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Als wir in Kasan ankamen (im Jahre 1801) stiegen wir nicht bei der Frau Hauptmann Aristowa ab, sondern mieteten uns eine bessere Wohnung; ich besinne mich nicht, in welcher Straße; aber ich erinnere mich, daß wir ein ganzes Häuschen für uns bewohnten, das, wenn ich nicht irre, einem Herrn Tschortow gehörte. Wasili Petrowitsch Upadyschewski säumte nicht, bei uns zu erscheinen. Wir alle begrüßten ihn wie einen nahen Verwandten, Wohltäter und Freund. Er erzählte uns, Jakowkin versehe bis jetzt nur die Obliegenheiten des Direktors des Gymnasiums; in der Stadt seien Gerüchte im Umlauf, daß ein reicher dortiger Gutsbesitzer namens Lichatschew zum Direktor ernannt werden solle; jetzt sei die geeignetste Zeit dazu, mich als zahlenden Schüler ins Gymnasium zu bringen, weil Jakowkin und die ganze Konferenz damit einverstanden seien, der künftige Direktor aber möglicherweise die Sache anders ansehen und dagegen sein werde. Upadyschewski lobte sehr die beiden schon vor längerer Zeit von der Moskauer Universität an das Gymnasium gekommenen Oberlehrer Iwan Ipatowitsch Sapolski, welcher Physik, und Grigori Iwanowitsch Kartaschewski, welcher reine Mathematik unterrichtete. Er pries ihren Verstand, ihre Gelehrsamkeit und ihr bescheidenes Wesen. Sie waren miteinander befreundet, wohnten zusammen in einem schönen, steinernen Hause und hielten sieben Pensionäre, zahlende Gymnasiasten: Rytschkow, zwei Brüder Skuridin, Ach…w und drei Brüder Manasein; sie gewährten ihnen sehr gute Unterkunft und Beköstigung und beaufsichtigten sorgsam ihren häuslichen Fleiß. Mehr Pensionäre nahmen sie eigentlich nicht auf; aber Upadyschewski hatte ihnen meine Geschichte erzählt und so viel Gutes von mir und meiner Familie gesagt, daß die jungen Männer seinen Bitten nachgegeben und eingewilligt hatten, um meiner Mutter willen eine Ausnahme zu machen und mich unter ihre Pensionäre aufzunehmen. Mein Vater fuhr mit mir zu Jakowkin und erlangte seine Einwilligung, mich als zahlenden Gymnasiasten aufzunehmen; dann begab er sich, ebenfalls mit mir, zu Iwan Ipatowitsch Sapolski und Grigori Iwanowitsch Kartaschewski. Überall wurden wir sehr wohlwollend aufgenommen; aber Grigori Iwanowitsch erklärte, ich könne eigentlich nur bei seinem Kollegen Sapolski eintreten, da sie die Pensionäre unter sich geteilt hätten; die drei älteren ständen unmittelbar unter seiner Aufsicht; diese würden übers Jahr nach Absolvierung des Gymnasialkursus die Anstalt verlassen, um in den Staatsdienst zu treten, und er, Grigori Iwanowitsch, wolle dann für sich leben und keine Pensionäre mehr halten. Meinem Vater war es ganz gleich, wer mich nähme; er bat die beiden jungen Männer nur dringend, die Bekanntschaft meiner Mutter zu machen. Am anderen Tage kamen sie zu uns. Gleich beim ersten Blick gefiel Grigori Iwanowitsch meiner Mutter außerordentlich gut, und sie bedauerte es sehr, daß ich nicht bei ihm wohnen sollte. Meinem Vater dagegen sowie mir selbst gefiel Iwan Ipatowitsch weit besser, der uns freundlicher, gutmütiger und gesprächiger vorkam als sein ernster Kollege. Auf alles freundliche Zureden meiner Mutter, die Freunde sollten sich doch nicht trennen, sondern lieber zusammenbleiben und einander in der Erfüllung so heiliger Pflichten behilflich sein, antwortete Grigori Iwanowitsch mit großer Festigkeit, er halte die Pflicht für etwas sehr Wichtiges und Ernstes; aber die Verantwortung für die geistige Entwicklung der jungen Leute, wenn nicht vor ihren Eltern so doch vor ihm selbst, gehe über seine Kraft und hindere ihn, sich mit der Wissenschaft zu beschäftigen, in der er selbst noch ein Schüler sei. Diese Antwort wurde in so bestimmtem Tone erteilt, daß keine Möglichkeit war, etwas dagegen zu sagen, und dies auch unpassend gewesen wäre. Die jungen Männer gingen wieder fort, und meine Mutter war infolge ihres lebhaften Temperamentes sehr mißvergnügt. Wie sie denn immer in ihren Affekten sehr leidenschaftlich war, erhob sie Grigori Iwanowitschs treffliche Eigenschaften bis in den Himmel und fand bei seinem Kollegen viele Mängel. Die Folgezeit bewies, daß die warme Sympathie meiner Mutter nicht irrig gewesen war. Iwan Ipatowitsch war ein sehr guter Mensch, im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber Grigori Iwanowitsch gehörte zu der kleinen Zahl jener Menschen, deren hoher moralischer Standpunkt eine Seltenheit und deren ganzes Leben eine strenge Konsequenz dieses hohen Standpunktes ist. Ich für meine Person freute mich von ganzer Seele, daß ich zu dem gutmütigen Iwan Ipatowitsch kam und nicht mit den großen Pensionären zusammen wohnen sollte, die ihr besonderes Quartier hatten, sondern mit meinen Altersgenossen, die ebenso heitere, gutmütige Knaben waren wie ich. Alle unsere Angelegenheiten wurden dank der Beihilfe Upadyschewskis ohne alle Schwierigkeit erledigt, und nach einem Monat fuhren mein Vater, meine Mutter und meine Schwester wieder nach Aksakowo ab; aber während dieses Monats war Grigori Iwanowitsch, der meine Mutter schätzen gelernt hatte, häufig bei uns gewesen, obwohl er für einen großen Stubenhocker galt, und es hatte sich zwischen ihnen eine dauerhafte, auf wechselseitige Achtung gegründete Freundschaft herausgebildet, die sich in der Folgezeit bei vielen ernsten Anlässen bewährte.
Mein zweiter Abschied von der Mutter war bei weitem nicht von so schmerzlicher Trauer begleitet wie der erste. Besonders an mir selbst bemerkte ich diesen Unterschied, und trotz meines kindlichen Alters überraschte er mich und veranlaßte mich zu trübem Nachdenken. Aber bald nahm meine neue Lebensweise meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich wurde in demselben Zimmer mit den drei Brüdern Manasein einquartiert, mit denen ich sogleich gut bekannt wurde; Ach…w bewohnte ein besonderes, kleines Zimmer neben dem unsrigen. Er war sehr reich und, wenn ich nicht irre, der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Trotz seines Reichtums, der an seiner Kleidung, seinem Bette und allem übrigen zu sehen war, lebte er sehr geizig; in seinem Zimmer stand ein großer, eisenbeschlagener Koffer, zu dem er den Schlüssel in der Tasche trug. Meine Kameraden meinten, er bewahre in dem Koffer allerlei Schätze und Kostbarkeiten auf,; der Koffer erregte allgemeine Neugierde.
