garten nicht im Besitz des Obsthändlers ist; für mich wäre das sehr angenehm. Manchmal fällt vom Baum ein Apfel herunter, der nichts mehr taugt, er ist wurmstichig und runzlig wie das Gesicht eines alten Weibes; aber die Mnaschen bückt sich dennoch, hebt ihn auf und trägt ihn auf den Boden oder, in den Keller. Im vorigen Jahr ist ein ganzer Haufen Äpfel bei ihr verfault. Nein, einer solchen Hexe die Äpfel fortzuschleppen –, das würde selbst Gott erlauben ... Aber wie? Am besten wäre es, sich in der Nacht in den Garten zu schleichen, wenn alle schlafen und sich die Taschen mit Äpfel vollstopfen. Doch der Hund wird nicht still bleiben. Dabei flehen die Äpfel im Garten einen an, als wollten sie sagen: »Erbarme dich, schüttele uns ab!« Wenn ich einen Zauberspruch wüßte, daß die Äpfel zu mir kämen! Endlich habe ich ein Mittel gefunden: einen Stock, einen langen Stock mit einem Nagel am Ende. Es genügt, mit dem Nagel einen Zweig mit einem Apfel zu fassen und an sich heranzuziehen, und der Apfel ist dein. Man muß den Stock nur geschickt handhaben, damit der Apfel nicht herunterfällt. Falls er zur Erde fällt, ist es auch nicht schlimm. Der Wind kann ihn ja heruntergeweht haben. Nur darf man ihn nicht mit dem Nagel zerpicken, sonst würden die Besitzer dahinterkommen. Bei mir wird kein Apfel zur Erde fallen, das könnt ihr nur glauben; ich habe Übung in dieser Arbeit ... Vor allem darf man es nicht hastig tun – es handelt sich ja nicht darum, Kartoffeln aus dem Feuer herauszuholen. Man hat Zeit genug, also man holt sich den Apfel ganz langsam, ißt ihn gemütlich auf und – langt nach einiger Zeit den zweiten herunter. So kann unmöglich jemand dahinterkommen.

Es sei denn, daß die Hexe die Äpfel auf den Bäumen zählt. In der Tat, sie muß sie am Tage gezählt haben! Als sie am nächsten Morgen bemerkte, daß einige Stück fehlten, versteckte sie sich auf dem Boden und lauerte. Anders kann ich mir nicht vorstellen, wie sie auf den Gedanken kam, daß ich bei Mendl, dem Fleischer, auf dem Dache liege und mit dem Stocke arbeite ... Hätten sie mich ohne Zeugen abgefaßt, so würde ich sie vielleicht gebeten haben, mir zu verzeihen; ich bin ja ein Waisenkind, – sie hätte sich vielleicht erbarmt. Aber nein! Sie ging zu meiner Mutter, rief unsere Nachbarin Peschs, die Frau des Fleischers, und schleppte alle drei auf unseren Boden. Ich ließ den Stock mit dem Apfel nicht fallen – nein, er fiel mir selbst aus den Händen. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten. Hätte ich vor dem Hund keine Angst gehabt, so wäre ich in den Garten hinuntergesprungen und hätte mich vor Schande getötet. Das schlimmste waren die Tränen der Mutter. Sie hörte nicht auf zu weinen und zu klagen: »Weh mir! Was muß ich erleben! Ich dachte, mein Waisenjunge geht am Abend in die Synagoge und sagt für den Vater, ›Kadisch‹, inzwischen liegt er auf einem fremden Dach und pflückt fremde Apfel aus einem fremden Garten ... Der Schlag soll mich treffen!«

Die Hexe ermutigte sie mit ihrem Männerbaß:

»Schlagen muß man einen solchen Spitzbuben! Prügeln! Bis aufs Blut peitschen, damit der Junge weiß, was es heißt, fremde Äpfel stehl...«

Die Mutter läßt sie das Wort ›stehlen‹ nicht aussprechen.

»Er ist doch ... ein Waisenknabe!« sagt sie zu der Doktorfrau, küßt ihr die Hände, bittet für mich um Verzeihung und verspricht, daß es nicht mehr vorkommen werde. »Es ist das letzte Mal gewesen ... Sollte es sich noch einmal wiederholen, so sollt Ihr mich begraben ...«

»Nein! Mag er schwören, daß er nie mehr in den Garten hineinguckt«, verlangt die Mnaschen. Sie hat keine Spur von Mitleid mit einem Waisenkind.

»Die Hände sollen mir eintrocknen, die Augen sollen mir austreten,« sage ich und gehe mit meiner Mutter nach Hause, höre ihr Weinen und weine selber.

»Ich möchte nur eins wissen, was aus dir werden soll?«, sagt sie zu mir, während die Tränen über ihre Wangen rollen.

Sie erzählt meinem Bruder von meinen Missetaten. Elia vernimmt den Bericht und wird bleich vor Zorn. Die Mutter bemerkt es und fürchtet, er könnte mich durchprügeln. Sie erinnert ihn daran, daß ich – ein Waisenkind bin und daß man mich nicht schlagen dürfe.

»Wer rührt ihn denn an,« sagt Elia, »ich möchte nur wissen, was aus ihm werden soll.«

»Was soll aus dir werden?« fragt Elia zähneknirschend und erwartet von mir eine Antwort.

Wie soll ich das wissen? Weißt du es vielleicht, Leser?

Mein Bruder heiratet.

Ich gratuliere! Mein Bruder heiratet. Mein Gott, was sich tut! Die ganze Stadt steht Kopf. An allen Straßenecken wird von nichts anderem gesprochen als von der Hochzeit meines Bruders.

Unsere Nachbarin Pesche sagt, eine solche Partie hat in der Stadt schon lange kein junger Mann gemacht. Alles aus Mitleid mit meiner verwitweten Mutter und dem unlängst verwaisten Bräutigam, ein wenig auch aus Ehrfurcht vor meinem verstorbenen Vater. Er hat einen guten Ruf hinterlassen; zu Lebzeiten hat sich selten jemand um ihn gekümmert, aber nach dem Tode haben sie den Kantor Pejse in den Himmel gehoben und seinen Namen in der ganzen Welt berühmt gemacht. Die Leute sagen, daß der Vater der Braut nicht abgeneigt sei, alle Hochzeitskosten zu tragen und sogar noch etwas zuzugeben; er soll nicht vergessen, daß er den Sohn des Reb Pejse zum Schwiegersohn nimmt.

Mein Bruder hört sich diese Reden an, errötet und zupft seinen Schnurrbart. In der letzten Zeit ist ihm der Schnurrbart gewachsen, – wahrscheinlich vom Rauchen.

Seit dem Tode des Vaters fing Elia an zu rauchen. An der ersten Zeit quälte er sich und hustete, aber jetzt zieht er den Rauch bereits ein und läßt ihn in Ringen durch die Nase heraus. Er macht sich wichtig! Ich bringe dieses Kunststück auch fertig, nur schade, daß ich keinen Tabak habe und infolgedessen Papier, Stroh und alles mögliche Zeug rauchen muß.

Mein Bruder Elia ist dahintergekommen und hat mir eine gehörige Tracht Prügel versetzt. Warum ist es ihm erlaubt und mir nicht?! Ich habe ihm mein Wort gegeben und bei der Bibel geschworen, daß ich nicht mehr rauchen würde. Aber es ist sehr schwer, Wort zu halten. Wer raucht jetzt nicht?

*

Eines Tages kam Pesche furchtbar erregt zu uns. Ein Mißverständnis war vorgekommen; der Schwiegervater hatte erfahren, daß Elia seine Uhr verkauft hatte.

»Die Uhr war zwar schön, von Silber! Aber der Bräutigam hatte sie ja nicht in Karten verspielt, sondern verkauft, um den kranken Vater zu retten; er hat für das Geld Arzneien gekauft ... Ist das eine Sünde?« suchte Pesche ihn zu überzeugen. Aber der Schwiegervater war ein einfacher Mann. Was gingen ihn fremde Väter an? Er ließ den Einwand nicht gelten. Pesche sagte, aus einem Schweineschwanz könne man keine Mütze machen, indem sie auf den Schwiegervater anspielte. Der Schwiegervater, der Brezelbäcker Jonas, war ein reicher Mann. Pesche sagte ihm ins Gesicht, daß, wenn sie die Hälfte seines Vermögens hätte, sie ihm den Sohn nicht zum Schwiegersohn geben würde, für ›Schweine‹ habe sie nichts übrig. Unser Jonas schwieg still. Über wen Pesche loszieht, dem bleibt nichts übrig, als zu schweigen. Der Schwiegervater war bereits so weit, Elia seine Tat zu verzeihen, wenn sie nur aufhören wollte, zu reden. Aber Pesche ließ sich nicht so leicht beruhigen; sie versuchte die Gegenpartei zu überzeugen, daß Elia eine andere Uhr bekommen müsse.

»Es ist unanständig,« sagte sie, »daß ein Bräutigam ohne Uhr zum Altar geht.«

»Was gehen Sie fremde Bräutigame an!« schrie Jonas.

»Sie gehen mich an, weil der Bräutigam Reb Pejses Sohn ist, und Sie ein reicher Mann und ein Schwein sind,« erwiderte Pesche:

Jonas geriet in helle Wut, schlug die Tür zu und schrie: »Schert euch alle zum Teufel!«

»Sie zu allererst!« erwiderte Pesche, »Sie sind der Millionär. Sie kommen an die erste Stelle!«

Die Mutter hatte Angst, daß die Partie infolge dieses Mißverständnisses zurückgehen könnte, aber Pesche beruhigte sie: »So schnell wird ein verwaister Sohn nicht zurückgewiesen!«

Pesche setzte wirklich durch, was sie wollte. Der Schwiegervater kaufte meinem Bruder eine neue Uhr, ebenfalls von Silber, noch schöner als die erste. Er brachte sie selber zu uns. Ach, wenn ich eine solche Uhr hätte! Ich würde das Uhrwerk auseinandernehmen, um herauszubekommen, wieso eine Uhr geht ... Die Mutter freute sich sehr über das Geschenk und wünschte dem Schwiegervater, so reich zu werden, daß er dem Bräutigam eine goldene Uhr kaufen könnte. Jonas wünschte meiner Mutter, die Hochzeit des jüngeren Sohnes zu erleben. Ich wäre einverstanden; meinetwegen würde ich sofort heiraten, wenn ich nur eine Uhr bekäme! Die Mutter streichelte mich und sagte, bis dahin würde noch viel Wasser fließen; ihre Augen wurden feucht.

Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit dem Wasser hat und was für ein Grund zum Weinen ist. Als sie für den Bräutigam den Anzug brachten, den der Schwiegervater bestellt hatte, weinte die Mutter; als Pesche mit den Pfefferkuchen ankam, die sie zur Hochzeit gebacken hatte, weinte die Mutter; als sie daran dachte, daß morgen um diese Zeit die Trauung stattfinden würde, weinte sie wieder. Woher nehmen die Menschen nur die Tränen her?

Ein prachtvoller Tag stieg auf. In der Luft duftete es nach Frühherbst. Die milde Sonne wärmte und küßte zärtlich wie eine Mutter, die Menschen schwitzten nicht von der Hitze und rannten nicht zur Badeanstalt. Der Himmel war rein gewaschen, wie zum Sabbat. Die ganze Welt freute sich über die Hochzeit meines Bruders Elia.

Seit dem frühen Morgen ist in der Stadt Jahrmarkt. Ich habe den Jahrmarkt furchtbar gern! Die Juden rennen hin und her wie vergiftete Ratten, schwitzen, schreien und brüllen, schwören, ziehen die Bauern an den Rockzipfeln heran und machen ihr möglichstes, um ihre Ware zu verkaufen. Die Bauern dagegen haben gar keine Eile, sie schlendern langsam, den Kopf emporgerichtet, besehen und betasten die Ware, feilschen, krauen sich am Hinterkopf, fragen nochmals nach dem Preis und bieten die Hälfte. Weiber mit riesigen Kokoschniks, – den russischen turmhoch gebundenen Nationalkopftüchern – und mit weit geöffneten Hemdblusen, drängen sich und spähen nach einer Gelegenheit, dies oder jenes hinter dem Brusthemd verschwinden zu lassen. Die Juden kennen diese schlechte Gewohnheit der Käuferinnen und beobachten sie. Sobald sie sie ertappen, ziehen sie das Geraubte hinter dem Brusthemd hervor und stopfen es ihnen hinter den Kragen. Hierauf erhebt sich ein wüstes Zanken und Schreien. –

Es kommt vor, daß ein Weib ein Kirchenlicht kauft, das sie in ihren ›Kokoschnik‹ einsteckt. Junge Burschen und Jungvermählte, denen die Hände jucken und die nichts zu tun haben, machen sich einen Spaß und zünden das Lichtchen an; alle Leute sehen es und lachen, nur das Bauernweib ahnt nichts; da sie aber sieht, daß alle lachen, bewirft sie die Juden mit den schlimmsten Schimpfworten. Das Gelächter wird immer lauter; – manchmal entsteht aus solcher Sache ein Zank zwischen Juden und Christen – dann gibt's eine Komödie, besser als im Theater.

Noch lustiger geht es beim Pferdeverkauf zu. Wen kann man da nicht alles sehen! Juden, Zigeuner, Bauern, Herren und Pferde! O, mein lieber Gott, nicht zu zählen sind sie! Man kann von dem Lärm taub werden. Die Zigeuner fluchen, die Juden klatschen die Pferde mit den Händen, die Herren knallen mit den Peitschen, die Pferde gehen hin und her. Ich habe Pferde furchtbar gern und noch mehr die Fohlen! Nicht nur Fohlen, sondern auch junge Hunde, junge Katzen, junge Kartoffeln und junge Zwiebelchen, alles, was klein ist, liebe ich sehr, nur keine Ferkel, nein, ... Schweine mag ich nicht, selbst, wenn sie klein sind. – Die Pferde rennen, die Fohlen hinter ihnen her, und ich hinter den Fohlen! Ich kann gut rennen, meine Füße sind flink, außerdem gehe ich barfuß und habe überhaupt nicht viel an: ein Hemd, Hosen und einen Kaftan. Wenn ich eine steile Straße hinauflaufe und der Wind in meinen Kaftan bläst, dann scheint es mir, als ob ich Flügel hätte und fliegen würde! ...

»Mottel! Warte, um Gottes willen!« hörte ich hinter mir rufen. Ich sah mich um, – es war Mojsche, der Buchbinder. Er eilte vom Jahrmarkt mit einem Ballen Papier nach Hause. Ich hatte Angst, er könnte es der Mutter erzählen, – dann würde Elia mich ausschelten. Ich blieb also stehen und näherte mich langsam und freundlich dem Nachbarn. Er wischte sich den Schweiß mit dem Rockzipfel und redete auf mich ein.

»Schämen solltest du dich! Ein Waisenjunge bist du und treibst dich hier unter den Zigeunern herum, läufst den Pferden nach! An einem solchen Tage! Dein Bruder hat doch heute Hochzeit! Komm sofort nach Hause!« ...

»Wo hast du dich herumgetrieben? Weh mir!« schrie die Mutter, als sie meine zerrissenen Hosen, mein schweißbedecktes, rotes Gesicht und meine blutigen Füße sah.

Ich war Mojsche sehr dankbar, er hat keinem Menschen ein Wort verraten.

Die Mutter machte mich zur Hochzeit fertig, sie wusch mich, zog mir neue Höschen an und setzte mir meine neue Mütze auf. Aber was waren das für Hosen! Wenn man sie hinstellte, standen sie von selbst; wenn man in ihnen ging, machten sie höllischen Lärm. Was war das nur für ein Stoff!

»Wenn du diese Hosen zerreißt, dann weiß ich nicht mehr, was ich anfange,« sagte die Mutter. Ich muß ihr recht geben. Es ist unmöglich, diese Hose zu zerreißen. Eher zerbrechen! Meine Mütze hatte einen schwarzen, glänzenden Schirm; wenn man darauf spuckte, leuchtete er. Die Mutter sah mich an und freute sich. Tränen rollten über ihre runzligen Wangen. Sie wollte furchtbar gern, daß ich den Gästen gefalle, und sie fragte Elia:

»Was meinst du, wird er uns auf der Hochzeit keine Schande machen? Er ist doch angezogen wie ein junger Graf!«

Elia betrachtete mich, zupfte an seinem Schnurrbart und warf einen Blick auf die bloßen Füße des ›jungen Grafen‹. Die Mutter tat, als ob sie es nicht bemerke. Sie selbst trug ein gelbes Kleid, in dem ich sie noch nie gesehen habe; es war furchtbar breit, als ob es für Pesche, unsere Nachbarin, gemacht wäre. Auf dem Kopf hatte sie ein nagelneues seidenes Tuch, dunkelgelb, grün und rosa schillernd, – alle Kniffe waren noch zu sehen. Seine Farbe änderte sich zu verschiedenen Tageszeiten: am Tage war das Tuch rosa, gegen Abend wurde es gelb, in der Nacht schien es ganz weiß, gegen Morgen schillerte es grün. Aber es hatte einen großen Fehler: es nahm sich bei der Mutter fremd aus und kleidete sie nicht. Mit einem Frauentuch ist es ebenso, wie mit einer Männermütze: es muß zum Kopf passen; bei meinem Bruder Elia scheint die Mütze förmlich mit dem Kopf zusammengewachsen.

Elia hat sich fein herausgeputzt: Er hat die Seitenlöckchen kurz geschoren, ein weißes Vorhemd, einen gestärkten Kragen mit Umlegeecken, ein weißes Halstuch mit roten und grünen Pünktchen angelegt und glänzende knarrende Stiefel mit hohen Absätzen angezogen. Er will nämlich größer erscheinen! Aber die Absätze werden ihm geradesoviel helfen wie einem Toten Heilkräuter.

Seine Braut, Broche, die Tochter des Bäckers Jonas, ist genau das Gegenteil von ihm. Sie hat eine starke Figur, eine Männerstimme und ein rotes Gesicht mit Pockennarben. Man kann sich kaum vor Lachen halten, wenn man dieses Paar sieht. Aber was gehen sie mich an! Mich interessieren die Musikanten und noch mehr ihre Instrumente. Entzückt bin ich besonders von dem Kontrabaß und der Trommel. Nur schade, daß man nicht nahe herangehen darf, nicht einmal riechen lassen sie einen daran. Gleich gibt's einen Klaps über die Hand, oder sie packen einen am Ohr. Ein seltsames Volk, diese Musikanten, sie schweben in fortwährender Angst, daß man ihnen eine Saite abbeißen könnte ...

Wenn meine Mutter es zugäbe, würden sie mich zu einem Musikanten machen, aber sie wird es nie zulassen, weniger aus Bosheit, sondern weil es eine Schande ist.

»Die Leute in der Stadt würden mir wilde Szenen machen,« sagte die Mutter, wenn ich den Sohn des Kantors Pejse, unter die Musikanten oder Handwerker geben würde.«

Wir haben schon oft darüber gesprochen. Der Buchbinder Mojsche wollte mich zu sich in die Lehre nehmen, aber seine Frau, Pesche, ließ es nicht zu. »Der verstorbene Reb Pejse«, sagte sie, »hat es nicht verdient, daß sein Sohn ein einfacher Handwerker werde.«

Aber ich habe mich verplappert und ganz an die Hochzeit vergessen.

Die Trauung war also vorüber. Der Tisch wurde bereitet. Mädchen und Frauen tanzten Quadrille. Ich war ihnen im Wege und wurde wie ein Ball aus einer Ecke in die andere geworfen. »Was will der hier?« sagte einer. »Ein Häufchen Unglück!« rief ein anderer. »Auch hier – Lumpengesindel!« fügte ein dritter hinzu. Endlich bemerkte es unsere Nachbarin Pesche und fing an zu schreien. Die Ärmste war schon ganz heiser.

»Seid ihr verrückt geworden! Oder seid ihr vom Teufel besessen? Habt ihr den Verstand verloren? Oder seid ihr als Idioten zur Welt gekommen? Das ist doch der Bruder des Bräutigams!«

Das wirkte. Ich wurde sofort an den allgemeinen Tisch gesetzt. Neben mich setzte man die kleine Schwester der Braut, Alta. Sie ist nur ein Jahr älter als ich, trägt zwei dicke Zöpfe mit eingeflochtenem Band, zu einem Kringel aufgesteckt. Ich und Alta sitzen nicht weit von dem Bräutigam und von der Braut und essen aus einem Teller. Elia beobachtete von weitem, daß ich ruhig saß, wie ein ›Mensch‹, daß ich mit der Gabel aß und mich nicht überstürzte, daß ich die Nase sauber hielt. Ich muß offen sagen, ich hatte an diesem Abendessen keine Freude; ich liebe nicht, wenn man mich beobachtet. Und obendrein diese Pesche!

»Ihr sollt mir gesund bleiben!« schrie sie meiner Mutter zu, »seht mal her! Könnte das nicht ein Paar sein? Sie sitzen beisammen, wie die Täubchen!«

Auf ihr heiseres Geschrei kommt Jonas, festlich gekleidet, herbei. Ein Gespräch über das neuvermählte Paar beginnt. Jonas lacht mit halbem Mund; die Oberlippe lacht, die untere weint. Das ganze Publikum beobachtet uns. Ich und Alta lassen die Augen sinken und würgen uns vor Lachen. Ich halte mir die Nase mit der Hand fest, meine Wangen blähen sich auf; noch einen Augenblick, und ich platze heraus – und die Schande ist da! Zum Glück fing die Musik an zu spielen. Alle horchten auf und ließen mich in Ruhe. Ich erhob die Augen und sah die Mutter in dem gelben geliehenen Kleid und dem fremden Tuch. Sie tat was sie immer tat: – sie weinte. Wann wird sie endlich aufhören zu weinen?

Die Goldgrube.

Das einzige, was meine arme Mutter erfreut und ihre Kräfte aufrecht erhält, ist, daß es meinem Bruder Elia Gott sei Dank gut geht.

Das Haus seines Schwiegervaters ist eine ›Goldgrube‹, pflegte die Mutter oft zu sagen und vergoß Tränen vor Freude. Elia ist für alle Zeiten versorgt, seine Frau ist zwar nichts Besonderes, – dieser Meinung bin ich auch – aber sie führen ein gutes Leben.

Jonas hatte eine Bäckerei, aber er beschäftigte sich nur mit dem Einkauf des Mehls und mit dem Verkauf von Brötchen und Brot; vor dem Passahfest stellte er Mazzes für die ganze Stadt her. Das Geschäft verstand er gut, aber gegen die Arbeiter war er schlecht; er gehörte überhaupt nicht zu den guten Menschen. Als ich eines Tages bei meinem Bruder zu Besuch war, aß ich eine Brezel. Die Brezel war ganz frisch, noch warm, sie war soeben aus dem Ofen gekommen. Zum Possen mußte der Teufel Jonas gerade in diesem Augenblick hereinführen. Ich erschrak; sein Gesicht war finster, die strengen Augen sprühten Blitze. Ich schwor, daß ich sein Haus nie mehr betreten würde, selbst wenn sie mich vergolden wollten. Ein komischer Mensch! Wegen der geringsten Kleinigkeit packt er dich beim Kragen, jagt dich aus dem Hause und versetzt dir obendrein zum Andenken noch eins ins Genick.

Ich erzählte es der Mutter, sie lief zu Jonas und wollte ihn ausschimpfen, wie es sich gehört. Aber Elia ließ es nicht zu, er rechtfertigte sogar das Benehmen des Schwiegervaters.

»Er kommt absichtlich,« sagte Elia, »um die Brezel aus dem Ofen herauszuziehen, ich werde ihm lieber von Zeit zu Zeit eine Kopek geben, mag er sich anderswo eine Brezel kaufen.«

Die Mutter machte Elia Vorwürfe, daß er kein Erbarmen mit einem Waisenkind habe, daß er sich für mich nicht interessiere.

»Man kann Waise sein und braucht nicht Brezeln aus fremden Ofen herauszuziehen«, entgegnete Elia.

Die Mutter bat ihn, leiser zu sprechen. Elia erklärte aber, daß er absichtlich laut spreche, alle Leute sollten wissen, daß ich ein Spitzbube bin ... Bei dem Wort ›Spitzbube‹ erbebte meine Mutter, ihr Gesicht verfärbte sich, sie warnte Elia, daß es einen Gott in der Welt gebe, daß man mit Gott nicht scherzen dürfe.

*

Mit Gott ist wirklich nicht gut zu scherzen! Mit dem Brezelbäcker hat der Herrgott abgerechnet! ... Bei Jonas arbeiten in der Bäckerei zwei schwarze Juden und drei Jüdinnen, zerlumpte, abgerissene Weiber, die auch bei unerträglichster Hitze rote, warme Tücher auf den Köpfen trugen. Eines Tages ist eine Sache passiert, – nicht nur eine, sondern eine Menge Sachen: man fand im Brot Fäden, Läppchen, Würmer, Glasstückchen. Ein Russe brachte ein ganzes Knäuel schwarzer Haare in die Bäckerei. Jonas bekam Angst vor dem Russen, weil er ihm mit der Polizei drohte. Er nahm die Arbeiter vor: Wessen Haar ist das? Die Männer zeigten auf die Frauen, diese – auf die Männer. Die Frauen wiesen nach, daß sie alle rot waren. Die Männer behaupteten, daß Männer nicht so lange Haare hätten. Da begannen die Weiber zu zanken; dabei kamen allerlei Geschichten ans Tageslicht: Eine hatte ein Strumpfband im Sauerteig verloren, eine andere hatte den Teig mit einem schlimmen Finger eingerührt und das Läppchen hineinfallen lassen, eine dritte pflegte den Semmelteig zur Nacht unter den Kopf zu legen. Sie schwor zwar, das sei gelogen, es wäre nur ein einziges Mal oder höchstens zweimal passiert, als sie kein Kissen hatte.

Diese Gerüchte verbreiteten sich in der Stadt. Jonas rannte zu den Leuten, nach allen Ecken und Enden, aber es half nichts. Niemand wollte mehr bei ihm kaufen. Es geschieht ihm ganz recht!

Aber Jonas, der Brezelbäcker, ist ein schlauer Bursche. Er jagte die alten Gesellen fort und nahm an ihre Stelle andere an. Am Sabbat kündete er in den Synagogen an, daß er andere Arbeiter angenommen habe und die Arbeit selbst kontrollieren werde. Er wollte zehn Rubel Strafe zahlen, wenn man in Zukunft auch nur ein Haar in seinem Brot finden würde.

Zuweilen brachten die Leute ein Ding nach der Bäckerei, das sie im Brot gefunden haben wollten, aber Jonas trieb sie ohne Umschweife hinaus.

»Sie haben es absichtlich hineingestopft, um einen Rubel zu verdienen! Wir kennen diese Späße!« pflegte Jonas in diesen Fällen zu sagen. Er ist ein gerissener Kerl. Aber es gefiel Gott, ihn zu vernichten, und es kam ein neues Unheil.

Eines schönen Tages erhoben sich alle Gesellen, packten ihre Sachen zusammen und verließen die Bäckerei. Sie wollten die Arbeit nicht eher wieder aufnehmen, sagten sie, bis Jonas sich verpflichtete, den Lohn um einen Rubel wöchentlich zu erhöhen, die Arbeiter zur Nacht nach Hause zu schicken und sie nicht mehr ins Gesicht zu schlagen. Jonas hatte nämlich die Gewohnheit zu schlagen; wenn das Geringste vorkam – sofort gab's eins in die Zähne.

Jonas geriet in helle Wut. So viele Jahre war er Meister, doch war es nie vorgekommen, daß ein Geselle sich erlaubt hätte, ihm Vorschriften zu machen, wo er hinschlagen dürfe. Er dachte nicht daran, den Lohn zu erhöhen, er bekäme ein Dutzend anderer Gesellen an ihrer Stelle ... Gab es wenig Leute, die vor Hunger krepierten? ...

Jonas ging auf die Suche nach Bäckergesellen; aber niemand wollte zu ihm gehen, wenn er sich nicht bereit erklärte, einen Rubel wöchentlich Zuschlagslohn zu geben, die Leute zur Nacht nach Hause gehen zu lassen und die Gesellen nicht ins Gesicht zu schlagen.

Jonas erhitzte sich, schäumte, schimpfte, schlug mit der Faust auf den Tisch, – aber er erreichte nichts!

Doch all dies war gar nichts im Vergleich mit dem neuen Unheil, das über ihn hereinstürzte.

*

Ein heißer Sommertag. Die Wassermelonen und Kürbisse waren, gerade reif geworden. Es war die beste Jahreszeit. Bald würden die langweiligen, hohen Festtage kommen. Ich kann diese Festtage, an denen der Mensch Buße tut und der Himmel weint, nicht leiden. Ich liebe Fröhlichkeit und Heiterkeit! Und was ist lustiger als der Anblick eines Jahrmarkts mit vielen Wagen voll Melonen und Kürbissen. Die gelben Kürbisse duften wie Paradiesäpfel. Und die roten Wassermelonen mit den schwarzen Samenkörnern sind so süß wie Honig. Meine Mutter zieht die Kürbisse vor: sie sind ausgiebiger.

»Ein Kürbiß«, sagt meine Mutter, »ergibt ein Frühstück, ein Mittag und ein Abendbrot für volle zwei Tage; die Wassermelonen sind gut zum Naschen. Sie pumpen den Bauch nur mit Wasser voll.« Aber sie ist im Irrtum. Wäre ich ein Kaiser, so würde ich immer nur Wassermelonen mit Brot essen. In der Wassermelone sind zwar viel Kerne, doch wenn man eine gute Wassermelone ausschüttelt, dann fallen alle Kerne heraus, und man kann nach Herzenslust davon essen.

Aber ich habe mich bei den Melonen verplappert und bin ganz von Jonas abgekommen. Ihm ist ein neues Unglück passiert, ganz unerwartet.

Wir saßen eines Abends bei Tisch – meine Mutter und ich –, vor uns auf dem Tisch stand ein Kürbis und Brot. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Elia trat ein, in der Hand die Bibel, die er vom Vater geerbt hatte. – Hinter ihm schleppte sich Broche her. In einer Hand hielt sie einen Pelzkragen mit lauter Schwänzchen, in der anderen ein Sieb. Elia war bleich wie der Tod, Broche rot wie ein Saraphan.

»Schwiegermutter, wir sind zu Ihnen gekommen,« sagte Broche.

»Mama, wir kommen zu dir,« sagte Elia, und beide begannen zu weinen.

Die Mutter half ihm selbstverständlich, sich auszusprechen.

»Was ist passiert?«

»Jonas hat Bankerott gewacht. Die Gläubiger waren gekommen und haben das ganze Hab und Gut versiegelt: alles, was im Hause war und das Haus mit. Sie verlangten, daß Jonas sofort die Wohnung räume, kurz gesagt, sie warfen ihn auf die Straße.

»Mein Gott,« sagte die Mutter händeringend, »er war doch so reich! Wo ist sein Geld geblieben?«

Bruder Elia erwiderte, daß der Schwiegervater durchaus nicht so reich war, außerdem ...

