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»Benjaminchen wächst heran, – ein wahres Gewinnlos für mich!« so sagte Israel, der Synagogendiener der alten Synagoge, von seinem Sohn Benjamin, der schon damals den Ruf eines fleißigen Jungen hatte, als er bei Rachmil Mojsche, dem Lehrer der Vorschule, lernte. Rachmil Mojsche konnte ihn nicht genug loben.
»Euer Kleiner«, sagte er eines Tages zu dem Synagogendiener Israel, »ist unberufen mein bester Schüler. Erstens ist er eifrig und fleißig, ein tüchtiger Bursche im wahren Sinn des Wortes; zweitens hat er einen guten Kopf mit leichter Auffassung und einem Gedächtnis, das selten vorkommt. Wenn sein Gedächtnis genau so gut wäre, wie die Auffassung, oder umgekehrt die Auffassung genau so gut wie das Gedächtnis, – ach! ach!« Dieses ›ach! ach!‹ sprach der Lehrer mit solchem Nachdruck, daß Israel dabei ganz breit wurde.
»Gott gebe Euch Gesundheit und Wohlstand!« wünschte er dem Lehrer und half ihm, den Gebetmantel und die Zehn Gebote zusammenzulegen. –
Diesen Wunsch gab er ihm als Geschenk, denn für den Unterricht zahlt er genau so wie die anderen Bürger, zwei Rubel für das Semester, außer dem Geldgeschenk zu ›Chanuka‹ und zu ›Purim‹, – obwohl Israel, der Synagogendiener, selber fast nur von ›Chanuka‹- und ›Purimgeld‹ lebte. Aber was ist dabei? Seit Beginn der Welt ist es einmal Brauch, daß einer von dem andern lebt ... Ich nehme von einem andern und gebe es einem dritten; Ihr nehmt von mir und gebt's einem anderen ... Es kommt zwar oft vor, daß die anderen von mir zweimal soviel nehmen, wie nötig ist – und jenem nichts geben – aber dafür werde ich von den anderen dreimal soviel nehmen, wenn ich kann, und den anderen auch nichts geben. Macht euch keine Sorge, wir werden die Rechnung schon ausgleichen.
Die Gelehrten benennen diesen Vorgang mit verschiedenen Namen: »Naturgesetz oder Kampf ums Leben«, oder: »Wirtschaftspolitik« und ähnlich. Aber da dies nichts mit unserer Geschichte zu tun hat, so fahren wir in unserer Erzählung fort.
Später, nachdem Benjaminchen den Kurs bei Rachmil Mojsche durchgemacht hatte, wollte ihn Israel, der Synagogendiener, gern zu Reb Elje Meier, dem ›Gomorrha‹-Lehrer, geben, der ihn in den Talmud einführen sollte. Aber Elje Meier konnte ihn nicht aufnehmen; erstens war seine Schule schon voll besetzt und zweitens war Israel nicht imstande, das Schulgeld zu bezahlen, das die anderen reichen Bürger zahlten. Benjaminchen tat also, was so viele andere tun: wenn man keine Mittel hat, um das Studium zu bezahlen, dann lernt man allein. Zu diesem Zweck gibt es die große Synagoge mit vielen Talmudbüchern, Gebetbüchern, den fünf Büchern Moses, Geschichts- und Gesetzbüchern, Erläuterungen und allerlei Kommentarbücher, die man nachts beim Licht der Kerzen studieren kann, die die Bürger für die Seelenandacht spendeten. – Wenn jemand lernen will, kann er auch auf einer Bodenkammer lernen. – Große Gelehrte sind auf diese Weise, beim Kerzenstumpf studierend, bei uns hervorgegangen. – Wir hätten jetzt vielleicht viel mehr solcher Gelehrter gehabt, nur daß in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren kein Schimmer von Aufgeklärtheit ins Bethaus gedrungen ist – und zwar gerade unter die armen Jünglinge; statt talmudistische Wissenschaft zu studieren, lasen sie heimlich Mendelsohns Werke, studierten fortschrittliche Bücher, eigneten sich heimlich die russische Grammatik an und lasen Romane von Mape, der russisch schrieb.
Nach solchem Studium konnten keine jüdischen Philosophen, Gelehrte und große Rabbiner heranwachsen. Diese jüdischen jungen Leute zerstreuten sich in der weiten Welt, und es wurde aus ihnen nichts Gutes, sie wurden Ärzte, Rechtsanwälte, Schauspieler, Journalisten, Schriftsteller, Lehrer und überhaupt Freidenker. Mancher wurde vielleicht auch Rabbiner, aber keine richtigen Rabbiner. Was konnten das für Rabbiner sein! Prediger waren es! Genau so, als ob man einen Hanswurst hinstellen würde!
Aber da dies auch nicht zu unserer Geschichte gehört, wollen wir weitergehen. –
Unser Benjamin lernte nicht allein im Bethaus, sondern mit zwei anderen Burschen, die ebenso arm waren wie er. Das war eben der Fehler, denn ein Mensch allein kann nicht so schlimm sündigen wie in Gesellschaft anderer. Ein Beweis ist schon Adam ... Solange er allem im Paradies wandelte, war es still und angenehm, aber sobald die Mutter Eva dazukam und sich zu ihm gesellte, stiftete sie ihn sofort an, von dem Baum der Erkenntnis zu kosten. Wer weiß, zu was sie ihn noch verführt hätte, wenn sie nicht vertrieben worden wären ... Dieses Beispiel mag für Benjamin herangezogen werden. Hätte Benjamin allein im Bethaus studiert, so wäre ihm wohl gewesen. Aber er lernte mit anderen Jünglingen zusammen, die ebenso mittellos, hungrig und durstig waren wie er. Bei dieser Gelegenheit sannen sie darüber nach, in welcher Weise sie in die weite Welt hinaus könnten, in die Welt, in der Wissen und Weisheit herrschte. Während sie noch hier waren, schweiften ihre Gedanken schon in der Ferne, unter den großen, gelehrten und glücklichen Menschen!
Wie ein Magnet zog die Welt sie an, – wie ein kleines Kind, das die Händchen zur Mutter ausstreckte, sehnten sie sich fort.
Welch ein Wunder, daß eines Tages, an einem Sabbatabend, die drei jungen Schüler Itzig, Jossel und Benjamin verschwunden waren! Sie waren fort! Man suchte sie an allen Ecken und Enden der Stadt. Da die beiden Jünglinge Itzig und Jossel arme Waisenkinder waren, um die sich kein Mensch kümmerte, so fehlten sie niemandem. Aber Benjamin! Der Synagogendiener Israel stellte die ganze Welt auf den Kopf, hörte nicht auf nachzuspüren und beruhigte sich erst nach einigen Tagen, als ein Brief von allen drei Hallunken ankam: Man solle nicht nach ihnen forschen und sich ihretwegen nicht beunruhigen, denn sie waren wohlauf und gesund; sie schrieben, daß das Studium in der Synagoge für sie keinen Zweck hatte und sie deswegen eine höhere jüdische Universität aufsuchen wollen, und nach Wilna, Wolotschin oder Dubno zögen.
Sie haben absichtlich diese drei Orte genannt, damit man nicht wüßte, nach welcher Stadt sie sich begaben. Das hatten sie geschickt angestellt! – glaubten sie. Aber sie hätten nicht so heimlich zu tun brauchen, denn niemand dachte daran, ihnen nachzulaufen.
Die Stadt war ganz zufrieden. Erstens war man um drei unbemittelte Jünglinge ärmer, die man hätte unterstützen müssen, weil man sie doch nicht vor Hunger sterben lassen konnte; zweitens war es ganz richtig, daß arme Kinder in die weite Welt zogen, wenn sie etwas lernen wollten. Würden es alle jüdischen Kinder so machen und könnten viele Juden hinausziehen, so brauchten sie sich um das tägliche Brot nicht so zu plagen!
Wie die beiden Jünglinge, Itzig und Jossel, endeten – ist uns nicht bekannt. Aber von Benjamin erhielt Israel, der Synagogendiener, nach einem halben Jahr einen Brief weder von Wilna, noch von Wolotschin, sondern aus einer anderen Stadt, einer großen Stadt. Der Vater soll sich um ihn nicht sorgen, denn er, Benjamin, befinde sich auf dem ›richtigen Weg‹. Er wird es mit Gottes Hilfe zu etwas bringen, Gott möge ihm nur helfen, die Prüfung zu bestehen, damit er ins Gymnasium aufgenommen werde, so wird er den Doktor machen, und nach beendigtem Studium wird er eine seine Existenz in Händen haben und Vater und Mutter auf die alten Tage ernähren können.
Der Vater wird nicht mehr zu arbeiten und Synagogendiener, die Mutter nicht Synagogendienerfrau sein müssen; alle drei Schwestern wird er mit Gottes Hilfe verheiraten, – sie werden alle zusammenwohnen und sich miteinander freuen.
»Was das Judentum betrifft« – schrieb Benjamin –, »so braucht Ihr Euch, meine Lieben, nicht zu sorgen; man kann noch so gelehrt sein und trotzdem zu Gott halten; ich bete jeden Tag, sollt Ihr wissen, wasche die Hände, bevor ich das Brot anfasse – wenn ich nur welches habe! Denn wir essen hier alle zwei Tage einmal, wie der Herr Gott es uns beschert, – einmal ein trockenes Stückchen Brot, ein anderes Mal Brot mit Salzwasser. – Wenn auch dieses einmal fehlt, dann saugt man ein Stückchen Zucker, denn Zucker stillt den Hunger und verdirbt den Appetit; dafür studiert man um so besser! Vergeßt nicht: vier Grammatikbücher muß man durcharbeiten, und wo bleibt Geographie, Geschichte und noch allerlei anderes? Mathematik ist das wenigste, Algebra habe ich schon zu Hause in der Schule gelernt, – Ihr werdet staunen! – Die schriftlichen Arbeiten, die wir damals in unserer Schule lernten, nützen uns jetzt bei den Aufsätzen, – nur schade, daß unsere Sprache nicht so richtig ist, wie es nötig wäre; aber ich hoffe zu Gott, daß wir auch darüber hinwegkommen werden. Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen, es wird mit Gottes Hilfe alles nach Wunsch gehen, die Hauptsache ist nur, die Hoffnung nicht zu verlieren und dem Allmächtigen zu vertrauen.«
Als der Synagogendiener Israel diesen Brief erhielt, lief er sofort zu Rachmil Mojsche, dem Lehrer, dem alten, guten Freund, der ein ehrlicher, diskreter Mann war.