Endlich erblickte ich wieder das mir ehemals so schreckliche und verhaßte Gymnasium und sah es jetzt ohne Furcht und ohne eine unangenehme Empfindung an. Darüber freute ich mich sehr. Ich trat wieder in denselben unteren Kursus ein, aus dem der größte Teil meiner früheren Kameraden in den mittleren übergegangen war, während an ihre Stelle neue Schüler getreten waren, die schlechter vorbereitet waren als ich; diejenigen Schüler aber, die die Versetzung in den höheren Kursus nicht erreicht hatten, waren träge oder unbefähigt, und daher wurde ich in sehr kurzer Zeit der erste in allen Unterrichtsgegenständen, mit Ausnahme des Katechismus und der biblischen Geschichte. Der Geistliche hegte beständig gegen mich eine Art von Übelwollen, trotzdem ich meine Aufgaben immer sehr fest inne hatte. Es ist bemerkenswert, daß in der Folgezeit, als Upadyschewski ihn einmal fragte, woher es nur komme, daß Aksakow, der doch sonst überall der fleißigste Schüler sei, bei ihm nicht zu den besten Schülern gehöre; er könne gewiß seine Aufgaben nicht ordentlich, daß da der Geistliche antwortete: »Nein, seine Aufgaben kann er ganz gut; aber er hat kein Interesse für den Katechismus und die biblische Geschichte.«
Es vergingen mehrere Monate; die letzten Überreste der trüben Sehnsucht nach dem Elternhause und dem behaglichen Landleben waren verschwunden; ich gewöhnte mich allmählich an mein Schulleben, erwarb mir einige Freunde auf dem Gymnasium und gewann sie lieb. Zu dieser Veränderung trug viel der Umstand bei, daß ich nur nach dem Gymnasium kam, um da zu lernen, und nicht in ihm wohnte. Das Wohnen bei Iwan Ipatowitsch unterschied sich nicht so schroff von meinem Leben zu Hause, wie die völlige Einsperrung in das staatliche Gebäude mitten in einer Menge von verschiedenartigen Kameraden.
Ach…w, der mir und den Manaseins, wie auch allen übrigen Schülern des Gymnasiums, fremd gegenüber stand, merkte, daß ich ein bescheidenes, friedliches Wesen hatte, und begann sich in Gespräche mit mir einzulassen und mich in sein Zimmer einzuladen; ja, er regalierte mich sogar mit den Leckerbissen, die er von Hause erhielt und ganz im stillen zu verzehren pflegte; schließlich sagte er, er wolle mir seinen Koffer zeigen, aber nur so, daß niemand etwas davon wüßte. Ich freute mich. In meiner von Zaubermärchen erfüllten Phantasie stellte ich mir diesen Koffer als den Aufbewahrungsort von Edelsteinen und Gold- und Silberbarren vor. Ich verabredete mit Ach…w, daß ich zu ihm ins Zimmer kommen würde, wenn alle schliefen. Das tat ich denn auch gleich an demselben Abend; die Manaseins ließen mich nicht lange warten und schnarchten bald los; ich ging zu Ach…w, bei dem nachts ein Lämpchen vor einem großen, reich vergoldeten Heiligenbilde brannte. Der Bewohner des Zimmers zündete eine Kerze an, schloß die Tür zu, nahm mir das Versprechen ab, niemandem etwas von dem zu sagen, was ich sehen würde, und schloß behutsam den geheimnisvollen Koffer auf. Aber wie groß war mein Erstaunen! Der Koffer war ganz vollgestopft mit Zeichnungen, Stahlstichen und ordinären Holzschnitten! Es befanden sich darunter auch in Öl gemalte Landschaften und Porträts, selbstverständlich von der Art, wie man sie auf den Aushängeschildern von Barbierstuben sieht. Ich selbst war ein großer Freund von Bildern; aber da ich dort etwas ganz anderes erwartet hatte, so würdigte ich sie keiner Beachtung und hoffte immer noch, der wirkliche Schatz werde auf dem Boden des Koffers zum Vorschein kommen. Als nun aber die letzten Blätter herausgenommen waren und die leeren Bretter sich meinen Augen darboten, da rief ich unwillkürlich: »Weiter nichts?« und brachte dadurch Ach…w in schreckliche Verlegenheit, der gemeint hatte, mich in Erstaunen und Entzücken versetzt zu haben. Ich erzählte ihm flüsternd mit aller Offenherzigkeit, was wir alle von diesem Koffer geglaubt hatten. »Ihr seid alle Dummköpfe!« sagte Ach…w ärgerlich und trieb mich beinahe hinaus. Damit hatte unsere Knabenfreundschaft ein Ende. Nach einiger Zeit brach ich mein Versprechen und erzählte den Manaseins, was in dem Koffer aufbewahrt werde; wir blickten dann häufig durch die Türspalten und sahen, wie Ach…w, nachdem er die Tür zugeschlossen hatte, seine Bilder auf dem Bette, auf den Tischen, auf den Stühlen und sogar auf dem Fußboden ausgelegt hatte. Er betrachtete sie, wischte sie ab und liebäugelte mit ihnen wie der geizige Ritter bei Puschkin mit seinen Schätzen; fast täglich, größtenteils bei Nacht, gab er sich diesem Genusse ganze Stunden lang hin. Wir machten uns über Ach…w lustig und erzählten im Gymnasium von seiner Leidenschaft für Bilder, und nun ließen die mutwilligen Knaben ihm keine Ruhe, sondern verlangten, er solle andern auch etwas von seinem Reichtum haben lassen und ihnen zeigen, wie »die Mäuse den Kater begraben«, oder wie »Jeruslan Lasarewitsch eine unzählbare Menge von Muselmännern erschlägt«. Ach…w wurde zornig, schimpfte sie und prügelte sich sogar mit ihnen; aber nichts half. Schließlich wurde ihm die Sache so zuwider, daß er an seine Mutter schrieb und diese ihn bald darauf ganz vom Gymnasium wegnahm. Übrigens mochten dabei auch noch andere Gründe mitsprechen. Vor kurzem habe ich gehört, daß Ach…w für immer ein großer Sonderling geblieben ist; aber darum erfreut er sich doch des Rufes eines tüchtigen Landwirtes.
In den ersten Monaten nach meinem Eintritt bei Iwan Ipatowitsch beschäftigte er sich mit mir und den anderen noch so einigermaßen. Seine ganze Beschäftigung mit uns bestand darin, daß er, bevor wir uns an die Arbeit machten, uns fragte was wir für Aufgaben bekommen hätten, und uns lehrte, Französisch und Deutsch zu lesen; aber allmählich hörte er überhaupt auf, sich mit uns zu beschäftigen, und war nur wenig zu Hause. Um die Wahrheit zu sagen: für unser Lernen war es nützlich, daß er so oft ausging; denn in seiner Abwesenheit beschäftigte sich mit uns Grigori Iwanowitsch, und zwar weit sorgfältiger und besser als sein Kollege, und ich fühlte das recht wohl heraus. Endlich sagte mir Jewsejitsch insgeheim, Iwan Ipatowitsch bemühe sich um ein vermögendes Mädchen aus guter Adelsfamilie; das junge Mädchen und die Mutter seien seinem Wunsche geneigt; aber der Vater wolle seine Tochter nicht einem armen Teufel von Lehrer geben, der noch dazu der Sohn eines Popen sei. Diese Nachricht klang sehr wahrscheinlich.