Broche unterbrach ihn. Ihrer Meinung nach war Jonas reich genug. Sie wäre mit der Hälfte seines Vermögens auch zufrieden. Ihre Hochzeit habe ihn so viel Geld gekostet ... Broche erzählte gern von ihrer Hochzeit. Jedesmal, wenn sie zu uns kam, fing sie an, davon zu sprechen. »So eine Hochzeit,« sagte sie, »hat es in der Stadt überhaupt nicht gegeben! Das schöne Gebäck, die Torten, die Braten, die Pfefferkuchen und die eingemachten Früchte, die es bei ihrer Hochzeit gab! ... Nun blieb ihr nichts als der Pelzkragen und das Sieb, eine Mitgift würde sie jetzt von ihrem Vater nicht bekommen! Elia mußte sogar seine Sachen opfern; die Gläubiger hatten seinen Feiertagsanzug, seine Gebetbücher, sein Federbett und Kissen, ja, sogar seine Uhr versiegelt. Die Mutter geriet in furchtbare Aufregung. Welch ein Unglück! Wer hätte das geglaubt! Alle hatten sie beneidet! Die guten Nachbarn haben sie mit den neidischen Blicken behext, oder sie selbst hatte damals bei dem ersten Streit das Unglück herbeigeführt! Wie es auch immer sei, sie hatte am schlimmsten darunter zu leiden.

»Nach einer Goldgrube hat es euch gelüstet!« sagte die Mutter. »Das Gold ist geschmolzen, die Grube ist geblieben! Bleib vorläufig bei mir, lieber Sohn, vielleicht wird Gott sich unser erbarmen!«

Das Getränk meines Bruders Elia.

»Für einen Rubel hundert! Hundert Rubel monatlich und mehr kann jeder verdienen, der sich mit dem Inhalt meines Buches bekannt macht. Preis 1 Rubel einschließlich Zusendung. Eilt! Kauft! Erfaßt den Augenblick, sonst kommt ihr zu spät!«

Diese Anzeige hatte mein Bruder in der Jüdischen Zeitung gelesen, nachdem er gezwungen war, zu uns zu ziehen und sich selbständig zu machen. Elia sandte sofort einen Rubel – den letzten, den er besaß, und erklärte der Mutter:

»Mama, Gott sei Dank, wir sind gerettet! Wir haben jetzt einen sicheren Verdienst. Bis dahin!« Dabei zeigte er mit der Hand bis über den Hals.

»Was ist denn?« fragte die Mutter. »Hast du eine Stelle bekommen?«

»Besser als irgendeine Stelle!« sagte Elia, und seine Augen glänzten vor Freude. »Wir brauchen nur einige Tage zu warten, bis das Buch ankommt!«

»Was für ein Buch?«

»Ein wundervolles Buch!« sagte Elia

Er fragte die Mutter, ob sie mit hundert Rubel monatlich zufrieden wäre. Die Mutter lachte und sagte, sie würde sich freuen, wenn sie hundert Rubel im Jahre hätte. »Du machst zu bescheidene Ansprüche!« sagte Elia.

Von nun an lief Elia jeden Tag zur Post, um sich nach dem Buch zu erkundigen. Es waren schon mehr als acht Tage her, seitdem er das Geld abgesandt hatte, aber das Buch war noch immer nicht angekommen! Inzwischen hatten wir nichts zum Leben. »Die eigene Seele kann man nicht ausspeien!« pflegte die Mutter oft zu sagen.

Eines Tages endlich kam das Buch an. Es wurde ausgepackt, und Bruder Elia begann es zu studieren. Was da nicht alles drinstand! Welche Menge Mittel, Geld zu verdienen, welche Menge Rezepte! Ein Rezept: hundert Rubel Einkommen – für Herstellung der besten Tinte, – ein anderes Rezept: – hundert Rubel monatliches Einkommen für Herstellung schwarzer Wichse; ein drittes Rezept: hundert Rubel monatlich für Herstellung eines Mittels zur Vertilgung von Mäusen, Käfern und allerlei Insekten; ein viertes Rezept: – hundert Rubel und darüber monatlichen Verdienst für Herstellung von Likör, feinstem Schnaps, Sodawasser, Limonade und ähnlichen Getränken ...

Mein Bruder hielt bei dem letzten Rezept inne, das einen Verdienst von mehr als hundert Rubel monatlich versprach und bei dem man sich die Finger nicht mit Tinte oder Wichse schwarz zu machen und sich nicht mit Mäusen, Käfern und ähnlichem Gewürm abzugeben brauchte. Es galt nur noch, sich für ein Getränk zu entschließen. Liköre und gute Schnäpse erforderten ein Rothschildsches Kapital. Für Sodawasser und Limonade brauchte man eine Maschine, irgendeine Vorrichtung, also wieder Geld. Es blieb also nur eins: ›Kwas‹, ein billiges, säuerliches Getränk aus gesäuertem Schwarzbrotteig. Die Herstellung war billig, und das Getränk fand guten Absatz, besonders in solchem heißem Sommer wie in diesem Jahr. Boruch, der Kwasbrauer, war ein reicher Mann geworden. Er bereitete einen ›Flaschenkwas‹ zu, der berühmt war und aus der Flasche ›herausschoß‹. Wieso der Kwas brauste, wußte niemand. Manche behaupteten, daß Boruch Rosinen hineintat, andere meinten, es wäre Hopfen drin. Sobald der Sommer begann, hatte Boruch alle Hände voll zu tun, er brauchte nur das Geld zu zählen!

Unser ›Kwas‹ ist kein Flaschenkwas, er schäumt und braust nicht. Wie mein Bruder ihn zubereitet, das weiß ich nicht. Bruder Elia schließt sich bei der Arbeit in Mutters Zimmer ein; weder ich, noch Mama, noch Broche wagen hineinzugucken. Das einzige, was wir sehen, ist, wie er Wasser hineingießt. Ich weiß aber trotzdem, aus was der ›Kwas‹ hergestellt wird; wenn ihr mir versprecht, das Geheimnis zu wahren, will ich es euch sagen. Es werden Zitronenschalen genommen, Honigsyrup und irgendein Zeug, genannt ›Kremortar‹, das saurer ist als Essig und Wasser. Wasser bildet den Hauptbestandteil; je mehr Wasser man nimmt, um so mehr ›Kwas‹ gibt es. Das Ganze wird mit einem Stäbchen gut gerührt, und das Getränk ist fertig. Es braucht nur in einen Krug gegossen zu werden, in das man noch ein Stückchen Eis hineinlegt. Ohne Eis taugt das ganze Getränk nicht. Das habe ich aus eigener Überzeugung erfahren; ich habe einmal warmen ›Kwas‹ getrunken und glaubte, es ginge mit mir zu Ende ...

Als das erste Faß mit ›Kwas‹ hergestellt war, beschlossen meine Angehörigen, daß ich den ›Kwas‹ in den Straßen herumtragen soll. Wer denn sonst? Für den Bruder schickte es sich nicht. Er war doch immerhin ein verheirateter Mann. Daß die Mutter mit dem Krug in den Straßen herumginge uns ausriefe: »Kauft Kwas, Juden!« – das würden wir nicht zugeben. Die Wahl fiel also auf mich. Ich hatte nichts dagegen. Elia unterwies mich in meinem neuen Amt: in einer Hand sollte ich den Krug halten, in der anderen ein Glas und mit einem Singsang die Käufer herbeirufen:

Trinkt, Juden! Kauft Kwas!
Kostet! Macht Halt!
Ein feines Getränk!
Das Glas für eine Kopek!
Kalt und süß!
Kommt her und kostet!

Meine Stimme klang hell wie reiner Sopran. Ich drehte die Worte ein wenig um, ging herum und sang:

Juden! Kauft Kwas!
Eine Kopeke das Glas!
Süß und kalt!
Kostet! Macht halt!

Ich weiß nicht, ob mein Gesang so gut gefiel, ob das Getränk so vorzüglich schmeckte, oder der Tag besonders heiß war, – der erste Krug war in einer halben Stunde leer. Ich brachte fünfundsiebzig Kopeken nach Hause, gab das Geld der Mutter und bekam einen zweiten Krug. Elia rechnete aus, daß, wenn ich zehn bis zwölf Runden am Tage mache, wir monatlich hundert Rubel Reingewinn behalten, ohne den Sonnabend mitzurechnen. Sehr begreiflich: Das Getränk selbst kostete fast nichts, die Hauptausgabe war das Eis. Es galt daher, den ›Kwas‹ so schnell wie möglich zu verkaufen, damit das Stück Eis auch für den zweiten Krug bliebe. Eile war die Hauptsache ... Ich renne also und singe mein Liedchen ... Hinter mir ist eine ganze Bande Jungen her, die mich uzen und verhöhnen, aber ich mache mir nichts aus ihnen, ich denke nur an das eine, meinen ›Kwas‹ so schnell wie möglich loszuwerden.

Ich weiß nicht, wieviel ich am ersten Tage verkauft habe, – ich weiß nur, daß Elia, Broche, die Mutter, alle um die Wette mich in den Himmel lobten. Zum Abendbrot gaben sie mir ein großes Stück Kürbis, ein Stück Wassermelone und ein paar Pflaumen, – und ›Kwas‹ durfte ich trinken, soviel ich wollte ...

Die Mutter machte mir das Lager auf dem Fußboden zur Nacht zurecht und fragte mich, ob mir die Füße nicht weh taten. Elia lachte und meinte, ich wäre von jener Rasse, der man alles bieten kann und die an nichts Schaden nimmt.

»Wenn Ihr wollt,« sagte ich, »gebt einen Krug ›Kwas‹ her, ich gehe mitten in der Nacht los!«

Alle drei lachten über meine Unternehmungslust, nur der Mutter traten die Tränen in die Augen. Aber das ist schon zum Gesetz geworden: die Mutter muß weinen. Ich möchte wissen, ob alle Mütter so oft weinen wie meine?

*

Unser Geschäft ging wie geschmiert. Ein Tag war immer heißer als der andere. Eine glühende Hitze! Die Leute wußten nicht, wo sie sich vor Schwüle verkriechen sollten, die Kinder starben wie die Fliegen; ohne ein Glas ›Kwas‹ zur Erfrischung wäre den Leuten die Kehle verdorrt. Ich komme etwa zehn Mal nach Hause, um ›Kwas‹ zu holen. Elia bemerkt, daß der Vorrat zu Ende geht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mehrere Eimer Wasser nach Gutdünken zuzugießen. Ich muß euch aber sagen, daß ich schon früher als er auf diesen Gedanken gekommen war. Fast täglich ging ich zu unserer Nachbarin Pesche heran und bot allen von unserem selbstgefertigten ›Kwas‹ an. Ich reichte Pesche ein Gläschen, Mojsche – der doch ein so prachtvoller Mensch war! – zwei, – allen Kindern je ein Glas, damit auch sie wissen, welch ein vorzügliches Getränk wir zubereiten; der blinde Großvater mußte auch etwas bekommen, er konnte einem leid tun, der unglückliche Mensch ...

Um keinen Verlust zu haben, goß ich Wasser in den Krug zu; ein Glas ›Kwas‹ ersetzte ich mit zwei Glas Wasser. Zu Hause machen es alle so. Wenn Bruder Elia ein Glas ›Kwas‹ trinkt, gießt er Wasser zu; er hat recht, auch eine Kopek zu verlieren, ist schade. Breche trinkt zwei, drei Gläser – sie trinkt das Gebräu des Bruders leidenschaftlich gern – und gießt Wasser zu; die Mutter kostet auch manchmal von dem Getränk – sie muß aber erst gebeten werden, von selbst nimmt sie niemals, – dann gießen sie Wasser zu. Bei uns geht kein Tropfen ›Kwas‹ verloren, und wir verdienen gut. Die Mutter zahlt allmählich die Schulden ab, die notwendigsten Sachen sind schon aus dem Versatzamt ausgelöst. Wir haben in der Stube wieder einen Tisch, eine Bank, Sonnabends kommt Weißbrot, Fleisch und Fisch auf den Tisch. Mir versprachen sie, Schuhe für die Feiertage anzuschaffen. Nein, wer hat es so gut wie ich?!

*

Wer hätte gedacht, daß unser ›Kwas‹ plötzlich im Wert so sinken würde, daß man ihn einfach auf die Straße gießen kann! Noch ein Glück, daß ich nicht mit der Polizei zu tun bekam ...

Ich verweilte eines Tages mit meinem ›Kwas‹ bei der Nachbarin Pesche. Alle tranken von der Limonade, ich ebenfalls. Ich berechnete, daß mir etwa zwölf oder dreizehn Gläser fehlten und schlich mich in die Vorratskammer, wo sie Wasser in einem Faß aufzubewahren pflegten; statt aus dem Wasserfaß schöpfte ich in der Finsternis aus einer Wanne, in der Wäsche eingeweicht war, goß etwa zwanzig Gläser in den Krug und ging auf die Straße mit einem neuen Vers, den ich mir soeben ausgedacht hatte:

Ein himmlischer Trank
Der süße Kwas!
Uns saget Dank!
Auf Euer Wohl das Glas!

Ein Jude hielt mich an, zahlte eine Kopek und ließ sich ein Glas einschenken. Kaum hatte er es ausgetrunken, als er sich zu winden begann:

»Junge, was hast du da für ein Getränk?«

Ich achtete nicht auf ihn. Zwei andere standen neben ihm und warteten, bis sie herankamen. Der eine spie die Hälfte des Glases aus, der andere den dritten Teil; sie zahlten, krächzten und entfernten sich. Noch ein anderer hob das Glas zum Mund, kostete und sagte, daß der ›Kwas‹ nach Seife roch und einen salzigen Geschmack hatte. Der nächste betrachtete das Glas, roch daran und gab es mir zurück.

»Was hast du da?«

»Kwas!«

»Nicht ›Kwas‹, sondern Salztunke.«

Ein neuer Käufer erschien. Er kostete und goß mir das ganze Glas über den Kopf. Im nächsten Augenblick entstand ein Gedränge um uns. Alle redeten, ereiferten sich, fuchtelten mit den Händen. Als der Schutzmann das Gedränge sah, kam er heran und fragte, um was es sich handelte. Man erzählte ihm den Vorgang. Er trat zu mir heran, besah den Krug und befahl, ihm ein Glas einzuschenken. Ich schenkte ein. Der Schutzmann nahm einen Schluck, spie aus und brüllte:

»Wo hast du dieses Aufwaschwasser hergenommen?«

»Das ist nach dem Buche gemacht,« sagte ich, »mein Bruder bereitet es, er macht es ganz allein.«

»Wer ist dein Bruder?«

»Elia, mein Bruder!«

»Was für ein Elia?«

»Beschuldige deinen Bruder nicht, dummer Junge,« riefen mir mehrere Männer auf jüdisch zu.

Der Lärm wurde immer größer. Jeden Augenblick kamen neue Gesichter hinzu. Der Schutzmann hielt mich bei der Hand, um mich mit der Limonade zum Revier zu führen.

»Armer Junge, er kann einem leid tun! Er ist ein Waisenkind,« vernahm ich von allen Seiten. Ich ahnte, daß die Sache schlecht enden würde. Angstvoll blickte ich die Menge an: »Habt Erbarmen, Juden!«

Sie wollten dem Schutzmann etwas zustecken, aber er nahm es nicht. Ein alter Mann mit Spitzbubenaugen wandte sich plötzlich zu mir:

»Du, Bursche! Reiß dich los und renn davon!«

Ich gab mir einen heftigen Ruck und rannte, was Zeug hielt, direkt nach Hause. Mehr tot als lebendig stürzte ich ins Zimmer.

»Wo ist der Krug?«, fragte Elia.

»Im Revier!« stammelte ich und stürzte weinend zur Mutter.

Die Tintenflut.

»Was bin ich doch für ein komischer Kauz! Ich glaubte, sie würden mich aufhängen, weil ich schlechte Limonade verkauft habe. Kein Gedanke! Ich habe mich umsonst geängstigt.

»Jente verkauft ja auch Schmalz anstatt Gänsefett! Der Fleischer Gedalje hat die Bevölkerung das ganze Jahr mit treifnem Fleisch gefüttert und es ist ihm auch nichts geschehen,« sagte Pesche meiner Mutter.

Eine seltsame Frau ist meine Mutter: wegen jeder Kleinigkeit macht sie sich Sorgen. Bruder Elia ist in dieser Hinsicht ganz anders. Er hat sich über diesen Unfall keine Gedanken gemacht. Hatte er doch ein Buch, das er fast auswendig kannte, und in dem noch eine Menge Rezepte standen. Elia beschloß nun, Tinte zu fabrizieren.

»Tinte«, sagte Elia, »ist ein gutes Geschäft, Tinte ist jetzt ein gangbarer Artikel. Die Leute sind klug geworden, jeder Mensch lernt schreiben. Der Schönschreibelehrer Itel sagte, er gebe ein ganzes Vermögen für Tinte aus.

Beim Lehrer Itel lernen fünfundsiebzig Mädchen schreiben; Knaben gehen nicht zu ihm zum Unterricht; er schlägt sie zu viel mit dem Lineal auf die Hände; Mädchen dürfen nicht geschlagen, nicht einmal mit dem Lineal berührt werden. Ich bedaure, daß ich nicht als Mädchen geboren bin, dann brauchte ich nicht ›Kadisch‹ zu sagen ... Es ist furchtbar langweilig, jeden Tag dasselbe Gebet herunterzuleiern. Ich brauchte dann auch nicht einen halben Tag in der ›Talmud-Thora‹ zu sitzen, wo ich wenig lerne, aber um so mehr Genickstöße bekommen, und zwar nur selten vom Lehrer, häufiger von seiner Frau ... Was geht es sie an, daß ich mich um die Katze kümmere! Wenn ihr das Kätzchen sehen würdet! Ein bedauernswertes Geschöpf, ewig verhungert, es miaut ganz leise und weint wie ein Mensch; das Herz tut einem weh, wenn man das Tierchen ansieht. Was haben sie für einen Schaden von der Katze!? Wer sobald sie ins Zimmer kommt, jagen sie sie fort, so daß das arme Tier ganz verängstigt davonläuft. Nicht eine Spur Mitleid haben die Menschen! Aber ich kehre zu der Tinte meines Bruders Elia zurück.

Elia meint, die Welt sei jetzt eine ganz andere. Früher kaufte man Tintennüsse, kochte sie lange, fügte Vitriol hinzu und etwas Zucker zum Glanz ... Das war eine recht umständliche Sache mit der Tinte. Jetzt ist das alles nicht mehr nötig. Man kauft in der Apotheke einfach ein Pulver, eine Flasche Glyzerin, vermischt es mit Wasser, läßt das Ganze auf dem Feuer kochen, – und die Tinte ist fertig.

Elia lief in die Apotheke, kaufte einen ganzen Sack Pulver, eine Riesenflasche mit Glyzerin, dann schloß er sich in Mutters Stübchen ein und arbeitete, – wie immer ganz im geheimen. Wenn er einen Becher brauchte, rief er die Mutter herein und flüsterte ihr zu: »Mama, einen Becher ...« Das Pulver und das Glyzerin mischte er in einem großen Topf, den man zu diesem Zweck besorgt hatte und stellte ihn in den Ofen, nachdem er die Tür vorher abgeriegelt hatte. Die Mutter blickte während der ganzen Zeit auf den Ofen, da sie anscheinend fürchtete, daß er platzen könnte. Dann wurde das Faß, das früher zu Limonade gedient hatte, ins Zimmer gerollt, der Topf vorsichtig aus dem Ofen herausgeholt, die Flüssigkeit behutsam ins Faß gegossen und Wasser dazu getan. Als das Faß halb voll war, sagte Elia: »Genug!« Dann nahm er sein Buch, las und las und bat mit flüsternder Stimme, ihm einen Bogen Papier zu reichen, auf dem gewöhnlich Gesuche geschrieben wurden. Er tauchte die Feder ins Faß ein und zeichnete auf dem Papier allerlei Häkchen und Arabesken, dann zeigte er das Geschriebene der Mutter und Broche. Beide besahen das Papier und sagten: »Es schreibt!«

Dann goß er noch mehr Wasser zu. Von Zeit zu Zeit rief Elia: »Genug!«, nahm die Feder, schrieb etwas auf das Papier, zeigte es der Mutter und Broche, und sie stellten gemeinschaftlich fest, daß »es schreibt«. Das dauerte so lange, bis die Tinte den Rand des Fasses erreicht hatte. Dann hob Elia beide Hände empor, sagte zum letzten Male »genug«, und wir setzten uns zu Tisch. Nach dem Essen wurde die Tinte in Flaschen gefüllt. Elia hatte sich mit einem Riesenvorrat von Flaschen jeden Formats versehen: Bier- und Weinflaschen, Limonaden- und Schnapsflaschen. Die Pfropfen kaufte er alt, um zu sparen. Elia flüsterte der Mutter zu, sie möge die Tür zuschließen; dann gingen wir an die Arbeit. Broche wusch die Flaschen und reichte sie der Mutter; Mama prüfte, ob sie rein waren und reichte sie mir hin; ich steckte den Trichter in den Hals und hielt mit einer Hand den Trichter und mit der anderen die Flasche; Elia schöpfte die Tinte mit einem Becher und füllte die Flaschen.

Die Arbeit schritt schnell vorwärts und schien mir sehr erheiternd. Das einzige Übel dabei war, daß die Tinte leicht abfärbte; wir beide, Elia und ich, hatten uns die Hände, die Nase und das Gesicht schwarz gemacht. Zum ersten Male sah ich, daß die Mutter lachte; Broche lachte natürlich mit. Aber Elia liebte es nicht, daß er ausgelacht wurde, und er fuhr Broche an, warum sie denn lache. Da erscholl das Gelächter noch lauter. Broche konnte sich einfach vor Lachen nicht halten. Die Mutter bat uns, die Arbeit zu unterbrechen und die Gesichter zu waschen. Aber Elia nahm sich nicht die Zeit. »Wie kann man ans Gesicht denken, wenn die Flaschen nicht ausreichten!« Elia rief Broche, gab ihr Geld, damit sie Flaschen hole ... Sie hörte ihn an, als sie aber zu ihm aufblickte, platzte sie mit solchem Gelächter heraus, als ob sie einen Schuß knallen ließ. Elia wurde zornig und bat die Mutter, Flaschen zu holen. Nach kurzer Zeit kam die Mutter mit einem neuen Transport Flaschen zurück. Elia hatte unterdessen etwas Wasser zugegossen, und wenn der Versuch ergab, daß »es schrieb«, goß er noch mehr zu. Dann wurde mit dem Füllen fortgesetzt, so daß bald auch der neue Vorrat gefüllt war.

»Vielleicht ist es jetzt genug?« fragte Broche.

»Wenn du es nicht behext!« sagte die Mutter; aber Elia blickte seine Frau wütend an, zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Ein Kalb bist du, liebe Frau, daß Gott der Herr sich erbarmen möge!«

*

Tinte haben wir jetzt – ein Schwarzes Meer! An die tausend Flaschen in allem. Wer was nützt es, wenn kein Platz ist, sie aufzubewahren. Elia hat schon überall herumgefragt.

Die Tinte einzeln, in Flaschen, zu verkaufen, hat keinen Sinn, sagte Elia zu unserem Nachbarn, dem Buchbinder Mojsche. Als Mojsche eines Tages zu uns herankam Und eine solche Menge Flaschen sah, wich er vor Schreck zur Tür zurück. Das entging meinem Bruder nicht. Es entspann sich zwischen ihnen folgendes Gespräch, das ich wörtlich wiedergebe:

Elia: »Warum sind Sie so erschreckt?«

Mojsche: »Was hast du dort in den Flaschen?«

Elia: »Wein!«

Mojsche: »Was für Wein? Es ist doch Tinte!«

Elia: »Also warum fragen Sie?«

Mojsche: »Was willst du denn mit all dieser Tinte anfangen?«

Elia: »Ich werde sie trinken!«

Mojsche: »Ich spaße nicht. Willst du die Tinte im Detail verkaufen?«

Elia: »Bist du verrückt geworden? Ich werde sie en gros verkaufen, zu zehn, zwanzig, fünfzig Flaschen!«

Mojsche: »Wem willst du denn die Tinte verkaufen?«

Elia: »Wem? Dem Rabbiner!«

Mein Bruder Elia besuchte die Läden. Ein Grossist, zu dem er kam, bat ihn, ein Probefläschchen zu liefern. Bei dem zweiten brachte Elia gleich eine Probeflasche mit, aber der wollte die Flasche ohne Etikett nicht in die Hand nehmen.

»Auf der Flasche muß ein Etikett sein, ein Etikett mit verschiedenen Mustern.«

»Ich mache keine Etiketts, ich mache nur Tinte,« sagte Elia.

»Machen Sie nur weiter und lassen Sie es sich gut bekommen.«

Mein Bruder eilte zu Itel, dem Schönschreibelehrer. Hier erstarrte er förmlich. Itel hatte sich bereits für den ganzen Sommer mit Tinte versehen, wie er sagte.

»Wie viele Flaschen haben Sie gekauft?« fragte Elia.

»Wie viele Flaschen?« erwiderte Itel, »ich habe eine Flasche gekauft, die reicht für lange Zeit, und wenn sie leer ist, kaufe ich eine neue Flasche.

Ein schönes Geschäft! Was so eine Lehrerseele sich alles herausnimmt. Zuerst erzählt er, er gebe ein Vermögen für Tinte aus und nun stellt es sich heraus, daß er eine Flasche im Sommer braucht. Elia war außer sich. Was würde er mit all der Tinte anfangen? Er war entschlossen, sie en detail zu verkaufen.

»Wißt ihr, was Detailverkauf bedeutet? Hört mich an!«

Elia brachte einen großen Bogen Papier mit und schrieb mit großen Buchstaben darauf:

Hier wird Tinte verkauft
en gros und en detail
billig und bequem!!!

Die Worte ›en detail und billig‹ nahmen fast die Hälfte des Bogens ein.

Diese Anzeige klebte er an seine Tür. Die Vorübergehenden blieben stehen und lasen. Bruder Elia blickte ins Fenster und rang die Finger, – ein deutliches Zeichen seiner Erregung.

»Weißt du was?« sagte er zu mir, »geh mal auf die Straße und horche, was sie sagen.«

Ich, nicht abgeneigt, gehe hinaus und horche. Eine halbe Stunde habe ich herumgelauert, dann kam ich nach Hause.

»Nun?« fragte Elia leise.

»Die Leute sagen, es sei hübsch geschrieben.«

»Weiter nichts?«

»Weiter nichts!«

Elia seufzte.

»Was seufzt du, Dummchen?« flüsterte ihm die Mutter zu, »gedulde dich ein wenig. Willst du die ganze Ware an einem Tage verkaufen?«

»Ach, wenn ich wenigstens Handgeld gelöst hätte!« sagte Elia mit Tränen in den Augen.

»Warte nur!« entgegnete die Mutter. »Mit der Zeit wirst du auch Handgeld lösen.«

Die Mutter bereitete das Essen, und wir setzten uns zu Tisch. Die Flaschen nahmen so viel Platz ein, daß wir zusammenrücken mußten.

Eine furchtbare Enge herrschte bei uns. Kaum hatten wir uns niedergesetzt, als ein fremdes, kleines Mädchen hereinkam, an der Tür stehen blieb und mit dem Finger in der Nase polkend, die Mutter fragte:

»Wird hier Tinte gemacht?«

»Ja! Was wünschst du?«

»Meine Schwester läßt fragen, ob Sie ihr nicht ein bißchen Tinte borgen möchten, sie muß einen Brief an den Bräutigam nach Amerika schreiben.«

»Wer ist deine Schwester?«

»Die Schneiderin Basja.«

»Sieh mal an, wie das Mädel gewachsen ist, nicht zum Erkennen. Hast du ein Tintenfaß mit?«

»Wieso sollten wir ein Tintenfaß haben? Meine Schwester fragte, ob ich nicht auch eine Feder bekommen könnte. Sie wird nur den Brief nach Amerika schreiben, dann bringe ich euch das Tintenfaß und die Feder wieder zurück.«

Elia sprang vom Tisch auf. Er lief aufgeregt im Zimmer hin und her, starrte vor sich hin und biß die Nägel.

Das Echo der Tintenflut.

»Wozu hast du so viel Tinte gebraut? Wolltest du die ganze Welt mit Tinte versorgen? Für den Fall einer Tintennot?« fragte der Buchbinder Mojsche meinen Bruder.

Mojsche machte den Eindruck eines harmlosen, unglücklichen Menschen, aber es machte ihm Vergnügen, sich an fremdem Leid zu ergötzen und Salz auf die Wunden zu streuen. Mein Bruder war um eine Antwort nicht verlegen. Er riet dem Buchbinder, sich lieber um sich selbst zu kümmern und das Sühnegebet nicht in die Passahandacht einzubinden. Mojsche wußte sehr wohl, in wessen Garten die Steine geworfen wurden. Ihm war nämlich folgendes Unglück passiert; Ein Kutscher hatte ihm ein Gebetbuch zum Einbinden gegeben, und Mojsche hatte aus Versehen die Blätter durcheinandergemischt. Der Kutscher hätte es wohl gar nicht bemerkt, aber seine Nachbarn in der Synagoge hörten, wie er Ostern mit Grabesstimme das Sühnegebet anstimmte; da erhob sich ein allgemeines Gelächter. Der Kutscher kam zu Mojsche gelaufen, um sich mit ihm nach seiner Art auseinanderzusetzen.

»Was hast du mir nur angetan, du Verbrecher? Warum hast du mich vor der ganzen Welt lächerlich gemacht?! Ich reiße dir alle Eingeweide aus dem Bauch 'raus!«

Das war damals ein blutiges Passahfest.

Aber es ist keine Zeit zum Scherzen. Bei uns zu Hause ging es jetzt gar nicht lustig zu. Elia ging mit heruntergelassener Nase im Zimmer herum und wußte nicht, was er mit seiner Tinte anfangen sollte.

»Wieder die Tinte!« sagte die Mutter.

»Ich rede nicht mehr von der Tinte!« entgegnete der Bruder, »hol sie der Kuckuck! Aber die Flaschen haben viel Geld gekostet! Wenn man wenigstens die Flaschen sauber machen und verkaufen könnte!«

Aber wohin sollte man die Menge Tinte gießen? Man mußte warten, bis es Nacht wurde. In der Nacht, wenn es finster war, würde es nicht auffallen. Unglücklicherweise war Mondnacht, keine Wolke zeigte sich am Himmel. Wozu soll er uns jetzt, der Mond? Er steckt die Nase überall hinein, wo es nicht nötig ist ... Trotzdem gingen wir an die Arbeit. Wir trugen eine Flasche nach der anderen hinaus und gossen die schwarze Flüssigkeit auf die Straße. Eine große Pfütze bildete sich. »Du darfst nicht alles auf eine Stelle gießen!« sagte Elia zu mir. Ich gehorchte und suchte für jede Flasche eine andere Stelle. Ich trat auf des Nachbarn Mauer und goß, ich lief an einem Zaun vorbei und goß, ich sah zwei Ziegen auf dem Rasen liegen, kauen und zum Mond gucken – und goß.

»Für heute ist's genug!« sagte Elia.

Wir legten uns schlafen. Im Hause war es still, die Grillen zirpten, die Katze bewegte sich hinter dem Ofen. – Solche Schlafmütze! – Den ganzen Tag wärmt sie sich nur und schläft. Im Flur ließen sich Schritte vernehmen. Ein Gespenst etwa? Die Mutter schlief noch nicht, sie schlief überhaupt sehr wenig; ich hörte immer, wie ihre Finger knackten und wie sie stöhnte und seufzte, sich mit irgend jemand unterhielt und über ihr bitteres Leben klagte. Mit wem sprach sie? Mit Gott? ... Mitten in ihrem Gespräch ertönte oft ein Stoßseufzer und die Worte: »Oh Gott, Gott!«

*

Ich lag noch in meinem Bett auf dem Fußboden, als ich im Traum einen heftigen Lärm vernahm. Lauter bekannte Stimmen. Ich öffnete die Augen: hellster Tag, die Sonne blickte in die Fenster und rief mich hinaus auf die Straße. Ich versuchte mich zu erinnern, was gestern vorgefallen war, – richtig: die Tinte! In wenigen Augenblicken war ich angekleidet. Die Mutter war verweint – wann weinte sie nicht? Broche war ärgerlich, – wann war sie nicht ärgerlich? Elia stand da, geradeso wie eine Kuh, die gemolken werden sollte, mit stumpfen Augen, geduckt.