»Seid so freundlich und lest den Brief durch, wenn Ihr ihn gelesen, werdet Ihr mir den Gefallen tun und die Antwort schreiben ... Ich könnte zwar auch allein schreiben, aber es würde nicht so gut herauskommen, sicher werdet Ihr besser schreiben als ich.«
Der Lehrer Rachmil Mojsche weiß sehr gut, daß der Synagogendiener Israel schwindelt, denn er konnte die Antwort nicht selber schreiben, und wenn man ihn halb tot prügeln wollte. Aber er war ja nicht verpflichtet, ihm nachzuweisen, daß er log, – das hieße ja, einen Menschen beschämen. Das wollte er nicht.
Er sattelte die Nase mit einer eigentümlichen Brille, die aus einem Stückchen Draht und zwei Bindfäden bestand; in einem Loch steckte ein Stückchen Blech, das andere war leer.
Israel konnte sich nicht beherrschen und fragte ihn:
»Wozu taugt Euch eine solche Brille? Könnt Ihr damit etwas sehen?«
»Immer besser als ohne Brille, ich bin schon daran gewöhnt,« antwortete ihm Rachmil Mojsche.
Hierauf nahm er das Briefchen, hielt es ein wenig entfernt, kniff das Auge unter dem Blechstückchen zusammen und las mit dem anderen, unter dem Loch, fließend, wie Wasser, mit lauter Stimme. Von Zeit zu Zeit schaute er zu Israel auf, als wollte er sagen:
»Versteht Ihr, was es heißt, lesen können?«
Israel stand unterdessen, den Kopf zur Seite geneigt, stolz, als wollte er sagen:
»Versteht Ihr, was es heißt, gut schreiben? ...«
»Nun, Herr Lehrer, was meint Ihr dazu?« sagte Israel zu Rachmil Mojsche, nachdem dieser die Brille abgenommen und ihm den Brief wiedergegeben hatte.
»Was soll ich meinen?« erwiderte Rachmil Mojsche seufzend. »Sicher, sicher sehr schön, daß er jeden Tag betet und sich die Gebetkapseln anlegt ... Wenn es nur so bleibt und nicht schlimmer wird!«
»Ich meine etwas anderes, – daß mein Benjamin heranwächst, daß ein Mensch aus ihm wird,« sagte der Synagogendiener Israel zu ihm, »aber er meinte noch etwas anderes. Er hatte die Worte: ›Gymnasium, Doktor‹ auf der Junge, nur hatte er Angst, es auszusprechen. Doch schließlich sagte er zu Rachmil Mojsche:
»Ich meine, was Ihr dazu sagt, daß er studiert ... Doktor werden will ... Was sagt Ihr dazu, Ihr seid doch ein kluger Mann ...«
Rachmil Mojsche wußte, daß er ein kluger Mann war, aber was konnte er ihm darauf antworten? Wenn es von ihm, Rachmil Mojsche, abhinge, hätte er ihn nicht das Gymnasium besuchen lassen ... Was nützte es Israel, einen Sohn zu haben, der das Gymnasium besuchte und Doktor werden wollte? ... Aber es fragte ihn doch, niemand um Rat. Rachmil Mojsche, der Lehrer, starrte die Wand an und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Der Synagogendiener verstand, was dieser Seufzer bedeutete, denn er war sich auch noch nicht ganz klar, auch keinesfalls mit dem Gymnasium durchaus einverstanden; aber andererseits würde sein Sohn Benjamin doch ein Doktor sein!
»Und wenn er Handwerker werden würde?« sagte er zum Lehrer mit einem verstohlenen Blick ... »Ist denn Doktor sein kein Handwerk? Überhaupt, – er betet doch jeden Tag und legt sich dabei die Gebetkapsel an, wenn es nur nicht schlimmer wird!«
Der Synagogendiener stand eine Weile schweigend, schließlich begann er zum Lehrer stammelnd zu sprechen:
»Ich habe Euch doch gesagt, Herr Lehrer, daß ich zu Euch eine Bitte habe, Ihr solltet so freundlich sein und meinem Sohn auf seinen Brief antworten. Und noch etwas: Ihr kennt doch unser Städtchen ... Die Leute bereden gern ihre Mitmenschen ... Ich selbst bin sehr beschäftigt, habe schwer um meine Existenz zu kämpfen ... ich wollte Euch also bitten, es soll vorläufig geheim bleiben, versteht Ihr?«
»Ich verstehe ... Warum sollte ich nicht verstehen?« erwiderte Rachmil Mojsche und setzte seine sonderbare Brille wieder auf die Nase; dann nahm er einen Bogen Papier, Tinte und Feder zur Hand, tauchte die Feder in die Tinte ein und wartete, bis der Synagogendiener ihm sagen würde, was er schreiben sollte.«
»Schreibt ihm, bitte,« diktierte Israel, der Synagogendiener. »Mein teurer, verehrter Sohn Benjamin! Erstens schreibe ich Dir, daß wir Gott sei Dank alle gesund sind; gebe Gott, von Dir das nämliche zu hören, es möge Dir in der Ferne nichts Schlimmes zustoßen. Amen! Und zweitens schreibt ihm, daß ich und meine Frau Simme ihn freundlich grüßen lassen und bitten, er möchte uns oft Briefe schreiben über sein Befinden und seine Gesundheit; schreibt ihm, daß wir ihm alles Gute und viel Glück wünschen, er soll Glück haben dort, wo er ist. Und schreibt ihm, er soll sich keine Sorgen machen, Gott ist ein Vater, – die Hauptsache, er soll seine Gesundheit schonen und daran denken, ein guter Jude zu bleiben. Denn das ist die Hauptsache. Und schreibt ihm, daß ich ihm einen Rubel schicke ...« Hierbei wühlte Israel alle seine Taschen durch ... »Schreibt ihm, ich hätte ihm gern mehr geschickt, aber ich habe nicht mehr, denn der Verdienst ist jetzt sehr schwach, man verdient kein Geld ... Es kommen keine ›Jahrzeiten‹ – Todesgedenktage – vor, von Hochzeiten und Taufen schon gar nicht die Rede, – ich erinnere mich nicht mehr der Zeit, als bei uns eine Trauung stattgefunden hat. Seit Reb Hersch seine jüngste Tochter verheiratet hat, gab es bei uns keine Trauung mehr ... nur einige wenige, die aber nicht mitzählten. Armselige Hochzeiten! ...«
»Pst! Pst! ... rennt nicht so,« sagte der Lehrer, »Ihr rast ja wie mit einer Postkutsche, ich kenne Euch ja nicht. Nun, weiter ...«
»Und dann schreibt ihm, daß ich ihm nichts mehr zu schreiben habe, schreibt ihm, daß ich ihn recht freundlich grüßen lasse, und Simme, die Mutter, läßt ihn auch recht freundlich grüßen, und alle Schwestern lassen ihn grüßen, das heißt, Pessel, Zosjel und Broncja, sehr freundlich ... Und schreibt ihm, er soll den jüdischen Sinn bewahren und ein Jude bleiben, – das ist die Hauptsache. Und weiter schreibt ihm ... Wenn Ihr fertig geschrieben habt, werde ich selbst unterschreiben.«
Als der Lehrer alles niedergeschrieben hatte, streifte der Synagogendiener Israel die Ärmel hoch, nahm die Feder langsam mit zwei Fingern und bereitete sich vor, eine edle Arbeit zu verrichten. Er schrieb seinen eigenen Namen ›Israel‹ und den Namen seines Vaters Naftale – er ruhe in Frieden – und seinen Familiennamen Rittelmann, nieder. Dabei drehte er die Zunge nach allen Seiten, je nach der Richtung des Buchstaben, – zum Beispiel beim ›Lamed‹, dem ›l‹, der nach rechts geschrieben wird, drehte er die Zunge nach rechts, – beim ›Nun‹, dem ›n‹, das nach links geschrieben wird, drehte er seine Zunge nach links.
Es gibt Menschen, die diese Gewohnheit haben, die Zunge hin und her zu drehen, nicht nur, wenn sie selbst schreiben, sondern auch, wenn sie zusehen, wie andere schreiben.
Selbstverständlich wurde das Geheimnis in dem Städtchen bekannt, daß Israels Sohn das Gymnasium besuchte und Doktor werden wollte. Aber es schadete ihm nicht in seiner Existenz, man stichelte ihn nur mit Redensarten.
»Werdet Ihr einen Sohn haben, einen ›Doktor‹, ohne Kopfbedeckung wird er gehen und noch schlimmer vielleicht!«
»Was für ein Gesicht werdet Ihr dazu machen, Reb Israel? Wie werdet Ihr aussehen? Wie eine Henne, die Enten brütet ... Die jungen Enten schwimmen auf dem Wasser, und die Henne steht am Ufer und gackert ...«
Der Synagogendiener Israel nahm das alles still hin und dachte bei sich im Herzen: Lacht nur, lacht nur Benjamin aus! – Für mich ist er wie ein Gewinnlos!
*
Eines Tages, kurz vor dem Osterfest, als die Synagogendienerfrau mit ihren drei Töchtern, Pesjel, Zosjel und Broncja mit dem Reinemachen der Wohnung beschäftigt waren, öffnete sich die Tür, ein junger Mann in Studentenuniform mit blanken Knöpfen trat ein, eine eigenartige Mütze auf dem Kopf, und fiel den Frauen um den Hals und küßte Pesjel, Zosjel und Broncja nacheinander.