Zum Direktor des Gymnasiums wurde wirklich der Gutsbesitzer Lichatschew ernannt; aber die zahlenden Schüler bekamen ihn lange Zeit nicht zu sehen, da er das Gymnasium gewöhnlich zur Zeit des Mittagessens besuchte und in die Unterrichtsstunden überhaupt nicht hineinsah. Ich lernte eifrig und ging sehr gern ins Gymnasium. Ob meine Kameraden ganz andere Knaben geworden waren als früher, oder ob ich selbst mich geändert hatte, ich weiß es nicht; aber ich bemerkte jene Zudringlichkeit und Neckerei der Knaben, die mir früher so unerträglich gewesen war, nicht mehr; es fanden sich gemeinsame Interessen; es regte sich der Wunsch, sich miteinander auszusprechen, und es kam dahin, daß ich mit Ungeduld auf die Zeit wartete, wo ich ins Gymnasium gehen mußte. Ich muß dabei noch dies bemerken, daß die Zeit, während deren ich mich im Gymnasium aufhielt, größtenteils durch den Unterricht ausgefüllt wurde, und beim Unterricht fand sich mein Ehrgeiz immer durch das Lob seitens der Lehrer und durch einen gewissen Respekt seitens der übrigen Schüler geschmeichelt, was mich jedoch nicht hinderte, mit ihnen in jeder Freizeit und auch sonst bei jeder geeigneten Gelegenheit zu spielen und zu tollen. Nach Hause schrieb ich jede Woche und empfing jede Woche einen sehr zärtlichen Brief von meiner Mutter, manchmal mit einer Zuschrift meines Vaters. Die Mutter versicherte mir, sie sei nicht traurig über die Trennung von mir; sie freue sich darüber, daß ich im Lernen eifrig sei und mich gut betrage, wie ihr das von Iwan Ipatowitsch und von Upadyschewski geschrieben werde. Und ich glaubte es, daß meine Mutter nicht traurig sei. In jedem Briefe ließ sie sich Iwan Ipatowitsch und Grigori Iwanowitsch empfehlen, mit denen sie von Zeit zu Zeit selbst korrespondierte. Auf diese Weise gingen unsere Sachen fast ein ganzes Jahr lang, d. h. bis zum Juni 1802; im Laufe des Juni fanden die Examina statt, die mit einem vollständigen Triumph für meinen kindlichen Ehrgeiz schlossen; ich wurde in allen Gegenständen in den mittleren Kursus versetzt. Zu Anfang Juli, beim Schulaktus, erhielt ich ein Büchelchen mit der Aufschrift in goldenen Buchstaben: »Für Fleiß und gute Fortschritte«, und außerdem ein Belobigungsblatt.
Um mich abzuholen, war schon lange ein einfacher Reisewagen angekommen, sowie ein Dreigespann und ein Kutscher, und am Tage des Schulaktus, nach dem Mittagessen, fuhren ich und Jewsejitsch nach unserem lieben, teuren Aksakowo ab. Wir fuhren auf demselben Wege, auf dem mich zwei Jahre vorher meine Mutter wieder nach Hause gebracht hatte, nachdem es ihr gelungen war, mich von den Staatsalumnen loszubekommen, und machten sogar an denselben Fütterungsstationen und Nachtquartieren halt. Bald durchdrang der Atem der Natur mein Wesen und verjagte aus meinem Kopfe das Gymnasium, die Schulkameraden, die Lehrer, die Bücher und die Aufgaben. Nachdem ich zeitweilig die Schönheit der Gotteswelt anscheinend vergessen hatte oder gegen sie kühler gewesen war, flammte meine Liebe zu ihr jetzt um so heißer und mit klarerem Bewußtsein auf. Zu Hause empfing mich die ganze Familie mit zärtlicher Liebe, und die Freude meiner Mutter läßt sich gar nicht beschreiben! Wie groß und schön war in dem einen Jahre meine liebe Schwester geworden, und wie freute sie sich, mich wiederzusehen! Was wurde alles gefragt und erzählt! Unter anderem erfuhr ich von ihr, daß meine Mutter sich anfangs so nach mir gesehnt habe, daß sie geradezu krank geworden sei, und es war mir eine Art von schmerzlicher Empfindung, daß ich bei der letzten Trennung von ihr weniger betrübt gewesen war als früher.
Alle Ferientage, die ich damals in Aksakowo verlebte, sind in meinem Gedächtnisse zu einem einzigen schönen Freudentage zusammengeflossen! Ich kann, selbst wenn ich es wollte, schlechterdings nicht erzählen, was ich in diesen glücklichen Tagen getan habe! Ich weiß nur, daß die Zeit vom Morgen bis zum Abend für mich ein ununterbrochener Genuß war. Am häufigsten leuchtet aus dieser Fülle von Freuden das Angeln, das Baden und die Jagd mit dem Habicht hervor. Meine Mutter ließ sich von mir das ganze Jahr meines Gymnasiallebens mit allen kleinsten Einzelheiten erzählen und sagte während meiner Erzählung oft zu meinem Vater: »Siehst du wohl, Timofei Stepanowitsch, ich habe mich in Grigori Iwanowitsch nicht geirrt. Zwischen ihm und Iwan Ipatowitsch besteht ein himmelweiter Unterschied. Dem hätte ich Sergei gern zur Erziehung übergeben, und ich werde noch aus allen Kräften versuchen, es durchzusetzen.« Jewsejitschs Erzählungen bestärkten sie noch mehr in dieser Absicht, deren Wichtigkeit auch ich schon begriff, und deren Ausführung ich selbst lebhaft wünschte. Besonders fühlte sich meine Mutter durch Grigori Iwanowitschs streng sittlichen Charakter angezogen. Von meiner Schwester war ich unzertrennlich; unsere Freundschaft war noch enger und zärtlicher geworden. Schnell flogen diese seligen Tage dahin, und am 10. August reisten ich und Jewsejitsch in demselben Reisewagen, mit demselben Kutscher und denselben Pferden wieder nach Kasan ab.