Was war geschehen? Oh, nicht zu wenig! Die Nachbarn waren erwacht und jammerten, als ob man sie bestohlen hätte. Bei dem einen war die Mauer mit Tinte bespritzt, bei dem zweiten war der Zaun befleckt, ein nagelneuer Zaun, – der dritte hatte weiße Ziegen, die jetzt nicht mehr zu erkennen waren! Das war aber noch nicht das Schlimmste. Das Hauptgeschrei erhob sich wegen der Unterhosen des Fleischers Mendel. Nagelneue weiße Unterhosen! Mendels Frau hatte sie über den Zaun gehängt, und nun waren sie unbrauchbar! Meine Mutter versprach, ein paar andere Unterhosen zu stricken, wenn sie sich nur beruhigen würde! Aber was war mit dem Zaun und der Mauer anzufangen? Die Mutter und Broche mußten zu den Bürsten greifen, den Zaun und die Mauer scheuern und die Flecke mit weißem Lehm verschmieren. »Euer Glück,« sagte unsere Nachbarin Pesche, »daß ihr auf friedfertige Menschen getroffen habt! Hättet ihr zufällig den Zaun beim Feldscher Mnasche mit Tinte beschmutzt, so wäre er euch auf den Kopf gekommen!«

»Was denkt Ihr?« entgegnete die Mutter, »auch im Unglück muß man Glück haben.«

*

»Jetzt werde ich klüger sein! Wenn es Nacht wird, bringen wir die Tinte zum Flüßchen,« sagte Elia zu mir.

›Das ist schlau!‹ dachte ich. Dort wird ja aller Schmutz hineingeschüttet, die Wäsche gewaschen, dort baden Pferde, wälzen sich Schweine, dort wird das Abwaschwasser hineingegossen. Ich und das Flüßchen waren gute Freunde, und ich wartete mit Ungeduld auf die Gelegenheit, es wiederzusehen.

Als die Nacht hereinbrach, füllten wir sämtliche Taschen mit Flaschen und begaben uns zum Flüßchen. Ich hatte schon lange keine so lustige Nacht erlebt. Das ganze Städtchen schlief. Heller Sternenhimmel ... Der Mond schien über dem Flüßchen. Tiefe Stille. Unser Flüßchen ist sehr klein. Nach Ostern, wenn der Schnee schmilzt, schwillt es an und überflutet die Umgegend; später wird es allmählich schmaler und seichter; gegen Ende des Sommers verschwindet es ganz und versinkt in Schlaf. Zu dieser Zeit pflege ich das Flüßchen zu überschreiten. Tief im Schlamm gluckst etwas, – die Frösche am anderen Ufer antworten: Quak! Quak! Es scheint, als ob das Flüßchen von unserer Tinte zugenommen hätte. Wir haben ja an die tausend Flaschen hineingegossen; die ganze Nacht haben wir gearbeitet, wie Ochsen; halb tot vor Erschöpfung schliefen wir ein. Da weckte uns die Mutter mit ihrem Gejammer: »Weh mir! Ein unglückliches, bitteres Leben habe ich! Was habt ihr mit dem Fluß gemacht?«

Es stellte sich heraus, daß wir das Städtchen ins Elend gestürzt haben. Die Wäscherinnen konnten ihre Wäsche nicht mehr im Fluß spülen, die Kutscher konnten ihre Pferde nicht tränken, die Wasserträger sollen ganz rabiat geworden sein, sie wollen zu uns kommen und mit uns Abrechnung halten. Aber wir warteten nicht erst ab, bis sie zu uns kommen würden, wir zogen uns schnell an und rannten die Straße hinauf zu dem besten Freund meines Bruders, Teine. Mögen sie uns dort suchen!

Die Straße niest.

Ein neues Geschäft ist im Gange: Bruder Elia hat die ganze Woche in seinem Buch mit dem Titel »Für einen Rubel – hundert!« studiert und gelernt, wie man Mäuse, Ratten und allerlei Ungeziefer vertreibt.

»Mögen sie mich nur mit meinem Pulver erst einmal hereinlassen!« murmelte er.

Die Zubereitung dieses Pulvers, war ein Geheimnis, von dem nur das Buch und Elia wußten, sonst niemand. Das Buch hielt Elia in seiner Seitentasche, das Pulver – im Papier. Das Pulver war von roter Farbe, weich wie Tabak und nannte sich ›Nieswurz‹.

»Was ist ›Nieswurz‹?«

»Türkischer Pfeffer!«

»Und was ist türkischer Pfeffer?«

»Laß mich in Ruhe mit deinem: was ist?!«

Elia konnte nicht leiden, wenn man ihn über sein Geheimnis ausfragte.

Ich verstummte.

Außer ›Nieswurz‹ gehört noch ein anderes, ebenfalls nützliches Pulver, mit dem man vorsichtig umgehen muß, zu den Bestandteilen des Vertilgungsmittels.

»Es ist Gift!« wiederholte Elia hundertmal der Mütter und Broche, besonders aber mir.

»Man darf es nicht anrühren, es ist Gift!«

Den ersten Versuch mit unserem Pulver machten wir bei unserer Nachbarin Pesche. Sie hatte furchtbar viel Mäuse. In ihrem Hause gab es immer viele Bücher, die Mäuse haben aber bekanntlich Bücher sehr gern, übrigens weniger die Bücher als den Kleister, der sich in den Einbänden befindet und um dessentwillen sie die Bücher vernichten.

Unlängst haben die Mäuse mein neues Gebetbuch vollständig zernagt.

»Laßt mich für eine einzige Nacht hinein, laßt mich das Pulver ausprobieren,« flehte Elia Pesche an. Der Buchbinder zögerte, er hatte Angst, daß Elia ihm die Bücher vernichten könnte.

»Wieso sollten denn die Bücher darunter leiden?« entgegnete Elia.

»Weiß Gott, was du noch anrichten wirst! Es sind doch fremde Bücher.«

Werde wer will mit dem Buchbinder fertig! Man ist auf seinen Vorteil bedacht, und er wehrt sich noch! Nur mit größter Mühe haben wir endlich seine Einwilligung erlangt.

*

Die erste Nacht ergab einen Mißerfolg, – wir haben keim einzige Maus gefangen. Elia meinte, das sei ein gutes Zeichen, – die Mäuse hätten das Pulver gewittert und wären davongelaufen. Der Buchbinder schüttelte den Kopf und lächelte mit der Unterlippe. Er glaubte nicht daran. Dennoch verbreitete sich das Gerücht, daß wir Mäuse vertreiben. Dieses Gerücht hatte Pesche in Umlauf gesetzt. Sie ging des Morgens auf den Markt und verbreitete die Neuigkeit. Pesche ist für uns eine lebendige Reklame. Früher hat sie unsere Limonade gepriesen, dann erzählte sie überall von der Tinte, aber in diesem Fall halfen ihre Anpreisungen nicht, weil kein Mensch Tinte brauchte. Mit den Mäusen verhielt es sich anders; Mäuse gab es überall! Zwar pflegte man Katzen auf die Mäuse loszulassen, aber was bedeutete eine einzige Katze gegen so viele Mäuse und gar erst gegen Ratten! Die Ratten hatten vor der Katze überhaupt keine Angst; der Schuhmacher Berel behauptete, daß die Katze sich vor der Ratte fürchtete ... Berel erzählte Wunder von Ratten. In der Stadt hieß es, daß er gern übertreibe, aber wenn seine Worte nur zur Hälfte wahr wären, so genügte das auch. Berel erzählte zum Beispiel, daß die Ratten bei ihm einmal ein Paar Stiefel aufgefressen hätten. Das war in der Nacht: zwei Riesenratten waren aus einem Loch herausgeschlüpft und begannen vor seinen Augen die Stiefel zu nagen. Er konnte sich nicht entschließen, nahe heranzugehen, denn die Ratten waren etwa so groß wie ein Kalb; er wollte sie aus der Ferne vertreiben, er pfiff, stampfte mit den Füßen, schrie, miaute, – aber sie ließen sich nicht stören; er warf mit den Leisten nach ihnen, sie blickten nur zu ihm auf und setzten ihr Werk fort. Endlich schleuderte er eine Katze nach ihnen; da stürzten sich die Ratten auf sie und erwürgten sie.

»Laßt mich eine Nacht bei Euch arbeiten!« sagte Elia, »ich vertreibe Euch sämtliche Ratten!«

»Bitte sehr, mit dem größten Vergnügen,« meinte der Schuhmacher Berel; »ich werde mich bei Euch bedanken, wenn Ihr es fertigbringt!«

*

Wir verbrachten die ganze Nacht bei Berel. Er wachte mit uns. Welche wunderbare Geschichten erzählte er uns von dem türkischen Krieg! Er war an einem Ort, der Plewna hieß, erzählte er. Dort wurde aus Kanonen geschossen. Wissen Sie, wie groß eine Kanone ist? – Stellen Sie sich vor, eine einzige Kugel ist größer als ein ganzes Haus. Und die Kanone wirft tausend solcher Kugeln in einer Minute heraus. Beim Herausfliegen entsteht ein Getöse, daß man taub davon werden kann. Einmal, fuhr Berel fort, stand er Wache, da vernahm er plötzlich einen Krach. Er wurde emporgeschleudert, bis über die Mauern! Dort platzte die Kugel in tausend Stücke. »Ein Glück,« sagte Berel, »daß ich im weiten Bogen hinunterfiel, sonst hätte ich mir den Kopf zerschlagen.«

Elia horchte und schwieg, nur seine Augen lachten, ein seltsames Lachen! Berel bemerkte es nicht. Er erzählte von seinen Abenteuern, das eine immer schauriger als das andere. So blieben wir bis zum Morgen beisammen. Die Ratten ließen sich nicht blicken.

»Sie sind ein Zauberer!« schrie Berel meinem Bruder zu und verbreitete in der ganzen Stadt, daß Elia einen Zauberspruch gegen Mäuse und Ratten kenne. Er schwor, daß er selbst gesehen habe, wie Elia etwas geflüstert hatte, und die Mäuse sofort aus ihren Löchern kamen, zum Fluß eilten, über den Fluß schwammen und dann weiter liefen, er weiß selbst nicht, wohin ...

*

»Hier werden Mäuse vertrieben?« erkundigten sich fremde Personen und baten uns, sie aufzusuchen und die Mäuse zu beschwören. Mein Bruder Elia, der ein ehrlicher Mann war, erklärte, daß er die Mäuse nicht durch einen Spruch, sondern mit einem Pulver vertilgte. Er habe wirklich ein Pulver, vor dem die Mäuse ausreißen, sobald sie es riechen.

»Mach es mit Pulver oder mit dem Teufel, wie du willst, wenn du nur die Mäuse verjagst ... Was kostet es denn?«

Elia feilschte nicht gern. Er sagte, für das Pulver bekäme er soundsoviel und für seine Bemühungen soundsoviel. Aber er wurde mit jedem Tage kühner und erhöhte immer den Preis. Eigentlich nicht er, sondern Broche.

»Nun,« behauptete sie unausgesetzt, »wenn man Schweinefleisch ißt, dann muß es so fett sein, daß das Schmalz über die Lippen fließt. Da er Rattenfänger geworden war, muß es ihm wenigstens viel Geld einbringen.«

»Und die Gerechtigkeit? Wo ist Gott?« fragte die Mutter.

»Die Gerechtigkeit?! Dort ist sie, die Gerechtigkeit!« Sie zeigte dabei mit der Hand auf den Ofen. »Und Gott? Hier ist Gott!« Und sie schlug mit der Hand auf die Tasche.

»Broche! Um Gotteswillen! Was hast du gesagt?«

»Was willst du mit einer Kuh streiten!« sagte Elia zur Mutter, indem er im Zimmer auf und ab ging und seinen Bart streichelte.

Elia hatte bereits einen ganz ansehnlichen Bart; er glättete ihn immer, und der Bart wuchs. Auch sein Hals war dicht mit Haar bewachsen, nur die Wangen waren frei geblieben. Ein anderes Mal hätte Elia für die ›Kuh‹ so büßen müssen, daß er sich nicht hätte retten können, aber jetzt schwieg Broche still, weil Elia doch Geld verdiente und sie ihn dafür respektierte. Auch mich konnte sie besser leiden, seitdem ich Elia bei der Arbeit half. Gewöhnlich nannte sie mich Landstreicher, ein Häufchen Unglück, eine verhungerte Katze, und nun heiße ich plötzlich Mottelchen.

»Mottelchen, bring mir die Schuhe!«

»Mottelchen, schütte den Mülleimer aus!«

Was es doch heißt, Geld verdienen! Selbst die Sprache ist seitdem bei Broche verändert.

*

Der einzige Fehler meines Bruders war, daß er von allem immer so große Mengen haben mußte: von der Limonade – ganze Fässer voll; – von der Tinte – tausend Flaschen, von Mäusepulver – einen vollen Sack. Als der Buchbinder eines Tages bemerkte: »Was fängst du mit dieser Menge an?«, da schimpfte Elia ihn aus. Hätte er den Sack lieber irgendwo eingeschlossen! Eines Tages gingen nämlich alle fort und ließen mich mit dem Sack allein zu Hause. Was ist dabei, daß ich darauf herumritt? Warum sollte der Sack mir nicht als Pferd dienen? Konnte ich denn annehmen, daß der Sack platzen und das Pulver verschütten würde? ... Das Pulver roch sehr scharf, ich bückte mich, um es zusammenzufegen und begann zu niesen. Nach einer ganzen Tabakdose mit Riechtabak hätte ich nicht so viel niesen können. Ich lief auf die Straße und glaubte, daß es vielleicht nachlassen würde. Aber wo! Die Mutter kam und fragte, was passiert wäre. Ich konnte nur antworten: »Psi!«

»Mein Gott! Mein Gott! Wo hast du dir einen solchen Schnupfen geholt?« schrie die Mutter.

Ich hörte nicht auf zu niesen und zeigte mit der Hand auf die Tür. Die Mutter ging ins Zimmer, lief aber bald wieder, laut niesend, heraus. Bald darauf kam der Bruder und sah, daß wir niesten. Er fragte, was passiert wäre, ging in die Wohnung, kam wieder herausgerannt und schrie:

»Wer hat den Sack ... Psi! Psi! Psi!«

Ich habe den Bruder lange nicht so wütend gesehen. Er stürzte sich auf mich, aber zum Glück war er durch das Niesen gehemmt, sonst wäre es mir schlimm ergangen.

Broche kam hinzu; wir niesten weiter.

»Was habt Ihr denn? Wieso niest Ihr alle?«

Wir waren nicht imstande, zu antworten, zeigten nur mit der Hand auf die Tür. Sie rannte hinein und erschien im nächsten Augenblick rot wie Höllenfeuer und stürzte sich auf den Bruder.

»Ich habe dir doch ges... psi! psi! psi!«

Unsere Nachbarin Pesche kam herausgerannt, sie sagte etwas zu uns, aber keiner konnte ihr antworten, wir zeigten nur auf die Tür. Nach einer Weile rannte Pesche aus unserer Wohnung heraus.

»Was ist bei Euch pass... psi! psi! psi!«

Pesche fuchtelte mit beiden Händen, da kam ihr Mann Mojsche herbei. Er sah uns an und lachte:

»Wieso habt ihr denn alle die Nieswut bekommen?«

»Gehen Sie ... doch einmal dort ... hin ... psi! psi!« sagte einer von uns und zeigte mit dem Finger auf die Tür.

Der Buchbinder ging in unsere Stube und sprang lachend wieder heraus.

»Ich weiß schon, ich hab's gerochen. Das ist das Nies... psi! psi!«

Er stemmte die Hände in die Seiten und nieste mit Genuß. Nach jedem Niesen machte er einen Sprung nach hinten, stellte sich auf die Zehenspitzen, nieste und machte wieder einen Sprung nach hinten.

Nach einer halben Stunde niesten alle unsere Nachbarn und Nachbarinnen, ihre Kinder, Tanten und Onkel, ihre Freunde und Bekannten, – die ganze Straße nieste von einem Ende bis zum anderen.

*

Mein Bruder bekam Angst. Er fürchtete, daß man ihm für diese Geschichte heimzahlen würde. Er nahm mich bei der Hand, und wir gingen, ohne mit dem Niesen aufzuhören, die Straße hinauf zu seinem Freund Peine. Gute anderthalb Stunden vergingen, bis wir wieder menschlich sprechen konnten. Da erzählte Elia Peine seine Geschichte. Peine hörte ihn an, wie der Arzt einen Kranken.

Als mein Bruder zu Ende war, bat Peine ihn, ihm das Buch zu zeigen.

Mein Bruder zog das Buch aus der Seitentasche heraus und gab es Peine.

Peine las den Titel: »Für einen Rubel – hundert!« und der Untertitel: »Wie man fast ohne Unkosten hundert Rubel und darüber monatlich verdient!« und warf das Buch, ohne ein Wort zu sagen, ins Feuer.

Elia stürzte zum Ofen. Peine hielt ihn zurück.

»Warte, beeile dich nicht so!«

Nach wenigen Minuten blieb von dem Buch nur ein Häufchen Asche zurück. Auf einem winzigen Papierrestchen, das zufällig unversehrt geblieben war, konnte man lesen: Nieswurz.

Unser Freund Peine

Ich halte es für meine Pflicht, euch mit dem besten Freund meines Bruders, Peine, bekannt zu machen. Er ist ein Original. Aber vorher einige Worte über seinen Großvater, Vater und Onkel. Habt keine Angst, ich fasse mich kurz! Ich fange mit dem Großvater an.

Peines Großvater ist Reb Chaim. Er ist Glaser, Spezialist für Spiegel, und außerdem Färber. Aber seitdem er alt ist, hat er sein Handwerk aufgegeben und reibt Riechtabak zum Verkauf. »Solange der Mensch lebt, muß er arbeiten, um anderen nicht zur Last zu fallen,« pflegt er oft zu sagen. Reb Chaim ist ein groß gewachsener, hagerer Greis mit roten Augen und einer wunderlichen Nase, die unten breit, oben schmal und wie ein Horn gebogen ist. Ich nehme an, daß die Nase vom ewigen Tabakschnupfen so geworden ist. Reb Chaim ist nicht mehr jung. Er zählt hundert Jahre, aber er ist gut erhalten und vielleicht auch jetzt noch klüger als seine Söhne: der Mechaniker Hersch Leib und der Uhrmacher Schneure.

Der Mechaniker Hersch Leib, Peines Vater, ist auch groß und mager, wie Reb Chaim, und hat ebensolche wunderliche Nase. Vorläufig schnupft er noch nicht Tabak, aber es ist wohl anzunehmen, daß er es tun wird. Hersch Leib hat eine hohe Stirn und wird allgemein für begabt gehalten.

»Wenn man mich hätte ein Handwerk lernen lassen,« pflegte Hersch Leib oft zu sagen, »so wäre ich ein erstklassiger Meister geworden. Es gibt keine Sache, die ich nicht begriffen hätte. Ich erfasse alles im Fluge.«

Hersch Leib, der Mechaniker, setzte Ofen; er hat es selbst erlernt. Er hatte einige Male beobachtet, wie der Ofensetzer Johann Öfen setzte und schüttelte sich dabei vor Lachen; denn er behauptete, daß der Ofensetzer Johann vom Ofensetzen keine Ahnung hatte. Er kam nach Hause, nahm den Ofen auseinander und begann einen neuen Ofen zu bauen.

Als der Ofen rauchte, riß er ihn nieder und stellte einen anderen hin; das wiederholte sich mehrere Male, bis er ein berühmter Ofensetzer wurde. Später erfand er einen solchen Ofen, der nur dreimal wöchentlich geheizt zu werden brauchte.

»Leider,« sagte Hersch Leib, »kann ich kein anderes Material bekommen. Gebt mir Kacheln, und ich werde euch Wunderöfen herstellen!«

Hersch Leib liebte es manchmal, seinen Bruder Schnojre zu ärgern und sagte:

»Ein Ofen ist kunstvoller zusammengesetzt als eine Uhr.«

Schneure war jünger und größer als sein Bruder, aber sie hatten die gleiche Nase. Schneure war sehr begabt, er sollte Rabbiner, Schächter oder Lehrer werden. Aber er wollte nicht lernen und schwärmte nur für das Uhrmacherhandwerk. Als er noch ein Knabe war, machte es ihm Spaß, alle möglichen Schlösser zu untersuchen und zu ergründen, was für ein Geheimnis im Schlosse steckte; weshalb das Schloß sich öffnete, wenn es rechts herum gedreht wurde, und weshalb es wieder schloß, wenn es nach links gedreht wurde; weshalb eine Uhr schlug, und weshalb sie gerade dann schlug, wenn der große Zeiger auf 12 stand. Als Schneure zum erstenmal eine Kuckucksuhr sah, verlor er fast den Verstand. Der alte Reb Chaim hatte diese Uhr von einem pensionierten Oberst bekommen, der sein Kunde war. Wenn die Uhr schlagen sollte, öffnete sich ein Türchen, aus dem ein Vögelchen heraussprang und »Kuckuck« rief. Das Vöglein war wie lebendig, so daß die Katze sich manchmal irrte und nach ihm sprang. Schneure paßte die Zeit ab, als niemand zu Hause war, nahm die Uhr von der Wand, schraubte alle Schrauben auseinander, nahm das Werk heraus und forschte nach dem Geheimnis, doch der Vater kam dazu und verprügelte Schneure so, daß man für sein Leben fürchtete.

Aber Schneure setzte seinen Willen durch und wurde Uhrmacher. So erzählte Schneure von seinen jungen Jahren.

»Ich weiß nicht, ob Reb Schneure ein guter Uhrmacher ist, aber er ist billig und arbeitet schnell. Mein Bruder hat ihm auch seine Uhr zur Reparatur gegeben. Sie hat nämlich einen Fehler: entweder läuft sie um eine halbe Stunde vor oder sie bleibt vier Stunden zurück, oder sie steht überhaupt. Elia hätte sie vielleicht zu einem anderen Meister gebracht, aber es war ihm vor Peine unangenehm. Peine sagt, daß die Uhr an dem Fehler Schuld sei, nicht Onkel Schneure.

»Wäre die Uhr gut,« behauptete Peine, »so könnte der Onkel sie reparieren; also ist die Uhr schlecht, und man darf den Onkel nicht beschuldigen.«

*

Unser Freund Peine ist ebenfalls ein begabter Mensch; auch seine Nase ist von gehöriger Ausdehnung. In dieser Familie haben sie alle lange Nasen. Peine hat eine Tante, Kraine, deren eine Tochter mit solcher Nase bedacht ist, daß man mit ihr in der Welt herumfahren und Geld sammeln könnte; übrigens ist nicht nur die Nase, sondern auch das ganze Gesicht eine Seltenheit, es sieht einem Vogel ähnlicher als einem Menschen; das Mädchen geniert sich, auf die Straße zu gehen.

Peine sieht ihr ähnlich. Obgleich er ein Mann ist, und das Gesicht beim Mann keine Rolle spielt, so kann man sich kaum des Lachens erwehren, wenn man ihn ansieht.

Peine ist groß gewachsen, mager, mit langen Ohren und einem langen Gänsehals; außerdem ist er kurzsichtig. Wenn er geht, stößt er sicher jemanden mit der Stirn an; wenn er stehen bleibt, tritt er jemandem auf den Fuß; das eine Beinkleid hat er stets aufgekrempelt, eine Socke hängt ihm stets herunter, sein Hemd ist ewig offen, das Halstuch zur Seite gerückt; er lispelt und nascht gern und lutscht immer etwas im Mund, wenn man ihm begegnet.

Trotz allem ist er ein sehr begabter Mensch; es gibt keine Sache, die er nicht kennen würde. Man sagt, er wisse mehr als ein Rabbiner, und was das Briefschreiben betrifft, so kann er jeden Gebildeten in die Tasche stecken. Er hat eine schöne Handschrift und ist Meister im Reimen ... Alles schreibt er in Versen. Er hat das ganze Städtchen beschrieben, mit dem Rabbiner, dem Schächter, dem Fleischer und seiner ganzen Verwandtschaft ... Alles in Reimen. Seine Gedichte sind lange von einer Hand in die andere gewandert, die Leute lachten sich schief, als sie sie lasen. Manche lernten sie sogar auswendig. Einmal machte Peine ein Gedicht auf den Dorfältesten; es wurde in der ganzen Stadt bekannt, man sang es in allen Straßen, bis es bei dem ›Starosten‹ selbst und bei seiner Frau ruchbar wurde. Diese schickten zu Hersch Leib, weinten vor ihm bittere Tränen und baten ihn, auf den Sohn einzuwirken. Hersch Leib kam nach Hause, schloß die Tür und die Jalouisen ab, streckte Peine wie einen kleinen Jungen aus und prügelte ihn so lange, bis Peine versprach, nie mehr im Leben Gedichte zu machen.

*

Übrigens hat Peine jetzt keinen Sinn mehr zum Dichten. Sein Leben ist zu Ende. Er hatte den Einfall, sich zu verheiraten. Eigentlich nicht er, sondern sein Vater Hersch Leib beschloß, seinen Sohn zu verheiraten, aus ihm einen Menschen zu machen.

Peine nahm Teubele, die Tochter des Müllers. Mein Bruder Elia beneidete Peine, daß er im Geschäft arbeitete. Doch Peine erwiderte lachend:

»Vielleicht ist das ein Geschäft, aber nicht für mich! Ein Vergnügen, sich ewig mit Mehl abzugeben! Das ist gut für einen einfachen Menschen, einen Müller. Ich kann nicht ewig im Laden sitzen ... Durch meinen Kopf gehen allerhand Gedanken und Ideen. In unserer Familie sind doch lauter kluge Köpfe.«

Peine hörte auf, nach dem Laden zu gehen. Sein Schwiegervater war sehr ärgerlich darüber, aber er mußte schweigen, denn er fürchtete, daß der Schwiegersohn ihn in einem Vers verspotten könnte; auch tat ihm seine Tochter leid.

Meine Mutter sagt, daß Peines Frau, Teubele, herzensgut sei, eine Frau ohne Galle ... Wo ist denn ihre Galle geblieben? ... Teubele saß den ganzen Tag im Laden, während Peine hinter dem Laden im Zimmer Bücher las. Mein Bruder und ich besuchten ihn oft, er klagte über sein Schicksal, seufzte und stöhnte. Ihm sei so eng und schwül, sagte Peine, er müsse ersticken. Anderswo hätte sich sein Leben ganz anders gestaltet ...

Peine zeigte meinem Bruder Briefe, die er von ›großen Männern‹ bekommen hatte. Die ›großen Männer‹ schrieben, es stecke in ihm etwas. Peine sagte, er fühle selbst, daß in seinem Innern etwas stecke. Ich betrachtete Peine und dachte: ›Was kann wohl in ihm stecken?‹

*

Eines Tages kam Peine zu uns und rief meinen Bruder. Ich witterte ein Geheimnis und wollte wissen, um was es sich handelte. Ich folgte ihnen und hörte zu, was sie sprachen:

Peine: »Warum sitzen wir hier?«

Elia: »Das meine ich auch!«

Peine: »Ich habe unlängst gelesen, einer sei ohne alle Mittel hinübergereist ... ein halbes Jahr schlief er auf der Straße, lebte vom Straßenreinigen ...«

Elia: »Und jetzt?«

Peine: »Jetzt, gebe Gott, daß es uns nicht schlimmer gehen möchte!«

Elia: »Wirklich?«

Peine: »Rotschild ist ein Bettler gegen ihn!«

Elia: »Nun?«

Peine: »Ich, will's dir offen sagen! Ich habe mit Teubele gesprochen.«

Elia: »Und was sagt sie?«

Peine: »Was soll sie sagen, sie ist einverstanden.«

Elia: »Und der Schwiegervater?«

Peine: »Wer wird ihn fragen? Wenn ich allein fortginge, wäre er besser daran? Er weiß doch, daß ich nicht bleiben kann, daß es mir im Kopf herumspukt.«

Elia: »Auch ich kann nicht hier bleiben.«

Peine: »Dann fahren wir zusammen!«

Elia: »Leicht gesagt: fahren wir. Wo soll ich so viel Geld hernehmen?«

Peine: »Schiffskarten werden umsonst gegeben.«

Elia: »Wieso denn umsonst?«

Peine: »Auf Abzahlung. Irgendwann werden wir das Geld zurückzahlen. Vorläufig bekommen wir die Karten umsonst.«

Elia: »Und wie kommen wir zum Schiff? Wo nehmen wir das Geld für die Ausgaben, für die Reise, für die Fahrkarten her?«

Peine: »Als ob so viele Fahrkarten nötig wären!«

Elia: »Das ist wahr! Wie viele Fahrkarten brauchen wir?«

Peine: »Ich und Teubele zwei, du und Broche zwei, im ganzen vier.«

Elia: »Und für die Mutter eine.«

Peine: »Also fünf.«

Elia: »Und Mottel?«

Peine: »Für Mottel braucht man nur eine halbe Karte. Vielleicht bringen wir ihn ohne Karte durch. Wir sagen, daß er eben erst drei Jahre geworden ist.«

Elia: »Was redest du für Unsinn!«

*

Ich konnte mich nicht länger halten! Ich schrie vor Freude auf, so daß sich beide nach mir umsahen.

»Mach, daß du fortkommst, Schlingel! Was ist das für eine häßliche Gewohnheit, fremde Gespräche zu belauschen!«

Ich renne davon, springe, schieße Purzelböcke, klatsche in die Hände. Ich werde verreisen! ... Schiff ... Eisenbahn ... Fahrkarte ... halbe Karte. Wohin geht's? ... Als ob mir das nicht ganz gleich wäre? Ich mache eine Reise, – das genügt mir! Ich bin ja noch nie verreist gewesen. Ich weiß nicht einmal, was für ein Vergnügen das Reisen macht. Nur ein einziges Mal bin ich auf einer Ziege geritten, aber das bekam mir schlecht. Nicht genug, daß ich herunterfiel und mir die Nase zerschlug, wurde ich noch obendrein von meinem Bruder verprügelt. Diese Fahrt kann also nicht mitgerechnet werden. Ich gehe den ganzen Tag wie ein Verrückter herum und kann nicht essen. Nachts träume ich, daß ich fliege. »Ich habe Flügel wie eine Taube und fliege ... Peine möchte ich küssen! Wie gut und lieb er ist! Was es doch bedeutet, ein begabter Mensch zu sein!«

Wir reisen nach Amerika.

Wo ist dieses Amerika? – Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß es weit, furchtbar weit ist. Man fährt und fährt, bevor man ankommt. Wenn man endlich angelangt ist, wird man in ein Haus geführt, dort wird man nackt ausgezogen und auf die Augen untersucht. Wenn die Augen gesund sind, ist es gut, wenn nicht, wird man ohne Rücksicht zurückgeschickt. Ich habe, wie mir scheint, gesunde Augen. Früher hatte ich einmal schlimme Augen: russische Schuljungen haben mich abgepaßt, niedergeworfen und mir Tabak in die Augen gestreut. Aber jetzt habe ich klare Augen. Nur mit der Mutter ist es schlimm bestellt; aber es ist ihre eigene Schuld; sie weint immer und ewig, – seitdem der Vater gestorben ist, hat sie nicht aufgehört zu weinen.