Es war Benjamin.
Simme, die Mutter, weinte vor Freude
»Mein Junge, Benjamin!«
Bald darauf kam Israel erregt und erschrocken dazu und schrie seine Frau an.
»Scha! Scha! Seht nur, wie sie sich in Tränen auflöst! Was soll das Weinen?«
Aber während er selber Benjamin betrachtete, wie groß er geworden war, konnte auch er sich kaum der Tränen enthalten. – Doch eine Mannsperson ist nicht wie ein Weib! Wenn eine Frau weinte, schnäuzte sie gleich mit der Nase; aber ein Mann, selbst wenn er dem Weinen nahe war, konnte so tun, als ob er lachte.
»Wann bist du gekommen? Dreh dich mal um, daß ich dich von hinten sehe!« sagte er zum Sohn, »was hast du da für einen Rock an? Zieh dich doch aus! Warum legst du nicht ab?«
Als Benjamin den Mantel abgelegt hatte und in der blauen Uniform mit einer Menge silberner Knöpf blieb, – mit roten Wangen und leuchtenden blauen Augen, bot er wirklich einen schönen Anblick, nicht nur für die Seinen, sondern für jeden einzigen. Wer ihn sah, konnte sich an ihm nicht satt schauen. Unberufen war Israels, des Synagogendieners Sohn Benjamin, zu einem schönen, stattlichen Menschen herangewachsen.
Auch die Tochter der Nachbarin Feige-Lea, Mincja, ein neunzehnjähriges Mädchen mit schwarzen Augen und einem dicken schwarzen Zopf, der mit einer roten Schleife zugebunden war, die zu ihrem Gesicht gut paßte, kam unter dem Vorwand, ob sie nicht ein Töpfchen geliehen bekommen könnte, das die Nachbarin nicht brauche – obgleich sie genau wußte, daß Simme niemals auch nur den Versuch gemacht hatte, etwas Überflüssiges zu besitzen.
Es war nur eine Ausrede, um Benjamin zu sehen, mit den schwarzen leuchtenden Augen einen Blick auf ihn zu werfen, dem schwarzen Zopf mit dem roten Band hin und her zu schwingen, schnell umzukehren und zu verschwinden, – um nach einer Weile noch einmal mit einer neuen Ausrede herbeizustürzen und wieder davonzurennen.
Benjamins drei Schwestern, Pesjel, Zosjel, Broncja, die schon alle erwachsen waren, blickten einander an, als wollten sie sagen:
»Weißt du vielleicht, was sie hier sucht?«
Benjamin rief inzwischen die Mutter beiseite und gab ihr ein Geldstück, das er ihr in die Hand drückte, damit sie ein gutes Osteressen bereite.
Simme hatte noch nie in ihrem Leben so viel Geld in der Hand gehabt. Den Schwestern hatte er viele, viele Geschenke mitgebracht: Bänder, Kämme, Spiegelchen und allerlei Kleinigkeiten ohne Zahl! Der Mutter ein gelbes Seidentuch mit roten und blauen Blumen. Simme, die Synagogendienerfrau, weinte vor Freude.
»Was ist das? Woher hast du Geld?« fragte ihn Israel lachend.
»Was heißt – woher ich Geld habe?« antwortete Benjamin stolz. »Ich verdiene jetzt schon Gott sei Dank acht Rubel monatlich, ich gebe Unterricht, das heißt, ich unterrichte Kinder und bekomme dafür bezahlt! Ich bin jetzt in Obersekunda des Gymnasiums, in drei Jahren habe ich das Gymnasium beendet und beziehe dann die Universität, um zu studieren und Doktor zu werden.«
Benjamin erzählte und redete – und die anderen standen und ließen kein Auge von ihm und dachten sich:
›Das soll unser Benjamin sein? Das kleine Benjaminchen, das barfuß herumlief und im Bethaus herumgestoßen wurde ... Acht Rubel monatlich ... Gymnasium beenden ... Ein Seidentuch ... Universität ... Doktor ...‹
Gott mag wissen, ob noch jemand so fröhliche Feiertage, einen so feierlichen Osterabend hatte wie der Synagogendiener Israel. Guten Wein für die vier Becher und Osterschnaps, Fische mit Knödeln und Leckerbissen gab es in Hülle und Fülle. Und dazu ertönte die ›Hagada‹ (der Auszug der Juden aus Ägypten), die Israel und Benjamin wetteifernd hersagten; es war ein Vergnügen, das anzuhören. Als die Stelle kam: ›Reb Eleazar sprach‹, wackelten beide und sangen mit hoher Stimme; Simme, die während der ganzen Zeit Benjamin, ihr Kleinod, betrachtete, verzog plötzlich den Mund zum Weinen, – und die drei Schwestern Pesjel, Josjel und Broncia konnten sich des Lachens nicht erwehren und brachen in lautes Gelächter aus; da lachten die anderen und auch Simme mit. –
Es war ein echtes Fest – wie ihr es euch kaum vorstellen könnt!
Am Osterfeiertag morgen, als Benjamin die Synagoge betrat, musterten alle Leute den Studenten mit den silbernen Knöpfen wie ein wildes Tier. Jungen und Kinder umgaben ihn von allen Seiten, zeigten auf ihn mit dem Finger und lachten ihm ins Gesicht. Aber Benjamin stand regungslos mit dem Gebetbuch in der Hand und betete. Als zur Thora aufgerufen werden sollte, zeichnete Reb Munisch, der Tempelvorsteher, Israel zu Liebe seinen Sohn Benjamin mit dieser Ehre aus. Benjamin sprach den Segenspruch mit lauter, feierlicher Stimme. Da machte sich im Tempel eine Erregung bemerkbar:
»Was sagt Ihr zum Jungen unseres Israels?«
Bevor man den Tempel verließ, sagte Reb Hersch, der reichste Mann, zum Synagogendiener, er möchte ihm seinen Sohn vorführen.
»Israel!« sagte Hersch zum Synagogendiener mit wichtiger Miene, die ein reicher Mann aufzusetzen pflegte, wenn er mit einem minderen Menschen sprach, – steckte die Hände während des Gesprächs in seinen breiten, seidenen Gürtel, schaute ihm nicht ins Gesicht und sprach mit gezwungener, heiserer Stimme, hüstelnd und sich räuspernd.
»Israel! Hm, hm, kommt mal her, mit Eurem Jungen, hm, hm, laßt mich ihn auch anschauen!«
»Hört Ihr, Reb Hersch will mit des Synagogendieners Israels Sohn, dem Studenten, reden!« Die Menge horchte neugierig, was der reiche Mann zu ihm sagen, und was jener ihm antworten würde.
Benjamin nahte sich Reb Hersch, als wäre er seinesgleichen, nicht im geringsten schüchtern, und begrüßte ihn, wie ein erwachsener Mensch. Reb Hersch musterte Benjamin von oben bis unten und wußte nicht, wie er ihn anreden sollte. – Sollte er ihm ›Ihr‹ sagen, solchem jungen Knirps – das wäre zu viel Ehre für den Jungen des Tempeldieners, ›Du‹ sagen paßte sich auch nicht, – er war doch immerhin ein Gymnasiast mit Silberknöpfen, ein fescher Bursche! – Da verfiel Reb Hersch auf die Idee, ihn in der dritten Person anzureden.
»Was macht man? Wann ist man gekommen? Wann reist man wieder ab?«
Benjamin stellte den rechten Fuß vor, legte eine Hand in die Brusttasche, mit der anderen zupfte er an seiner Oberlippe und antwortete einsilbig auf die Fragen, ohne Verlegenheit. Reb Hersch gefiel das und es gefiel ihm auch wieder nicht.
»Er ist kein dummer Junge, nur unverschämt, wie es scheint ...« dachte Reb Hersch und ließ sich mit Benjamin in ein langes Gespräch über die Gymnasialklassen ein:
»Wie viele Klassen gab es? Warum gerade zehn Schuljahre, warum nicht neun? Welcher war der Unterschied zwischen den einzelnen Klassen?«
›Solch ein stattlicher, schöner Mann und so dumm‹, dachte Benjamin und setzte ihm den Unterschied zwischen den einzelnen Klassen auseinander.
Reb Hersch paßte es nicht, daß solch ein junger Fratz ihm etwas erklären sollte, was nicht zu verstehen war, und sagte zu ihm:
»Das versteht jedes Kind. Aber warum gibt es zehn Klassen, warum nicht neun?«
»Wenn es neun gäbe, würdet Ihr fragen, warum gerade neun, und nicht acht?« erwiderte ihm Benjamin, und die Anwesenden lachten. Nur Reb Hersch lachte nicht, er dachte bei sich:
»Oh, ein Unverschämter!« und hüstelte und räusperte sich.
»Hm ... hm ... Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, ›kiddisch machen‹ ... den Segensspruch sagen.«
Wer in diesem Augenblick den Tempeldiener Israel nicht sah, der beiseite stand, die beiden nicht aus dem Auge ließ und Benjamins Worte verschlang, der hat nie im Leben einen glücklichen Menschen gesehen. Er wäre aber froh gewesen, wenn Reb Hersch seinen Sohn bereits mit ihm endlich nach Hause gehen ließe. Dort erwarteten ihn bereits die Mutter und die drei Schwestern, auf dem Tisch lag wahrscheinlich die ›Mazze‹ vorbereitet, aus dem Herd kochte der wohlschmeckende ›Barschtsch‹ – die Roterübensuppe, weiße Knödel und vielleicht noch manche Leckerbissen.
Nachdem Reb Hersch aufgehört hatte zu krächzen und sich mit seinen Angehörigen entfernte, um einen Imbiß zu nehmen, lud der Tempeldiener Israel seinen einzigen guten Freund, den Lehrer Rachmil Mojsche, den er in das Geheimnis eingeweiht hatte, zu sich ein und bot ihm von echtem Osterwein an. Simme stellte feines Backwerk hin, von dem man schwer sagen konnte, was es von allem Guten am meisten enthielt: Honig oder Schmalz, denn es war so fett und süß, daß es am Gaumen kleben blieb und das Schmalz über den Bart floß.