Bei meiner Ankunft fand ich alle meine Mitpensionäre bereits anwesend; aber Iwan Ipatowitsch war nicht in der Stadt. Wir erfuhren, daß er aufs Land gefahren sei, um sich mit seiner Braut Nastasja Petrowna Jelagina zu verheiraten; einen Monat nach der Hochzeit würden sie wieder nach Kasan kommen, sich ein besonderes Haus mieten und uns dann zu sich nehmen; bis dahin werde Grigori Iwanowitsch für uns sorgen. Ich freute mich sehr darüber; aber die Manaseins hatten eine ganz entgegengesetzte Empfindung, besonders der jüngste Bruder, Jelpidifor, ein prächtiger Junge, aber ein arger Schlingel, der zum Lernen noch keine Lust hatte, ein Schlingel, aus dem aber doch in der Folge ein sehr tüchtiger Geschäftsmann geworden ist. Sehr lebhaft erinnere ich mich, daß ich mit der größten Ungeduld und Lernbegierde in den mittleren Kursus eintrat. Ich wußte im voraus, daß in diesem das Lernen weit schwerer war, und daß der mittlere Kursus als die eigentliche Grundlage des gesamten Gymnasialkursus galt. Es bestand die Anschauung, daß ein Schüler, der sich in dem mittleren Kursus ausgezeichnet habe, sich unfehlbar auch in dem oberen auszeichnen werde, während es dem gegenüber häufig vorkam, daß Schüler, die im unteren Kursus die Ersten gewesen waren, im mittleren dauernd mittelmäßig blieben Es ist augenscheinlich, daß die Zerlegung des gesamten Gymnasialkursus in drei Kurse unzureichend war. Dies hat sich in der Folge durch die Erfahrung herausgestellt, und daher ist der jetzige Gymnasialkursus in sieben Klassen eingeteilt. (Anmerkung des Verfassers.). Diese Anschauung machte mich ängstlich, und während des ganzen ersten Monats schwand meine Besorgnis nicht. Die Lehrer waren andere und kannten uns nicht; die versetzten Schüler saßen sämtlich von den anderen getrennt auf zwei besonderen Bänken, und die Lehrer beschäftigten sich anfangs mit ihnen nur wenig. Infolge der Schwierigkeit dieses mittleren Kursus blieb ein großer Teil in ihm zwei Jahre, so daß er sehr stark gefüllt war und die Lehrer physisch keine Möglichkeit hatten, sich mit allen gleichmäßig zu beschäftigen. Unter anderen Lehrgegenständen wurde, zusammen mit dem Russischen, im mittleren Kursus auch slawische Grammatik gelehrt, nach einem Kompendium, das von dem betreffenden Lehrer selbst verfaßt war; er hieß Nikolai Michailowitsch Ibrahimow Sein Familienname und sein Äußeres wiesen deutlich auf seine tatarische oder baschkirische Abkunft hin; er hatte einen großen Kopf, kleine, durchbohrende, aber sehr freundliche Augen, breite Backenknochen und einen gewaltig großen Mund. Er liebte die Literatur mit Begeisterung, war sehr scharfsinnig und überhaupt ein hochbegabter Mensch. (Anmerkung des Verfassers.) und war ebenfalls von der Moskauer Universität an das Gymnasium gekommen; er war im mittleren Kursus nicht nur Lehrer des Russischen, sondern auch der Mathematik. Dieser Mann hat eine große Bedeutung für meine literarische Richtung gehabt, und sein Andenken ist mir teuer. Er war der erste, der mich ermutigte und mich sozusagen auf meinen jetzigen Weg stieß. Ibrahimow diktierte seine slawische Grammatik für diejenigen, die darin noch keinen Unterricht gehabt hatten und kein Exemplar besaßen; gewöhnlich schrieb ein Schüler nach Diktat an der Wandtafel, und die anderen schrieben das Diktierte ab. Die Erklärungen, die Ibrahimow gab, waren nicht eingehend genug und nicht leicht verständlich; für diejenigen, die diesen grammatischen Unterricht zum zweiten Male durchmachten, waren diese Erklärungen ausreichend, nicht so für die neuen Schüler und besonders nicht für zwölfjährige Knaben wie ich und viele andere. Zum Glück beschäftigte sich in dieser Zeit infolge von Iwan Ipatowitschs Abwesenheit Grigori Iwanowitsch mit mir; er erklärte mir auch die »Einleitung in die slawische Grammatik«, in der ein Überblick über die allgemeine Grammatik enthalten war; ohne Erklärung hätte ich diesen Überblick ebenso schlecht verstanden wie die anderen Schüler. Da ich mir schon im voraus eine vollständige Abschrift der slawischen Grammatik verschafft hatte, so sah ich sie immer Sonntags durch und bat, sobald mir eine Stelle dunkel war, Grigori Iwanowitsch, sie mir zu erklären. Dies war mir in der Folge sehr nützlich. Endlich, sechs Wochen nach Beginn des Unterrichts (der September ging schon zu Ende), begab sich Folgendes. Nachdem Ibrahimows kleine Tatarengestalt einige Male mit dem Hefte in der Hand die lange Klasse durchmessen hatte, näherte er sich, statt wie gewöhnlich weiter zu diktieren, plötzlich den besonderen Bänken der neuen Schüler. Das Herz klopfte mir gewaltig. Ibrahimow begann, allen Schülern, die aus dem unteren Kursus verseht waren, verschiedene Fragen aus den von ihm durchgenommenen Partien vorzulegen, nämlich aus der »Einleitung« und aus zwei Kapiteln der Grammatik, in der Reihenfolge, in der die Schüler saßen. Die Reihenfolge war diese: zuerst kamen die Staatsalumnen, dann die Pensionäre, dann die Halbpensionäre und zuletzt die zahlenden Schüler. Auf Ibrahimows Fragen aus der Grammatik wurde noch einigermaßen leidlich geantwortet; aber aus der »Einleitung« wußte schlechthin niemand etwas, ein deutlicher Beweis dafür, daß sie nicht verstanden worden war. Nun kam ich an die Reihe. Aus der Grammatik antwortete ich flott und befriedigend. Nach jeder Antwort sagte Ibrahimow: »Gut«. Meine Antworten erregten sein Interesse, und statt zweier oder dreier Fragen stellte er mir gegen zwanzig. Alle Antworten trafen gleichmäßig das Richtige. Ibrahimow lächelte fortwährend mit der ganzen Breite seines gewaltigen Tatarenmundes und sagte endlich: »Gut, gut, gut! Jetzt wollen wir einmal sehen, wie es mit der Einleitung steht!« Auch hier waren meine Antworten völlig befriedigend. Er versuchte, mich irre zu machen; aber das gelang ihm nicht, da ich den Gegenstand wirklich verstand und nicht etwa nur Worte auswendig gelernt hatte. Ibrahimow geriet in vollständiges Erstaunen und Entzücken. Er überschüttete mich mit allen erdenklichen Lobsprüchen, rief mich aus der Bank heraus, hieß mich alle meine Hefte und Bücher zusammennehmen, faßte mich bei der Hand, führte mich zur ersten Bank und sagte: »Hier ist Ihr Platz!« und setzte mich als Dritten; es waren aber mehr als vierzig Schüler. Einen solchen Triumph hatte ich mir nicht träumen lassen. Ich war überglücklich. Als ich nach Hause gekommen war, schickte ich Jewsejitsch zu Grigori Iwanowitsch und ließ um die Erlaubnis bitten, zu ihm auf sein Zimmer kommen zu dürfen, und als ich die Erlaubnis erhalten hatte, erzählte ich ihm voller Freude, was mir begegnet war. Grigori Iwanowitsch war innerlich mit diesem Ereignis sehr zufrieden und ebenso mit der Empfindung, die es bei mir hervorgerufen hatte; aber zufolge seiner Methode antwortete er mir ziemlich trocken: »Freuen Sie sich nicht zu sehr, ob sich Ibrahimow auch nicht übereilt hat? Jetzt müssen Sie sich seine gute Meinung zu erhalten suchen und noch fleißiger lernen.« Eine solche Antwort hätte bei einem anderen eine Empfindung erwecken können, als würde er mit kaltem Wasser begossen, oder als erhalte er einen Stoß vor die Brust, und ich billige ein solches Verfahren keineswegs; aber ich kannte Grigori Iwanowitsch bereits. Er hatte mich auch früher in seinen Briefen an meine Mutter sehr gelobt, mich selbst aber nicht im geringsten merken lassen, daß er mit mir zufrieden sei; er hatte sogar an meine Mutter geschrieben, sie möchte mir seine Briefe nicht zeigen. Im Russischen, bei demselben Ibrahimow, waren meine Leistungen gleichfalls hervorragend; hier wurde russische Syntax gelehrt und praktische Übungen angestellt, die aus dem Niederschreiben eines Diktates und aus der Umwandelung von Versen in Prosa bestanden. Das Diktatschreiben war uns sehr nützlich, sowohl für die Orthographie als auch für die Bildung des Geschmackes, da Ibrahimow die besten Partien aus Karamsin, Dmitrijew, Lomonosow und Cheraskow für diesen Zweck auswählte, sie uns laut lesen ließ und uns ihren literarischen Wert erklärte. Das »Satzbilden« hatte nach seiner persönlichen Ansicht keinen Nutzen, und nur um der Forderung des Lehrplanes zu genügen, gab er uns ein paarmal dergleichen auf. Statt dessen übte er uns in der Anfertigung kleiner Aufsätze über gegebene Themata. Was die anderen Lehrgegenstände anlangt, so rangierte ich in der Weltgeschichte, in der russischen Geschichte und in der Geographie bei Jakowkin nicht unter den besten, aber unter den guten Schülern. In den Sprachen waren die Leistungen im allgemeinen schlecht, ohne Zweifel infolge der schlechten Lehrer. Im Rechnen war ich auch im unteren Kursus schwach gewesen, und im mittleren stellte es sich heraus, daß ich überhaupt keine Befähigung für die Mathematik besitze; dies wurde mir nicht nur auf dem Gymnasium, sondern auch auf der Universität bezeugt. Im Schönschreiben, Zeichnen und Tanzen leistete ich Ordnungsmäßiges. Bei dem Geistlichen gehörte ich nicht zu den vorzüglichen, aber doch zu den guten Schülern. Im mittleren Kursus hörte ich auf, die Schiefertafel und den Griffel mitzuschleppen, gegen die ich einen starken Widerwillen hegte, den ich mir zum Teil bis auf den heutigen Tag bewahrt habe. Das Kreischen des Griffels auf der Schiefertafel schrillte (und schrillt) mir durch die Nerven.