»Um Gotteswillen, habe doch wenigstens mit uns Erbarmen! Durch dich werden auch wir zu leiden haben!« flehte Elia sie an.

»Was bist du für ein Dummkopf! Weine ich denn? Die Tränen fließen von selbst ...« sprach die Mutter, wischte sich die Augen und nahm die Federbetten vor.

»Die Betten müssen umgeschüttet werden! Amerika ist ein Land, wo es keine Federbetten gibt; alles gibt es dort, nur keine Federbetten! Wie die Leute dort wohl schlafen mögen! Die Leute müssen es dort hart haben!«

Wir haben eine Menge Kissen, sechs große und drei kleine, außerdem drei Federbetten. Die kleinen Kissen schüttete die Mutter alle zusammen. Schade! Ich spielte des Morgens gern mit den kleinen Kissen, sie dienten mir als Bälle.

»Wenn wir angekommen sind, werden wir sie wieder auseinanderschütten,« sagte die Mutter.

Broche half ihr, aber ungern. Sie freute sich nicht auf die Reise. Es fiel ihr schwer, sich von den Eltern zu trennen.

»Wenn mir im vorigen Jahr jemand gesagt hätte, daß wir nach Amerika reisen würden!« sagte Broche seufzend.

»Wenn mir im vorigen Jahre jemand gesagt hätte, daß ich Witwe sein würde!« sagte die Mutter und begann zu weinen.

Elia schimpfte los.

»Wieder weinst du! Du willst uns alle ins Verderben stürzen!« ...

*

Kaum hatte sich die Mutter beruhigt, als unsere Nachbarin Pesche erschien. Als sie uns bei der Arbeit sah, begann sie zu predigen.

»Ihr reist also nach Amerika? Gott gebe, daß ihr dort gesund ankommt und glücklich lebt! Im vorigen Jahr ist meine Verwandte Riwa mit ihrem Mann hingereist. Sie schreiben, daß sie sich quälen und sich eine Existenz schaffen. Wir haben sie so oft gebeten, uns ausführlich zu schreiben, wie sie leben, wo und wovon, aber es ist nichts von ihnen zu erfahren. Immer dieselbe Leier: sie leben, quälen sich und schaffen sich eine Existenz. Amerika, schreiben sie, ist ein Land für alle. Alle quälen sich und wollen sich eine Existenz schaffen. Wie gefällt euch das? Noch gut, daß sie überhaupt schreiben! In der ersten Zeit haben sie sehr lange nichts von sich hören lassen. Wir waren schon unruhig, – auf dem Meer kann leicht etwas passieren ... Endlich bekamen wir einen Brief, daß sie Gott sei Dank in Amerika angekommen wären, sich dort quälten, sich eine Existenz schaffen wollten. Hat es sich gelohnt, solche Umstände zu machen, hier alles zu verlassen, die Federbetten umzuschütten, auf dem Meer zu fahren und weiß Gott was sonst noch, um sich dann zu quälen und eine Existenz zu schaffen? ...«

»Wollt Ihr nicht endlich still sein! Es ist einem auch ohne Euch schwer zu Mut!« bat sie der Bruder, aber sie fuhr ihn an:

»Seht einmal den Philosophen! Wenn man bedenkt, er reist nach Amerika, sich zu quälen und eine Existenz zu schaffen! Wie lange ist es her, seitdem ich dich auf den Händen getragen und gewartet habe? Frag nur deine Mutter, was ich durchgemacht habe, als du einmal eine Fischgräte verschluckt hast? Hätte ich dich damals nicht dreimal auf den Rücken geschlagen, so würdest du jetzt nicht nach Amerika reisen, um dich zu quälen und dir eine Existenz zu schaffen!«

Wer weiß, wie lange sie ihre Predigt noch fortgesetzt hätte, wenn die Mutter nicht dazwischengekommen wäre.

»Ich bitte dich, Pesche, mein Täubchen, mein goldenes Herz!« begann die Mutter und brach in Tränen aus. Elia geriet in Zorn, warf die Arbeit hin, rannte aus dem Hause und schrie, mit der Faust in die Tür schlagend:

»Schert euch zum Teufel! Nichts als weinen können sie, die Weiber!«.

*

Unser ganzes Haus war leer, nur das Schlafzimmer war mit Bündeln und Kissen angefüllt, die sich bis zur Decke hochtürmten. Wenn niemand zu Hause war, kletterte ich hinauf und rollte hinunter, wie von einem Berg. Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie jetzt. Wir kochten nicht mehr zu Hause, der Bruder brachte getrocknete Fische vom Markt, die wir mit Zwiebeln und Brot aßen ... Gibt es etwas Wohlschmeckenderes als Fische mit Zwiebeln? ... Unser Freund Peine speiste bei uns. Seitdem wir beschlossen hatten, nach Amerika zu reisen, wurde Peine noch zerstreuter. Wenn er in die Stube kam, stieß er mit der Stirn immer gegen den Balken. Die Mutter wiederholte jedesmal:

»Du weißt doch, wie groß du bist! Könntest dich doch ein wenig bücken!«

»Er ist ja kurzsichtig, Mutter!« trat Elia für den Freund ein.

Heute wollten sie endgültig beschließen, was mit unserem Hause geschehen sollte. Der Vertrag sollte unterschrieben werden. Wir haben unser Haus an den Schneider Selig verkauft. Eine richtige Schlafmütze, dieser Selig! Zuerst kam er dreimal am Tage, um das Haus zu besichtigen, beroch die Wände, betastete den Ofen, kroch auf den Boden, prüfte das Dach. Dann kam er mit seiner Frau an. Wenn ich sie ansah, fiel mir das Kälbchen des Nachbarn ein, mit dem sie viel Ähnlichkeit hatte: beide hatten weiße Schnauzen und runde Augen und obendrein denselben Namen: Mich. – Dann schleppte Selig seine Bekannten heran, meistensteils Schneider; jeder besichtigte das Haus und fand einen anderen Fehler heraus. Endlich beschlossen sie, den Mechaniker Hersch Leib, der Kenner und ein ehrenhafter Mensch war, zu bitten, das Haus zu besehen. Hersch Leib kam, besichtigte das Haus von allen Seiten, richtete sich hoch auf, kraute sich am Hinterkopf und erklärte: »Dieses Haus kann noch hundert Jahre stehen, wenn nicht mehr!«

»Selbstverständlich!« entgegnete Seligs Freund, der Schneider, »man braucht nur ein neues Fundament zu legen, mehrere gute Stützen hinzustellen, neue Mauern einfügen und ein Blechdach anstückeln, dann wird das Haus bis zum jüngsten Gericht stehen.«

Hätte man Hersch Leib mit den schlimmsten Schimpfworten belegt oder mit heißem Wasser begossen, so hätte ihn das nicht so geärgert wie dieser Spott! Er wollte nur wissen, sagte er, wieso der Jude, der Schneider, dieser Spitzbube, Lumpenkerl und Betrüger sich die Frechheit herausnimmt, mit ihm, dem Mechaniker Hersch Leib, in solchem Ton, in solchen Ausdrücken und in solcher Weise zu sprechen. Ich freute mich schon, ich dachte, nun würden Blitze sprühen! Aber nein! Man ließ es nicht zur Schlägerei kommen, die anderen Leute mischten sich ein, sagten: »Überall, mischen sich ungebetene ›Leute‹ hinein und versöhnten sie.« Nun begannen sie zu feilschen, und als sie sich endlich über den Preis geeinigt hatten, schickten sie nach Schnaps und tranken. Uns wünschten sie, gesund nach Amerika zu kommen, viel Geld zu verdienen und gesund wiederzukommen.

»Aus Amerika kommt man nicht so schnell zurück!« sagte Elia.

Man begann ein Gespräch über Amerika. Hersch Leib schwor, daß wir zweifellos zurückkehren werden.

»Hätte Peine nicht die Sache mit dem Militärdienst, dann würde ich ihn auf keinen Fall nach Amerika reisen lassen. Ein abscheuliches Land, dieses Amerika!« sagte Hersch Leib.

»Woher wissen Sie, daß es abscheulich ist?« fragte der Schneider Selig.

»Ich stelle es mir so vor!«

»Warum stellen Sie es sich so vor?«

Hersch Leib wollte auseinandersetzen, weshalb Amerika ihm so verhaßt war, aber die Worte wollten sich ihm nicht fügen, er war ein wenig bezecht und stammelte nur. Alle waren in fröhlicher Stimmung und fühlten sich vortrefflich. Nur die Mutter verbarg von Zeit zu Zeit das Gesicht hinter der Schürze und wischte die Augen.

Bruder Elia bemerkte es.

»Du, Mörderin! Du willst deine Augen nicht schonen! Du wirst uns alle zugrunde richten.«

Die Zeit des Abschiednehmens kam. Wir gingen von Haus zu Haus und nahmen Abschied. Bei allen Verwandten, Bekannten und Nachbarn kamen wir herum; – bei Jonas, dem Brezelbäcker, verbrachten wir den ganzen Tag. Jonas gab ein großes Mittagessen, lud Gäste ein und spendierte Bier. Mich setzten sie mit Alte, der jungen Tochter des Wirts, an einen besonderen Tisch. Seit der Hochzeit des Bruders wurden wir Braut und Bräutigam genannt. Aber das machte mich nicht verlegen, wir unterhielten uns sogar. Alte fragte mich, ob ich in Amerika an sie denken werde.

»Natürlich!« erwiderte ich. Alte bat mich, ihr Briefe zu schreiben, und ich versprach es ihr.

»Wie wirst du denn schreiben? Du kannst doch nicht schreiben?«

»Ein großes Kunststück, in Amerika schreiben zu lernen!« erwiderte ich und steckte die Hände in die Tasche.

Alte blickte mich lächelnd an und tat so, als ob sie mich beneidete. Alle Leute beneiden mich, daß ich nach Amerika reise, sogar Henoch, der Sohn des reichen Jossele; er möchte mich am liebsten in einem Löffel Wasser ertränken. Neulich sprach er mich an, zwinkerte mit seinem einzigen Auge und sagte:

»Hör mal, du reist nach Amerika?«

»Ja, ich reise nach Amerika!«

»Was willst du in Amerika anfangen? Schnorren?«

Ein Glück, daß Elia das nicht gehört hat. Er hätte ihm sicher für dieses ›Schnorren‹ was versetzt.

Ich selbst wollte mich mit einem solchen dummen Jungen nicht einlassen. Ich zeigte ihm die Zunge und lief zu unserer Nachbarin Pesche, um mich von der lustigen Gesellschaft zu verabschieden. Acht Gevatterinnen umkreisten mich und fragten, ob ich mich auf die Reise freue. Sie beneiden mich alle. Besonders Herschel-Waschte. Dieser ließ kein Auge von mir, seufzte und sagte:

»Was wirst du in der weiten Welt nicht alles zu sehen bekommen!«

»Ja! Ich werde viel zu sehen bekommen! Wenn es nur schon so weit wäre!«

*

Vor dem Tor stand Leiser mit seinen ›Adlern‹, drei rassigen Pferden. Die Pferde konnten nicht einen Augenblick stillstehen, stampften mit den Füßen und spritzten Schaum um sich. Ich wußte nicht, was ich tun sollte: die Pferde beobachten oder die Sachen heraustragen und aufladen. Ich wählte das Mittelding, stellte mich vor die Pferde hin und sah zu, wie die Bündel und Kissen aufgeladen wurden. Es war Zeit, loszufahren. Wir hatten fünfundvierzig Werst bis zur Eisenbahnstation zu fahren. Alle waren versammelt: Peine mit seiner Frau, seinen Verwandten und den Verwandten seiner Frau und unsere Familie mit sämtlichen Verwandten und Bekannten. Alle drängten sich an uns heran und warnten uns vor Spitzbuben.

»In Amerika gibt es keine Spitzbuben!« sagte Elia und betastete seine Tasche, die an einer Stelle eingenäht war, auf die die Diebe niemals geraten hätten, daß sich dort das Geld, der Erlös für das verkaufte Haus, befand. Es mußte wohl ein großer Betrag sein, denn jeder fragte, ob das Geld gut aufbewahrt war.

»Sehr gut! Sehr gut! Macht euch keine Sorge!« erwiderte Elia, dem es schon langweilig war, fortwährend an das Geld zu denken. Es war höchste Zeit, Abschied zu nehmen. Wir sahen uns um, – die Mutter war nicht da. Niemand wußte, wo sie verschwunden war. Bruder Elia regte sich auf, der Kutscher Leiser mahnte zur Eile, weil man den Zug versäumen würde. Endlich kam die Mutter mit rotem Gesicht und verschwollenen Augen an.

»Was ist mit dir, wo warst du?«

»Auf dem Friedhof, ich habe von Pesche Abschied genommen.«

»Friede sei mit ihm!«

Bruder Elia drehte sich um. Plötzlich wurden alle still. Ich hatte schon lange nicht mehr an den Vater gedacht, da ich immer mit Reisevorbereitungen beschäftigt war. Jetzt zwickte mich etwas am Herzen: ›Alle reisen nach Amerika, der arme Vater bleibt allein in seinem Grabe zurück, ganz allein!‹ – Aber man ließ mich nicht lange nachdenken. Sie riefen mich und befahlen mir, auf den Packwagen zu steigen. Es war nicht leicht, auf den Wagen mit dem Berg von Kissen hinaufzugelangen. Leiser stellte mir seinen breiten Rücken hin, und ich kletterte hinauf. Nun begann man sich zu umarmen, zu küssen und zu weinen. Am allermeisten weinte die Mutter. Laut heulend warf sie sich ihrer Nachbarin Pesche um den Hals:

»Ihr wart mir eine Schwester, teurer als eine Schwester!«

Pesche weinte nicht, nur ihr dreifaches Kinn zitterte, und die Tränen rollten wie Erbsen über ihre fetten, glänzenden Wangen. Alle hatten miteinander Küsse ausgetauscht. Dabei geriet Peine infolge seiner Kurzsichtigkeit immerfort an eine falsche Stelle; bald küßte er einen Bart, bald eine Nasenspitze, bald stieß er mit seiner Stirn jemanden an.

Wir nahmen Platz. Auf dem Hintersitz, auf den Kissen und zwischen den Kissen saßen die Mutter, Broche und Teubele. Ihnen gegenüber – mein Bruder und Peine. Ich und Leiser nahmen auf dem Bock Platz. Die Mutter wollte, daß ich zu ihren Füßen säße. Elia meinte, daß ich auf dem Bock besser sitzen würde. Sehr richtig! Auf dem Bock sah ich alle, und alle sahen mich. Leiser nahm die Peitsche. Die Menge rief uns immer noch Abschiedsworte zu, die Frauen weinten.

»Bleibt gesund!«

»Reist glücklich!«

»Gute Reise!«

»Kommt glücklich an!«

»Schreibt von unterwegs!«

»Vergeßt uns nicht!«

»Schreibt jede Woche, jede Woche einen Brief, eine Karte!«

»Grüßt dort Mojsche, Basja, Meier und Golde und Hanne-Perle und Sara-Rachel mit ihren Kinderchen!«

»Vergeßt nicht, von uns zu grüßen!«

»Lebt wohl! Bewahrt uns in guter Erinnerung!« schrien wir aus unserem Wagen.

Leiser traktierte seine ›Adler‹ mit der Peitsche, den einen ließ er auch noch den Stock spüren, und wir setzten uns in Bewegung. Wir wurden geschüttelt und geschleudert. Ich sprang auf dem Kutscherbock in die Höhe und wäre bald vor Freude hinuntergefallen; es kitzelte mich, es juckte mir im Halse, ich hätte singen mögen: ›Wir fahren, fahren, fahren nach Amerika!‹

Wir überschreiten die Grenze.

Was kann es Schöneres geben als eine Eisenbahnfahrt! Auch im Wagen ist es nicht übel, aber da wird man geschüttelt, und die Seiten tun einem nachher noch lange weh. Obgleich Leiser seine Pferde »Adler« nannte, schleppten wir uns recht lange bis zur Station. Als wir endlich das Ziel erreicht hatten, war es unmöglich, herauszugelangen. Ich hatte es noch am besten, ich saß ja auf dem Kutscherbock, zwar hart, die Knochen taten mir furchtbar weh, aber dafür sprang ich in einer Sekunde hinunter. Die anderen konnten nicht heraus, besonders die Frauen, die in den Kissen versunken waren. Man mußte erst die Bündel und einen Teil der Kissen herausnehmen, um die Passagiere einzeln herauszubefördern. Diese ganze Arbeit fiel Leiser zu. Obgleich er immer ärgerlich war und ewig schimpfte, war er doch ein ehrlicher und anständiger Kutscher. Leiser begab sich auf die Suche nach Passagieren für den Rückweg. Wir blieben allein zurück und wußten nicht, was wir anfangen sollten. Der Bahnhofswärter schalt uns, weil wir den Durchgang versperrten. Was geht es ihn an! Die Mutter bemühte sich, ihn zu beruhigen, sie sagte, daß wir nach Amerika reisten. Aber er wurde noch wütender und schickte uns nach einem Ort, den man sich geniert, zu nennen.

»Man muß sich mit ihm verständigen. Ob man ihm vielleicht etwas in die Hand spuckt?« sagte mein Bruder zu Peine. Peine war unser Wegweiser, unser Haupt; er sprach gut russisch. Nur schade, daß er ein Hitzkopf war; – Elia regte sich auch leicht auf, aber nicht so maßlos – Peine flammte bei jeder geringsten Kleinigkeit auf und fing gleich an zu schimpfen. Jetzt näherte er sich dem Bahnhofswärter und begann mit ihm ein Gespräch. Ich wiederhole es wörtlich:

»Hör mal, Mann! Der Teufel soll dich holen, wenn wir nicht nach Amerika reisen mit all dieser Menge von Kissen und Kisten. Wir geben dir Trinkgeld – für Schnaps –, aber schweig, Schwein!«

Der Wärter schwieg nicht, es folgten Redensarten:

»Judenpack!« »Hundefresser!« »Schweinsohr!« »Heidenglaube!« Wir fürchteten einen Skandal und die Polizei. Die Mutter rang verzweifelt die Hände und schrie Peine an:

»Wer hat dich geheißen, mit deiner russischen Sprache herauszuspringen! Man weiß auch so, daß du sprechen kannst!«

»Habt keine Angst, der Bauer wird fünfzehn Kopeken nehmen und dich beruhigen!«

Sie versöhnten sich tatsächlich. Peine fuhr fort, seine russischen Worte auszuschütten; der Wärter schleppte, ohne mit dem Schimpfen aufzuhören, alle unsere Sachen in den Wartesaal, – ein großes Zimmer mit hohen Fenstern. – Nun kam eine neue Sorge: der Wärter sagte, daß man uns mit dieser Menge Bündel und Lumpen nicht in den Waggon hineinlassen würde, – Lumpen nannte er unsere Laken. Schöne Lumpen! Wir beschlossen, zu dem Bahnhofsvorsteher zu gehen. Peine ging natürlich mit dem Wächter; ich folgte ihnen. Mit dem Bahnhofsvorsteher sprach Peine ganz anders: Er fuchtelte tüchtig mit den Händen und schimpfte nicht. Seine Rede war mit Worten durchsetzt, die ich nie zuvor gehört hatte: Kolumbus, Zivilisation, Alexander von Humboldt, Mathematik, – die anderen habe ich vergessen. Der Bahnhofsvorsteher hörte aufmerksam zu, betrachtete Peine und schwieg; diese Rede hatte offenbar Eindruck auf ihn gemacht; dennoch blieb nichts anderes übrig, als sämtliche Federbetten und Kissen als Gepäck aufzugeben und eine Quittung entgegenzunehmen. Die Mutter konnte sich nicht beruhigen. Auf was sollten wir schlafen? –

Sie hätte sich nicht zu beunruhigen brauchen. Es fehlte nicht nur Platz zum Schlafen, wir hatten nicht einmal Platz zum Sitzen. Im Abteil war es so eng, daß man beinahe erstickte. Reisende gab es eine Menge, Juden und Russen, mehr Juden; alles schlug sich um die Plätze. Wegen des Gepäcks konnten wir nicht rechtzeitig Plätze besetzen.

Die Frauen wurden auf den Bündeln untergebracht, die Mutter an einem Ende des Abteils, Teubele und Broche am anderen. Wenn sie sich unterhielten, mußten sie durch das ganze Abteil schreien. Alle Leute lachten. Bruder Elia und Peine bekamen überhaupt keine Plätze und standen wackelnd herum; Peine stieß oft mit der Stirn an. Und ich? ... Um mich braucht ihr keine Angst zu haben! Mir ging es vortrefflich. Ich habe mich am Fenster postiert, man drängte mich zwar von allen Seiten, aber ich schaute zum Fenster hinaus und sah lauter Neues: Kleine Häuschen, Meilensteine, Bäume, Menschen, Wälder, Felder – nicht zu beschreiben –! Und der Zug raste! Die Räder klapperten; es dröhnte und sauste, polterte und zischte! ... Die Mutter hatte Angst, daß ich zum Fenster hinausspringen könnte, und rief mich jeden Augenblick:

»Mottel!«

Ein kleiner Herr mit einer blauen Brille machte ihr nach; die Christen kicherten, die Juden taten, als ob sie nichts hörten. Die Mutter genierte sich aber nicht und schrie wieder:

»Mottel! Mottel!«

Man rief zum Essen. Wir hatten eine Menge Vorräte mit: Zwiebel, Knoblauch, Gurken, harte Eier. Jeder nahm ein Ei. Mir hat es schon lange nicht mehr so gut geschmeckt. Die Feierlichkeit des Mittagessens wurde nur durch Peine ein wenig gestört. Er konnte unmöglich die spöttischen Bemerkungen über den Knoblauch, den wir zum Mittag verzehrten, ertragen. Peine richtete sich in seiner ganzen Länge auf und sagte zu dem Herrn mit der blauen Brille:

»Und warum eßt Ihr Schweine?«

Die Christen fühlten sich beleidigt, einer von der Gesellschaft näherte sich Peine und versetzte ihm eine Ohrfeige. Peine wollte sich das nicht gefallen lassen, aber infolge seiner Kurzsichtigkeit schlug er einen anderen wieder. Ein Tumult entstand. Der Schaffner und der Oberschaffner erschienen, und nun begannen die Klagen: Die Christen beklagten sich über die Juden, die Juden über die Christen, diesem hatte man mit dem Koffer einen Fuß zerschunden, jenem hatte man die Mütze zum Fenster hinausgeworfen; die Christen schrien, das sei nicht wahr; die Juden stellten Zeugen, sogar einen Geistlichen hatten sie gefunden. Die Christen schrien, man hätte den Popen bestochen. Dieser fühlte sich beleidigt und fing an zu predigen.

Unterdessen flogen die Stationen vorüber, auf jeder Station stiegen Reisende aus, im Abteil wurde es geräumiger; unsere Frauen saßen nun, wie Damen, auf den Bänken. Elia und Peine triumphierten, sie hatten die besten Plätze erwischt. Teubele bemerkte erst jetzt, daß Peine eine angeschwollene Wange hatte, auf der Fingerspuren sichtbar waren; sie war ganz unglücklich. Peine beruhigte sie, daß es nicht schmerzte, nur ein wenig juckte, aber das würde sehr bald vorübergehen. Er sprach nicht gern von solchen Dingen, außerdem wurde im Abteil eine interessante Unterhaltung geführt. Die Juden fragten einander aus, wo er hinreiste. Viele reisten nach Amerika. Peine freute sich darüber.

»Warum haben Sie es nicht schon früher gesagt?«

Wir wurden schnell bekannt. Wir wußten bereits, nach welcher Stadt jeder fuhr.

»Ihr fahrt nach Neuyork? Wir nach Philadelphia!«

»Was ist Philadelphia?«

»Philadelphia ist ebensolche Stadt wie Neuyork.«

»Noch was!« bemerkte einer, – »da habt ihr einen schönen Vergleich für Neuyork gefunden! Philadelphia ist im Vergleich mit Neuyork wie Eischischek mit Wilna, wie Otwotzk mit Warschau, wie Deraschina mit Odessa, wie Koselez mit Charkow, wie Semenowskoje mit Petersburg.«

»Seht mal an, wie er jagt! Ihr habt wohl die ganze Welt bereist?«

»Wollt Ihr, ich werde Euch alle Städte vorrechnen, in denen ich war.«

»Laßt das für später, sagt lieber, wie benimmt man sich auf der Grenze?«

»Benehmt Euch so wie hier, genau wie die anderen Leute sich benehmen.«

Die Juden rückten zusammen und sprachen von der Grenze und davon, wie man sich über die Grenze schleichen könnte.

Ich verstand nicht, warum schleichen? Waren wir denn Diebe? Wen sollte ich wohl fragen? Die Mutter wußte es nicht, dafür war sie doch eine Frau; der Bruder liebte nicht, wenn man ihm »den Kopf verdrehte«. »Ein Junge«, pflegte er zu sagen, »darf sich nicht in das Gespräch der Erwachsenen mischen.« Alle erzählten von der Grenze. Manche sagten, die Grenze wäre besser in Nowoselze, andere behaupteten, sie wäre besser in Brody. Irgendeiner meinte, Ungeni sei auch keine schlechte Grenze. Man lachte: »Ungeni! Auch eine Grenze! Rumänien – auch ein Land! – Möge es verderben, zusammen mit seiner Grenze! Aber still! wir sind schon an der Grenze!«

*

Ich glaubte, daß die Grenze etwas Furchtbares sei. Es stellte sich aber heraus – alles Unsinn, Dummheiten. Dieselben Häuser, dieselben Juden, dieselben Christen, derselbe Markt mit denselben Läden und Verkaufsstellen, – alles genau wie bei uns. Breche und Teubele sind zum Markt gegangen, um Einkäufe zu machen; ich wollte mitgehen, aber die Mutter ließ es nicht zu, sie fürchtete, daß man mich stehlen könnte. Bruder Elia und Peine verhandelten geschäftig und eifrig mit lauter fremden Juden, die die Mutter Agenten nannte. Diese Agenten sollten uns helfen, die Grenze zu überschreiten. Einer von ihnen in grüner Jacke und mit einem weißen Schirm machte den Eindruck eines Diebes, er hatte richtige Spitzbubenaugen; der andere schien ein solider Mann zu sein; außerdem war noch eine Frau dabei, die sehr fromm und ehrlich zu sein schien, – ohne Gott kam kein Wort aus ihrem Munde, sie trug auch immer eine Haube. Diese Frau fragte meine Mutter, wo wir den Sabbat zu verbringen gedachten. Die Mutter hoffte, am Sonnabend schon dort, im Ausland, zu sein. Die Jüdin machte ein frommes Gesicht und sagte:

»Amen, das gebe Gott!«

Ich fürchte jedoch, daß diese Agenten uns beschwindeln; sie sind die wahren Räuber, sie werden uns das ganze Geld abnehmen und in den Sumpf führen. Wenn ihr die Grenze ruhig überschreiten wollt, setzt euch mit mir in Verbindung, ihr werdet mir ewig dankbar sein ...

Elia und Peine kamen verärgert und zerstreut nach Hause. Elia beklagte sich über Peine, daß wir seinetwegen uns am Sonnabend hier werden herumdrücken müssen. Peine schob alle Schuld auf Elia. Das war noch das wenigste: das Schlimmste war, daß die Agenten drohten, uns anzuzeigen. Die Mutter weinte leise, Elia murrte, weil sie sich die Augen verdarb.

Peine und Elia beendeten ihre Verhandlungen mit den Agenten, sie sagten, alles sei vorbei, wir würden nicht nach Amerika reisen und brauchten nicht erst die Grenze zu überschreiten. Ich war in Verzweiflung.

Aber das war nur ein Manöver, das Peine sich ausgedacht hatte, um die Agenten zu täuschen. Wir begannen, mit der Jüdin zu verhandeln, einigten uns wegen des Preises und machten eine Anzahlung. Die Jüdin hieß uns, um Mitternacht bereit zu sein, – die Nächte seien jetzt finster und böten die geeignetste Zeit zum Überschreiten der Grenze. Ich brannte vor Ungeduld, zu erfahren, was wohl eine Grenze sei, Und wie man sie überschritt.

Den ganzen Tag brachten wir mit dem Gepäck zu; wir mußten das Notwendigste selbst nehmen und das übrige der Jüdin übergeben; sie wollte es später nachsenden. Das schwierigste war, uns hinüberzuschaffen. Sie hieß uns, um Mitternacht zur Vorstadt hinausgehen, dort würden wir einen Hügel sehen, an dem wir vorbei mußten, dann sollten wir nach links einbiegen, bis zum zweiten Hügel gehen, von diesem Hügel rechts einbiegen und bis zum Wirtshaus gehen; das Wirtshaus sollte nur einer von uns betreten, wir würden dort zwei Bauern bei einer Flasche Schnaps sehen, zu diesen sollten wir herangehen und sagen: »Chaime« – das war der Name der Jüdin –, dann würden sich die Bauern erheben und mit uns bis zum Wald gehen; im Wald würden uns noch vier Bauern erwarten, diese würden uns auf den Weg am Berge führen, und dort wären wir schon jenseits der Grenze.

»Wenn ihr im Wald gehen werdet,« schloß die Jüdin, »verhaltet euch möglichst still, räuspert euch nicht, sonst könnten sie es hören und schießen. Auf jedem Schritt steht nämlich ein Soldat mit einer Waffe und schießt.«

Mir gefiel diese Geschichte mit dem Hügel und dem zweiten Hügel, mit dem Wirtshaus und dem Wald ganz vorzüglich. Die Mutter, Broche und Teubele waren etwas ängstlich. Wir lachten: Die Weiber haben sogar vor einer Katze Angst.

Wir konnten die Nacht kaum erwarten. Wir beteten, aßen zu Abend und begaben uns zu Mitternacht alle sechs auf den Weg. Voran gingen wir Männer, hinter uns die Frauen. Alles war genau so, wie die Jüdin geschildert hatte. Wir bemerkten einen Hügel, bogen links ein, beim zweiten Hügel bogen wir rechts ein und erreichten das Wirtshaus. Ins Wirtshaus ging natürlich Peine. Wir anderen warteten eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden – Peine kam nicht wieder. Wir mußten schauen, wo Peine blieb. Meinen Bruder Elia wollte die Mutter nicht fortlassen; ich bot mich an, aber die Mutter hatte Angst. Nach einer Weile erschien Peine.

»Wo bist du so lange geblieben?«

»Im Wirtshaus.«

»Wo sind die Bauern?«

»Sie schlafen.«

»Warum hast du sie nicht geweckt?«

»Wer sagt euch denn, daß ich sie nicht geweckt habe?«

»Warum hast du ihnen nicht ›Chaime‹ gesagt?«

»Wer sagt euch denn, daß ich es nicht gesagt habe?«

»Die Sache geht schlecht!«

»Wer sagt, daß sie gut geht? ...«

*

Bruder Elia schlug vor, zu zweien hineinzugehen und zu versuchen, die Bauern zu wecken. Nach einer halben Stunde kamen sie mit zwei Bauern zurück. Diese waren verschlafen, ein wenig angezecht, spien jeden Augenblick aus und schimpften laut. Der Teufel wurde hundertmal genannt. Die Frauen vergingen vor Angst, man fühlte es aus ihren Seufzern und daraus, wie die Mutter jeden Augenblick leise flüsterte: »Allmächtiger Gott!«; laut zu sprechen wagte sie nicht.