Rachmil Mojsche, der die Gewohnheit hatte, immer zu schweigen und zu seufzen, begann es im Kopf zu drehen, als er kaum das erste Glas getrunken hatte, – seine Zunge löste sich, er wurde plötzlich redselig. Er prüfte Benjamin, ob er sich noch der fünf Bücher Moses und der Rasche-Kommentare erinnerte, die er früher einmal mit ihm in der Schule durchgenommen hatte.
Benjamin erinnerte sich sowohl der fünf Bücher Moses wie auch der Kommentare; dem Tempeldiener Israel wäre das Herz beinahe vor Freude gesprungen.
»Was sagt Ihr zu ihm?« fragte er den Lehrer, als dieser schon im Fortgehen jenseits der Tür war.
»Ein Topf voll Wissenschaft!« erwiderte ihm Rachmil Mojsche, die Lippen zusammenbeißend und mit dem Kopf schüttelnd.
»Aber Jude ist er geblieben, wie?« fuhr der Tempeldiener fort und blickte ihm in die Augen.
»Mit Gottes Hilfe,« sagte Rachmil Mojsche.
»Ist er nicht ein Gewinnlos, sagt selbst?!«
Hierauf machte Rachmil Mojsche eine Bewegung mit dem Kopf, mit den Augen und mit den Händen; er machte eine Miene, aus der schwer zu verstehen war, was er sagen wollte; man konnte es so oder anders auffassen. »Es kann ein Gewinnlos sein, oder auch nicht! Was kann ein Mensch wissen!«
»Frohes Fest!« sagte er und küßte noch einmal die an der Tür angeschlagenen heiligen Sprüche. »Gott gebe, daß wir heute über's Jahr gesund seien und uns zu Freudefesten besuchen! Recht bald auf der Hochzeit Eurer Tochter und später, wenn Gott will, bei Eurem Sohn! Mögen die Juden von allem Bösen erlöst werden, möge man nur Gutes und Freudiges vom Judentum zu hören bekommen! Es ist Zeit, daß der Herrgott sich erbarme und die Juden sich aufrichten können, ihre Existenz und ihr Leben erleichtern, – es möge in der ganzen Welt Gutes geschehen, daß jedem froher ums Herz werde – es möge ... es werde ... es soll ... es soll ...«
Der Lehrer Rachmil Mojsche wußte selbst nicht mehr, was sein soll und was geschehen möge. Er schien bereits alle seine Wünsche ausgeschüttet zu haben, die er im Herzen trug, und hielt zögernd inne ... War es nicht seltsam, daß er fortging, ohne Abschiedsgruß? ... Ein Glück, daß er sich noch zur Zeit erinnerte! ...
»Und es soll ... der Messias kommen!«
»Amen!« antwortete der Tempeldiener Israel und dachte bei sich im Herzen: »Mag erst mein Benjamin seinen Doktor machen, dann soll der Messias kommen.«
*
So lebendig und fröhlich es im Hause des Tempeldieners Israel war, als Benjamin angekommen war, so traurig und trübe wurde es, als die Zeit heranrückte, da er in die große Stadt zurückkehren sollte. Es weinte zwar niemand, aber jedem war das Herz so schwer, wie Gott behüte bei einem Leichenbegängnis. Simme faßte auch ein paarmal nach ihrer Schürze, aber Israel, vor dem alle im Hause zitterten und großen Respekt hatten, warf ihr einen strengen Blick zu, der deutlich sagte, daß sie nicht weinen durfte. Israel wollte, daß sie ein fröhliches Gesicht zeige, und hatte schon vorher der Frau und den drei Töchtern angesagt, daß sie sich nicht unterstehen mögen, eine Träne zu vergießen. Aber als Benjamin seine Angehörigen zum Abschied küßte und die Reihe an die Mutter kam, stieß Simme einen seltsam krächzenden Laut aus der Kehle heraus und wäre an Benjamins Hals beinahe in Ohnmacht gefallen. Da schnäuzten alle drei Schwestern mit den Nasen, denn sie fühlten, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten und ihre Kehlen sich plötzlich zusammenpreßten. Nur Israel hielt sich mannhaft, er hörte nicht auf, über das Weibergetue mit den billigen Tränen zu lachen, obwohl er selber spürte, wie tausend Katzen ihn bei der Seele umkrabbelten, und ein Augenblick kam, daß er beinahe auch geweint hätte. Aber ein Mann ist eben ein Mann; er nahm sich zusammen und machte Redensarten, obgleich die Worte sich nicht recht fügen wollten ... Er tänzelte hin und her wie ein Wahnsinniger, half Benjamin beim Anziehen, scherzte über die silbernen Knöpfe und den Schlitz am Rückenteil, Und zum Schluß, nach allem Scherzen und Tänzeln, sah er aus wie ein Mensch, der sich einen Zahn ziehen lassen soll.
Noch eine Seele war traurig und kummervoll über Benjamins Abreise, obgleich jene Seele nicht zu seiner Verwandtschaft gehörte und ihm ganz fremd war.
Das war Feige-Leas, der Nachbarin, Töchterlein Mincja mit den schwarzen Äuglein, dem dicken schwarzen Zopf und dem roten Band ... Was für ein Gast war diese Mincja? Was ging Benjamin sie an, daß sie so weit hinaus mitkam, ihn zu begleiten, die Hände gefaltet ans Herz preßte und seufzte? Was bedeutete es, daß die beiden sich so tief in die Augen schauten? Wann hatten sie Zeit, sich kennen zu lernen, da doch Benjamin während der ganzen Osterfeiertage bei seinen drei Schwestern eingesperrt war, die ihn nicht eine Minute freiließen? Wieder die alte Geschichte! Wer kann gutsagen für einen Jüngling und ein Mädchen, wenn sie ein paar Wochen unter einem Dach zubringen, und es sie mit magnetischer Kraft zueinanderzieht? Vielleicht haben sie sich mit wenigen Worten verständigt und mit einem Händedruck Treue gelobt? ... Wer kann es wissen? ... Vielleicht haben sie sich am Abend in einem Eckchen getroffen, wenn es dämmerte und vielleicht haben sie sich – geküßt! Weiß ich es denn? Kann ich sagen, was ich nicht mit meinen Augen gesehen habe? Ich möchte nicht eine unwahre Geschichte ausdenken; Benjamin schadete es nichts, denn er kehrte ins Gymnasium zurück und würde nicht einmal daran denken, Abschied zu nehmen ... Aber Mincja! Mincja ist ein erwachsenes Mädchen, dazu ein hübsches Mädchen, das heiraten wollte ... Ihr könnte das Gerede bei einer Heirat schaden! ...
Es wäre wohl richtig gewesen, daß der Liebesroman nicht so rasch zu Ende gegangen, daß die Liebe zwischen ihnen wie ein helles Feuer gelodert hätte, daß feurige Briefe getauscht würden, daß Benjamin seinen Doktor gemacht, zurückgekehrt und Mincja zu Füßen gefallen wäre. Oder er sollte nicht erst einmal warten, bis er den Doktor gemacht hätte, sondern sofort Mincja durchs Fenster herausstehlen und mit ihr nach Paris durchgehen, – dorthin, wo alle Helden unserer natürlich ›hochinteressanten‹ jüdischen Romane entlaufen ...
Aber was würden sie in Paris anfangen. Sie würden ja dort vor Hunger sterben!
Meine Sorge soll das sein! Als ob ich für die Leute zu sorgen hätte und mich darum zu kümmern brauchte, ob Benjamin, des Tempeldieners Sohn, und Mincja, der Nachbarin Feige-Leas Tochter, genug zu essen haben! Wie?! Kann es sich nicht ereignen, daß Benjamin oder Mincja plötzlich eine Erbschaft von etwa zehn Millionen eines reichen Onkels antreten, der früher ein Bandit war und später ein Baron wurde, wie es in allen ›hochinteressanten‹ Romanen vorkommt? Kann es nicht auch geschehen, daß Benjamin in Paris großen Erfolg haben und Präsident werden würde? Oder daß sich in Mincja ein Prinz verlieben sollte? Was liegt daran, was für ein Prinz? Gibt es denn wenig Prinzen in der Welt, du mein Vater im Himmel! Sie würde ihm nicht verraten, daß sie mit dem Präsidenten von Frankreich – das heißt mit Benjamin – verlobt war, und er – der Prinz – würde sie mit Geschenken überschütten, – aber als die Hochzeit bevorstand, tauchte plötzlich Benjamin, wie gewöhnlich, verkleidet, mit noch zwei Banditen auf, schleppte die Braut vom Altar fort und brannte mit ihr nach London durch ... Tu ihm einer was! – Aber der Prinz war auch nicht auf den Kopf geschlagen, er jagte ihnen mit einer großen Truppe Gendarmen nach, um sie zu verhaften. Da wirft Benjamin die Maske vom Gesicht – still! Es ist der Präsident von Frankreich! Die Verfolger fallen in Ohnmacht, knien vor ihm nieder, verneigen sich tief und begleiten ihn mit großer Feierlichkeit bis nach Paris, ihn, zusammen mit Mincja. Von dort fahren sie in die Heimat zurück, überhäuft mit Gold und Diamanten. Sie treffen gerade in einer Zeit an, da Israel vor Kummer und Hunger todkrank daniederliegt; – Simme war schon lange tot. Was spielt es für eine Rolle, wenn eine alte Frau in einem Roman stirbt ... Alle drei Schwestern, Pesjel, Zosjel und Broncja, knien vor dem Bett des Vaters und vergießen Tränen ... Feige-Lea, die Witwe, ringt die Hände und beweint ihre Mincja mit heißen Tränen.