Endlich erfuhren wir, daß Iwan Ipatowitsch mit seiner jungen Frau in der Stadt eingetroffen und im Hause seiner Schwiegermutter abgestiegen war. Gleich am anderen Tage kam er, um sich nach seinen Pensionären umzusehen, und benahm sich gegen uns sehr liebenswürdig. Jewsejitsch erzählte mir im geheimen, Grigori Iwanowitsch sei sehr böse auf Iwan Ipatowitsch, weil er statt eines Monats drei Monate fortgeblieben sei, er habe zu ihm gesagt, es sei ihm (Grigori) sehr widerwärtig gewesen, sich mit den Kindern abzumühen; er habe es aber nicht fertig gebracht, sie ohne Aufsicht und Fürsorge zu lassen, wie Iwan Ipatowitsch das tue. Letzterer habe sich entschuldigt, sich bedankt und seinen Kollegen umarmt; aber der habe sich gegen ihn recht trocken und unhöflich benommen und gedroht, wenn dieser sich nicht unverzüglich eine Wohnung miete, so werde er selbst das Haus verlassen und sich nicht weiter um seine (Iwans) Pensionäre kümmern. Es muß hinzugefügt werden, daß Grigori Iwanowitsch eigene Pensionäre nicht mehr hatte. Trotz dieser Drohungen dauerte es eine ganze Weile, bis Iwan Ipatowitsch sich eine Wohnung mietete, und Grigori Iwanowitsch lebte noch zwei Monate mit uns zusammen, indem er sich dauernd und gewissenhaft um unser Lernen, um unser leibliches Wohl und um unser Betragen kümmerte. In diesen fünf Monaten gewann ich eine große Anhänglichkeit an Grigori Iwanowitsch, obgleich er mir nie ein freundliches Wort sagte und äußerlich den Eindruck eines trockenen, strengen Mannes machte. Ich konnte damals den Wert dieses Lehrers nicht schätzen und hätte ihn nicht liebgewonnen, wenn meine Mutter mich nicht insgeheim benachrichtigt hätte, daß er mich sehr gern habe und mich sehr lobe und dies nur deswegen nicht zeige, damit ich nicht infolge meiner Jugendlichkeit durch sein Lob verwöhnt würde. Leider behielt Grigori Iwanowitsch diesen fehlerhaften Grundsatz während seiner ganzen langen, nützlichen und bedeutsamen dienstlichen Laufbahn bei, auch wo er nicht mit Kindern, sondern oft mit alten Leuten zu tun hatte. Wer Gelegenheit hatte, ihn näher kennen zu lernen, der empfand lebenslänglich ihm gegenüber die größte Hochachtung und Verehrung; dafür aber gab es auch brave Leute, die er durch die absichtliche Trockenheit seines Benehmens abstieß, und die ihn für einen stolzen, harten Menschen hielten, was vollkommen unzutreffend war. Endlich mietete sich Iwan Ipatowitsch eine anständige Wohnung. Als ich zu ihm umzog und von Grigori Iwanowitsch Abschied nahm, brach ich in Tränen aus und wollte ihn umarmen; aber er ließ es nicht zu, und obwohl er selbst beinah bis zu Tränen gerührt war (was ich nachher aus einem Briefe erfuhr, den er an meine Mutter schrieb), sagte er trocken und kühl zu mir: »Was soll das? Warum weinen Sie? Sie fürchten gewiß, daß Iwan Ipatowitsch Sie strenger behandeln wird!« Ich muß gestehen, daß mir damals diese Worte sehr schmerzlich waren! Ich habe vergessen zu sagen, daß Iwan Ipatowitsch seine junge Frau zu uns brachte; es fiel uns an ihr nur auf, daß sie keine Augenbrauen hatte und in ihrer Einfalt es nicht verstand, uns ein freundliches Wort zu sagen, und fortwährend errötete. Bei Iwan Ipatowitsch wurden wir, d. h. ich und die drei Manaseins, in einem besonderen Nebengebäude untergebracht und blieben anfangs ohne alle Aufsicht. Da merkte ich den ganzen Unterschied zwischen ihm und Grigori Iwanowitsch. Wir sahen Iwan Ipatowitsch nur beim Mittag- und Abendessen. Der junge Mann war durch die Fundierung seiner neuen Stellung und die Verwaltung seines Dorfes Koschtschakowo, das aus sechzig Seelen bestand und zwanzig Werst von der Stadt entfernt lag, völlig in Anspruch genommen; dieses Dorf hatte seine Frau als Mitgift bekommen, und er fuhr allwöchentlich auf zwei Tage dorthin. Die übrige Zeit war er mit dem Physikunterrichte im obersten Kursus des Gymnasiums oder mit der Sorge für die Familie seiner jungen Frau beschäftigt, da drei erwachsene Schwestern derselben dauernd bei ihm wohnten. Um die Hauswirtschaft kümmerte sich niemand, und sie war daher in arger Unordnung; sogar das Essen war sehr schlecht, und aus diesem Anlaß begegnete mir das nachstehende Erlebnis. Beim Abendessen (wir aßen immer in dem großen Hause an dem gemeinsamen Tische zu Abend) gab es einmal Schinken; eben hatte ich mir einen Bissen abgeschnitten und wollte ihn in den Mund stecken, als der hinter meinem Stuhle stehende Jewsejitsch mich in den Rücken stieß; ich drehte mich um und blickte meinen Hüter erstaunt an; er schüttelte den Kopf und machte mir ein Zeichen mit den Augen, ich solle den Schinken nicht essen; ich legte das Stück auf den Teller zurück und bemerkte erst jetzt, daß der Schinken faulig und sogar voller Maden war; eilig gab ich meinen Teller ab. Ich saß sehr nah bei Iwan Ipatowitsch, und er hatte alles bemerkt. Ich muß hinzufügen, daß am Tische außer den Pensionären noch seine Schwiegermutter, seine Frau und seine drei Schwägerinnen saßen. Als wir nach dem Abendessen alle an Iwan Ipatowitsch herantraten, um Gute Nacht zu sagen und schlafen zu gehen, befahl er mir, noch dazubleiben, und führte mich und Jewsejitsch in sein Arbeitszimmer. Dort erteilte er mir einen sehr strengen Verweis dafür, daß ich mich dreist benommen und in der Absicht, den Hausherrn zu blamieren, die allgemeine Aufmerksamkeit auf den verdorbenen Schinken gelenkt hätte, den doch alle andern aus Taktgefühl gegessen hätten. Nachdem Iwan Ipatowitsch mir eine lange Strafpredigt gehalten und bewiesen hatte, daß ich ein unverzeihliches Vergehen begangen hätte, schalt er auch meinen braven Jewsejitsch mit sehr starken Ausdrücken aus. Ich vermochte meine Schuld schlechterdings nicht einzusehen und begann im Gefühle unverdienter