Wir kamen bis zum Wald, aber die übrigen Bauern ließen sich nicht sehen; wir hielten den Atem ein. Plötzlich blieben unsere Führer stehen und fragten, wo unser Geld sei. Wir verstummten vor Angst, endlich ermannte sich die Mutter und sagte, daß wir kein Geld haben. Jene glaubten es nicht; »alle Juden« – meinten sie – »haben Geld.«

»Gebt es uns lieber im Guten, sonst machen wir euch hier nieder.« Sie zogen lange Messer heraus und traten ganz nahe an uns heran. Wir standen bebend da. Die Mutter befahl Elias, seine Tasche aufzuknöpfen und das Geld abzugeben, – alles Geld, das wir für den Verkauf unseres Hauses erhalten hatten. In diesem Augenblick fiel es Broche ein, ohnmächtig zu werden. Die Mutter sah es und schrie auf, Teubele ebenfalls.

»Trach, trach!« tönte es durch den Wald. Die Bauern verschwanden im Nu. Broche kam wieder zur Besinnung. Die Mutter nahm Elia bei einer Hand, mich bei der anderen und sagte:

»Kinder, laßt uns rennen! Gott Israel ist mit uns!«

Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nahm, zu rennen. Wir stolperten oft über einen Baum, fielen, erhoben uns und rannten weiter. Von Zeit zu Zeit drehte sich die Mutter um und fragte leise:

»Peine, läufst du? Broche, läufst du? Teubele, läufst du? Lauft, lauft, der Herr Israels ist mit uns!«

Wie lange wir so liefen, weiß ich nicht. Der Wald lag schon weit hinter uns. Es begann zu dämmern, ein kühler Wind blies, aber uns war heiß. Wir sahen eine Straße vor uns, eine zweite, eine weiße Kirche, eine Menge Häuschen, Gärten, Höfe. Man sah an allem, daß es das Städtchen war, von dem die Jüdin gesprochen hatte. Wenn das stimmte, so hatten wir die Grenze überschritten und brauchten nicht mehr zu rennen. Wir begegneten einem Juden mit so langen Schläfenlocken, wie ich noch nie gesehen hatte, mit einem langschößigen Rock und mit einem Schal um den Hals; der Jude jagte eine Ziege. Wir riefen ihm einen Gruß zu. Der Jude betrachtete uns vom Kopf bis zu den Füßen. Peine begann mit ihm ein Gespräch; der Jude antwortete in einem seltsamen Dialekt, in unserer Sprache, aber mit vielen – »a«. Peine fragte, ob es weit zur Grenze sei.

»Zu welcher Grenze?« entgegnete jener erstaunt.

Es stellte sich heraus, daß wir die Grenze schon längst überschritten hatten.

Warum sind wir denn gerannt wie Verrückte?

Wir hielten uns alle die Seiten vor Lachen, die Frauen lachten so, daß sie beinahe hinfielen. Nur die Mutter lachte nicht, sie hob beide Hände zum Himmel empor.

»Ich danke dir, mein Gott!« flüsterte sie und brach in Tränen aus.

Wir sind schon in Brody!

Wißt Ihr, wo wir uns jetzt befinden? – In Brody. Ich denke mir, daß Amerika schon nahe ist. Brody ist eine hübsche Stadt, mit ganz anderen Straßen und anderen Leuten als bei uns. Sogar die Juden sind hier anders. Sie sind gewissermaßen leichter als Juden zu erkennen, als bei uns: ihre Seitenlocken sind länger, die Röcke reichen fast bis an die Erde und sind säuberlich, ihre Mützen fallen durch eine sorgfältige Form auf; sie tragen Strümpfe und Schuhe, die Frauen haben alle Perücken, aber ... ihre Sprache! Mein Gott, was ist das für eine Sprache! Dieselben Worte, scheinbar, wie bei uns, aber mit lauter »a«, dem Deutschen eher ähnlich; außerdem sprechen sie nicht, sondern sie singen. Doch wir haben uns schnell daran gewöhnt. Zuallererst Peine. Gleich nachdem wir die Grenze überschritten hatten, fing er an, »deutsch« zu sprechen; er hatte bereits zu Hause deutsch gelernt.

»In der Fremde muß man die Sprache der Bevölkerung kennen«, sagte Peine. Seine Frau, Teubele, spricht halb deutsch, halb jiddisch; Broche möchte auch gern deutsch sprechen, aber ihre Zunge bewegt sich nicht, sie ist zu schwerfällig. Die Mutter will von dem deutschen Gerede nicht einmal hören; sie habe es nicht nötig, sagt sie, sich wegen jener Deutschen die Zunge zu zerbrechen. Die Mutter ist überhaupt mit den Deutschen unzufrieden; sie glaubte, die Deutschen wären ehrliche Leute, indessen hat es sich herausgestellt, daß sie Betrüger und Schlauberger sind. Am Freitag war sie zum Markt gegangen, da hatte man sie im Gewicht betrogen, anstatt eines Pfunds hatten sie ihr Gott weiß wie viel gegeben! ...

Broche unterbricht sie, fuchtelt mit den Händen und schreit:

»Betrüger, sagt Ihr? Gewöhnliche Spitzbuben, lauter Spitzbuben! Man muß sich vor ihnen in acht nehmen, mehr als bei uns. Bei uns wissen wenigstens alle, wer ein Spitzbube ist.«

»Bei uns, Närrchen, weiß der Spitzbube allein, daß er ein Spitzbube ist,« sagt die Mutter und erzählt von Fimka. Zu Lebzeiten des Vaters diente bei uns ein Mädchen Namens Fimka. Ein prächtiges Mädchen, nur hatte sie die Gewohnheit, zu stehlen. Wenn alle von Hause fortgehen wollten, mochte Fimka um keinen Preis allein bleiben, sie fürchtete für sich, daß sie eine Sünde begehen könnte.

Die Deutschen haben sogar anderes Geld. Hier kennt man weder Kopeken, sei es 5- oder 10-Kopekenstücke, noch halbe Rubel, – alles wird für Kreuzer verkauft. Für unseren Rubel bekommt man einen Haufen Kreuzer. Die Mutter sagt, daß die Kreuzer gar kein Geld sind, sondern eine Art Knöpfe; Elia meint, daß sie wie Schnee schmelzen. Jeden Tag verkriecht er sich in einen Winkel, trennt seine Tasche auf, nimmt einen Rubel heraus und näht die Tasche wieder zu.

Ein Tag nach dem anderen vergeht, aber unsere Sachen sind immer noch nicht da. Die Jüdin scheint uns gehörig hochgenommen zu haben; wir werden womöglich ohne Sachen bleiben. Die Mutter hört nicht auf, die Kissen zu beweinen:

»Wie sollen wir ohne Kissen nach Amerika kommen? ...«

Peine ersinnt immer neue Pläne: Bald will er zur Direktion gehen und es ›melden‹, bald ein Gesuch an den Chef der Grenze, einreichen, bald jene Jüdin aufsuchen und ihr den Kopf zurechtsetzen ... Aber das sind nur Redensarten, das ›Melden‹ und die ›Gesuche‹ werden nichts ändern, und zur Jüdin wird Teubele ihn nicht gehen lassen. Sie sagt, daß sie noch nicht vergessen hat, wie wir über die Grenze gekommen sind. Wir denken alle noch daran. Wir erzählen allen Bekannten und Unbekannten, wie wir über die Grenze kamen, wie man uns erschlagen wollte, daß Broche zum Glück die Gewohnheit hatte, in Ohnmacht zu fallen, und wir dadurch gerettet wurden. Die Mutter fängt gewöhnlich an zu erzählen, aber Elia läßt sie nicht zu Ende sprechen und beginnt dasselbe, nur mit etwas anderen Worten, zu schildern; Broche hält es nicht aus, unterbricht Elia und erzählt wieder von Anfang, aber nach ihrer Art; Teubele fährt dazwischen und schreit, daß Broche wegen ihrer Ohnmacht sich nicht an alles erinnert und beginnt den Bericht von unserem Abenteuer noch einmal; da erklärt Peine, daß die Frauen überhaupt alles vergessen haben, und er allein nur sinngemäß erzählen könne. Das wiederholt sich mehrere Male am Tage. Die Zuhörer nicken mit dem Kopf, schnalzen mit den Lippen und sagen, daß wir uns glücklich schätzen und Gott preisen müssen.

*

Wir leben im Ausland besser als zu Hause; wir tun nichts, verbringen die Zeit in irgendeinem Gasthaus oder auf den Straßen und besichtigen die Stadt. Nur Broche gefällt Brody nicht, sie findet in der Stadt lauter neue Mängel, bald sagt sie, es sei schmutzig, bald – es rieche schlimmer als bei uns.

Einmal erwachte Broche in der Nacht und schrie, daß man sie überfallen habe. Wir sprangen alle aus den Betten.

»Räuber?«

»Was für Räuber? – Wanzen ...«

Am nächsten Morgen erzählten wir dem Gasthausbesitzer davon, aber dieser wehrte mit den Händen und Füßen ab: Bei den Deutschen gebe es keine Wanzen, wir haben sie wahrscheinlich aus Rußland mitgebracht. Broche geriet in Wut; sie haßte diesen jüdischen Deutschen.

Mir gefällt er sehr gut, er lächelt beim Sprechen immer und verzerrt dabei seinen Mund sehr drollig, gibt gern Ratschläge, wo und bei wem man einkaufen soll und geht sogar bei jeder Kleinigkeit mit ... Am häufigsten kaufen wir Kleider. Unser Freund Peine sagt, wir gingen schon zerlumpt, man müsse sich anständig kleiden, besonders hier im Auslande, wo man bekanntlich alles fast umsonst bekommt.

Peine kaufte sich zuallererst eine neue Mütze, dann einen Rock bis zu den Knien und ein neues Halstuch. Peine in seinem deutschen Anzug anzuschauen und nicht zu lachen, ist sehr schwer! Er war auch früher kein schöner Mann. Die Nase allein genügte schon! Jetzt sieht er, wie Broche sagt, wie ein richtiger Narr aus. Elia findet, daß Peine einem armen Ungarn oder einem Leierkastenmann ähnlich sieht. Peine behauptet, daß die Ungarn und die Leierkastenmänner anständiger sind als Hungerleider. Unter diesen letzteren versteht er uns.

»Es ist kein Kunststück, sich wie ein Deutscher zu kleiden,« entgegnet Elia, »aber es hat keinen Sinn, das Geld zu verschwenden, es ist besser, es für Amerika aufzusparen.«

»In Amerika brauchen wir kein Geld, dort sind wir selbst – Geld,« erwidert Peine.

Er redete so lange auf uns ein, bis Elia nachgab und sich ebenfalls eine neue Mütze und einen neuen Rock kaufte. Wir gehen jetzt zu dreien durch die Straßen und sprechen deutsch. Ich bin überzeugt, daß man uns für Deutsche von reinem Blut halten würde, wenn nicht unsere Damen, die uns stets folgen und keinen Schritt von uns weichen. Die Mutter hat Angst, daß wir uns unter den Deutschen verirren könnten, Broche und Teubele gehen uns nach, weil sie nichts Besseres zu tun haben; sie sind bescheiden und tun immer dasselbe wie die anderen. Wir ziehen also stets in einer großen Schar, alle Leute sehen sich nach uns um und lachen. Was ist an uns zu sehen?

»Die dümmsten Leute in der Welt sind die Deutschen,« sagt Elia, »was man ihnen auch sagen mag, – sie glauben alles aufs Wort!«

»Sei nur still, wenn es sich um Geld handelt, sind sie nicht so leichtgläubig. Geld geht bei ihnen über alles. Der Kreuzer ist ihnen so teuer, wie ihre Seele, für eine Krone verkaufen sie ihren eigenen Vater und für einen Gulden den Herrgott selbst,« erwidert Broche.

Teubele stimmt ihr sofort zu. Die Deutschen haben bei unseren Damen kein Glück! Mir gefallen die Deutschen sehr gut; wenn wir nicht nach Amerika reisen würden, wäre ich gern hier geblieben. Wo gibt es solche Häuser wie hier? Und die Menschen! So prächtige, gute Menschen, nichts behalten sie zurück, alles verkaufen sie ... Selbst die Kühe sind hier anders als bei uns; sie haben vielleicht nicht mehr Verstand, aber sie schauen so seltsam wichtig drein. Hier ist alles anständig. Unsere Frauen sind jedoch anderer Meinung. Bei uns sei es besser, – sagen sie – hier gefällt ihnen nichts, weder die Stadt, noch das Gasthaus, noch der Gasthofbesitzer, dieser letztere am allerwenigsten.

Broche behauptet, daß der Besitzer uns das Fell abziehen wird; nicht ein Krümchen Salz gibt er ohne Geld, selbst für ein Glas heißes Wasser läßt er sich bezahlen. Wenn wir hier nicht rechtzeitig abfahren, wird er uns das ganze Geld bis auf den letzten Heller abzapfen. Aber was Broche nicht alles redet! Sie behauptet zum Beispiel, daß Elia ein altes Weib ist, daß Peine ein Aufschneider und Müßiggänger ist, daß, wenn sie an Teubeles Stelle wäre, sie ihn mit eisernen Zangen festhalten würde. Teubele ist nach Aussage der Mutter ein Täubchen, ein Mensch ohne Galle, deshalb schweigt sie. Alle ziehen es vor, mit Broche nicht in Streit zu geraten, – ich ebenfalls. Mich kann Broche überhaupt nicht ausstehen, sie nennt mich immer »Schwänzchen« oder »Fratze«. Ich soll während der Reise fett geworden sein und mir ein Doppelkinn angemästet haben. Ich bin nicht sehr betrübt, aber meine Mutter fühlt sich in meinem Namen verletzt und weint.

*

Eine Neuigkeit. Wir haben Nachricht über unsere Sachen bekommen. Die Jüdin, die uns über die Grenze gebracht hat, wurde ins Gefängnis gesperrt. Peine ist höchst zufrieden.

›Das geschieht ihr ganz recht ...‹

Jetzt wissen wir ganz sicher, daß wir unsere Sachen nicht bekommen, wir können also weiter reisen. Elia ist verstimmt, doch die Mutter beruhigt ihn.

»Was hätten wir getan. Dummchen, wenn man uns damals das Geld abgenommen und noch obendrein totgeschlagen hätte?« sagt sie.

Peine ist mit ihr einverstanden.

»Was immer auch geschehen mag,« meint er, »der Jude muß sich immer sagen: Es ist zum Besten«.

Broche lächelt und sagt, sie habe Elia nicht umsonst ein altes Weib genannt ...

Wir treffen Vorbereitungen zur Abreise und erkundigen uns, wie man am besten nach Amerika fährt. Manche raten, über Paris zu reisen, andere – über London, noch andere – über Antwerpen. Wir sind ganz verwirrt. Vor Paris hat die Mutter Angst; dort soll es zu geräuschvoll sein. Antwerpen gefällt Broche nicht, der Name sagt ihr nicht zu, sie hat ihn noch nie zuvor gehört. Unsere Wahl fiel deshalb auf London. Peine hatte in einem Geographiebuch gelesen, daß London eine mächtig große Stadt sei.

»Es ist auch bekannt,« sagt Peine, »daß London wegen seiner großen Männer berühmt ist, dort hat Moses Montefiore, Buckle, Disraeli gelebt; dort lebt auch Rotschild.«

»Rotschild lebt ständig in Paris!« entgegnete Elia.

In unserer Gesellschaft ist es Sitte, daß, wenn einer irgend etwas sagt, der andere sofort das Gegenteil behauptet. Sie zanken sich niemals, aber sie streiten sich zuweilen. Neulich begannen sie darüber zu streiten, wie das jüdische Wort ›Morau‹ auf deutsch heißen mag. Der eine sagte, es heißt ›Chran‹, der andere meinte – ›Chrön‹; – sie stritten zwei Stunden herum, bis sie beschlossen, eine Stange Meerrettich zu kaufen und den Kaufmann zu fragen, wie das auf deutsch hieße; der Kaufmann sagte, es heißt ›Meerrettich‹. Welch ein dummes Wort! Aber was ist da lange zu streiten! Die Deutschen können nicht einmal ein so einfaches Wort, wie ›Zeiger‹ und sagen dafür ›Uhr‹.

*

Ich habe mich bei den Deutschen aufgehalten und dabei ganz außer acht gelassen, daß wir nach Amerika reisen. Eigentlich führt unser Weg vorläufig nicht nach Amerika, auch nicht einmal nach London, sondern nach Lemberg. In Lemberg soll es ein Komitee für Auswanderer geben; vielleicht wird das Komitee uns irgendwie behilflich sein; wir sind doch nicht besser daran als andere Auswanderer, namentlich jetzt, da wir ohne Sachen geblieben sind. Die Mutter beginnt schon, sich darauf vorzubereiten, wie sie dort wird sprechen und weinen müssen. Bruder Elia fleht sie an:

»Nur nicht weinen! Denk an die Augen! Ohne Augen werden wir Amerika nicht zu sehen bekommen!«

Elia begab sich zum Wirt wegen der Rechnung. Nach einigen Minuten kamen sie zusammen zurück. Elia leichenblaß. Es sei ihm von der Rechnung schwarz vor den Augen geworden, sagte er. Alles hat der Wirt angerechnet: für die Leuchter, die wir am Freitag für die Sabbatkerzen genommen haben, hat er in der Rechnung sechs Kreuzer angeschrieben, für das Zuhören des von ihm verrichteten Segensspruchs ›Hawdole‹ berechnet er vier Kreuzer.

»Warum vier und nicht fünf?«

»Wollt ihr fünf? – Meinetwegen ...«

Dann berechnet er eine ›Besorgung‹. Das schreit zum Himmel! Er meint nämlich, für die Mühe, daß er mitgegangen ist, die Kleidungsstücke einzukaufen ...

Als Broche das hörte, klatschte sie in die Hände und begann mit gellender Stimme zu schreien.

»Schwiegermutter, hört Ihr? Habe ich nicht gesagt, daß diese Deutschen schlimmer sind als Waldräuber? Die russischen ›Chuligan‹ sind ja dagegen die reinen Tugendbolde! Wir sind hier nicht in Brody, wir sind in Sodom! ...«

Der Vergleich mit den Chuligans verletzte den Wirt anscheinend nicht so sehr wie der Vergleich der Stadt Brody mit Sodom. Er geriet in Wut und begann zu schreien, daß wir die Pogroms verdienten, die die russischen Chuligans veranstalteten. Wäre er der Zar von Rußland, so würde er uns alle, bis auf den letzten, abschlachten lassen!

Peine ist, wie ihr wißt, ein jähzorniger Mensch; er ist wohl imstande, lange zu schweigen, aber wenn er einmal aufflammt, dann genügt kein Wasser, um ihn zu beruhigen. Jetzt erhob er sich, richtete sich hoch auf, trat an den Gasthausbesitzer heran und schrie ihm ins Gesicht:

»Ach, du Deutscher! Der Teufel soll deinen Großvater holen!«

Für das Wort ›Deutscher‹ mußte Peine schwer büßen. Zwei schallende Ohrfeigen ertönten im Zimmer, Funken sprühten in den Augen. Aber es war famos! Die ganze Stadt lief zusammen, Tumult, Geschrei, Gelächter. Ich bin glücklich, wenn es lustig hergeht.

Am selben Tage flüchteten wir aus Brody.

Krakau und Lemberg.

Lemberg ist mit Brody überhaupt nicht zu vergleichen. Es ist eine saubere, ausgedehnte, schöne Stadt und so riesengroß, daß man sie mit dem Auge nicht umfassen kann. Zwar gibt es auch in Lemberg Straßen, die man mitten im Sommer nur in Gummischuhen und mit zusammengekniffenen Nasenlöchern überschreiten kann; aber dafür gibt es in Lemberg einen Garten, einen ganzen Wald, in dem alle Leute, ja sogar die Ziegen, spazierengehen dürfen. Und welche Freiheit hier herrscht! Am Sonnabend wandeln die Juden in ihren großen Pelzmützen und lassen keinen Menschen an sich heran. Die Mutter sagt, Lemberg und Brody ist wie Tag und Nacht. Elia bedauert, daß Brody der Grenze näher gelegen ist, als Lemberg. Peine erklärt ihm, daß Lemberg gerade deswegen Brody vorzuziehen sei, weil es weiter von der Grenze und näher zu Amerika gelegen ist.

»Auch gesagt! Wo ist Lemberg Und wo ist Amerika?« entgegnete der Bruder.

»Über Städte sollst du nicht mit mir streiten, ich habe Geographie studiert.«

»Wenn du Geographie studiert hast, so sage, wo sich das Komitee befindet.«

»Was für ein Komitee?«

»Das Komitee für Auswanderer!«

»Was hat das Komitee mit Geographie zu tun?«

»Wer Geographie kennt, muß alles wissen!« sagt Elia.

Wir versuchten von den Leuten, denen wir begegnen, etwas von dem Komitee zu erfahren. Niemand weiß Bescheid!

»Sie wissen schon, aber sie wollen es nicht sagen!« erklärt Broche. Nichts gefällt ihr. Auch an Lemberg hat sie etwas auszusetzen: Die Straßen sind zu breit. Auch ein Vorwurf! Genau, als wenn man sagen wollte, daß eine Braut zu schön sei. Teubele ist aus einem anderen Grund gegen Lemberg eingenommen. Wann wird bei uns von Krakau und Lemberg gesprochen? Wenn man etwas sehr Saures ißt, sagt man: »Man kann bis Krakau und Lemberg sehen!« – und wenn jemand tüchtig verprügelt wird, heißt es: »Er hat beinahe Krakau und Lemberg zu sehen bekommen!«

Die Weiber sind anscheinend so geartet, daß ihnen selten etwas gefällt.

*

Endlich haben wir das Komitee gefunden, ein hohes Haus mit rotem Dach. Wir mußten lange draußen stehen; dann öffnete sich die Tür, wir stiegen die Treppe hinauf und traten in ein geräumiges Zimmer. Außer uns befanden sich darin viele anderer Auswanderer, Mehr Frauen als Männer, – die meisten aus Rußland. Viele verhungert aussehende Frauen trugen einen Säugling auf dem Arm. Die anderen, ohne Säuglinge, waren auch hungrig. Sie kommen täglich hierher. Unsere Mutter hat mit einer Menge Frauen Bekanntschaft geschlossen. Jede klagt ihr Leid. Viele haben einen Pogrom erlebt und erzählen allerhand Greuel. Alle reisen nach Amerika, und kein Mensch hat Reisegeld; manche reisen in die Heimat zurück. Hier wird einigen Leuten Arbeit verschafft, andere werden nach Krakau geschickt, wo das Hauptkomitee sein soll.

»Und was ist hier?« –

Die Frauen wissen es nicht. – Man läßt sie morgen wiederkommen, wenn sie kommen, heißt es: Übermorgen usw.

»Wenn ich mein Unglück mit ihrem Mißgeschick vergleiche,« sagt die Mutter, »dann sehe ich, daß ich ein Glücksmensch bin.«

»Wo ist aber das Komitee?«

»Hier!«

»Wer ist im Komitee?«

Das wissen sie nicht. Ein großer Herr mit pockennarbigem Gesicht und guten, lachenden Augen, tritt ein.

Es ist einer aus dem Komitee, der Doktor.

Der Doktor mit den guten Augen setzt sich. Alle anderen Emigranten gehen zu ihm heran und sprechen mit ihm. Der Doktor hört sie an und sagt, daß er hier allein sei und ihnen nicht helfen könne; zum Komitee gehören zwar dreiunddreißig Leute, aber kein Mensch zeige sich, und er allein sei nicht imstande, irgend etwas zu tun.

Doch die Auswanderer wollen nichts davon hören. Sie können nicht länger warten, sie haben alles verzehrt, was sie hatten. Sie bitten, man möge ihnen Fahrkarten nach Amerika geben oder sie wieder in die Heimat schicken. Der Doktor antwortet, daß er sie nur nach Krakau schicken könne, vielleicht wird ihnen das andere Komitee helfen. Die Auswanderer beklagen sich, daß sie kein Geld zum Leben haben. Der Doktor nimmt sein Portemonnaie heraus und gibt einem ein Geldstück. Der Betreffende betrachtet es von allen Seiten und entfernt sich. Andere erscheinen.

»Was wünscht Ihr?« fragt der Doktor.

»Wir wollen essen!«

»Soeben wurde mir das Frühstück gebracht!« sagt der gute Doktor und zeigt auf den Kaffee und die Weißbrötchen. »Ich meine es im Ernst,« fügt er hinzu, »etwas anderes kann ich für Euch nicht tun!«

Die Auswanderer danken. – »Wir bitten nicht für uns, sondern für unsere armen Kinderchen.«

»So führt nur die Kinder her,« sagt der Doktor und blinzelt uns zu.

*

Die Mutter näherte sich dem Arzt und begann, von ihrem Leben zu erzählen.

»Ich hatte einen Mann, er war Kantor, kränkelte und kränkelte, dann starb er und hinterließ mich als Witwe mit Waisenkindern: einem älteren Sohn und einem noch ganz kleinen Vögelchen, – das war ich, das Vögelchen! – Den älteren habe ich verheiratet, ich dachte, es wäre eine Goldgrube, doch das Gold ist ausgeflossen, und die Grube ist geblieben; der Schwiegervater hat Bankrott gemacht, und mein Sohn muß sich zu Militär stellen.«

»Mutter, was faselst du!« unterbrach sie plötzlich Elia und begann dasselbe mit etwas anderen Worten zu erzählen.

»Die Militärgestellung hat nichts zu sagen. Wir reisen nach Amerika, weil wir alles verloren haben. Ich reise mit meiner Mutter, meiner Frau, meinem Brüderchen, und meinem Freund und seiner Frau. Wir mußten also die Grenze überschreiten, aber wir haben keine Pässe, weil das zu kostspielig ist ...«

»Laß mich jetzt reden!« unterbrach ihn Peine, stieß ihn zurück und begann selber zu erzählen. Obgleich Elia mein Bruder ist, muß ich dennoch gestehen, daß Peine bedeutend schöner spricht. Was für wundervolle Worte in seiner Rede vorkommen! Manchmal verstehe ich sie gar nicht. Hört selbst an:

»Ich will Ihnen einen kurzen Überblick der ganzen Lage schildern, dann werden Sie einen Gesichtspunkt haben. Wir reisen nach Amerika, weniger wegen der Militärgestellung, als um der Selbständigkeit und der Zivilisation willen. Denn wir sind dort nicht nur am Fortschritt beteiligt, sondern wir können auch frei schalten und walten, wie Turgenew sagt. Zweitens, seitdem bei uns die jüdische Frage mit Pogroms, die Konstitution und dergleichen entstanden ist, wie Buckle in seiner Geschichte der Zivilisation sagt ...«

Wie schade! Kaum waren die ›gebildeten‹ Worte gefallen, kaum war Peine richtig in Schwung gekommen, als Elia wieder vortrat und zu Peine sagte:

»Du hast die Gewohnheit, nicht zur Sache zu reden!«

Peine fühlte sich beleidigt, entfernte sich vom Tisch, wobei er stolperte und murmelte: »Sprichst du besser? So rede du!«

Elia begann seine Erzählung.

*

»Wir waren also an der Grenze angekommen. Kaum angelangt, begannen wir mit den Agenten zu feilschen. Die Agenten sind, wie ihr wißt, Betrüger, sie fingen also einen wahren Wettstreit um uns an, drängten sich heran, verklatschten einander, intrigierten und zeigten einander an. Endlich fand sich eine Frau, die einen sehr anständigen Eindruck machte, eine Jüdin, mit der wir, schließlich einig wurden, und die uns über die Grenze bringen sollte. Zuerst uns, dann unsere Sachen. Sie gab uns zwei Bauern, das heißt, Führer mit ...«

»Wie eilig er es hat, er erzählt schon von den Bauern!« rief Broche, stieß den Bruder fort und begann ausführlich zu erzählen, wie wir den Hügel hinunter gingen, ins Wirtshaus einkehrten, wie wir dort das Wort ›Chaime‹ sagen mußten, wie uns die Bauern in den Wald führen sollten usw.

»Ein Glück, daß ich die Gewohnheit habe, in Ohnmacht zu fallen,« fuhr Broche fort, aber der Doktor unterbrach sie:

»Wißt Ihr, was ich Euch sagen werde, liebe Frau, damit ich nicht in Ohnmacht falle, sagt schnell, um was es sich handelt, was Ihr wünscht!«

Da trat die Mutter vor, und es entspann sich zwischen ihr und dem Doktor folgendes Gespräch:

Die Mutter: »Kurz sagen? Alle Sachen wurden uns gestohlen?«

Der Doktor: »Was für Sachen?«

Die Mutter: »Zwei Federbetten und vier große Kissen, und noch zwei große Kissen, und drei kleine, die ich zusammengeschüttet habe ...«

Der Doktor: »Das ist alles?«

Die Mutter: »Und drei Laken, zwei alte, ein neues, und mehrere Kleider, und ...«

Der Doktor: »Ich frage nicht danach. Ist Euch sonst nichts passiert?«

Die Mutter: »Ist das Unglück noch nicht groß genug?«

Der Doktor: »Habt Ihr Eure Fahrkarten und das Geld?«

Die Mutter: »Gott sei Dank, unsere Schiffskarten haben wir, für die Fahrkarten wird es auch ausreichen.«

Der Doktor: »Da seid Ihr ja Glückspilze! Ich beneide Euch, ohne Scherz. Ich will Euch gern mein Frühstück, das Komitee, alle meine Auswanderer überlassen, gebt mir nur eine Schiffskarte und eine Fahrkarte, und ich reiße sofort nach Amerika aus. Was kann ich hier allein, ganz allein mit so vielen armen Menschen anfangen!«

›Dieser Doktor ist ein sonderbarer Kauz!‹ beschlossen wir. Wir waren der Meinung, daß es keinen Sinn hatte, länger hier zu bleiben, wir verloren nur unsere Zeit. Es war besser, nach Krakau zu reisen. Dorthin gingen viele Auswanderer ... Waren wir denn schlechter als die anderen? Waren wir denn keine Auswanderer? ...

Lebt wohl! Wir reisen nach Krakau.

Wien – das ist eine Stadt!

»Wien verdient, eine Stadt genannt zu werden!« sagte Elia.

»Und noch dazu was für eine Stadt! Eine Residenz!« bestätigte Peine.

Sogar die Frauen, denen nichts in der Welt gefiel, behaupteten, daß Wien – eine Stadt ist. Wien zu Liebe nahm die Mutter ihr seidenes Tuch um, und Broche zog sich wie zum Feiertag an. In ihrer schwarzen Perücke, mit den langen, baumelnden Ohrringen und dem roten Gesicht mit Sommersprossen sah sie aus wie eine rote Katze in einem schwarzen Schleier. Ich habe einmal eine solche Katze, gesehen. Die Kinder unserer Nachbarin Pesja haben ihre Katze ›Feige-Lea die Bettlerin‹ mit einem Käppchen ausgeputzt, das sie mit Bändern zubanden; an den Schwanz knüpften sie ihr eine Gänsefeder und ließen sie so laufen. Das Käppchen, das für die Katze zu groß war, verdeckte ihre Augen; die Katze erschrak und sprang wie toll herum und zerbrach bei allen Nachbarn das Geschirr. Die Kinder wurden dafür von Mojsche tüchtig verprügelt, besonders der älteste ›Waschdich‹. Ein drolliger Bursche ist dieser ›Waschdich‹. Soviel man ihn auch schlagen mag, es gleitet von ihm ab, wie Wasser von einer Gans. Mir ist nach ihm bange. Aber ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen. Wir bekamen einen Brief, daß Mojsche und Pesja mit ihrer ganzen Familie nach Amerika gereist sind. Zuerst haben sie sich über uns gewundert, daß wir eine so weite Reise unternehmen. Jetzt haben sie auch Lust bekommen. Der Brezelbäcker Jojne mit seiner Familie reist auch nach Amerika, er ist schon an der Grenze. Aber sie reisen über eine andere Grenze, wo die Sachen nicht gestohlen werden. Die Auswanderer sagen, daß es solche Grenzen gibt, wo die Agenten die Reisenden nackt ausziehen, aber getötet wird niemand. Das ist wahr, uns haben sie ja auch nicht getötet, sie haben es nur versucht. Wir fangen an, diese Geschichte zu vergessen; was ist es auch für ein Vergnügen, daran zu denken! Unsere Frauen erzählen zwar auch jetzt noch gern von unseren Erlebnissen an der Grenze, aber die Männer, Elia und Peine, lassen sie nicht reden und behaupten, daß sie es besser erzählen. Peine nimmt sich vor, in den Zeitungen darüber zu schreiben. Den Anfang hat er schon fertig, er sagt, daß es ein ausgezeichnetes Gedicht ist. (Er ist ein Meister im Reimen und schreibt alles in Versen).