»Es ist bald ein Jahr,« sagt Israel mit schwacher Stimme zu ihr, »es ist bald ein Jahr, seitdem unsere lieben Kinder verschwunden sind, und wir hören nicht auf zu weinen. Meine arme Simme ist gestorben. Ich sterbe und lasse meine drei Töchter, wie auf dem Wasser zurück.«
»Was wird aus ihnen werden? O weh! Gewalt! Lieber Gott! Was schweigst du?«
Plötzlich öffnete sich die Tür, und in die Stube stürzten Benjamin, der Präsident von Frankreich, und Mincja, die Prinzessin von London, angezogen wie eine Königin.
»Lieber Vater!«
»Liebe Mutter!«
»Lieber Bruder!«
»Liebe Schwester!«
»Teure Tochter!«
»Wo seid ihr so lange gewesen?«
»In Paris und in London!«
»Was habt ihr dort in den Säcken und in euren Koffern?«
»Gold! Lauter Goldstücke! Das haben wir euch als Geschenk mitgebracht! – Ihr wißt doch, daß uns eine Gratulation zukommt!«
»Wieso denn?«
»Wir sind doch Braut und Bräutigam!«
»Ach so? Dann kommt uns ja allen eine Gratulation zu!«
»Viel Glück! Viel Glück! Viel Glück!« – –
Das hätte ich erzählt, wenn ich einen ›echten, interessanten‹ Roman schreiben wollte, – aber ich erzähle ja nur eine einfache Geschichte von einem jungen Mann, der weder nach Paris, noch nach London gereist ist, sondern einfach nach einer Großstadt, um zu studieren. Wir brauchen also keine Wundermärchen zu erzählen, die weder Hand noch Fuß haben, sondern erzählen lieber die Geschichte so, wie sie sich zugetragen hat.
*
Drei Jahre sind seit jenem glücklichen Osterfest vergangen, das wir geschildert haben. Viel Wasser ist geflossen, viel Kummer hat man erlebt – der Tempeldiener Israel hier und sein Sohn Benjamin dort; viele Nächte haben sie nicht geschlafen, der Tempeldiener Israel hier und sein Sohn Benjamin dort; der Tempeldiener Israel schlief keine Nacht, weil er voller Unruhe wegen seines Sohnes Benjamin war, der so viel arbeitete; Benjamin schlief keine Nacht, weil er sich zum Examen vorbereitete.
»Gott soll mir helfen, daß ich das Examen bald hinter mir habe,« schrieb Benjamin nach Hause. »Dann komme ich zu Euch, meine ›Lieben und Getreuen‹, um den ganzen Sommer bei Euch auszuruhen! ...«
Der Tempeldiener Israel erwartete die frohe Botschaft über das ›Examen‹, wie man den Messias erwartet. Er stellte sich vor, daß Benjamin als fertiger Doktor, als ein berühmter Mann heimkehren würde; die ganze Stadt würde herbeirennen, um ihn zu besehen.
»Das Tempeldieners Israel Doktor!« ... Man schlug ihm die Türen ein, dieser mit einer Bitte, jener mit einem anderen Wunsch; manche suchten einen Vorwand, sogar der Buchbinder Ensil, ein Schlemihl mit einem lahmen Fuß, der beim Gehen immer hochspringt, kam auch herbeigetänzelt.
»Was willst, du hier, Reb Schmelke?« fragte ihn Israel.
Der Einbinder Ensil, der nicht nur mit einem Fuß humpelte, sondern lispelte und ›r‹ nicht aussprechen konnte, erwiderte:
»Bitt Euch, Jeb Isjael, ich bin doch ein Vejandtej von Euch.«
»Was für ein Verwandter bist du?« fragte ihn Israel, obgleich er genau wußte, daß er weitläufig verwandt war.
»Mein ältejej Onkel Juben und Eujej Pinjes Tante Jesa wajen Schwestej und Bjudej ...«
»Vielleicht hast du mit meinem Sohn im Sand gespielt?« entgegnete Israel; aber der Buchbinder Ensil machte ein jämmerliches Gesicht, daß Israel mit ihm Mitleid hatte und ihn hereinließ.
»Nun?« fragte ihn Israel, als er von Benjamin wiederkam. »Was sagst du, Schlemihl?«
»Hundejtundzwanzig Jahje sollt Ihj leben!« antwortete ihm Ensil, hielt eine Faust voll Gold, humpelte auf einem Fuß, und sein Gesicht brannte und war mit Schweiß bedeckt.
»Deine Verwandtschaft,« sagte Israel zu Simme stichelnd und zeigte ihr mit den Augen auf den Schlemihl, den Buchbinder Ensil.
»Ein bedauernswerter, armer Mann!« rechtfertigte ihn Simme.
»Was ist dabei? Gibt es denn wenig arme Leute in der Stadt? ...« erwiderte Israel, aber er meinte etwas anderes. Er fürchtete, daß die Leute seinem Sohn alles wegschleppen und ihn zu einem Habenichts machen würden.
»Genug!« sagte Israel und schloß die Tür. »Genug mit dem Hinein- und Hinausgehen! Laßt ihn doch wenigstens von der Reise ausruhen! ...«
Der Tempeldiener Israel war mit seinen goldenen, beflügelten Gedanken in weite Feme geschweift, wo ihm sein Posten als Tempeldiener nicht mehr paßte; es war ihm überdrüssig geworden, jeden zu bedienen, jedermanns Launen zu ertragen, die ›Jahrzeit‹ – Gedenktage – aller Menschen im Kopf zu haben, jedem besonders zu schmeicheln, all die vielen Juden zu befriedigen, von denen jeder den ›Misrach‹, den besten, vornehmsten Platz in der Synagoge, haben will. Alle wollten just ›Schischi‹, das sechste Kapitel der Bibel, vorgelesen haben, alle wollten just den Anfangssatz von ›Ato Urejso‹, dem Abschnitt über die Gesetzesfreude ... und wenn die Synagogenvorsteher sich untereinander zankten, – wer war schuld daran? – Der Tempeldiener! Wenn zwei reiche Leute sich in der Synagoge wegen des ›Esrog‹ Esrog = Paradiesapfel, ein Bestandteil des Feststraußes am Laubhüttenfest. stritten, den der eine früher zugeschickt bekam als der andere – wer wurde dann gescholten? – Der Tempeldiener! Wer arbeitet am allermeisten? Wer kommt am Sabbat und am Feiertag am spätesten nach Hause? Wer setzt sich zu Tisch, wenn schon alle schlafen? – Immer der Tempeldiener! – Es ist ihm Ach und Weh! Und was hat er davon? Kummer und Sorgen! Schmerz und Leid! »Meinen Feinden wünsch ich all den Ärger und die Unannehmlichkeiten!« Gehalt bekam er nicht, seine Einkünfte bestanden lediglich aus den Gaben; wenn er welche bekam, war es gut, bekam er keine, so schmerzte es gar sehr ...
»Israel! Sei so gut und geh schnell in mein Haus!« pflegte der reiche Reb Hersch früher zu ihm zu sagen, indem er sein Bäuchel streichelte und jedesmal dabei hüstelte ... »Spring einmal zu mir hin ... hm ... hm ... und sag meiner Sara, daß ich bei mir unter dem Kissen ... hm ... hm ... die Schlüssel zurückgelassen habe ... Wenn sie sie vielleicht suchen sollte, damit sie weiß ... hm ... hm ..., wo sie sind.«
Der Tempeldiener Israel pflegte vor dem reichen Mann Reb Hersch stramm zu stehen, wie ein Soldat vor dem General; bevor jener das Wort: ›Geh!‹ ausgesprochen hatte, rannte er schon. Aber jetzt eilte Reb Israel nicht so sehr und brummte unter der Nase.
»Schlüssel ... Als ob ich sein Diener wäre ... Mag er doch schicken, wenn er etwas braucht ... Nur, um den Menschen zu treiben wie einen Hund ...
»Was brummt Ihr da?« fragte ihn der reiche Reb Hersch, der solches Benehmen nicht gewohnt war.
»Wer brummt denn? Brumme ich etwa? Ich sag ja nur: Mag er schicken, wenn er etwas braucht ... das heißt Ihr schickt mich ja ... und ich gehe! Ihr seht doch!«
Israel rannte wegen der Schlüssel und fluchte auf dem Wege, Reb Hersch mitsamt allen übrigen reichen Leuten mögen sich das Genick brechen. Wenn Gott nur Sommer werden läßt, und sein Sohn kommen wird, dann braucht er sie alle nicht mehr.
Gott hat geholfen und ließ Sommer werden, aber Benjamin kam nicht. Auch schrieb er nicht mehr so oft und viel wie früher, und die seltenen Briefe wurden immer kürzer und trauriger. Er teilte nur mit, daß er zu dieser und dieser Zeit das und das Examen zu bestehen hatte.
»Dieses Examen«, schrieb Benjamin in seinem letzten Brief, »ist ausschlaggebend. Wenn mir ein Sechzehntel zur Durchschnittssumme fehlt, dann werde ich nicht zur Prüfung zugelassen. Wenn ich jetzt nicht zugelassen werden sollte, müßte ich wieder ein ganzes Jahr warten. Aber wer weiß, was übers Jahr sein wird! Vielleicht ist es dann noch schlimmer! Was werde ich dann tun? Was soll weiter sein? Wozu brauchte ich so viel zu arbeiten und mich abzuplagen, auswendig zu lernen und zu ochsen, tagelang zu hungern, keine Nacht zu schlafen, wie ein Hund zu frieren! Nicht ich allein stelle diese Fragen, – es gibt noch eine ganze Zahl solcher, die vom vorigen Jahr zurückgeblieben sind und nicht zugelassen werden, weil sie die Durchschnittsnummer nicht voll haben! Dazwischen kommt noch die Militärgestellung, und man fällt beim Examen durch! – Es ist schwer! Bitter und finster!«
Der Tempeldiener Israel ging kopflos herum, er verstand nicht, warum Benjamins Briefe plötzlich so traurig geworden waren und bat Rachmil Mojsche, den Lehrer, daß er bei seinem Sohn Benjamin anfragen solle, was es mit der Durchschnittsnummer für eine Bewandtnis habe und was es bedeutete, daß ihm ein Sechzehntel fehlte. Maß man denn beim Examen die Schüler wie bei der Militärgestellung? Was heißt es, beim Examen durchfallen? Wer fiel? Wohin? Er möchte alles ausführlich schreiben und sich keine Sorgen machen, er soll sich auf den Ewiglichen verlassen. Er kann alles, – und die Hauptsache, er soll ein Jude bleiben, dann wird mit Gottes Hilfe alles gut werden.