Kränkung zu weinen. Iwan Ipatowitsch wurde dadurch milder gestimmt und sagte, daß er mir verzeihe; er wollte mich sogar umarmen; aber ich erwiderte ihm sehr aufrichtig und naiv, ich vergösse Tränen nicht aus Reue, sondern weil er mich durch den ungerechten Verdacht der Absichtlichkeit gekränkt und meinen Hüter gescholten habe. Iwan Ipatowitsch wurde von neuem zornig, fand an mir Gott weiß was für welche Verstocktheit, sagte, ich würde morgen exemplarisch bestraft werden, und schickte mich schlafen. Ich konnte lange Zeit nicht einschlafen, und der Gedanke, daß ein fremder Mensch, ohne jedes Verschulden meinerseits, mich exemplarisch bestrafen wolle, kränkte und erregte mich heftig. Bisher hatte, wie ich mich erinnerte, mich niemand außer meiner Mutter bestraft, und auch das war schon sehr lange her. Endlich schlief ich ein. Am nächsten Morgen, als wir uns angezogen hatten und zum Teetrinken in das Haus gegangen waren, kam Iwan Ipatowitsch gegen seine Gewohnheit zu uns ins Zimmer, setzte den drei Manaseins und dem jungen Jelagin Dies war ein Schwager Iwan Ipatowitschs, der zwei Wochen vorher in das Gymnasium eingetreten und bei ihm in Pension gekommen war. (Anmerkung des Verfassers.) auseinander, worin mein Verschulden bestehe, und hieß sie in das Gymnasium gehen; mir aber entzog er den Tee, befahl mir zu Hause zu bleiben, mich in das Nebengebäude zu begeben, mich auszuziehen, mich zu Bett zu legen und bis zum Abend liegenzubleiben; statt des Frühstücks und des Mittagessens sollte ich ein Stück Brot und ein Glas Wasser bekommen. Eine so törichte und ganz unverdiente Bestrafung mußte einem so empfindsamen, zartbesaiteten Knaben wie ich als unerträgliche Beleidigung erscheinen, und als solche erschien sie mir auch wirklich; ich blickte meinen Pensionshalter trotzig und mit einem geringschätzigen Lächeln an und begab mich eilig in das Nebengebäude. Ich entkleidete mich, legte mich ins Bett und fing an, in einem Buche zu lesen. Mein Jewsejitsch, der für die moralische Kränkung kein Verständnis hatte, lachte herzlich über die dumme Bestrafung, ärgerte sich nur darüber, daß ich hungern sollte, und versprach, mir heimlich von dem Besten zu bringen, was auf den Tisch kommen werde. Ich verbot ihm entrüstet, dies zu tun, und schickte ihn hinaus. Anfangs fühlte ich nur Zorn und Empörung; dann fing ich an zu weinen, und endlich schlief ich ein! Ich hatte in der Nacht wenig geschlafen und schlief daher so fest, daß ich erst dann aufwachte, als meine Kameraden, nachdem sie in dem gemeinsamen Saale zu Mittag gegessen hatten, in das Nebengebäude kamen und zu spielen und zu lärmen begannen. Der Schlaf hatte mich beruhigt; ich wies das Brot und das Wasser zurück und ertrug mit Gleichmut die Scherze und Spöttereien meiner Mitschüler, die mich ebenfalls nicht schuldig fanden und nicht sowohl über mich als über die Seltsamkeit meiner Bestrafung lachten. Der mittlere Manasein, ein gehöriger Faulpelz, beneidete mich sogar und sagte, er würde wünschen, alle Tage so bestraft zu werden. Als meine Kameraden zu den Nachmittagstunden ins Gymnasium gegangen waren, machte ich mich daran, die Aufgaben zu lernen, die meine Kameraden am Vormittag in meiner Abwesenheit erhalten hatten, und die gestrigen zu repetieren. Nach sechs Uhr abends, als die Pensionäre aus dem Gymnasium zurückgekommen waren und im Eßzimmer Tee tranken, ließ mir Iwan Ipatowitsch sagen, ich solle mich anziehen und hinkommen. Ich gehorchte. Er empfing mich mit den Worten, er verzeihe mir; die Abkürzung meiner Bestrafung hätte ich den Damen zu verdanken; dabei wies er auf seine Schwiegermutter, seine Frau und seine Schwägerinnen. Ich bedankte mich bei ihnen. Iwan Ipatowitsch und seine Frau fuhren unmittelbar darauf irgendwohin weg. Meine Kameraden gingen, nachdem sie ihren Tee getrunken hatten, nach dem Nebengebäude; aber mich hielten die Damen bei sich zurück. Sogleich wurde ein Tischchen gedeckt und Essen gebracht; ich mußte mich an den Tisch setzen, die jungen Mädchen setzten sich neben mich, fütterten mich beinah mit eigenen Händen und holten sogar ein Glas mit Eingemachtem herbei, wovon ich ein großer Freund war. Alles dies begleiteten sie mit solchen Liebkosungen, daß mein Herz ganz gerührt wurde. Ich erfuhr, daß die Fräulein, obgleich sie bis dahin kein einziges Wort mit mir gesprochen hatten, mich doch wegen meines bescheidenen Benehmens schon lange liebgewonnen hatten, und daß die Bestrafung, die sie und ihre alte Mutter unverdient und unmenschlich fanden, bei ihnen eine solche Teilnahme für mich erweckt hatte, daß sie Iwan Ipatowitsch inständig gebeten hatten, mir zu verzeihen, und die Schwester Katerina sogar geweint hatte und vor ihm auf die Knie gefallen war. Ich bemerkte, daß Katerina Petrowna schrecklich rot wurde. Sie behielten mich den ganzen Abend bei sich und fragten mich eingehend über alle meine Verhältnisse aus. Ich wurde natürlich gesprächig und erzählte nicht nur von meinem lieben Aksakowo und von meinem ersten Eintritt in das Gymnasium, sondern ich deklamierte auch eine Menge von Versen aus dem Kopfe, was ich von jeher sehr gern getan hatte. Die jungen Damen waren wirklich entzückt, äußerten ihr Erstaunen und überschütteten mich mit Liebkosungen. Ich war ebenfalls entzückt über den Eindruck, den ich gemacht hatte, und mein kindlicher Ehrgeiz machte mir den Kopf ganz schwindlig. Nach dem Abendessen kehrte ich mit meinen Kameraden zusammen in das Nebengebäude zurück; sie hatten schon durch den Bruder der Jelaginschen Damen gehört, wie seine Schwestern mich geliebkost und mich bewirtet hätten; die Kameraden fragten mich aus und beneideten mich, und ich schlief vor Aufregung und unklaren, phantastischen Gedanken erst spät ein.