Über Brody, Lemberg und Krakau ist das Gedicht schon fertig. Peine hat sogar seine eigene Frau im Gedicht geschildert. Nachdem er ihre Schönheit, ihre Güte und ihre übrigen guten Eigenschaften besungen hatte, wies er auf einen groben Fehler hin: Sie wollte nicht von ihm gehen. Teubele war über den Schluß dieses Gedichts beleidigt, Broche nahm sich ihrer an, die Mutter ebenfalls. Den Frauen gefallen Peines Gedichte überhaupt nicht. Elia sagt wiederum, daß er Peine beneide; in Amerika gebe es viele Zeitungen und Zeitschriften, Peine werde mit seinen Gedichten Gold verdienen. Peine sagt, er wisse selbst, daß es für Amerika und Amerika für ihn geschaffen sei. Er könne die Zeit gar nicht erwarten, bis wir endlich das Schiff besteigen und über das Meer fahren.

Vorläufig spazieren wir noch auf dem Lande, in der Stadt Wien.

*

Was wir in Wien machen? Nichts, – wir spazieren in den Straßen. Die Straßen, die Häuser, die Fenster – alles glänzt wie Spiegel! Und was für Sachen, Kleider, Spielzeug, Galanteriewaren dort ausgestellt sind! Fast vor jedem Fenster bleiben wir stehen und schätzen den Wert der Ausstellung. Unsere Frauen möchten wenigstens die Hälfte davon haben, was die Häuser, die Läden und die Waren der Stadt Wien wert sind. Peine lacht.

»Der zehnte Teil würde für euch auch ausreichen!«

»Gönnst du es ihnen nicht? Laß es die Hälfte sein!« meint Elia, an seinem Bärtchen zupfend.

In letzter Zeit ist sein Bart furchtbar gewachsen. Ich hätte nicht übel Lust, ihn auf einem Blatt Papier zu zeichnen, Peine habe ich auch mit Bleistift gezeichnet, und Broche – mit Kreide auf den Tisch. Aber für das letztere habe ich büßen müssen: Broche sah sich auf dem Tisch, wie in einem Spiegel, und sagte es dem Bruder. Gott sei Dank, daß die Mutter sich meiner annahm, sonst hätte er mich totgeschlagen.

Elia will nicht, daß ich ›male‹. Aber ich hatte schon von Kindheit an die Leidenschaft zu zeichnen. Zu Hause zeichnete ich mit Kohle auf der Wand und wurde dafür geschlagen; später zeichnete ich mit Kreide auf der Wand und wurde wieder geschlagen; jetzt zeichne ich mit Bleistift auf Papier und werde immer noch geschlagen ...

Noch mehr werde ich für das Kneten geschlagen. Ich knete gern aus weichem Brot kleine Figuren, am liebsten Ferkelchen. Sobald Elia es bemerkt, schlägt er mich auf die Hände, daß es arg weh tut.

Peine versuchte, sich meiner anzunehmen:

»Was wollt ihr von dem Kind? – Mag er doch zeichnen und kneten, vielleicht ist es ihm beschieden, einst ein Künstler zu werden.«

Aber Elia will nichts davon hören.

»Was? Künstler, Zeichner, Maler, soll er werden? Kirchen soll er bemalen. Wände anstreichen, Dächer anmalen? Ewig mit schmutzigen Händen herumlaufen, wie ein Teerkocher? Mag er lieber Sänger beim Kantor werden, er hat doch eine gute Sopranstimme. Sobald wir nach Amerika kommen, gebe ich ihn zum Kantor.«

»Warum nicht zu einem Handwerker? In Amerika arbeiten alle Menschen,« entgegnete Peine.

»Was? Einen Handwerker aus ihm machen?« rief die Mutter, in deren Stimme man bereits die Tränen fühlte: »Meine Feinde werden es nicht erleben, daß ich meinen Sohn Handwerker werden lasse! ...«

Peine versuchte, sich zu rechtfertigen:

»Wie sonderbar Ihr seid! Im Talmud ist gesagt, daß alle unsere großen Gelehrten Arbeiter waren: Der Rabbi Isak war Schmied, der Rabbi Johanaan – Schuster, mein Vater ist ja auch Handwerker, – Mechaniker, – mein Großvater – Uhrmacher.«

Peine glaubte, sich zu rechtfertigen, aber in der Tat reizte er sie nur noch mehr. Die Mutter weinte und klagte:

»Hat es sich wahrhaftig für meinen Mann gelohnt, Kantor, zu sein, sich so viele Jahre zu quälen, jung aus der Welt zu scheiden, damit sein Junge Handwerker, Schneider oder Schuster werde, und noch dazu in Amerika ...«

»Nun? Weinst du schon wieder? Hast du vergessen, daß man in Amerika Augen braucht?« schrie der Bruder, und die Mutter hörte sofort auf zu weinen.

*

Gleichviel, was man in Amerika werden soll, wenn man nur erst da wäre! Es zieht mich furchtbar dorthin! Ich habe für mich beschlossen, in Amerika drei Dinge zu erlernen: Schwimmen, Schreiben und Zigarren rauchen. Ich kann das alles auch jetzt schon, aber nicht so, wie man es in Amerika verstehen muß ... Ich wäre auch zu Hause ein geschickter Schwimmer geworden, aber ich hatte nirgends zu schwimmen; in unserem kleinen Fluß geht es einem so: Wenn man sich mit dem Bauch nach unten legt, dann stecken die Beine aus dem Wasser heraus. In Amerika, sagt man, gibt es ein Meer; wenn man dort mit Schwimmhosen losschwimmt, dann muß man aufpassen und sich festhalten, sonst wird man fortgeschwemmt ... Auch schreiben kann ich, ich habe die gedruckten Buchstaben ganz allein gelernt; ich schreibe so, daß man sie von den wirklichen nicht unterscheiden kann, aber das ist eine mühsame Arbeit! In Amerika muß man schnell schreiben!

Die Emigranten sagen, daß dort alles schnell gemacht wird. Alle Leute sind in Hast und haben nie Zeit. Ich weiß schon jetzt fast alles, wie es in Amerika zugeht. Ich weiß zum Beispiel, daß man unter der Erde fährt, daß alle Leute sich quälen und sich eine Existenz schaffen. Ich kann mir vorläufig nicht vorstellen, wie man sich eine Existenz schafft. Aber ich werde es sicher rasch begreifen, ich fasse alles leicht auf. Ich brauche nur ein einziges Mal einen Menschen zu sehen und ich mache sofort alle seine Grimassen nach. Neulich zeigte ich, wie unser Freund Peine beim Gehen tänzelt, mit seinen kurzsichtigen Augen guckt und beim Reden die Worte so schnell durcheinanderwirft, als ob er heiße Suppe hinunterschlucken würde. Broche wälzte sich vor Lachen, und die Mutter lachte, bis ihr die Tränen kamen. Bruder Elia kann das nicht leiden ... Er erlaubt mir nicht, übermütig zu sein.

Sonderbar ist mein Bruder Elia! Er hat mich lieb, und doch schlägt er mich, und zwar mit aller Wucht; die Mutter hält ihn zurück, indem sie sagt:

»Wenn du selbst Kinder haben wirst, kannst du sie schlagen!«

Aber sobald mich ein Fremder anrührt, möchte Elia ihm am liebsten die Augen auskratzen.

Vor einigen Tagen ›ernannte mich ein Junge zum Gouverneur‹.

Der Junge, der mich zum Gouverneur ernannte, ist ein neunjähriger Bursche, kerngesund, mit dicken Backen und ein paar groben Händen. Sie sollen ihm verdorren! Er wollte meine Bekanntschaft machen, trat zu mir heran und fragte:

»Wie heißt du?«

»Mottel!«

»Ich heiße auch Mottel; möchtest du Gouverneur werden?«

»Was heißt denn das?«

»So ungebildet bist du? Möchtest du also?«

»Warum denn nicht?« entgegnete ich.

»So komm näher heran!«

Ich trat näher hin, und er machte mich zum Gouverneur, das heißt, er befeuchtete seinen Damen und versetzte mir einen solchen Stoß unter die Rippen, in den Bauch, daß ich hinstürzte. Die Mutter sah es und erhob ein Geschrei. Elia kam herbeigerannt und verprügelte ihn, daß er sein Lebtag daran denken wird!

Seit jener Zeit bin ich mit Mottel befreundet; Mottel hat mir vieles beigebracht.

Wißt ihr zum Beispiel, was ›Bauchreden‹ heißt? Es jemandem beizubringen, ist unmöglich, man muß angeborenes Talent dazu haben. Man hält den Mund geschlossen und, ohne mit einem Glied zu rühren, ohne mit den Augen zu zucken, bellt man wie ein Hund, kräht wie ein Hahn oder grunzt wie ein Schwein, daß alle Leute zusammenlaufen und nach dem Tier suchen.

Eines Tages brachte ich unseren Leuten einen gehörigen Schreck bei. Ich bellte wie ein Hund. Alle fingen an, unter dem Tisch, unter den Betten zu suchen, ich suchte mit und hörte nicht auf zu bellen.

Es war eine reine Komödie. Wie ihr wißt, hat Broche die Gewohnheit, ihn Ohnmacht zu fallen ... Endlich kam Elia dahinter, daß es nicht mit rechten Dingen zuging, und ich habe meine Strafe abbekommen. Seitdem habe ich das ›Bauchreden‹ aufgegeben.

*

Wir hätten schon längst Wien verlassen, wenn es nicht die Wiener ›Alliance‹ gäbe.

Was das für eine ›Alliance‹ ist, kann ich nicht sagen, ich weiß aber, daß die Auswanderer nicht aufhören, von der ›Alliance‹ zu reden. Alle ärgern sich über sie, behaupten, daß die ›Alliance‹ nichts tut, daß sie nicht einen Tropfen Mitleid mit den Menschen hat, daß sie die Juden nicht leiden kann.

Jeden Tag geht Elia mit Peine zu der ›Alliance‹. Sie kommen schweißbedeckt, wie nach einem Bad, zurück.

»Sie soll verbrennen,« sagt Elia.

»Sie soll in Rauch aufgehen!« fügt Peine hinzu.

»Laßt mich lieber gehen und mich mit der ›Alliance‹ auseinandersetzen,« sagt die Mutter.

Am nächsten Tag begaben wir uns alle zu der ›Alliance‹: Die Mutter, ich, Elia, Peine, Broche und Teubele. Ich stellte mir die ›Alliance‹ als einen Mann mit langem Bart, einer hohen Mütze und roter Nase vor. Weshalb mit roter Nase? – Ich weiß es selber nicht. Nehmt zum Beispiel das Gebet ›Unsano tankef‹. Habe ich es je gesehen? Ich habe es mit dem Vater in der Synagoge am Versöhnungstage hergesagt, und dadurch kommt es mir bekannt vor. Es ist wie ein alter Mann mit strengen großen Augen, mit einer großen Brille und einer Peitsche in der Hand ...

Wir begaben uns also zur ›Alliance‹. Broche verflucht sie; sie sagt, daß wenn die ›Alliance‹ solche Stiche in die rechte Seite bekäme, wie sie, Broche, in der linken Seite hat, dann würde sie um keinen Preis bis ans Ende der Stadt laufen.

Wir schleppten uns kaum zur ›Alliance‹ hin.

Sie wohnt in einem Hause, – Gott gebe, daß wir nicht schlimmer wohnen sollten! Einen Hof sah man kaum. Wien mag keine Höfe. Wien mag nur Riesenfenster und kolossale Türen. Diese Türen sind immer fest verschlossen.

»Sie haben wahrscheinlich Angst, daß man sie fortstehlen könnte,« sagte Broche.

Nun hat sie auch in Wien einen Fehler herausgefunden. Es gefällt ihr nicht, daß man klingeln muß. Mir macht das Klingeln nichts aus, wenn nur geöffnet wird. Aber die ›Alliance‹ beeilte sich nicht mit dem Öffnen. Man konnte klingeln, so lange man wollte, es kümmerte sie sehr wenig. Wir waren hier nicht die einzigen; viele Emigranten warteten, sie wollten alle ›die Alliance‹ sprechen. Die Emigranten sahen zu, wie wir klingelten.

»Klingelt noch einmal, vielleicht wird endlich geöffnet, ihr habt vielleicht mehr Glück als wir,« sagten sie lachend.

Sie sind anscheinend ganz froh. Immer neue Menschen, lauter Auswanderer, kommen herbei. Auf der Straße hat sich bereits eine Menschenmenge angesammelt, darunter junge und alte Leute und Kinder. Ich liebe solche Menschenhaufen. Nur die kleinen Kinder mit ihrem aufdringlichen Geschrei und die fluchenden Frauen stören. Sonst wäre es hier sehr lustig.

Nun endlich! Gott sei Dank, die Tür wurde geöffnet. Alle stürzen auf einmal herbei, so daß Einer leicht zerdrückt werden konnte. Aber in der Tür erschien ein Mann ohne Mütze, mit rotem Gesicht und glattrasierter Schnauze, und stieß alle einzeln, nach der Reihe, hinaus. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm stieß er mit solcher Wucht, daß, wenn ich und Elia nicht in der Nähe gewesen wären, sie ihre Zähne nicht im Mund behalten hätte; auch so purzelte sie dreimal herum. Erst nach langer Zeit wurden wir in das Zimmer hineingelassen.

Erst hier begann der eigentliche Wirrwarr, jeder wollte zuerst sprechen. An den Tischen saßen Männer ohne Mützen und Bärte und rauchten Zigarren. Wer von ihnen die ›Alliance‹ war, weiß ich nicht, die Mutter weiß es auch nicht. Sie trat vor die Männer hin und bat sie: »Bitte, sagt mir, wer von euch die ›Alliance‹ ist! Uns ist ein Unglück passiert, man hat uns alle Sachen gestohlen, unsere ganzen Betten sind an der Grenze geblieben, beinahe hätten sie mich und meine Kinder totgeschlagen. Hier sind sie, meine unglücklichen Waisenkinder. Mein Mann ist jung gestorben, er war Kantor ...«

Weiter ließ man sie nicht sprechen. Einer aus dem Komitee zog sie bei der Hand und zeigte auf die Tür; er sprach eine Sprache, die man schwer verstehen konnte. Die Mutter wollte nicht eher gehen, bis sie etwas erreicht hatte.

»Weshalb redet ihr mit mir deutsch? Redet mit mir in unserer Sprache, dann kann ich wenigstens mein Unglück vor euch ausbreiten ... Sagt mir, wer von euch die ›Alliance‹ ist!«

»Schwiegermutter, hört auf mich, laßt uns von hier gehen! Der Herr Gott hat uns bis jetzt ohne ›Alliance‹ geführt, er wird uns auch in Zukunft nicht verlassen. Gott ist unser Vater ...« sagte Broche zur Mutter. Und die Mutter antwortete ihr:

»Du hast recht, mein Kind, Wien ist 'ne Stadt, aber Gott – ist ein Vater ...«

Die Wunder von Antwerpen.

Habt ihr schon gehört, daß eine Stadt ›Antwerpen‹ heißen soll? Und doch gibt es eine solche Stadt in der weiten Welt, und wir reisen dorthin. Elias Schwiegervater reist über Antwerpen nach Amerika, und Broche drang darauf, daß auch wir dorthin gingen. Früher wollte sie von Antwerpen nicht einmal hören, der Name gefiel ihr nicht, jetzt besteht sie durchaus auf Antwerpen. Unser Freund Peine sagt, daß er gezwungen sein wird, allein zu fahren; er hat beschlossen, unbedingt über London zu reisen. In London rieche es seiner Meinung schon nach Amerika: Da seien dieselben Engländer mit rotem Haar und karierten Beinkleidern, – eine ganz andere Welt!

»Reise gesund zu deinen roten Engländern mit den karierten Beinkleidern, wir reisen nach Antwerpen!« sagte ihm Broche.

Peines Frau war über irgend etwas ärgerlich, sie blähte sich auf wie eine Henne. Sie hat die Gewohnheit, sich bei jeder Gelegenheit aufzublähen und hört dann auf zu sprechen. Peine wollte erfahren, worüber sie ärgerlich war.

»Ich liebe die Engländer nicht,« sagte ihm Teubele.

»Warum liebst du sie nicht, du hast sie doch noch nie gesehen?«

»Hast du sie denn gesehen, diese Engländer?«

Es ist beschlossene Sache, – wir reisen alle zusammen über Antwerpen. Meinetwegen könnten wir über Buxtehude reisen, wenn es nur nach Amerika geht! Ich und Peine sind am ungeduldigsten, nach Amerika zu kommen; wir fühlen, daß es uns in Amerika gut ergehen wird. Peine jammert fortwährend, daß wir reisen und reisen und doch nicht von der Stelle kommen.

»Wer hält dich denn? Fahre doch! Renne! Fliege!« sagte Elia zu ihm.

»Wie kann ich denn fahren, wenn deine Mutter vorher die Bekanntschaft mit sämtlichen Komitees machen will?«

Als die Mutter das hörte, sagte sie:

»Wenn du so klug bist, so sag mir doch, wie wir ohne Kissen nach Amerika reisen sollen? ...«

Hierauf wußte Peine keine Antwort, er schwieg still und gab sich drein ...

Peine konnte sich nicht von uns trennen, auch die Frauen hatten sich aneinander gewöhnt und mochten einander nicht entbehren. Zwar warfen sie sich manchmal sehr derbe Worte an den Kopf, zankten und schimpften immerzu, manchmal kam es so weit, daß sie sich gegenseitig die Zöpfe abreißen wollten, aber sie versöhnten sich sehr bald wieder. Wenn die Mutter nicht mit uns wäre, dann wären Broche und Teubele kaum lange miteinander ausgekommen. Broche sagt von sich selbst, daß sie wie ein Zündholz aufflammt. Wenn es über sie kommt, dann vermischt sie alle mit Schmutz, aber sie versöhnt sich ebenso schnell wieder, beruhigt sich und wird so weich wie Seide, daß man aus ihr förmlich einen Bindfaden drehen könnte.

Mit mir schlägt sie sich seit dem ersten Tage nach ihrer Hochzeit herum. Broche meint, daß ich sie nicht gern habe. Sie ärgert sich besonders darüber, weil ich sie auslache. Ich brauche sie nur anzublicken, und schon scheint es ihr, daß ich lache. Neulich zeichnete ich einen Fuß, einen riesigen Fuß mit Kreide auf den Fußboden. Broche erregte sich und behauptete, daß ich ihren Fuß nur deswegen gezeichnet habe, weil er so groß war, – sie trug Gummischuhe Nummer 31 ... Und nun ging die Geschichte los! Broche beklagte sich bei dem Bruder Elia. Elia schimpfte mich aus:

»Fängst du wieder die alte Sache an, Menschen zu zeichnen? Bilderchen?«

Der Fuß war ein Mensch geworden, und der Mensch ein Bildchen! Man kann den Verstand verlieren! Und wie zum Trotz wuchs in mir die Leidenschaft zum Zeichnen immer mehr. Mottel der ältere, derselbe, der mich neulich zum Gouverneur ernannt und mir das ›Bauchreden‹ beigebracht hatte, schenkte mir einen bunten Bleistift. Wir sollen zusammen nach Antwerpen reisen und sind sehr gute Freunde geworden. Unsere Leute haben ihm den Namen ›Mottel der Ältere‹ gegeben, zum Unterschied von mir, ›Mottel dem Jüngeren‹. Aus Dankbarkeit für den Bleistift zeichnete ich ihn auf einen Bogen Papier in seiner ganzen Größe und schenkte ihm die Zeichnung, jedoch unter der Bedingung, daß er sie niemand zeige, sonst würde es Elia erfahren, und ich müßte es schwer büßen. Mottel brachte aber sein Portrait, wie absichtlich, Elia, hielt es ihm vor die Nase und sagte:

»Seht mal her, liebe Leute!« Elia erriet sofort, daß das Portrait meine Arbeit war.

»Wo ist er denn, mein Maler?« hörte ich seine Stimme.

Elia suchte mich und konnte mich nicht finden. Ich hatte mich hinter dem Rücken der Mutter versteckt und wälzte mich vor Lachen. Einen besseren Verstecksort als hinter der Mutter findet man in der ganzen Welt nicht!

*

Endlich sind wir in Antwerpen. Wir mußten uns lange, lange im Waggon durchschütteln lassen, bevor wir ankamen. Ist das eine Stadt! Mit Wien zwar nicht zu vergleichen, – Wien ist viel größer, schöner und bevölkerter, – aber die Sauberkeit! Kein Wunder! Die Straßen werden gesprengt, die Bürgersteige gereinigt, die Häuser gewaschen. Ich habe selbst gesehen, wie die Mauern abgekratzt und mit Seife gewaschen wurden. Doch nicht überall ist es so sauber. In den Gasthäusern, in dem die Auswanderer absteigen, geht alles zu, wie es sich gehört: Es ist schmutzig, rauchig, feucht, glitschig und eng, überall herrscht ein Höllenlärm mit einem Wort, es geht dort lustig zu, und ich bin selig, wenn es wo lustig ist.

Elias Schwiegervater, der Brezelbäcker Jojne mit seiner Familie, ist noch nicht angekommen, die dicke Pesche mit ihren Angehörigen ist auch noch nicht da, sie reisen noch, sie schleppen sich durch Deutschland. »Deutschland ist das reine Sodom,« sagen die Auswanderer und erzählen verschiedene Greuel von den Deutschen. Das Unglück, das uns widerfahren ist, die verlorenen Sachen und der Anschlag auf unser Leben ist nichts im Vergleich mit dem Mißgeschick, von dem uns die Emigranten hier erzählt haben.

Wir lernten in Antwerpen bei irgendeiner Gelegenheit eine Jüdin kennen; sie stammt aus Meschibosch. Ihr Mann ist längst in Amerika; es ist schon ein Jahr her, seit sie mit ihren beiden Kindern zu ihm reist. Sie ist bereits überall gewesen, hat sich mit allen Komitees verzankt und ist endlich hierher gekommen. Sie wollte das Schiff besteigen, aber man ließ sie nicht hinauf, obgleich ihre Augen gesund waren; man wollte sie nicht aufs Schiff lassen, weil sie ein wenig schwachsinnig war. Sie sprach scheinbar ganz vernünftig, aber plötzlich schleuderte sie ein Wort heraus, daß alle sich vor Lachen wälzten. Wir fragten sie, wo ihr Mann sei.

»In Amerika.«

»Womit beschäftigt er sich dort?«

»Er ist dort als Zar angestellt!«

»Wie kann ein Jude Zar sein?«

»In Amerika ist alles möglich!« sagte sie.

Wie gefällt euch das? ... Sie hat sich in den Kopf gesetzt, daß man hier nichts essen dürfe. Auch uns riet sie, nichts Milchiges zu essen, es sei hier alles ›treife‹, nicht nach dem Ritus zubereitet.

»Nun, und warum eßt ihr kein Fleisch?«

»Das Fleisch ist hier nicht fleischig und nicht milchig, es ist wie eine Fastenmahlzeit,« erwiderte sie.

Wir hielten uns alle den Bauch, die Mutter weinte.

»Wieder? Du hast schon lange nicht mehr geweint! Willst du, daß man dich sogar aus Antwerpen wegen der Augen fortschickt?« sagte Elia.

Sofort trocknete die Mutter die Tränen.

Die Mutter sagte, die Frau täte ihr weniger leid als die Kinder.

Aber warum sollen sie einem leid tun? Sie sind sehr lustig ... Wenn ihre Mutter anfängt, Dummheiten zu reden, dann lachen sie. Ich habe mich mit ihnen schnell befreundet, sie erzählten mir, daß man sie längst wieder in die Heimat zurückgeschickt hätte, aber, die Mutter bestand eigensinnig darauf, zu ihrem Mann, dem Zaren, zu reisen. »Hi, hi, hi!« lachten die Kinder. Jetzt wollte man ihr einreden, daß man sie mit der Eisenbahn nach Amerika schicken würde – hi, hi hi! –, man hatte es ihr fast schon eingeredet, daß es wirklich eine Eisenbahn gibt, die von hier direkt nach Amerika geht ... hi, hi, hi! ...

*

Was man nicht alles in Antwerpen zu sehen bekommt! Jeden Tag kommen neue Auswanderer an, fast lauter armes Volk, zum größten Teil Kranke; – die meisten leiden an Trachom. Die Trachomkranken werden nicht nach Amerika gelassen. Man kann schief, lahm, stumm sein, oder wie man sonst, will, wenn man nur nicht Trachom hat. Oft weiß man gar nicht, wie man zu dieser Krankheit kommt. Das habe ich alles in Antwerpen gehört. Ein Mädchen, namens Golde, hat es mir erzählt. Sie ist in meinem Alter, vielleicht ein Jahr älter als ich. Ich habe sie in der ›Esra‹ kennen gelernt. Die ›Esra‹ ist in Antwerpen, ebenso wie die ›Alliance‹ in Wien, speziell für uns, Auswanderer, geschaffen. Als wir nach Antwerpen kamen, gingen wir zuallererst nach der ›Esra‹. Die ›Esra‹ ist besser als die ›Alliance‹; hier werden die Leute nicht die Treppe hinuntergeworfen, man kann kommen, wann man will, und sprechen so viel wie man will. Im Büro sitzt ein junges Mädchen, Fräulein Seitschik, die alles, was gesprochen wird, in ein Buch schreibt. Sie ist sehr nett, sie fragte, wie ich heiße, und schenkte mir ein Bonbon.

Dort, bei der ›Esra‹, wurde ich mit Golde bekannt. Sie stammt aus Kutno, ist im vorigen Jahr, im Herbst, kurz vor den Feiertagen, mit ihrem Vater, ihrer Mutter, mit ihren Brüdern und Schwestern hergekommen. Sie haben hier alle Feiertage sehr heiter verbracht ... Es war zwar nichts Besonderes, sie plagten und quälten sich wie die übrigen Auswanderer, aber sie hatten Schiffskarten nach Amerika und reichliche Kleidung: Jeder hatte zweimal Wäsche zum Wechseln und ganze Schuhe. Jetzt hat Golde im ganzen ein Hemd, Schuhe hat sie überhaupt nicht. Wäre nicht Fräulein Seitschik, so müßte sie barfuß gehen. Fräulein Seitschik hatte Erbarmen mit ihr und schenkte ihr ein Paar getragene Schuhe von sich. Golde zeigte sie mir, sie waren fast unversehrt, nur furchtbar groß ... Nachdem die Feiertage vorüber waren, schickten sie sich zur Reise an. Man hatte ihnen befohlen, zum Doktor zu gehen. Der Doktor untersuchte sie und fand, daß alle gesund sind und nach Amerika reisen können, nur Golde durfte nicht mit, denn sie hätte Trachom an den Augen. Zuerst verstanden sie überhaupt nicht, um was es sich handelte, erst allmählich wurde es ihnen klar, daß Golde hier bleiben müsse. Sie erhoben ein Geschrei, ein Weinen und Schluchzen, die Mutter fiel dreimal in Ohnmacht, der Vater wollte mit ihr hierbleiben, aber das erwies sich als unmöglich, weil dann die ganze Schiffskarte verfallen wäre. Golde mußte also allein zurückbleiben, bis das Trachom bei ihr verschwinden würde. Nun ist es schon ein Jahr her, seitdem sie hier ist, und sie ist noch immer nicht geheilt.

Fräulein Seitschik meint, daß ihre Augen deshalb nicht besser wurden, weil Golde immerfort weinte. Golde selbst erklärt es anders. Sie sagt, alles käme durch den blauen Stein. Jedesmal, wenn sie zum Doktor kommt, beschmiert er ihr die Augen mit demselben blauen Stein, den er für die übrigen Kranken nimmt.

»Wenn ich einen anderen blauen Stein kaufen könnte,« sagt Golde, »wäre ich längst gesund.«

»Nun, und dein Vater und deine Mutter?«

»Die sind in Amerika, sie schaffen sich dort eine Existenz. Sie schreiben mir, ich bekomme jeden Monat einen Brief von ihnen. Hier, lies, kannst du lesen?«

Sie zog unter der Bluse ein ganzes Päckchen Briefe heraus und bat mich, laut zu lesen. Ich hätte es mit größtem Vergnügen getan, aber ich kann ja nicht lesen; wäre es gedruckt, dann würde ich es entziffern. Golde lachte und sagte, daß ein Junge kein Mädchen sei, ein Junge müsse alles in der Welt können. Sie hat wohl recht, ich würde sehr gern schreiben lernen. Ich beneide Mottel den Älteren, er kann sowohl lesen wie schreiben. Golde gab ihm ihre Briefe, die sie aus Amerika erhalten hatte, zum Durchlesen, und Mottel las laut und deutlich. Fast alle Briefe waren in derselben Art geschrieben und enthielten dieselben Worte:

»Liebste Goldinka! Teure Goldinka!

Wenn wir hier in Amerika daran denken, daß man uns unser Kind fortgenommen hat, daß du dich dort in der Fremde unter fremden Menschen herumtreibst, scheint uns das Leben gar kein Leben. Tag und Nacht weinen wir und sehnen uns nach unserem hellen Sternlein, das unseren Augen entschwunden ist usw. ...«

Mottel der Ältere las, und Golde weinte und wischte sich die Tränen. Fräulein Seitschik bemerkte es und begann mit uns zu schimpfen, weil wir Golde zum Weinen gebracht haben. Zu Golde sagte sie, sie möchte sich doch lieber schonen, sie verderbe sich die Augen.

»Der Doktor verdirbt mir die Augen mit seinem blauen Stein mehr, als ich mit meinem Weinen,« erwiderte Golde lächelnd, während die Tränen aus ihren Augen weiterrollten.

Wir verabschiedeten uns von Golde, ich versprach ihr, morgen wieder hierherzukommen.

»Gott gebe es!« antwortete Golde fromm, wie ein altes Mütterchen.

Wir beide, Mottel der Altere und Mottel der Jüngere, unternahmen einen Spaziergang durch Antwerpen.

*

Wir waren nicht allein. Wir hatten noch einen Kameraden, Mendel, den man ungefähr auf zehn Jahre schätzen würde. Mottel nannte ihn ›Poni‹. Mendel war auch auf dem Wege nach Amerika in Antwerpen zurückgeblieben, aber nicht wegen der Augen, sondern aus einem anderen Grund. Sie haben sich während der ganzen Reise – erzählte Mendel – nur von Heringen genährt, der Durst plagte sie fortwährend. Einmal verließ er den Zug, um zu trinken, inzwischen war der Zug abgegangen, und er blieb auf der Station, ohne Fahrkarte, ohne Geld, ohne ein Hemd am Leibe. Die Sprache kannte er nicht und spielte deshalb den Stummen. Er wurde lange in der weiten Welt herumgeschleppt, bis er eines Tages eine Schar jüdischer Auswanderer erblickte, sich ihnen näherte und ihnen seine Geschichte erzählte.