Auf diesen Brief und auf alle übrigen erhielt der Tempeldiener Israel keine Antwort mehr. Er war es nicht gewohnt, von Benjamin so lange ohne Nachricht zu sein und schrieb noch lange immer und immer wieder, aber schließlich hörte er auf zu schreiben, weil er sich vor dem Lehrer Rachmil Mojsche schämte.
»Was kann passiert sein, daß so lange kein Brief kommt?« fragte Simme ihren Mann Israel, der sie, wie gewöhnlich, dafür schalt.
»Dummes Kalb! Hat er denn nichts anderes zu tun, als Briefe zu schreiben! Wart nur, mag er erst das ›Examen‹ machen, dann wird er dir schon schreiben!«
Nachdem er sie mit dieser Antwort abgetan hatte, ging sie davon, wie ein Hund, der sich seinem Herrn anschmeicheln will, mit dem Schwanz wedelt und fortgejagt wird.
Israel ging mit bangem Herzen und schwerem Gemüt umher, er konnte keinen Platz finden. Was er sich in jener Zeit für Gedanken machte, soll kein Vater je erfahren! Furchtbar waren die Träume, die er in der Nacht sah! Entsetzliche Träume! Einmal träumte ihm, daß er mit Simme zu seinem Sohn zu Besuch fuhr. Er fuhr und fuhr, über Berge und Täler, durch Felder und Wälder, – endlich langte er vor einem großen Schloß an und fragte:
»Wohnt hier Doktor Ritelmann?«
Man antwortete ihm: »Der wohnt hier, aber man kann ihn nicht sehen!«
»Warum nicht?« fragte er.
»Weil er keinen vorläßt,« wurde ihm geantwortet.
»Seid so gut und sagt ihm, daß sein Vater gekommen ist!« versetzte Israel. »Und die Mutter!« fügte Simme hinzu.
»Seht doch nur! Überall muß sie drein reden!« fuhr Israel sie an. Während sie so sprachen, sah er von weitem einen ›General mit Epauletten‹! Er hätte schwören können, daß es Benjamin war. Israel ging auf ihn zu, Simme folgte ihm; aber so weit sie auch gingen, sie konnten ihn nicht erreichen.
»Etwas schneller! Sieh nur, wie sie sich schleppt! Rühr dich doch! Rühr dich!« schrie er Simme an. Beide begannen zu rennen, aus aller Kraft rannten sie. Israel hörte nicht auf, über Simme zu schreien:
»Schneller! Schneller! Schleppt sich wie eine Schnecke! Simme, verbrennen sollst du – nicht verbrennen!«
»Gott ist mit mir! Was schreist du?« rief Simme und rüttelte ihm im Schlaf.
Israel sprang auf, riß die Augen auf, spie dreimal aus, drehte sich auf die andere Seite um, schlief wieder ein und hatte einen neuen Traum, noch schlimmer als den ersten: Was sah er? Einen schwarzen Traualtar, schwarze Kerzen, eine schwarze Bahre ... Jemand steht da mit einer Zange und will ihm einen Zahn ausreißen ... er wehrt sich, verteidigt sich ... Da hört er plötzlich Benjamens Stimme.
»Vater! ... Vater! ... Es ist zu deinem Nutzen!«
*
Habt ihr einmal von dem Stadtrat Lemmel gehört?« Oder hört ihr zum ersten Male Lemmels Namen? Wie kommt das? Er ist doch ein Mann, dessen Name überall bekannt ist. Er ist nicht nur wirklicher Stadtrat, der über alles Bescheid weiß und das ganze Städtchen beherrscht, sondern er hat im ganzen ›Gouvernement‹ einen Einfluß, er hat Beziehungen zu allen großen Leuten. Wenn er in die Gouvernementstadt kommt, so weiß er nicht, wohin er zuerst gehen soll, sagte er. Jeder reißt sich nach ihm ... ›Herr Lemmel! Panie Lemmel! Reb Lemmel!‹ Es tut sich was. Jedesmal, wenn er aus der Gouvernementstadt zurückkam, mußte er etwas Neues mitbringen, damit man für drei Monate zu reden hatte: Ein großer Bankrott von dreimal Hunderttausend! Ein schreckliches Feuer, bei dem fünfundsiebzig Menschen umgekommen sind! Oder eine furchtbare Schlägerei in der Stadt, daß die Haare sich sträuben ... Und, obwohl die Bankrotts ein wenig oft vorkommen, Brand und Schlägereien jede Woche stattfinden, fällt es niemand ein, ihm zu widersprechen; niemand fragt nach der Begebenheit ... Wie machen es denn die Zeitungen? Die Zeitungen dürfen es? Erinnert ihr euch der furchtbaren, die vor langer Zeit in allen Zeitungen beschrieben war? Es hatte sich in Bialystok, in Riga oder in Zytomir zugetragen, ich weiß es nicht mehr genau. Die Geschichte war folgende:
Eines Tages saß eine Frau mit einem Säugling im Arm. Plötzlich fing das Kind an zu weinen; – die Frau wollte das Kind stillen und knöpfte die Taille auf, – da sprang eine Schlange auf ihren Schoß, sog sich mit dem Maul an der Brust fest und ließ sie drei Tage lang nicht los. Alle Ärzte und die größten Professoren kamen und gingen wieder fort, da sie nicht wußten, was sie tun sollten: sie fürchteten, die Schlange mit Gewalt loszureißen, denn wenn sie Gift zurückließ, dann war die Frau verloren; ließen sie sie saugen, dann würde sie ihr das ganze Blut abzapfen! Wie das endete, werden mir vielleicht unsere Leser sagen ... So schrieben die Zeitungen. Schon mehr als drei Jahre halten wir die Zeitung und lesen sie und kennen noch bis heute nicht das Ende der Geschichte. Und was macht die bedauernswerte, unglückliche Frau? Daß die Schlange noch immer an ihrer Brust sog, war wohl unwahrscheinlich, – das wäre ein wenig übertrieben; wäre die Frau aber gestorben, so hätten doch die Zeitungen darüber geschrieben. Also kommen wir schließlich dahinter, daß weder eine Frau, noch eine Brust, noch eine Schlange vorhanden ist! Was denn? Vermutlich ist alles erlogen!
Kurz nachher lasen wir in der Zeitung folgende Geschichte: In einem kleinen Städtchen, – ich glaube in Bobrijsk, – wurde eine jüdische Hochzeit gefeiert. Die Musikanten spielten. Die Gäste tanzten. Die Köche und Köchinnen rannten geschäftig umher, wie gewöhnlich bei einer Hochzeit. Plötzlich sagt die Braut, daß sie sich nicht wohl fühlt und legt sich für einen Augenblick hin. Wie sie sich hingelegt hatte, schlief sie ein. Die Musikanten spielen, die Gäste tanzen, die Köche und Köchinnen rennen geschäftig umher – die Braut schläft. Die Musik ist zu Ende, der Tanz vorbei, das Festmahl verzehrt – die Braut schläft. Die Gesellschaft ist nach Hause gegangen, man löscht die Lichter aus – die Braut schläft. Man steht am nächsten Morgen auf – die Braut schläft. Man legt sich schlafen – die Braut schläft. Man steht auf – die Braut schläft. Kurz gesagt – es sind bereits drei Wochen seit der Hochzeit vergangen – und die Braut schläft noch immer!
»Was mit ihr geschehen, werden wir unseren Lesern recht bald mitteilen ...«
Selbstverständlich halten wir die Zeitung schon das zweite Jahr, denn wir fürchten, daß die Braut vielleicht erwachen könnte, und wir würden nicht wissen, wer uns zum Narren gehalten hat. – Verlorene Mühe! Jeden Tag, wenn die Zeitung kommt, ist das erste, wonach mich meine Frau fragt:
»Was hört man von der Bobrijiker Braut?«
»Es steht nichts drin, – die schläft wahrscheinlich noch,« antwortete ich meiner Frau und denke mir im Innern:
»O weh! Ich fürchte, daß die ganze Geschichte nur erdacht ist, alles erlogen!«
So ist es auch mit unserem Lemmel. Der Unterschied besteht nur darin, daß, wenn die Zeitungen eine Geschichte ausdenken, sie einen Zweck dabei verfolgen – und zwar wollen sie dadurch Geld verdienen; aber unser Lemmel, der Stadtverordnete, ist glatt ein Aufschneider und ein Schwätzer.
Stellt euch nun vor, was für ein Feiertag es für unseren Stadtverordneten war, als plötzlich in der Gouvernementverwaltung ein Schreiben ankam, daß Benjamin, der Sohn Israel Ritelmanns, aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen werden soll, weil er zu einem anderen Glauben übergetreten ist ...
Kaum hatte der Stadtverordnete Lemmel das Schreiben gelesen, da vergaß er alle Verwaltungsgeschäfte, ergriff das Schreiben, rannte auf die Straße hinaus, blieb jeden Augenblick stehen, flüsterte jedem besonders das Geheimnis ins Ohr und posaunte es in der ganzen Stadt aus.
Es gibt Zeiten, die man das ›Stillschweigen‹ nennen kann.
Der Himmel ist klar, kein Fleckchen trübt ihn, kein Wind regt sich, – Stille, Schweigen ringsumher. Alles schläft, die Stadt ist wie ausgestorben, – plötzlich, man weiß nicht woher, fällt eine Bombe nieder und reißt die ganze Welt ein. Alle springen auf und beginnen zu rennen.