Ich habe dieses anscheinend unwichtige Ereignis absichtlich so ausführlich erzählt. Eine Folge davon war, daß ich anfing, nicht mehr so fleißig zu lernen. Die alte Frau Jelagina hatte, ebenso wie ihre Töchter, mich sehr liebgewonnen und erbat sich von ihrem Schwiegersohne nicht selten die Erlaubnis, mich abends in das Haus einzuladen, wo ich dann etwa zwei Stunden sehr vergnügt verlebte. An Sonn- und Festtagen lief ich beständig in das Haus und hörte fast auf, die Verwandtinnen meines Vaters, Frau Kirjejewa und Frau Safonowa, zu besuchen, bei denen ich früher oft gewesen war. Meine Kameraden fuhren fort, mich zu beneiden, und Jelagin, ein schon fünfzehnjähriger Flaps und Schlingel, den seine Schwestern aus unserer Gesellschaft weggejagt hatten, machte mir ein sehr grimmiges Gesicht und ließ ein paar giftige Anspielungen fallen, die ich absolut nicht verstand. Allmählich ließ ich mich ganz und gar von den Schulwissenschaften ablenken, und obgleich Iwan Ipatowitsch nach drei Monaten für uns einen Studenten annahm, der den Kursus auf dem geistlichen Seminar absolviert hatte, namens Guri Iwlitsch Lastotschkin, einen sehr bescheidenen, kenntnisreichen jungen Mann, mit dem ich sehr gut hätte arbeiten können, so lernte ich doch bis zum Frühjahr, d. h. bis zu der Zeit, wo die Jelaginschen Damen wieder aufs Land fuhren, sehr schlecht. Nur bei Ibrahimow, im Russischen und in der slawischen Grammatik, blieb ich wie früher ein vorzüglicher Schüler, weil ich sowohl den Lehrgegenstand als auch den Lehrer sehr gern mochte. Anderthalb Monate vor dem Examen fing ich mit großem Eifer zu arbeiten an. Guri Iwlitsch hatte mich in dieser Zeit sehr liebgewonnen und unterstützte mich, soviel er nur konnte, bei meinem Bemühen; aber trotzdem wurde ich nicht in den obersten Kursus versetzt und blieb noch ein Jahr im mittleren; nur ein Drittel der Zöglinge rückte auf, und darunter einige nicht wegen ihrer wissenschaftlichen Leistungen, sondern wegen ihres Alters, indem sie schon zwei bis drei Jahre im mittleren Kursus saßen. Niemand rechnete mir das als Schuld an, und obgleich ich mit allen anderen fand, daß ein zweijähriger Aufenthalt im mittleren Kursus für mich nützlich sein werde, und daß dies fast mit allen Schülern so der Fall war, so fühlte sich doch mein kindlicher Ehrgeiz gekränkt, und vor allen Dingen fürchtete ich, daß dies meine Mutter betrüben werde. Meine Besorgnis war unbegründet. Als ich zu den Ferien mit Jewsejitsch nach Aksakowo kam (im Jahre 1803) und meine Mutter Upadyschewskis, Iwan Ipatowitschs und Grigori Iwanowitschs Briefe gelesen hatte, da war sie, und ebenso mein Vater, sehr zufrieden damit, daß ich im mittleren Kursus geblieben war. Aber als ich mit voller Aufrichtigkeit ihr ausführlich von meinem Aufenthalte und von meiner Lebensweise im Hause meines Pensionshalters erzählte, wurde meine Mutter sehr nachdenklich und zeigte sich unzufrieden. Ihr mißfiel Iwan Ipatowitsch, seine Familie und sogar Guri Iwlitsch Lastotschkin, weil sie die Seminaristen nicht leiden konnte, worin mein Vater ihr völlig beistimmte. Dieses Vorurteil war in bezug auf Guri Iwlitsch besonders ungerecht, der sehr viele gute Eigenschaften besaß Einige Jahre darauf traf ich mit Gurit Iwlitsch Lastotschkin auf eine höchst originelle Weise wieder zusammen. Ich muß vorausschicken, daß er in der letzten Zeit, wie ich schon gesagt habe, mich sehr liebgewonnen hatte und, trotzdem ich nur zwölf Jahre alt war und er zweiundzwanzig, mir freundschaftlich alle seine Lebensverhältnisse anvertraute, unter anderm auch, daß die Seminarbehörde ihm zurede, in den geistlichen Stand einzutreten, zu dem er keine Neigung verspüre. Ich weiß nicht, woher sich in meinem Kopfe die Meinung festgesetzt hatte, Guri Iwlitsch werde sicher Geistlicher werden; und ich sprach diese Meinung auch ihm gegenüber aus. Er behauptete, das werde nicht geschehen, und wurde sogar ärgerlich; ja, um mich vom Gegenteil zu überzeugen, nahm er einmal ein Blatt Papier und schrieb darauf: »Eher wird die Kasanka bergauf fließen, als daß Guri Lastotschkin in den geistlichen Stand tritt.« Dieses Blatt gab er mir zur Aufbewahrung als eine Art von Schuldverschreibung dafür, daß er sich seine Freiheit bewahren werde: ein deutlicher Beweis, daß er selbst noch sehr jugendlich war. Zwei Monate darauf trennten wir uns. Es vergingen drei oder vier Jahre; ich hatte nie wieder etwas von Guri Iwlitsch gehört und seine Existenz vollständig vergessen. An einem garstigen Herbstmorgen erhielt ich ein Briefchen von meiner Tante N. N. Subowa, die ich sehr lieb hatte; sie wohnte damals im W…wschen Hause, und ich besuchte sie häufig. »Mein lieber Sergei!« schrieb sie. »Komm doch heute um fünf Uhr nachmittags in deiner Studentenuniform und mit deinem Studentendegen zu uns. Heute ist bei uns Hochzeit; du sollst Lisas Hochzeitsmarschall sein, ihr die Schuhe anziehen und sie zur Kirche bringen.« Lisa war eine Pflegetochter der Familie W…w, ein armes, schönes junges Mädchen. Ich kam mit einiger Verspätung hin, wurde ausgescholten und sogleich zur Braut geführt, der ich die seidenen Strümpfe und die Schuhe anzog. Die Braut war mit ihrem Anzuge noch nicht ganz fertig; aber ihr Kopf befand sich bereits im vollen Hochzeitsputz; ich erinnere mich, daß ich von ihrer Schönheit überrascht war. Kaum hatte ich Zeit gehabt, mit meiner lieben Tante auf ihrem Zimmer ein paar Worte zu wechseln, als die Hausfrau W…wa mich zu sich rufen ließ und mich bat, so schnell wie möglich in ihrem Wagen zu dem Bräutigam zu fahren und ihm zu bestellen, die Braut wäre fertig angekleidet; er möge sogleich nach der Kirche fahren und von dort seinen Hochzeitsmarschall schicken und sagen lassen, daß er die Braut erwarte. In der Eile hatte ich keine Zeit zu fragen, wer denn eigentlich der Bräutigam sei, und jagte im nächsten Augenblick zu ihm hin. Ich hatte einen W…wschen Diener mit, der den Bräutigam und seine Wohnung kannte; er brachte mich in ein großes steinernes Haus, in dem viele Leute waren, führte mich durch mehrere Zimmer, öffnete eine Tür und sagte: »Da ist der Bräutigam; er zieht sich vor dem Spiegel an,« und ich erblickte den Rücken eines kräftigen Mannes in Kniehosen, seidenen Strümpfen und Schuhen, dem jemand eilig und eifrig das dicke, weiße Jabot umband. Ich trat näher, der Bräutigam drehte sich um: es war Guri Iwlitsch Lastotschkin, der sehr voll und stark geworden war. Wir stießen beide einen Schrei des Erstaunens aus. »Ach, mein lieber Aksakow!