Die Auswanderer erbarmten sich seiner, nahmen ihn mit und brachten ihn nach Antwerpen. Hier fand er die ›Esra‹. Die ›Esra‹ schrieb ihm einen Brief nach Amerika, vielleicht würden sich seine Eltern melden; nun wartete er auf einen Brief und die Schiffskarte.

Eine halbe Schiffskarte würde für ihn auch genügen, weil er ja noch klein ist. Aber, unter uns gesagt, ist er durchaus nicht mehr so jung; manche vermuten, daß er schon dreizehn Jahre geworden ist, obgleich er bis jetzt ohne »Tfillin« – Gebetkapsel – betet; er hat sie noch nicht bekommen. Mendel sagt, man soll ihm lieber Schuhe kaufen. Ein Emigrant mit strengen Augen fuhr ihn an:

»Ach du, Lausbub! Nicht genug, daß man für dich sorgt, bist du obendrein unverschämt!«

Der Emigrant gab sich alle erdenkliche Mühe, die Juden veranstalteten eine Sammlung und kauften für Mendel die Gebetvorrichtung ...

In Antwerpen kann man alles finden; hier gibt es sogar Synagogen. Eine von ihnen nennen wir die ›türkische‹. Dort beten ebenfalls Juden, aber in einem sonderbaren Dialekt, die Worte klingen ganz anders, man kann nichts verstehen, mit einem Wort – türkisch. Mendel hat uns hingeführt.

Wir drei – ich, Mottel der Ältere und Mendel, verbringen die ganzen Tage auf den Straßen. Dort, in Brody, Lemberg, Krakau und Wien, fürchtete die Mutter, mich allein gehen zu lassen, hier hat sie keine Angst.

»Dort«, sagte die Mutter, »sind lauter Deutsche, hier sind wir unter uns.«

Darunter versteht sie die Auswanderer; – man hört hier nämlich überall jiddisch sprechen. Die Emigranten sollen leben! Unter den Emigranten fühlen wir uns wirklich wie zu Hause. Außerdem erwarten wir unsere Landsleute. Wir werden bald wieder reich werden, der Brezelbäcker Jojne kommt mit seiner Familie. In den nächsten Tagen muß auch unsere Nachbarin Pesche mit ihren Kindern ankommen. Das wird eine Freude sein! Ich will mich bemühen, euch alles zu beschreiben.

Eine Auswanderertruppe.

Endlich sind sie angekommen! Pesche mit ihrer ganzen Familie ist hier. Besonders freute ich mich mit ›Waschdich‹. Ich liebe ihn besonders, weil er sich nicht vor Schlägen fürchtet, er saugt sie auf, wie ein Schwamm, und gibt keinen Laut von sich.

Eines Tages hatte er ein neues Gebetbuch zerrissen. Sein Vater, der Buchbinder Mojsche, schlug ihn mit einem Brett, das zum Papierschneiden gebraucht wurde; ›Waschdich‹ lag danach zwei Tage im Bett. Ihr könnt euch vorstellen, wie er sich fühlte, wenn er sogar die Semmel zurückwies. Man glaubte, es wäre mit ›Waschdich‹ aus; die Mutter beweinte ihn bereits, der Vater ging herum, wie mit Wasser begossen. Aber am dritten Tage griff ›Waschdich‹ wieder zum Schwarzbrot und aß wie nach einem Fasttag.

Seine ganze Familie ißt sehr gern, nicht umsonst nennt Pesche sie ›die hungrige Herde‹.

Pesche ist übrigens eine sehr nette liebe Frau, nur etwas zu dick, mit einem dreifachen Kinn. Ich habe sie schon mehrere Male auf Papier gezeichnet; einmal sah es ›Waschdich‹, riß mir die Zeitung aus den Händen und zeigte sie zum Scherz Pesche; diese lachte, aber mein Bruder Elia erfuhr davon, und ich hätte meine ›Malerei‹ teuer bezahlen müssen, wenn Pesche sich meiner nicht angenommen hätte.

»Das Kind amüsiert sich,« sagte sie, »laß ihn doch, es ist keine Ursache, sich so aufzuregen!«

Ich bin Pesche sehr dankbar, ich habe sie gern, nur eins kann ich nicht vertragen: Ihre Küsse. Als sie nach Antwerpen kam und mich sah, stürzte sie sich auf mich und begann mich zu küssen, wie ihr eigenes Kind. Sie küßte sich mit allen, besonders lange küßte sie meine Mutter. Als meine Mutter Pesche erblickte, lief sie auf sie zu, als ob sie den Vater aus der anderen Welt wiedergesehen hätte. Es ging auch nicht ohne Tränen ab. Bruder Elia begann mit Pesche zu schimpfen: Durch sie, meinte er, verdarb die Mutter sich die Augen und konnte nicht zum Doktor gehen.

Zum Doktor muß jeder gehen, der nach Antwerpen kommt. Das erste, wonach man sich hier gegenseitig fragt, ist:

»Waren Sie beim Doktor? ... Was hat Ihnen der Doktor gesagt? ...«

Sogar die ›Esra‹ schickt sofort zum Doktor, wenn man hinkommt.

Als wir zum erstenmal dorthin kamen, begann die Mutter zu erzählen, daß ihr Mann viele Jahre Kantor im Bethaus der Schlächter war, daß er sich erkältet hatte und krank wurde, daß sie alles verkauft hatte, um ihn zu retten, daß der Vater gestorben war und sie als Witwe mit zwei Waisenkindern zurückgelassen hatte; den älteren Sohn hat sie Gott sei Dank verheiratet, – sie glaubte, es wäre eine Goldgrube ... Aber das Gold wäre geschmolzen, nur die Grube wäre geblieben; daß wir unser letztes Hab und Gut – das Haus – verkauft hatten, und nun nach Amerika gingen; – sie erzählte, wie wir die Grenze überschritten, wie wir bestohlen wurden und beinahe erschlagen worden wären; ... wie wir ohne Federbetten zurückgeblieben waren und nicht wußten, wie wir nach dem fernen Land ohne Kissen reisen sollten ...

Die ›Esra‹ hörte zu, Fräulein Seitschik schrieb jedes Wort meiner Mutter in ein Buch nieder. Die Mutter hatte ihre Erzählung noch lange nicht beendet, als einer von der ›Esra‹ sich plötzlich an sie wandte:

»Ihr reist also nach Amerika?«

»Natürlich nach Amerika, und nicht nach Ägyptus«, erwiderten wir.

»Wart ihr auch beim Doktor?«

»Bei was für einem Doktor?«

Hierauf sagte uns einer von der ›Esra‹

»Hier habt ihr die Adresse, geht vor allem zum Doktor, mag er eure Augen untersuchen.«

Als Elia das Wort ›Augen‹ hörte, sah er die Mutter an und wurde leichenblaß.

Warum erschrak er so?

*

Wir waren schon alle beim Arzt. Alle, außer der Mutter; sie wird später hingehen. Elia fürchtet, jetzt mit ihr hinzugehen, weil sie in der letzten Zeit viel geweint hat. Der Doktor untersuchte unsere Augen, schrieb etwas auf einen Zettel und steckte ihn in einen Briefumschlag, den er verschloß.

Wir erschraken nicht wenig, denn wir glaubten, daß er uns eine Arznei verordnet hat. Als wir ihn fragten, was er uns verschrieben hat, zeigte der Doktor nur auf die Tür. Wir errieten, daß er uns bat, hinauszugehen.

Wir kamen zur ›Esra‹ und zeigten ihr den Brief des Doktors. Fräulein Seitschik öffnete den Briefumschlag, las den Brief und sagte:

»Man kann euch gratulieren. Der Doktor hat bestätigt, daß eure Augen gesund sind.«

Wir freuen uns natürlich sehr. Aber was ist mit der Mutter zu tun? Sie hört nicht auf zu weinen. Wir reden auf sie ein:

»Warum weinst du? Wenn der Doktor deine Augen für krank erklärt, was soll dann werden?«

»Deswegen weine ich ja auch ...« erwidert die Mutter und legt ein feuchtes Läppchen auf die Augen.

Das hatte ihr ein Auswanderer, Feldscher von Beruf, geraten. Dieser Feldscher war ein häßlicher Mensch mit seltsamen Zähnen, aber er versuchte, sich immer schön zu machen. Er trug eine Messinguhr mit einer dicken Silberkette und einen dünnen Goldreifen auf dem Finger. Er heißt Bieber. Er ist zusammen mit Pesches Gesellschaft in Antwerpen angekommen. Sie waren unterwegs bekannt geworden und hatten zusammen die Grenze überschritten ohne jegliche Hindernisse, auch die Kissen wurden ihnen nicht gestohlen. Aber auch sie mußten viel Schlimmes aushalten, man hat sie in Hamburg ›hineingelegt‹. Sie erzählen von Hamburg furchtbare Dinge, von denen die Haare sich auf dem Kopf sträuben.

Sodom ist eine Stadt der Gerechten im Vergleich mit Hamburg. Dort werden die Auswanderer schlimmer behandelt als bei uns die Sträflinge. Wäre nicht Bieber mit ihnen gewesen, so wäre Gott weiß was mit ihnen passiert; Bieber hat sich ihrer angenommen. Bieber ist sehr frech und versteht zu schimpfen. Er erzählt, wie er die Deutschen heruntergemacht hat, daß man nur so die Ohren spitzt.

»Ich habe mit ihnen russisch gesprochen!« sagt er.

Bieber spricht wohl besser russisch als Peine. Peine meint, alles wäre sehr schön, wenn in Biebers Worten wenigstens ein Krümchen Wahrheit wäre. Vom ersten Augenblick an kann Peine Bieber nicht ausstehen, er hat sogar ein Gedicht auf ihn gemacht.

Peine macht auf alle Leute, die ihm nicht gefallen, Gedichte.

*

Bieber hat es übernommen, die Augen der Mutter zu heilen. Er garantiert, daß nach seiner Behandlung kein Doktor in der ganzen Welt an den Augen etwas ausstellen würde. Bieber sagt, daß er noch von Hause her ein vorzügliches Mittel für die Augen kenne, er sei doch Feldscher, und ein Feldscher ist ein halber Doktor. Später habe er in Deutschland beobachtet, wie die Auswanderer behandelt wurden, wie die Blinden sehend gemacht wurden.

»Vielleicht umgekehrt?« fragt Peine.

Bieber wurde zornig – er kann sehr böse werden – und streute auf Peine einen Hagel von Schimpfworten aus.

»Sie sind überklug!« sagte er. »Allzu klug für Amerika! In Amerika hat man solche Leute nicht gern! Amerika ist ein Land, wo man sagt, was man denkt, und wo man denkt, was man sagt! In Amerika gilt ein Wort mehr als ein Schwur! Amerika ist aufgebaut auf Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, auf Ehre und Gewissen, auf Menschlichkeit, auf Vertrauen und Barmherzigkeit ...«

»Auf was noch?« fragte ihn Peine.

Bieber wurde noch wütender.

Zum Glück wurden sie unterbrochen. Irgend jemand kam, um zu melden, daß jemand uns sprechen wollte. Wir gingen hinaus; – Gäste! Gäste! Gäste! Jojne, der Brezelbäcker, ist mit seiner Familie angekommen! Eine neue Gesellschaft! Broche stürzte sich auf sie und umarmte den Vater und die Mutter, Elia küßte den Schwiegervater und die Schwiegermutter; als Peine das sah, küßte auch er sie zur Begrüßung, und seinem Beispiel folgte Bieber.

»Wer ist denn das?« fragten die Unseren.

»Ich bin Bieber«, erwiderte er ohne Verlegenheit.

Peine fing an zu lachen ... Und die Mutter? – Die Mutter tat wie immer, sie weinte ... Bruder Elia war außer sich; er sah die Mutter an und zupfte seinen Bart, aber er schwieg. Die Verwandten waren doch angekommen, noch dazu aus der Heimatstadt; bei solchem Anlaß war es keine Sünde, ein paar Tränen zu vergießen.

»Wie habt ihr die Grenze überschritten und wo hat man euch bestohlen?« war unsere erste Frage, die wir den Gästen vorlegten. Unsere Gäste hatten einen Sack voll Neuigkeiten! Aber mich interessierten sie nicht. Ich habe mich mit Broches Schwesterchen, Alte, in einen Winkel zurückgezogen ... Ihr erinnert euch vielleicht, daß Alte mir zur Hochzeit meines Bruders als Braut zugesprochen wurde. Damals war sie sieben Jahre alt, jetzt hat sie das achte bereits vollendet und das neunte begonnen, sie ist eine Altersgenossin von Golde.

Ich erzählte Alte von Golde und ihren kranken Augen, von Mottel dem Älteren, von Mendel, von der ›Esra‹ und von Fräulein Seitschik, vom Doktor, der unsere Augen untersucht hat ... von Wien, von der ›Alliance‹, wo man die Juden nicht mag, von Lemberg und Krakau ... Und davon, wie wir über die Grenze gegangen und kaum unser Leben gerettet haben ... Ich ließ nichts aus; alles erzählte ich ihr. Alte hörte mit großen Augen zu. Dann begann Alte mir von den Ihrigen zu erzählen. Ihr Vater wollte schon lange nach Amerika reisen, aber die Mutter war nicht einverstanden, und noch weniger wollte es die Verwandtschaft der Mutter. Die Verwandten ihrer Mutter sagten, daß in Amerika alle Leute arbeiten müssen, ihre Mutter war aber nicht gewöhnt, zu arbeiten. Ihre Mutter besitzt einen feinen Radmantel, den der Vater noch zu jener Zeit gekauft hatte, als sie reich waren. Jetzt, seitdem die schlechten Zeiten begonnen hatten und die Gläubiger sie peinigten, hatten sie beschlossen, alles zu verkaufen und nach Amerika zu reisen. Nur den Radmantel wollte die Mutter nicht hergeben. Der Vater fragte, was sie mit dem Mantel anfangen wollte, da doch in Amerika Radmäntel nicht getragen werden. Die Mutter meinte, daß sie so viele Jahre zu Gott gebeten habe, daß er ihr zu einem Radmantel verhelfen möge; jetzt, da Gott ihr dazu verholfen hatte und sie endlich einen Radmantel besaß, sollte sie den Mantel verkaufen? – Das konnte sie unmöglich ... Tag und Nacht wurde von nichts anderem als von dem Radmantel gesprochen. Die ganze Verwandtschaft der Mutter kam zusammen, sie zankten und stritten miteinander; es kam schließlich so weit, daß der Vater sich von der Mutter wegen des Mantels scheiden lassen wollte ... Schließlich setzte die Mutter das Ihrige durch; der Mantel wurde mitgenommen. Wir schleppten uns mit ihm, bis wir zur Grenze kamen; – hier verschwand er ...

So erzählte Alte.

Ich hörte gleichgültig zu und wollte nur wissen, ob der Radmantel sich hier wiedergefunden hatte. Nachdem ich erfahren, daß der Mantel fort war, unternahm ich sehr vergnügt mit Alte einen Spaziergang durch Antwerpen, das ich ihr zeigte. Hätte sie sich doch über irgend etwas gewundert! ... Sie habe schon viele große Städte gesehen, sagte sie. Ich zeigte ihr die Gasthäuser, in denen die Auswanderer absteigen, machte sie mit meinen Kameraden bekannt, aber Alte achtete überhaupt nicht darauf; sie ist ein stolzes Mädchen, protzig und prahlerisch ...

Dann begaben wir uns mit unseren Angehörigen zu ›Esra‹. Dort trafen wir Peschs mit ihrer kleinen Gesellschaft. Golde war auch dabei. Golde wünschte, mit Alte, näher bekannt zu werden, aber Alte zeigte keine Lust dazu. Golde nahm mich beiseite und fragte, warum dieses Mädchen so hochmütig sei und sie nicht einmal eines Gesprächs würdigen will. Ich erzählte ihr von Alte und erinnerte sie unter anderem daran, daß Alte im vorigen Jahr bei der Hochzeit eines Bruders mir als Braut zugesprochen wurde. Golde errötete, ich weiß nicht warum, wandte sich ab und begann, ihre Augen zu wischen.

*

Was sagt ihr zu dem Unglück, das uns widerfahren ist? Wir waren mit der Mutter bei dem Doktor, der Doktor untersuchte ihre Augen, sagte nichts, schrieb etwas auf einen Zettel und hieß uns gehen. Wir kamen zur ›Esra‹, aber wir trafen dort niemanden an, außer Fräulein Seitschik. Fräulein Seitschik begrüßte mich lachend; sie lachte immer, wenn sie mich sah, bestellte mir jedesmal einen Gruß von Golde und lachte.

Fräulein Seitschik öffnete den Brief, las den Zettel und hörte auf zu lachen. Die Mutter fragte:

»Was gibt's?«

»Nichts Gutes, meine Liebste! Der Doktor schreibt, daß Sie nicht nach Amerika reisen dürfen!«

Wie ihr wißt, hat Broche die Gewohnheit, in Ohnmacht zu fallen, sie wurde also sofort bewußtlos; Bruder Elia erblaßte, alles Blut wich aus seinem Gesicht; die Mutter erstarrte, sie weinte nicht einmal.

Fräulein Seitschik stürzte nach Wasser, rief Broche wieder ins Bewußtsein, tröstete den Bruder, beruhigte die Mutter und sagte ihr, daß sie morgen wiederkommen sollte.

Unterwegs machte Elia der Mutter Vorwürfe darüber, daß sie fortwährend geweint habe, er hatte es ihr ja oft genug gesagt, daß sie nicht weinen dürfe. Die Mutter wollte antworten, aber sie konnte kein Wort hervorbringen ... Sie blickte nur in die Höhe und flehte zu Gott: »Erbarme dich meiner, Herr, und meiner armen Kinder, nimm mich von dieser Welt!«

Peine behauptete, daß der Lügenkerl, der Feldscher Bieber, an allem schuld sei. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hörte man bei uns zu Hause nicht auf, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen.

Am nächsten Morgen begaben wir uns wieder zur ›Esra‹. Hier riet man uns, die Reise über London zu versuchen, vielleicht würde man die Mutter dort mit ihren verweinten Augen nach Amerika durchlassen; wenn nicht nach Amerika, dann wenigstens nach Kanada. Wo dieses Kanada liegt, wissen wir nicht. Man sagt, es ist noch weiter als Amerika. Bruder Elia und Peine haben jetzt einen Gegenstand zum Streit gefunden. Elia fragte:

»Peine, wo befindet sich Kanada? Du hast doch einstmals an der Geographie den Narren gefressen.«

Peine sagte, daß Kanada in Amerika liegt, das heißt, Kanada sei dasselbe Amerika, aber wiederum doch nicht Amerika.

»Wie ist das zu verstehen?«

»Du siehst doch! ...« erwiderte Peine.

Wir begaben uns zum Schiff, um unsere Freunde, Pesche, ihren Mann, den Buchbinder Mojsche und ihre ganze Familie zu begleiten.

Mein Gott, was sich an dem Schiff tut! Männer, Frauen, Kinder, Bündel, Säcke, Kissen, – Kissen am allermeisten! Einer rennt, ein anderer schreibt, dieser weint, jener schwitzt, hier wird gegessen, dort gezankt. Plötzlich ertönte ein Gebrüll, wie das Geschrei eines Ungeheuers. Es ist das Signal auf dem Schiff, daß es Zeit ist, Abschied zu nehmen. Wildes Durcheinanderrennen, dröhnende Schritte, schallende Küsse, Schluchzen und Schreien schwängern die Luft. Man braucht kein Theater! Alle Leute küssen und umarmen sich, wir geben auch Abschiedsküsse. Die Mutter küßt Pesche. Pesche tröstet sie und bittet sie, sich keine Sorge zu machen: Gott wird geben, daß wir uns alle in kurzem in Amerika wiedersehn werden ... Die Mutter macht eine Bewegung mit der Hand und verschluckt die Tränen. In letzter Zeit weint die Mutter weniger, sie hat etwas eingenommen, um nicht zu weinen.

Alle Leute sind bereits auf dem Schiff. Wir bleiben am Ufer. Wie wir sie beneiden! Wie ich ›Waschdich‹ beneide! Einst hat er mich beneidet, jetzt beneide ich ihn! ...

›Waschdich‹ steht in seiner zerrissenen Mütze auf dem Schiff, die Hände auf dem Rücken, und zeigt mir die Zunge: Er will mir zu verstehen geben, daß er fährt, und ich – nicht. Mir tut es leid, aber ich fasse Mut und zeige ihm eine lange Nase: – »Da, hast du! ...« Ich hatte Lust, ihm zu sagen:

»Gebe Gott, daß ich so schnell reich werde und du krank wirst, wie schnell ich in Amerika sein werde!«

Ja, macht euch keine Sorgen! – Ich werde auch sehr bald in Amerika sein!

Die Auswanderer zerstreuen sich.

Mit jedem Tage wird die Auswandererschar kleiner. Antwerpen wird leer. Am Sonnabend reisen eine Menge Auswanderer mit dem Schiff ab, alle nach Amerika. Auch mein Freund, Mottel der Ältere, mein Lehrer im ›Bauchreden‹ und anderen ähnlichen Wissenschaften, reist mit. Ich weiß nicht, was mein Bruder Böses bei ihm bemerkt hat, weshalb er ihn nicht ausstehen kann? Ich glaube, daß Broche dahinter steckt. Broche horcht gern, was man redet und lauscht, über wen und über was man lacht. Sie will immer wissen, weshalb wir lachen! Vielleicht machen wir Peine nach, wie er Pfefferkuchen und Bonbons aus seine Tasche zieht und ißt? Oder machen wir uns vielleicht über den Feldscher Bieber lustig, wie er vor den Auswanderern prahlt und lügt, daß einem die Ohren weh tun? Diesmal hatte Broche wirklich recht. Wir verspotteten ihre Mama, Riwa, die nicht aufhört, tagelang von ihrem Radmantel zu erzählen, den man ihr an der Grenze gestohlen hat. Ihr Mund ruht überhaupt nicht! Ihr könnt euch vorstellen, wie überdrüssig sie uns geworden ist, wenn sogar die Mutter sich nicht beherrschen konnte und ihr eines Tages sagte:

»Ach, meine Liebste, wenn ich so viel von meinen Kissen und Federbetten sprechen würde, die man mir auf der Grenze gestohlen hat, wie ihr von eurem Radmantel! ...«

»Auch ein Vergleich!«

»Nun, sind meine Sachen dem zusammengestohlen?«

»Gestohlen oder nicht gestohlen, ich habe nicht dabei gestanden!«

»Ich verstehe nicht, Riwa, was Ihr für Ausdrücke habt!«

»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus!«

»Bin ich Euch irgendwie an die Ehre gegangen?«

»Wer sagt denn, daß Ihr mir an die Ehre gegangen seid?«

»Warum ist das kein richtiger Vergleich?«

»Gewiß ist das kein Vergleich! Ich spreche von meinem Radmantel und Ihr redet plötzlich von Euren Federbetten, von Kissen!«

»Nun, was? Habe ich denn meine Sachen gestohlen?«

»Gestohlen oder nicht gestohlen, ich habe nicht dabeigestanden.«

Wieder dasselbe und wieder dasselbe. Ist das ein schlechtes Theater? ...

Es ist begreiflich, daß wir beide, Mottel der Ältere und Mottel der Jüngere, an demselben Abend auf den Gedanken kamen, eine Vorstellung zu geben.

»Weißt du,« sagte zu mir Mottel der Ältere, »ich werde Riwa sein und du – deine Mutter; wir wollen Theater spielen. Wir brauchen nichts anderes zu tun, als nur mit ihren Worten und mit ihren Stimmen zu sprechen. Ich werde mit männlichem Baß reden, wie Niwa, und du sprichst mit weinerlicher Stimme wie deine Mutter.«

Beide Mottels verkleideten sich: Der eine setzte eine Perücke auf, der andere band ein Tuch um; dann riefen sie Gäste herbei: Mendel, das ›Ponny‹, Golde und Alte; auch andere Knaben und Mädchen aus der Auswanderertruppe kamen mit, und wir gingen an die Arbeit.

Mottel der Jüngere (mit weinerlicher Stimme): Ach, meine Liebste, wenn ich so viel von meinen Kissen und Federbetten reden wollte, die man mir auf der Grenze gestohlen hat, wie Ihr von Eurem Radmantel ...«

Mottel der Jüngere: Nun, habe ich denn meine Sachen gestohlen?

Mottel der Ältere: Gestohlen oder nicht gestohlen, ich habe nicht dabeigestanden.

Mottel der Jüngere: Ich verstehe nicht, Niwa, was für Ausdrücke Ihr gebraucht ...

Mottel der Ältere: Wie man in den Wald hineinruft, schallt es heraus.

Mottel der Jüngere: Bin ich Euch denn an die Ehre gegangen?

Mottel der Ältere: Wer sagt denn, daß Ihr mir an die Ehre gegangen seid?

Mottel der Jüngere: Warum darf man es denn nicht vergleichen?

Mottel der Ältere: Weil es kein richtiger Vergleich ist! Ich spreche von dem Radmantel, und Ihr redet plötzlich von Euren Federbetten, und von Kissen!

Mottel der Jüngere: Nun, habe ich, meine Sachen etwa gestohlen?

Mottel der Ältere: Gestohlen oder nicht gestohlen, ich habe nicht ...

*

Wer hätte vermuten können, daß gerade bei dem Wort ›nicht‹ die Tür sich öffnen würde, um neuen Gästen Einlaß zu geben: Broche mit ihrer Mutter, Riwa, ihrem Vater, Jojne, dem Brezelbäcker, und seinem ›Söhnchen‹, die Mutter, mein Bruder Elia, unser Freund Peine mit seiner Frau, der Feldscher Bieber mit seinen gelben Zähnen und noch andere Juden und Jüdinnen, – ein ganzer Haufen! Als erste nahm mich Broche heran, die sich bei aller Welt beklagte, daß ich alle Leute verhöhnte. Sie wollte gern, daß alle Welt sich an mir räche. Aber alle Welt hatte durchaus nicht Lust, mit mir anzufangen. Mir genügte Bruder Elia. Elia hatte eine knochige Hand; wenn er am Abend eine Ohrfeige versetzte, so blieben die Spuren bis übermorgen früh zurück.

»Die beiden Mottels müssen getrennt werden,« beschloß Broche, und mein Bruder erklärte mir ein für allemal, daß, wenn er uns noch einmal zusammen sehen sollte, von mir nur eine feuchte Stelle übrigbleiben würde! Ich möchte gern sehen, wie er von mir eine feuchte Stelle zurücklassen will!? Elia hat scheinbar vergessen, daß ich eine Mutter in der weiten Welt habe, die sich eher ihre kranken Augen ausstechen ließe, als daß sie dulden würde, mich so zu prügeln, daß nur ein feuchter Fleck bliebe.

*

Mit den Augen der Mutter geht es nicht gut, gar nicht gut, – man kann sogar sagen, sehr schlecht. Es heißt, daß man uns um keinen Preis auf das Schiff lassen wird. Wir müssen fort von Antwerpen. In Antwerpen sind die Ärzte Spitzbuben! Sobald sie die Augen untersuchen und auf ihnen Trachom bemerken, werden sie unzugänglich. Sie haben keine Spur von Erbarmen, keinen Tropfen Mitleid mit den Menschen.

Wir müssen auf Umwegen nach Amerika reisen. Wie wir hinkommen, ist noch nicht bekannt. Es gibt viele Wege. Wir brauchten nur zu wählen.

Es scheint, daß Elias Geld sich zu erschöpfen beginnt. Ich habe ein Gespräch zwischen Elia und Peine belauscht.

»Unser ganzes Vermögen,« sagte Elia, »alles Geld, das wir aus dem Verkauf des Hauses gelöst haben, ist für die Doktoren und Feldscher draufgegangen, – alles wegen der Augen der Mutter! Gebe Gott, daß wir wenigstens bis London kommen!«

Ich möchte natürlich lieber direkt nach Amerika reisen als über London. Unsere Nachbarin, die dicke Pesche, ist schon lange in Amerika; sie schaffen sich bereits eine Existenz, und ›Waschdich‹ schlendert wahrscheinlich wieder durch die Straßen, die Hände auf dem Rücken, und knackt Nüsse. Unsere Verwandten – der Brezelbäcker Jojne mit seinem ›Söhnchen‹, seine Frau Riwa mit der mir als Braut zugesprochenen Alte haben nicht gewartet, bis die Augen meiner Mutter heil wurden, und sind ohne uns nach Amerika gereist.

O weh! o weh! Was sich damals in Antwerpen getan hat! ...

Wir ließen die Mutter nicht zum Schiff gehen, aus Angst, daß sie beim Abschied weinen und den Rest ihrer Augen endgültig begraben würde. Aber was haben wir erreicht? Sie hat nur um so mehr geweint. Sie sagt, daß wir ihr die einzige Freude rauben – die Möglichkeit, zu weinen, ihr Unglück durch Tränen zu erleichtern! ...

Aber wer wird auf sie hören ...

*

Wißt ihr, wer mit der Abreise unserer Verwandten nach Amerika sehr zufrieden ist? Ihr werdet es nicht raten: – Golde!

Als sie hörte, daß unsere Verwandten abreisten, hätte sie beinahe losgetanzt. Was war der Grund? – Sie konnte Alte nicht leiden, sie mochte sie wegen ihrer Prahlerei nicht ausstehen. Golde hat nicht gern, wenn die Menschen von sich allzusehr eingenommen sind.

»Deine Braut mit ihren roten Zöpfchen kann ich nicht ausstehen! Sie ist eine stolze Pute!« sagte mir einmal Golde, und ihr Gesicht flammte auf wie Feuer.

»Wieso mit roten Zöpfen, da Alte doch schwarzes Haar hat?« fragte ich. Aber Golde wurde noch zorniger, sie begann zu schreien und zu weinen:

»Rot! Rot! Rot!«

Wenn Golde zornig ist, muß man sie in Ruhe lassen, bis ihr Zorn vergeht; sobald die Wut vorüber ist, wird sie wieder herzensgut, wie echtes Gold!

Mit mir ist sie sehr befreundet, – wie mit einem Bruder. Sie erzählt mir alles: Wie sie sich im Gasthaus abmüht, die Zimmer ausfegt, das Geflügel füttert, die Kinder wiegt, – ihre Wirtin hatte lange Zeit keine Kinder, jetzt hat Gott sie mit einem Zwillingspaar gesegnet. Wie sie jeden Tag zum Doktor geht, wie der Doktor ihr die Augen mit demselben blauen Stein einschmiert, den er für die übrigen Kranken benutzt.

»Ach, wenn Gott mir helfen würde, daß ich mir einen eigenen blauen Stein anschaffen könnte, dann würde ich vielleicht eines Tages meinen Vater und meine Mutter wiedersehen!« sagte Golde mit Tränen in ihren kranken Augen.

Mir tut sie furchtbar leid; das Herz vergeht mir vor Schmerz. Ich kann nicht hören, wie sie von ihren Eltern spricht, ich kann ihre Tränen nicht sehen. Ich sagte ihr:

»Weißt du, Goldinka? Wenn ich nach Amerika komme, fange ich sofort an, mir eine Existenz zu schaffen und schicke dir ganz bestimmt einen blauen Stein.«

»Betrügst du mich auch nicht? Schwöre bei deinem Ehrenwort.«

Ich schwor, daß ich sie nicht vergessen werde, und wenn Gott mir nur helfen wird, mir in Amerika eine Existenz zu schaffen, schicke ich ihr sofort den blauen Stein.