»Ach! Was! Wo? Was ist geschehen? ...« Es wird lebendig und fröhlich im Städtchen.
Die Neuigkeit von Israels Sohn war die Bombe, die das ganze Städtchen aufrüttelte und alle Juden in Bewegung versetzte. Jeder besonders war durch diese Sache so aufgeregt, als ob sie sein eigenes Geschäft betroffen hätte, als ob ihn nichts anderes anginge, als das. Viele verließen ihre Geschäfte, ließen das Essen stehen und begaben sich auf den Markt, um zu hören, was es Neues gab. Um das Haus des reichen Reb Hersch waren viele Menschen versammelt, Reb Hersch selbst stand im Kaftan, ein Käppchen auf dem Kopf, auf dem Balkon, von seinen Freunden und von wildfremden Juden umgeben, die ihn kriecherisch umschmeichelten, in der Hoffnung, daß sie eines Tages vielleicht etwas Gutes von ihm erfahren würden ... Man kann nicht wissen! ...
Reb Hersch hält eine lange Rede, die Schmeichler nicken bejahend mit dem Kopf:
»Was denn! Haben Sie nicht recht? Sie haben sehr recht!«
»Ein Tempeldiener, ein Garnichts, ein Habenichts will klüger sein als die ganze Welt!« sagt Reb Hersch, heiser hüstelnd. »Hm, hm ...« Einen Doktor wollte er gar aus seinem Jungen machen! Was wäre dabei gewesen, wenn er auch Tempeldiener geworden wäre, wie sein Vater, oder vielleicht Lehrer! Ich möchte gern hören, was der Tempeldiener jetzt dazu sagt?! Ob er von dem Ereignis noch nichts weiß ... hm, hm? Er läßt sich ja gar nicht sehen, der Schlemihl ... Wo kann er sein?«
Es fanden sich solche, die nicht faul waren, in die Synagoge zum Tempeldiener zu gehen – aber sie konnten Israel nirgends finden.
*
Wer gewohnt ist, ›wirklich interessante Romane‹ zu lesen, möchte gern hören, daß der Tempeldiener Israel sich den Kopf an der Wand zerschlug, oder daß er zum Teich lief, sich zu ertränken, oder daß er auf den Boden des Rathauses rannte und sich an einem Balken aufhing; Frau und Kinder sollten jammern und klagen, die Stadt sollte in Aufruhr sein, alles sollte erregt umherlaufen, es sollte donnern und blitzen! Vielleicht hätte ich es dem Leser zulieb so geschehen lassen. Aber was soll ich machen, wenn der Tempeldiener Israel von dem Ereignis noch keine Ahnung hat? Während das ›Schreiben‹ die Runde durch die ganze Stadt machte, saß Israel bei seinem einzigen guten Freund und Vertrauten, dem Lehrer Rachmil Mojsche. In derselben Zeit, da das bewußte Schreiben in der Verwaltung angekommen war, erhielt Israel von der Post ein Paket, das sein Sohn ihm geschickt hatte. Er hatte noch nie einen so langen, dicken Brief von Benjamin erhalten, – eine ganze Litanei! Er las mit großer Mühe mehrere Seiten und verstand kein einziges Wort; da ging er zu dem Lehrer Rachmil Mojsche.
»Angekommen!« rief Israel bereits an der Tür mit Freude.
»Ein Brief von Eurem Sohn?«
»Und was für ein Brief! Drei Bogen voll!«
Als der Lehrer hörte: »drei Bogen voll!«, legte er sein Werkzeug beiseite; die Schüler lebten unterdessen auf.
Kleinigkeit! Sie konnten inzwischen ›Patschhände und Treffen‹ spielen! Und sich einfach vom Bibellernen ausruhen – ist auch etwas wert!
Rachmil Mojsche setzte sich die Brille auf die Nase und begann den Brief mit lauter Stimme und ausdrucksvoll zu lesen. Zuerst las er glatt und fließend, aber je weiter er kam, um so häufiger hielt er zögernd inne, als ob er auf spitzen Steinen ging, denn es wurde immer schwerer verständlicher, es kamen sonderbare Worte, denen er noch nie im Leben begegnet war. Er setzte jeden Augenblick seine Brille auf der Nase zurecht, trug den Brief näher ans Fenster, zuckte mit den Achseln und kaute die Worte. »Mm ... Mm ... Eine fremdartige Sprache! ... Nation ... Emanzipation ... Werd einer klug daraus! Ich verstehe nichts, so wahr, wie ich kein schlechtes Abendbrot haben werde!«
Israel saß, den Kopf auf die Hand gestützt, an der Tischecke, starrte auf Rachmil Mojsches Mund, lauschte gespannt auf jedes Wort, wollte den richtigen Sinn erfassen, aber er verstand nichts. Er wußte nicht, was es bedeuten sollte, daß Benjamin sich plötzlich rechtfertigte und schwor, daß er derselbe Mensch ist, wie er früher war, im Gegenteil noch mit größerer Liebe und Treue ...
Israel verstand nicht, warum er jetzt nicht derselbe sein sollte wie früher? Was bedeutete es, daß er ihn bat, ihm zu verzeihen? Was soll er ihm verzeihen?
»Es konnte nicht anders sein,« schrieb er, »er hat sich genug gequält, obgleich er wußte, welchen Schmerz er seinen Eltern antat; aber das Ringen nach Aufklärung von Kindheit an, der Drang zur Wissenschaft ist bei ihm so groß, so stark, daß es den Sieg davontrug.
Da erinnerte sich Israel seines Traums, den er geträumt hätte, und sein Herz preßte sich zusammen wie bei einem Menschen, der vor einer Operation stand ...
Er fuhr auf.
»Was? Was? Noch einmal! Lest noch einmal! Was schreibt er? Was? ...«
Rachmil Mojsche rückte seine Brille zurecht, wollte noch einmal lesen ... Da öffnete sich plötzlich die Tür, und herein kam ... Basja Inde, Rachmil Mojsches Frau, eine Frau, nicht so dick wie lang, und nicht so schön wie gelb, mit einem großen Marktkorb. Im Korb waren lauter gute Sachen: Kartoffeln und Zwiebeln, zwei schwarze Rettiche, ein Stückchen Leber, die sie sich mit Mühe von Simche Leib, dem Schlächter, ausgebeten hatte, weil Lunge und Leber immer hundert Abnehmer hatten, Gott sei Dank; die Frauen schlugen sich um diese Ware ungefähr wie im Bethaus die Männer um ›Ate Urejso‹ ... den Anfang des Gebets ... Das war nichts Neues; denn es kostete wenig und hatte keine Knochen. – Wenn man es mit Kartoffeln und Zwiebeln kocht und es gut dämpfen läßt, daß es weich wird, so ist das ein Paradiesgericht!
Als Basja hereinkam und sah, daß ihr Mann mit dem Tempeldiener las, blickte sie die beiden Männer an und wollte sich überzeugen, ob es der Schlemihl bereits wußte oder nicht. Aber sie konnte von ihren Gesichtern nichts ablesen; da stellte sie den Korb hin und gab ihrem Mann ein Zeichen, indem sie sich mit der Hand von unten nach oben über das Gesicht fuhr.
Rachmil Mojsche, komm einmal her!« sagte sie zu ihm. Raschmil Mojsche hatte verstanden, daß Basja Inde ihm etwas sagen wollte; er setzte die Brille ab, eilte für einen Augenblick in den Korridor; jenseits der Tür fand zwischen Mann und Frau unter vier Augen folgendes Gespräch statt:
Sie: Weiß er schon?
Er: Wer?
Sie: Der Schlemihl!
Er: Was für ein Schlemihl?
Er: Wovon?
Sie: Von dem Sohn.
Er: Von was für einem Sohn?
Sie: Von Benjamin.
Er: Was ist denn?
Sie: Die ganze Stadt ist voll davon.
Er: Wovon?
Sie: Von der Sache über seinen Sohn.
Er: Wessen Sohn?
Sie: Des Tempeldieners Sohn.
Er: Was ist mit ihm?
Sie: Pfui mit dir! …
Gott weiß, wie lange das Gespräch sich noch hingezogen hätte, wenn der Tempeldiener selbst nicht heruntergekommen wäre und erschrocken gefragt hätte:
»Wie? Was? Was erzählt Ihr da? Was habt Ihr da von Benjamin gesagt? Wie?«
Basja wußte nicht, was sie tun sollte. Wie konnte man sich da ausreden? Warum soll sie die Botschaft verkünden? Lieber würde sie ihn sofort zu dem Stadtverordneten Lemmel schicken, mag er sich mit ihm den Kopf an die Wand schlagen!
»Gar nichts! Ich weiß nicht!« erwiderte Basja, indem sie sich mit der Hand von unten nach oben über das Gesicht fuhr. »Ein Schreiben soll betreffs Eures Sohnes angekommen sein, erzählt man sich.«
»Was für ein Schreiben?« fragte Israel leichenblaß.
»In der Verwaltung ... dort ...« erwiderte Basja Hinde.
»Was für eine Verwaltung?«
»Wegen was?«
»Das weiß Lemmel ...«
»Was weiß er?«
»Von Eurem Benjamin ...«
»Was ist mit Benjamin? Was denn?!« fragte Israel bereits zornig.
»Weiß ich denn? Ihr fragt mich umsonst, geht gefälligst zu ihm, zu Lemmel ... Er ist jetzt auf dem Markt ... Ich meine Lemmel mit dem Schreiben.«
›Schreiben ... Lemmel ... Verwaltung ... Benjamin ... die ganze Stadt ... Was soll das bedeuten?‹ dachte Israel und er fühlte, wie seine Wangen glühten und es ihm in den Ohren sauste. Er rückte seinen Hut in die Stirn, machte einen krummen Rücken und eilte davon.