*

Ich weiß nun bestimmt, daß wir Sonnabend früh nach London reisen. Wir treffen Reisevorbereitungen. Die Mutter, Broche und Teubele gehen von Gasthaus zu Gasthaus, um sich von den bekannten Auswanderern zu verabschieden. Die Hauptsache ist für sie nicht der Abschied, sondern die Möglichkeit, sich auszuweinen und den Leuten von ihrem Unglück zu erzählen. Aber was stellt sich heraus? – Wir können uns glücklich nennen im Vergleich mit anderen Auswanderern. Es gibt unter den Auswanderern solche Pechvögel, die uns noch beneiden. Ihr Mißgeschick ist derart, daß es sich gar nicht erzählen läßt. Sie waren alle in der Heimat wohlhabende, wenn nicht reiche Bürgersleute; es hat bei ihnen nie an Brot und Salz gefehlt, am Tisch war immer ein Platz für einen Armen gedeckt; alle möchten so viel haben, wie viel sie einst fortgeschenkt haben; alle hatten ihre Kinder an die besten Menschen in der ganzen Umgegend verheiratet; und jetzt Waren sie alle Bettler. Sonderbare Menschen! Ich habe ihre Erzählungen längst satt! Wenn ich früher von einem Pogrom erzählen hörte, spitzte ich meine Ohren und lauschte mit aufgerissenem Mund; aber jetzt, wenn ich das Wort ›Pogrom‹ höre, – renne ich davon!

Ich höre am liebsten lustige Erzählungen, doch es gibt keinen, der Lustiges erzählt. Einen einzigen frohen Menschen gab es in der Gesellschaft, den Feldscher Bieber – zwar ein furchtbarer Lügner, aber ein lustiger Kauz! – aber der ist schon in Amerika.

»Er lügt jetzt dort das Blaue vom Himmel herunter!« sagt Peine von Bieber.

»Dort werden sie ihn nicht lange die Leute beschwindeln lassen, sei ganz ruhig! In Amerika kann man solche Leute nicht leiden, in Amerika wird ein Lügner geringer geschätzt als ein Abtrünniger ...« beruhigt ihn mein Bruder Elia.

»Wieso weißt du das?« fragt ihn Broche.

Der Streit beginnt. Ich und Peine stehen auf Elias Seite, Teubele hält zu Broche. Wir Männer sagen, daß Amerika das Land der reinen Wahrheit ist. Die Frauen behaupten uns zum Trotz, daß Amerika das Reich der Lügner sei.

Wir Männer: »Amerika kennt sich auf Wahrheit, Ehrlichkeit und Barmherzigkeit ...«

Sie, die Weiber: – »auf Spitzbüberei, Mordanschläge! Dort gibt es die meisten Hochstapler! ...«

Ein Glück, daß die Mutter sich in den Streit hineinmischt; sie sagt:

»Kinderchen, was soll das Streiten über Amerika, wenn wir vorläufig noch in Antwerpen sind!«

Die Mutter hat recht. Wir sind vorläufig noch in Antwerpen, aber nicht mehr lange. Schon morgen vielleicht reisen wir nach London. Alle Leute verlassen Antwerpen, alle Auswanderer, die ganze Gesellschaft!

Was soll nur aus Antwerpen werden?!!

Lebe wohl, Antwerpen!

Von keiner Stadt fiel mir der Abschied so schwer, wie von Antwerpen. Weniger von der Stadt selbst, als von seiner Bevölkerung, weniger von der Bevölkerung, als von der Gesellschaft der Auswanderer, und weniger von dieser Gesellschaft, als von meinen Kameraden und Freundinnen. Viele von ihnen waren schon früher abgereist; Mottel der Ältere, ›Waschdich‹, Alte. Sie sind alle schon in Amerika und schaffen sich dort eine Existenz. Zurückgeblieben waren nur Mendel, das ›Ponny‹, und Golde, sonst niemand.

Was wird jetzt die ›Esra‹ tun, die den Auswanderern hilft? Wem wird sie jetzt helfen ... Es fällt mir recht schwer, Antwerpen zu verlassen, ich werde mich lange nach ihm zurücksehnen. Eine prächtige Stadt! Alle Leute handeln mit Brillanten, alle Leute tragen kostbare Steine mit sich herum, alle verstehen nur das eine: Steine zu schneiden und zu schleifen. Wem man auch immer begegnet – stets ist es entweder ein Steinschneider oder ein Steinschleifer. Viele Jungen aus unserer Gesellschaft sind hiergeblieben und Steinschneider geworden. Hätten wir es nicht so eilig, nach Amerika zu kommen, so würden die Unsrigen mich auch hiergelassen haben, damit ich diese Arbeit erlerne. Meinem Bruder Elia gefällt diese Beschäftigung außerordentlich. Unser Freund Peine sagt, daß, wenn er jünger wäre, er selber das Steinschleifen noch erlernen würde. Breche, die Frau meines Bruders, lacht und meint:

»Steine sind gut zum Tragen, aber nicht zum Schleifen!«

Peines Frau, Teubele, ist derselben Meinung; sie hätte auch nichts dagegen, sich mit Brillanten zu schmücken. Sie gehen beide täglich durch die Stadt, schauen sich die Fensterläden an und können sich nicht satt sehen an den Brillanten und Diamanten, die es hier in Hülle und Fülle gibt. Der Kopf schwindelt ihnen sogar, vor ihren Augen flimmert es; sie sind ganz aufgeregt von dem Anblick so vieler Kostbarkeiten. Peine macht sich über sie lustig; nach seiner Meinung sind alle diese Steine nicht ein hohles Ei wert, und die Menschen, die für sie eine Leidenschaft haben, sind einfach verrückt.

Wißt ihr? – Er hat sogar einen Vers darüber gemacht. Er fängt so an:

»Antwerpen heißt die schöne Stadt,
Die viele Edelsteine hat;
Nur Geld zum Mittagessen fehlt ...«
Man findet arme Leute kaum.
Brillanten gibt's wie Sand am Meer
Und Diamanten nach Begehr!
So gibt's dort Steine ungezählt.
Nur Geld zum Mittagessen fehlt ...«

Wie es weiter geht, weiß ich nicht mehr.

*

Alle Gedichte zu behalten, die Peine gemacht hat, ist fast unmöglich; dazu gehört der Kopf eines Ministers. Elia und Peine schlagen sich fast wegen dieser Gedichte. Elia sagt, daß, wenn das Komitee ›Esra‹ erführe, daß wir über Antwerpen Gedichte machen, man uns sofort ausweisen würde. Wir setzen aber doch große Hoffnungen auf die ›Esra‹ und glauben, daß sie uns ein wenig helfen wird. Wir gehen jetzt täglich hin und fühlen uns dort wie zu Hause. Fräulein Seitschik, die alles in das große Buch einschreibt, kennt uns alle beim Namen. Mich liebt sie wie eine Mutter, und die Mutter wie eine Schwester. Broche, von Natur ein schlechtes Weib, sagt auch, daß Fräulein Seitschik ein echt jüdisches Gemüt hat. Alle Auswanderer sind in Fräulein Seitschik verliebt, und zwar deshalb, weil sie mit ihnen jiddisch und nicht deutsch spricht. Außer ihr sprechen alle Leute in Antwerpen deutsch, kein anderes Wort und wenn man sie totschlagen wollte. Peine behauptet jedoch, daß dieses Land kein deutsches Land ist und die Juden hier ungestört jiddisch sprechen könnten. Alle ausländischen Juden können die jiddische Sprache nicht leiden, sie lieben nur die deutsche Sprache. Auch das Bettlervolk spricht deutsch; sie würden lieber vor Hunger sterben wollen, – nur um deutsch zu sprechen! Nicht anders. So behauptet wenigstens Bloche. Sie hetzt uns, so schnell wie möglich nach London zu reisen. Antwerpen mit seiner Bevölkerung und den Redensarten der Leute ist ihr längst überdrüssig.

»Wohin man kommt, wo man geht und steht, überall wird nur von Brillanten und Diamanten geredet. Sie haben ganze Säcke voll davon, aber wenn wenigstens ein einziger kleiner Brillantstein an uns haften bliebe! Wenn jemand einmal versuchen wollte, ein paar Edelsteine zu verlieren, so daß ich sie fände!« sagt Broche, und ihre Augen fangen an zu leuchten.

Ich glaube, ich würde alle Diamanten und Edelsteine für einen Malkasten und Pinsel hergeben. Ich habe unlängst mit Bleistift ein Schiff mit Auswanderern auf einen Bogen Papier gezeichnet, – eine Menge Menschen, Kopf an Kopf – und schenkte es Golde; Golde zeigte es Fräulein Seitschik, Fräulein Seitschik fiel es ein, die Zeichnung der ›Esra‹ in Gegenwart der ganzen Auswanderergesellschaft zu zeigen. Elia war auch dabei. Ich bekam meine Prügeltracht von ihm für die »Figuren«.

»Wirst du einmal aufhören, ›Figuren‹ zu malen oder nicht?«

Er hatte mich lange nicht mehr so geschlagen. Ich erzählte es Golde, diese sagte es Fräulein Seitschik wieder. Fräulein Seitschik machte meinem Bruder Vorwürfe, er solle sich schämen, mich zu schlagen, das sei sehr schlecht. Das Fräulein redete lange auf ihn ein, Elia hörte sie an, kam nach Hause und fing an, mich zu prügeln. Der Bruder sagt, daß er mir die Leidenschaft, Menschen zu malen, herausprügeln wird! ...

*

Heute waren wir zum letzten Male bei der ›Esra‹. Was haben wir dort getan? – Ich weiß es nicht. Bruder Elia redete, Peine fuchtelte mit den Händen, Broche unterbrach sie oft und fing selber an zu sprechen, die Mutter weinte; die Leute von der ›Esra‹ sprachen deutsch. Drei Männer saßen dort, und alle drei lauschten gegenseitig ihren Worten, als ob sie feststellen wollten, wer von ihnen am besten deutsch sprach ... Was sie redeten? – Fragt lieber nicht danach! Mein Kopf ist mit ganz etwas anderem als mit ihrer Unterhaltung beschäftigt, – ich bin draußen – auf dem Schiff, auf dem Meer, in London, in Amerika ...

Plötzlich stürzte Golde atemlos herein.

»Du reist also auch ab?«

»Ja.«

»Wann?«

»Morgen.«

»Wohin?«

»Nach London.«

»Und von dort?«

»Nach Amerika.«

»Und ich bleibe hier mit meinen kranken Augen und werde meinen Vater und meine Mutter weiß Gott wann wiedersehen!«

Golde vergießt bittere Tränen. Das Herz tut mir weh, wenn ich sie ansehe. Ich möchte sie trösten, aber die Worte fehlen mir. Ich sehe sie an und denke:

»Herr, du Allmächtiger! Warum hast du kein Erbarmen mit diesem Mädchen? Womit hat sie vor Dir gesündigt? ...«

Ich nehme ihre Hand und streichle sie. Ich sage:

»Weine nicht, Goldinka! Du wirst sehen, ich komme nach Amerika, fange sofort an, mir eine Existenz zu schaffen und schicke dir einen blauen Stein, mit dem du dir die Augen streichen kannst. Dann schicke ich dir eine Schiffskarte, eine halbe Schiffskarte, denn du bist ja noch nicht zehn Jahre alt. Du wirst nach Amerika kommen! In ›Castle-Gratle‹ werden dich Vater und Mutter erwarten. Ich werde auch in ›Castle-Gratle‹ sein. Wenn du auf dem Schiff nach Amerika herankommst, schaue nach dem ›Castle-Gratle‹ und suche mich mit den Augen. Ich werde diesen Bleistift in der Hand halten, siehst du? Wenn du einen Jungen mit solchem Bleistift erblickst, dann wirst du wissen, daß ich es bin, Mottel. Wenn du nach Amerika kommst und Vater und Mutter umarmt hast, sollt du nicht mit ihnen fortgehen; du wirst dort nur deine Sachen ablegen, dann wollen wir beide lieber zusammen gehen, uns Amerika ansehen. Ich werde bis dahin ganz Amerika auswendig kennen. Sodann werde ich dich nach Hause begleiten, zu Vater und Mutter, und du wirst bei ihnen zu Abend essen, eine frische Suppe ...«

Golde wollte nicht weiter zuhören. Sie fiel mir um den Hals und begann mich zu küssen, ich sie ebenfalls.

*

Immer muß diese Broche dort emporschießen, wo man sie gar nicht gesät hat. Mußte sie gerade in dem Augenblick vorbeikommen, als ich von Golde Abschied nahm? Broche sagte mir nichts, keine Silbe, sie rief nur drei Meilen langgedehnt mit ihrer männlichen Stimme: »So–o–o–o?!« Dann preßte sie eigentümlich die Lippen zusammen, rümpfte die Nase, hüstelte und ging zu meinem Bruder Elia. Was sie ihm gesagt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur eins: Kaum hatten wir die ›Esra‹ verlassen, als der Bruder mir eine Ohrfeige gab, daß es mir in den Ohren sauste.

»Wofür?« fragte ihn die Mutter.

»Er weiß, wofür! ...« sagte Elia.

Wir begaben uns ins Gasthaus. Dort herrschte ein furchtbarer Lärm und unmöglicher Wirrwarr. Die Reisevorbereitungen mußten getroffen werden. Ich sehe gern zu, wenn gepackt wird. Mein Bruder ist darin ein Meister. Wenn die Zeit des Packens kommt, wirft Elia seinen Kaftan ab und beginnt zu kommandieren:

»Gebt die schmutzige Wäsche her! Mutter, den Teekessel! ... Die Mütze, Broche, schnell die Mütze! ... Die Gummischuhe, Peine, blinder Itzig, siehst du denn nicht, oder was, du Blinder? Da stehen ja die Gummischuhe, direkt vor deiner Nase! ... Mottel, warum stehst du da wie ein Götze, hilf doch! Er versteht nur Figuren zu zeichnen!«

Ich stürze herbei, um zu helfen, schleppe und werfe alles hin, was mir in die Hand gerät. Elia wird wütend, weil ich alle Sachen durcheinanderwerfe, und will mich schlagen. Die Mutter nimmt sich meiner an.

»Was willst du von dem Kind?«

Broche hört nicht gern, wenn ich ›Kind‹ genannt werde, und zankt mit der Mutter. Die Mutter erinnert sie daran, daß ich ein Waisenknabe bin, und will weinen ... Elia schreit:

»Weine nur, weine! Wirst dir den Rest der Augen ausweinen! ...«

Wir werden sehr bald Antwerpen verlassen. Lebewohl, Antwerpen!

London, warum brennst du nicht?

Noch nie im Leben habe ich einen solchen Jahrmarkttrubel gesehen wie in London. Nicht in London ist ein Jahrmarkt, sondern London selbst ist ein Jahrmarkt. Es hämmert und dröhnt, lärmt und saust und pfeift! Und Menschen ... Menschen gibt's, wie mit Mohn gesät, oder wie kleine Fliegen an einem Sommerabend. Woher kommen nur die vielen Leute und warum rennen sie so? Sie müssen wohl hungrig sein, oder sie rennen zum Zug! Sonst wäre es doch nicht nötig, so zu eilen, einander mit dem Ellenbogen zu stoßen, die Menschen. umzurennen und mit den Füßen zu treten!

Ich meine unseren Freund Peine. Er ist, wie ihr wißt, kurzsichtig, dazu reißt er den Kopf in die Höhe und stolpert jeden Augenblick! – Der Kopf sitzt bei ihm wohl nicht an der rechten Stelle. Das erste Mißverständnis ist auf der Eisenbahnstation passiert. Wir hatten kaum den Zug verlassen, als das Unglück geschah. Zuerst stieg Peine aus, mit aufgewickelter Hose an einem Bein, herunterfallendem Strumpf am anderen Bein, das Halstuch zur Seite gerückt, wie immer. Ich sah ihn niemals so aufgeregt: Sein Gesicht brannte wie bei Windpocken, aus seinem Mund schütteten sich ›gebildete‹ Worte: ›London, England, Disraeli, Buckle, Rotschild, die Geschichte der Zivilisation ...‹

Man konnte ihn nicht beruhigen. Es dauerte nicht zwei Minuten, und unser Freund lag auf der Erde, und die Leute schritten über ihn fort, als wäre er ein Stück Holz. Zum Glück suchte Teubele nach ihm und schrie:

»Peine, wo bist du?«

Elia begann seinen Freund emporzuziehen; Peine war beschmutzt und zerdrückt wie ein alter Kessel, der seinen Glanz verloren hatte. Das zweite Unglück geschah mit ihm an demselben Tage, aber in der Stadt, obendrein in der jüdischen Straße. Diese Straße wird weiß Gott warum ›Whitechapel‹ genannt. Was nicht alles in dieser Straße verkauft wird: Fische, Fleisch, Gebetbücher, Äpfel, Limonade, Kuchen und Gebäck, Töpfe, Wolle, Eier, Gläser, in Stücke geschnittene Heringe, Bibeln, Zitronen, Gummischuhe, Fußlappen, Kränze, Stoffstücke, Pfeffer, Bindfaden, – alles wie bei uns, nicht ein Haar anders! Genau so schmutzig wie bei uns, es riecht auch wie bei uns, manchmal noch schlimmer.

Wir freuten uns, als wir nach Whitechapel kamen, wie bei dem Anblick von etwas Heimischem. Am allermeisten freute sich Peine.

»Berditschew!« schrie er. – »Meine Freunde, wir sind nicht in Whitechapel, sondern in Berditschew!«

Er mußte für dieses ›Berditschew‹ teuer bezahlen; ich glaubte, man würde Peine ins Krankenhaus bringen müssen. Seit jener Zeit verläßt ihn Teubele nicht für einen Schritt.

Ich sehe mir dieses ›Whitechapel‹ an und denke mir: Gott! Wenn London so aussieht, wie wird erst Amerika aussehen? ...

Aber wenn ihr mit Broche sprecht, wird sie euch sagen, daß London hätte verbrennen sollen, bevor wir hinkamen. Vom ersten Tage an empfand Broche für London ein feindseliges Gefühl.

»Ist denn das eine Stadt? Das ist keine Stadt, sondern eine Hölle!« schrie Broche.

Elia versuchte, London zu rechtfertigen, führte verschiedenes an, aber dadurch goß er nur noch mehr Öl aufs Feuer. Broche brüllte und überschüttete, mit den Händen fuchtelnd, London mit Schmutz und fand keine andere Strafe für London, als daß es verbrennen solle. Teubele gab Broche recht. Die Mutter sagte:

»Vielleicht erbarmt sich Gott, und London wird unsere letzte Prüfung sein!«

»Aber wir drei – ich, Peine und Elia – halten fest zu London. Mir gefällt in dieser Stadt besonders der anhaltende Lärm und die Londoner Hetzjagd ... Was uns aber nicht gefällt, ist, daß wir hier müßig herumgehen; wir können nämlich das Komitee absolut nicht finden, soviel wir auch fragen; – kein Mensch weiß es, oder man will uns nicht antworten, – alle Leute sind beschäftigt, alle eilen, niemand hat Zeit. Aber wir brauchen unbedingt das Komitee, wir wissen uns ohne das Komitee keinen Rat. Wir haben nämlich kein Geld zur Reise nach Amerika. Die Tasche des Bruders Elia ist leer geworden; alles Geld, das wir für den Verkauf des Hauses gelöst hatten, ist fort. Peine lacht und fragt, was Elia mit der leeren Tasche anfangen wird. Elia ärgert sich, er liebt solche Scherze nicht. Mein Bruder ist der vollkommenste Gegensatz von Peine, er hört nicht auf zu klagen. Peine nennt ihn den ›seufzenden Wirt‹. Ich liebe Peine, weil er immer lustig ist. Seitdem wir in London sind, ist er noch lustiger. Peine sagt, daß man in Brody, Krakau, Lemberg, in Wien, ja, sogar in Antwerpen deutsch sprechen mußte, aber hier lebt man auf, hier kann man jiddisch sprechen, wie bei uns zu Hause, vermischt mit russischen Worten.

Unter uns gesagt, wird in London eine Sprache gesprochen, die schlimmer ist als die deutsche. Broche behauptet, daß ein Engländer schlimmer ist als drei Deutsche. Wo hat man gehört, daß eine Straße ›Whitechapel‹ heißen soll, und Geld – ›Anpenny‹, ›tupenny‹, ›tripenny‹? Es gibt noch ein Wort, das sich auf Geld bezieht: ›feif‹. Wegen dieses ›feif‹ ist uns eine lange Geschichte passiert.

*

Ihr wißt doch, daß wir in London damit beschäftigt sind, das Komitee in London ausfindig zu machen. Das Komitee in London zu finden, ist genau so schwer, wie eine Nähnadel in einem Wagen Heu. Aber es gibt ja einen Gott in der Welt! Wir gingen einmal in Whitechapel herum, es dämmerte schon, obwohl es noch lange nicht Abend war, aber in London dämmert es immer. Da trafen wir einen Juden in einem kurzen Rock und steifen Hut; er suchte irgend jemanden mit den Augen.

»Ich könnte schwören, daß ihr Juden seid!« wandte sich der Jude an uns.

»Selbstverständlich,« erwiderte Peine, »und was für Juden noch, die echtesten, die es gibt!«

»Möchtet ihr mir nicht einen Gefallen erweisen? Ihr tut ein wirklich gutes Werk!«

»Zum Beispiel?« fragte Peine.

»Heute ist der Todestag meines seligen Vaters; ich kann nicht von Hause fort und muß zu Hause die Andacht abhalten, es fehlen mir aber noch ein paar Menschen; ist dieser junge Bursche schon dreizehn Jahre alt oder nicht?«

Ich freute mich, daß ich ›junger Bursche‹ genannt und für dreizehnjährig gehalten wurde.

Wir begaben uns mit ihm über eine dunkle Treppe in eine dunkle Stube, die voll von schmutzigen Kindern war und deren Luft von dem schwülen Geruch gebratener Fische geschwängert war. Bis zu zehn Menschen, die man zur Andacht brauchte, fehlten jetzt genau noch sieben. Der Jude bat uns, eine Weile zu warten, er selbst lief wieder auf die Straße, um jemanden abzufangen. Er mußte noch mehrere Male hinausrennen, bis er zehn Juden zusammengebracht hatte.

Ich hatte mich unterdessen mit den Kindern bekannt gemacht und einen Blick auf den Herd geworfen. Dort brieten Fische, bei uns sagt man ›gebratene‹ Fische, hier heißt es ›gefreit‹, vielleicht deshalb, weil es ein freies Land ist und der Fisch sich freut, daß er ›gefreit‹ wird? Wie immer es auch sein möge, ich denke mir, daß die gebratenen Fische gut schmecken müssen; in jedem Falle sind sie nicht so schlecht, wie Broche behauptet. Ich würde mich hier über ein Stück gebratenen Fisch furchtbar freuen, und ich vermute sogar, daß Broche auch nicht abschlagen würde, ein Stück von den Fischen zu kosten.

In den letzten Tagen gehen wir mit verhungerten Gesichtern herum; außer Hering und Rettich nehmen wir nichts in den Mund; in Whitechapel werden sehr gute Rettiche verkauft. Es würde sich also sehr gut treffen, wenn der Hausherr uns auffordern würde, bei ihm zu essen. Aber er scheint nicht einmal zu ahnen, daß wir essen möchten. Kaum hatten wir das Gebet verrichtet, und der Jude seinen ›Kadisch‹ – das Totengebet – heruntergeleiert, als er uns für die Gefälligkeit dankte und sagte, daß wir gehen könnten.

Aber mein Bruder hoffte, einen Nutzen von ihm, zu ziehen, und begann mit ihm ein Gespräch über das Komitee. Von Zeit zu Zeit warf Elia einen Blick auf den Herd mit den gebratenen Fischen, wobei ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Der Jude hielt in einer Hand die Türklinke und erzählte uns mit der anderen Hand durchaus keine lustigen Neuigkeiten.

»Erstens«, sagte er, »gibt es hier überhaupt keine Komitees; eigentlich gibt es mehrere, aber die Londoner Komitees werfen nicht mit dem Geld. Um von dem hiesigen Komitee etwas Geld herauszubekommen, muß man tüchtig herumrennen, Papiere und Zeugnisse vorlegen, daß man wirklich ein Auswanderer ist und nach Amerika reist. Denn es gibt Auswanderer, die nur sagen, daß sie nach Amerika reisen. Zweitens, – nachdem ihr dem Komitee schon alles vorgelegt habt, wird man euch Geld für die Rückreise nach der Heimat geben, weil die Londoner Komitees eine schlechte Meinung von Amerika haben.«

Das hatten wir nicht erwartet. Elia brauste auf – ihr wißt doch, daß er jähzornig ist – und Peine ist doch erst recht ein aufgeregter Mensch; er stürzte sich also auf den Juden und begann zu schreien:

»Wie ist das möglich? Welches Recht haben sie, uns zurückzuschicken! Wie schämen sie sich nicht? Noch dazu ein Land mit Zivilisation! ...«

»Mit dem Hin- und Herreden werdet ihr nichts ausrichten! Hier habt ihr die Adresse des Komitees, fahrt selbst hin, ihr werdet euch überzeugen, daß es ›all right‹ ist.«

*

Wir verließen das Haus, aber der Geruch der gebratenen Fische verfolgte uns. Wir dachten alle daran, aber niemand sagte etwas, außer Broche. Sie begann, den Juden zu verfluchen, wünschte ihm, an den gebratenen Fischen, die eine Meile weit rochen, zu ersticken.

Die Mutter nahm sich des Juden an.

»Was hat dir dieser Jude getan? Er scheint ein ordentlicher Mensch zu sein. Er sitzt hier in solcher Hölle; da er Jahrzeit abhalten mußte, suchte er sich Leute zum Gebet zusammen.

Aber Broche wollte nichts wissen.

»Mag er sich mit seiner Jahrzeit und seinen gebratenen Fischen das Genick brechen! Er spricht fremde Leute auf der Straße an, befiehlt sie zu sich in die Wohnung ... Wenn er dem Kind wenigstens ein Stückchen gebratenen Fisch gegeben hätte, um ein reines Gewissen zu haben ...«

Soeben war ich laut dem Ausdruck des Juden ›ein junger Bursche‹, jetzt verwandelte ich mich in Broches Mund in ein ›Kind‹. Eine wunderliche Sache, daß Broche sich meiner annimmt!

Wir begaben uns alle sechs nach dem Komitee. Der Jude riet uns, nicht zu Fuß zu gehen, sondern lieber in die Elektrische zu steigen und zu fahren. Aber die Londoner Elektrische hatte die Gewohnheit, nicht anzuhalten. Wir konnten mit den Händen fuchteln, so viel wir wollten, – sie raste weiter. – Endlich erbarmte sich unser ein Engländer mit glattrasiertem Gesicht; – wenn ihr einen Menschen mit glattrasiertem Gesicht seht, so wißt, daß das ein Engländer ist. – Als er sah, wie wir der Elektrischen nachliefen und mit den Händen fuchtelten, zeigte der Engländer mit der Nase auf eine Kirche und erklärte uns mit Zeichen, daß wir dort warten sollten. Es dauerte kaum eine Minute, und die Elektrische hielt. Wir stiegen alle ein und setzten uns. Der Schaffner kam und forderte uns auf, Karten zu lösen. Peine fragte: »Wieviel?«

Der Schaffner antwortete: »Feif.«

Peine fragte noch einmal, und der Schaffner antwortete bereits mit unzufriedenem Ton: »Feif.«

Peine drehte sich zu uns um und sagte:

»Was ist das? Hört ihr, er sagt, ich soll pfeifen.«

Da mischte sich mein Bruder in die Sache, näherte sich dem Schaffner und fragte mit den Händen, wieviel eine Fahrkarte kostete. Der Schaffner, ernstlich böse, erwiderte: »Feif!«

Peine begann zu lachen, und Elia, ebenfalls böse, schrie den Schaffner an: »Pfeif allein!«

Der Schaffner wurde rot vor Zorn, zog die Leine, ließ den Wagen halten und warf uns mit solcher Wut hinaus, als ob wir ihn hätten ermorden oder ihm die Geldtasche rauben wollen.

Erst später erfuhren wir, daß unser Wort ›Pfeif‹ bei den Engländern ›Fünf‹ bedeutete.

»Nun, soll London nicht verbrennen? ...« sagte Broche.

Wir begaben uns zu Fuß nach dem Komitee.

*

Im Londoner Komitee geht es ebenso lustig zu wie in allen übrigen Komitees. Im Hof stehen die Auswanderer herum, und drinnen in der Stube sitzen ein paar Menschen, rauchen Zigarren und sagen zueinander: »all right.« Der Unterschied besteht nur darin, daß die deutschen Komiteeherren nach oben gedrehte Schnurrbärte tragen und deutsch sprechen und die Londoner Komiteeherren den Schnurrbart und den Bart fortrasieren und: »all right« sagen.

Eine wahre Komödie mit diesen Engländern! Die Männer sind alle glattrasiert, aber die Frauen tragen Perücken. Sogar die Mädchen tragen fremdes Haar und gedrehte Locken. Sie haben alle große Zähne und sind so häßlich, daß es einem übel wird, wenn man sie nur ansieht. Aber sie lachen uns ins Gesicht, zeigen auf uns mit den Fingern und zischen dabei so, daß man sich für sie schämt.

Zwei Mädchen sprachen meinen Bruder Elia auf der Straße an, er sollte in den ›barbeschop‹ gehen. Zuerst verstanden wir nicht, was sie wollten, jetzt wissen wir schon, daß es bedeutet, sich rasieren zu lassen. Seltsame Geschöpfe, Gott verzeihe es ihnen! Selbst gehen sie bis über den Hals im Schmutz herum, fressen auf der Straße gebratene Fische, die eine Meile weit riechen, aber langes Haar können sie nicht ausstehen! Im Trinken sind sie auch Meister – diese Engländer! Aber die Betrunkenen wälzen sich bei ihnen nicht auf den Straßen herum, wie bei uns, das erlaubt man ihnen nicht.

»Eine sehr schöne Gegend!«, sagt Broche, »nur schade – brennen will es hier nicht!«

»Was hast du davon, wenn London verbrennt?« versucht Elia sie zu fragen, aber er muß es sofort bereuen. Broche versteht zu reden, wenn sie will. Es passiert manchmal, daß sie stillschweigt, aber wenn sie einen herannimmt, so bleibt nur eine Rettung: Entweder die Ohren mit Watte zuzustopfen oder ausreißen, wohin die Augen einen lenken. Ich gebe ihre Rede wörtlich wieder:

»Warum nimmst du dich dieses gebenedeiten Londons so sehr an? Was gefällt dir so gut an ihm? Der trübe Himmel, die glattrasierten Mäuler, das prachtvolle Whitechapel, die gebratenen Fische, die alten Mädchen, die gedrehten Locken, die schmutzigen Röcke, die Bettler, die Ginger – Bier-Trinker, die Schaffner, die die Menschen pfeifen heißen, die Juden, die Jahrzeit abhalten und einem nicht einen Schluck Wasser gönnen? ... Eine solche Stadt muß verbrennen!«

Das warf Broche in einem Atem heraus, faltete die Hände wie zur Andacht und schloß:

»London, warum verbrennst du nicht? ...«

*

Mein Gott! Kommen wir wirklich einmal nach Amerika?! ...

 

Ende.


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