*
Es gibt Menschen, die den Nächsten gern beobachten, wenn er vom Unglück heimgesucht wird, ihn anglotzen, während er weint, ihm nachgucken, wenn er hinter dem Leichenzug hergeht, ihn anstarren, wenn er die Hände ringt, den Kopf an die Wand schlägt oder sonst wie verzweifelt ist. Ich mache mir nichts aus solchen Szenen. Mag man darüber denken, wie man will, – aber ich liebe keine traurigen Bilder ... Meine Muse trägt keinen schwarzen Schleier im Antlitz, meine Muse ist arm, aber fröhlich ...
›Wo ist der Tempeldiener Israel hingerannt? Wen hat er gesprochen? Was hat er erfahren? Was hat er gesagt?‹ fragt gar nicht. Ihr werdet keine Freude davon haben.
Was werdet ihr dabei gewinnen, wenn ihr es erfahrt? Ach, es gibt Menschen, für die fremdes Unglück eine Neuigkeit bedeutet, des Fremden Herz eine Fiedel ist, des Fremden Nerven Saiten sind, des Fremden Weinen wie eine Melodie klingt und des Fremden Seele einem Spielzeug gleicht ...
Was habt ihr schon davon, wenn ihr erfährt, daß sich Menschen fanden, die für den Tempeldiener Israel Schadenfreude empfanden, weil er Tag und Nacht mit seinem ›Gewinnlos‹ herumgegangen war?
»Vergeltung!« sagte der reiche Reb Hersch heiser hüstelnd und streichelte sich dabei seinen runden Bauch.
»Vergeltung! Ein Habenichts ... hm ... hm ... soll eben nicht anmaßend werden! ... Doktor gar ... hm ... hm ...«
Viele empfanden Mitleid mit dem bedauernswerten Tempeldiener. Aber ich meine, ihr wißt, was ›bedauernswert‹ heißt.
»Gott schütze vor jüdischem Wohlwollen, vor jüdischem ›Bedauern‹« – pflegte meine selige Großmutter Minde zu sagen, »denn von jüdischem Wohlwollen kann man einen harten Kopf bekommen und von jüdischem Bedauern ziehen sich die Zähne zusammen ...«
Erst gegen Abend schleppte sich Israel kaum lebendig nach Hause, ließ sich langsam auf die Erde nieder, zog die Stiefel aus, macht einen Riß in seinen Rock, wie nach dem Tode eines Angehörigen und ließ sich eine Stunde zur Trauersitzung nieder. Ebenso taten Simme und alle drei Töchter, Pesjel, Zosjel und Broncja und weinten selbstverständlich viele Tränen, jammerten verzweifelt und schlugen die Köpfe an die Wand, – obgleich sie sich schon genug aufgeregt hatten, noch bevor Israel nach Hause gekommen war.
Später, als Rachmil Mojsche, der Lehrer, kam, um ihnen sein Beileid auszusprechen, bot sich ihm folgendes Bild:
Israel saß, den Kopf zwischen den Knien, Simme verdeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und weinte leise; Pesjel, Zosjel und Broncja saßen mit roten, geschwollenen Augen und blickten mit erstarrten Gesichtern, jede in eine andere Ecke. – Der Kummer und die Schande war für sie alle wohl so groß, daß sie sich gegenseitig nicht in die Augen schauen wollten ...
Rachmil Mojsche trat leise, ohne Gruß, ein, wie gewöhnlich, wenn man die Hinterbliebenen besuchte, – ließ sich langsam auf dem Rand einer Bank nieder, seufzte und saß still und stumm, wie eine Wand, da. Nach einer Weile seufzte er wieder und schwieg still, – noch einen Seufzer und wieder Schweigen. Erst nach einigen Minuten schaute er sich um, ob es einen Zweck hatte, so dazusitzen und zu schweigen ... ›Man muß doch ein gutes Wort sagen.‹ Aber was soll man sagen? Also wäre wieder einer gestorben ... Wenn man zu den trauernden Hinterbliebenen kommt, dann weiß man, was für Worte man sagen soll:
»Vier Ellen empfangen, vier Ellen genommen,« oder: »Ein Mensch gleicht sozusagen einer Fliege ...« oder: »Dem Tod kann keiner entgehen ...« oder: »Was ist zu tun? Glaubt mir, wir müssen alle sterben ...«
Tröstend sind zwar solche Worte nicht; aber immerhin gewähren sie eine gewisse Erleichterung ... Wenn die Menschen reden, weicht die Beklommenheit vom Herzen ... Aber was kann man bei diesem Trauerfall sagen? – Sie trauern ja um einen Lebendigen. –
Rachmil Mojsche drehte sich räuspernd auf der Bank um. Er wollte etwas sagen, aber er konnte kein Wort herausbringen. Er versuchte mehreremal, bis er endlich mit großer Mühe zu reden begann. Als er ins Reden kam, konnte er nicht wieder aufhören, er wußte nicht, wie er ein Ende finden sollte.
»Tja ... die alte Geschichte ... es ist doch, wie man sagt, eine Fügung Gottes, denn alles ... hört Ihr ... kommt von Gott, ohne Gott geschieht kein Ding, den kleinen Finger rührt der Mensch unten nicht, wenn es ihm von oben nicht befohlen wird ... Gott ist der wahre Gebieter, – was taugt alles andere? – Oh, welch ein Gebieter! ... Ihm folgt man, und noch wie folgt man ihm! Oh, oh, oh! ... Daraus lernt man, daß es so sein muß, wie es ist! Ein Beweis ist: wenn es hätte anders sein sollen, so wäre es anders ... Warum soll es gerade so und nicht anders sein? Wenn Er will, daß es nicht so ist, – kann ihm denn jemand befehlen? – Nein, mag es lieber nicht so sein, meine ich, mag es lieber anders sein, nicht so!«
Rachmil Mojsche fühlte, daß er anfing, Dinge zu sagen, die keinen Gedanken enthielten, hörte er auf zu sprechen, nahm eine Priese Tabak, neigte den Kopf zur Seite und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er dachte bei sich, daß es Zeit war, aufzustehen und fortzugehen. Aber es ist leicht gesagt: »aufstehen«. Steh einmal auf, wenn man an die Bank wie angewachsen ist! Es gibt keinen schlimmeren Besuch in der ganzen Welt als einen Beileidsbesuch. Jedesmal, wenn ich zu jemand gehe, um ihm mein Beileid anzudrücken, kann ich mich nie erheben und fortgehen, ohne ›Lebewohl‹ zu sagen. Ich bitte Gott jedesmal, daß irgend etwas dazwischenkommen möge: entweder sollen die Trauernden einschlafen, während sie die Trauer absitzen, damit ich mich heimlich aus dem Zimmer stehlen kann; oder es soll plötzlich draußen eine Schlägerei, ein Brand, ein Zusammenlauf entstehen, damit ich unterdessen aus dem Gefängnis entweichen kann ...
Rachmil Mojsche saß noch eine Weile, bis er nach der Decke sah, alle vier Wände musterte, als ob er eine Uhr suchte und schließlich sagte:
»Man muß an die Heimkehr denken ... Die Schulbuben werden das ganze Schulzimmer auf den Kopf stellen.«
Er ging mehreremal zur Tür und kehrte wieder zurück. Kaum hatte er einen Fuß über die Schwelle gesetzt, als er sich erinnerte, daß er etwas von Herzen sagen, sie trösten mußte, daß sie sich dem Kummer nicht hingeben sollen, denn Gott ist ein Vater, ein Allmächtiger. Er sagte ihnen noch einmal, daß sie nach dem Gesetz nicht länger als eine Stunde zu sitzen brauchten, – aber wenn sie, Gott behüte, etwas länger saßen, war es auch kein Unglück. Nach dem Abendgebet wollte er mit Gottes Hilfe noch einmal vorspringen und einen Augenblick bei ihnen bleiben und dafür sorgen, daß sie sich nicht ihrem Kummer hingeben. Denn Gott ist ein Vater! Was Er tut, kann kein Menschenverstand begreifen ... Und ihr habt doch noch Kinder? ... Gesund sollen sie bleiben! ... Bereits Erwachsene unberufen! ...
Die Stunde ging vorüber, Israel und seine Familie erhob sich still und wortlos, sie zogen die Stiefel an und verteilten sich in alle Winkel ...
Israel – wenn ich nicht fürchtete zu übertreiben, dann würde ich sagen, daß er an diesem Tage um zehn Jahre gealtert ist – sagte schnell sein Abendgebet herunter, schlug sich dabei in die Brust, spie bei dem Schlußabschnitt des Gebets aus, wie der Ritus es verlangte, und begab sich nach dem Bethaus, um wenigstens noch zum zweiten Abendgebet zurechtzukommen. Er war doch Tempeldiener, ein Angestellter, der auf seinem Posten sein mußte. – Das Geschäft ... ist, wie ihr wißt, ein Zwang, ein Mittel, alle Sorgen zu vertreiben, allen Kummer vergessen zu machen!
»Was hört man von Ihrem Gewinnlos?« Es fanden sich Müßiggänger, die an ihn die Frage richteten: »Wie geht es denn Eurem Sohn?«
»Was fällt euch ein? Wo habe ich einen Sohn?« erwiderte Israel mit einem bitteren Lächeln ...
In diesem Lächeln lag so viel herber Schmerz, daß die Müßiggänger ihre Frage bereuten und sich zurückzogen. Es genügte, ihm nur ins Gesicht zu sehen, um nicht mehr mit ihm über seinen Sohn zu sprechen.
*
Was geschah weiter? Was ist aus Benjamin geworden? Hat er noch einen Brief geschrieben? Und was hat er geschrieben? Hat ihm der Vater geantwortet oder nicht? Und wenn er antwortete, was hat er geschrieben? – Dringt nicht in mich. Jetzt werde ich euch nichts sagen. Ich bin nur verpflichtet, euch mitzuteilen, daß es für den Tempeldiener Israel keinen Benjamin mehr gab. Benjamin war gestorben. Das ›Gewinnlos‹ – das Lotterielos – wurde amortisiert.