« sagte er. »Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen; aber entschuldigen Sie mich, ich kann augenblicklich nicht …« Ich unterbrach ihn, indem ich ihm mitteilte, ich sei der Hochzeitsmarschall seiner Braut und sei gekommen, um den Bräutigam zur Eile anzutreiben. Während Lastotschkin fortfuhr sich eilig anzukleiden, redete er zugleich mit mir weiter. »Sie sind, wie mir scheint, verwundert?« sagte er. »Ja,« antwortete ich, »ich wußte nicht, daß Sie der Bräutigam seien; aber ich freue mich sehr, daß Sie ein so schönes, gutes Mädchen zur Frau bekommen.« – »Ach, also wissen Sie noch nichts!« rief Lastotschkin, faßte mich bei der Hand, führte mich beiseite und sagte leise zu mir: »Sie erinnern sich gewiß an mein schriftliches Versprechen, nicht in den geistlichen Stand zu treten? Nun, hören Sie also: morgen werde ich Geistlicher und übermorgen erster Pfarrer an der Peterpaulskirche!« und dabei traten ihm die Tränen in die Augen. Welche Umstände Guri Iwlitschs Sinn geändert oder ihn gezwungen hatten, seine frühere Überzeugung zum Opfer zu bringen, das weiß ich nicht; aber es ging ihm offenbar nahe, daß er seine Freiheit verlor. Seitdem haben wir einander nicht mehr wiedergesehen. Im Laufe von fünfzig Jahren hörte ich fortwährend, daß Guri Iwlitsch Lastotschkin wegen seiner seelischen Eigenschaften allgemein beliebt und wegen seiner Gelehrsamkeit allgemein geachtet sei. Ich glaube, er war sogar Rektor an der vor nicht allzu langer Zeit in Kasan gegründeten geistlichen Akademie. (Anmerkung des Verfassers.). Am meisten war meine Mutter über die alberne Bestrafung entrüstet und empört, die Iwan Ipatowitsch über mich verhängt hatte. Der Wunsch, mich von ihm wegzunehmen und mich bei seinem früheren Hausgenossen unterzubringen, wurde in ihrem Herzen mit neuer Kraft rege. Mich wegzunehmen, war nicht schwer; aber Grigori Iwanowitsch zu überreden, daß er seinen ehemals gefaßten Plan umstieße, das schien ein Ding der Unmöglichkeit, um so mehr, weil er nicht nur Iwan Ipatowitschs Kollege, sondern auch sein intimer Freund war. Diesem konnte es in den Augen anderer Eltern schaden, wenn sein bester Schüler von ihm abging, und wenn ich von ihm zu Grigori Iwanowitsch zog, so konnten Leute, die die Verhältnisse nicht genau kannten, meinen, der letztere habe mich seinem Freunde abspenstig gemacht. Meine arme Mutter war sehr bekümmert, wußte aber nicht, wie sie sich helfen sollte. Die Liebkosungen der Jelaginschen Fräulein und besonders die Zärtlichkeiten der einen von ihnen mißfielen ihr ebenfalls, zu meinem nicht geringen Erstaunen. Sie beschloß, im Winter, sobald guter Weg sei, nach Kasan zu fahren: erstens, um sich mit eigenen Augen mein Leben anzusehen, und zweitens, um mit aller Macht Grigori Iwanowitsch dazu zu überreden, mich zu sich zu nehmen. Einen dritten Grund erfuhr ich erst später: meine Mutter wollte, daß ich die ganze durch die Winterferien unterrichtsfreie Zeit mit ihr und nicht in der Familie der Frau Iwan Ipatowitschs verleben möchte.
Die Sommerferien verlebte ich auf dem Lande ebenso angenehm wie im vorigen Jahre; aber auf der Rückreise hatte ich ein Erlebnis, das auf mich einen starken Eindruck machte, und dessen Spuren bis auf den heutigen Tag noch nicht verschwunden sind; ich hatte seitdem vor der Überfahrt über große Flüsse weit größere Furcht als vorher und fürchte mich auch jetzt noch sehr davor. Die Sache trug sich folgendermaßen zu: wir kamen um Mittag an die Sommer-Überfahrtsstelle über die Kama, gegenüber dem Dorfe Schuran. Am Ufer warteten auf das Übersetzen drei beladene Bauernwagen mit ihren Fuhrleuten und etwa fünfzehn Frauen mit Körben voll Beeren; die Frauen kehrten zu Fuß nach ihren Wohnungen auf dem gegenüberliegenden Ufer der Kama zurück. Fährleute waren an der Überfahrtsstelle nicht anwesend; wohin sie sich absentiert hatten, weiß ich nicht. Nachdem die Bauern und meine Leute ein Weilchen miteinander gesprochen hatten, beschlossen sie, selbst über den Fluß zu setzen, weil einer der Bauern sich anheischig machte, das Steuer zu handhaben, mit der Versicherung, er sei mehrere Jahre lang Fährmann gewesen. So wählten sie denn die beste Fähre aus und brachten die drei Bauernwagen mit ihrer Bespannung sowie meinen Reisewagen mit unseren drei Pferden hinein; selbstverständlich ließen sie auch alle Weiber mit ihren Beerenkörben einsteigen; der angebliche Fährmann stellte sich ans Steuer; zwei Bauern, mein Kutscher und der Diener Iwan Borisow, ein junger, überaus starker Mensch, der allein soviel wert war wie zehn andere, setzten sich an die Ruder, und wir stießen von dem Anlegeplatze ab. Unterdessen stieg im Westen eine schwarze Gewitterwolke auf und überzog allmählich den Horizont; sie zu übersehen war unmöglich; aber alle dachten: vielleicht zieht sie seitwärts, oder vielleicht kommen wir noch vorher hinüber. Unsere Abfahrtsstelle lag Schuran gerade gegenüber; um daher nicht durch die reißende Strömung der grimmigen Kama abwärts getrieben zu werden, sondern gerade die Anlegestelle zu treffen, mußte man mit Stangen mehr als eine Werst aufwärts fahren. Dies ging nur sehr langsam vonstatten; das Gewitter aber rückte schnell näher. Um die Überfahrt abzukürzen, fuhren unsere Leute nur eine halbe Werst aufwärts, setzten sich dann wieder an die Ruder und begannen, nachdem sie sich bekreuzt hatten, gegen die Strömung quer über den Fluß zu fahren; aber kaum waren wir bis zur Mitte gelangt, als die Gewitterwolke mit unglaublicher Schnelligkeit das ganze Firmament bedeckte; der schwarz gewordene Himmel spiegelte sich noch schwärzer im Wasser wider; es wurde dunkel, und ein furchtbares Gewitter mit Blitz, Donner und plötzlichem, wütendem Sturme brach los. Unser Steuermann ließ erschrocken das Steuerruder fahren und gestand, daß er gar nicht Fährmann gewesen sei und nicht zu steuern verstehe; der Wirbelwind drehte unsere Fähre wie ein Spänchen herum; die Weiber erhoben ein gellendes Geschrei, und Angst ergriff alle. Ich war so erschrocken, daß ich kein einziges Wort herausbringen konnte und am ganzen Leibe zitterte. Durch den Wirbelwind und die reißende Strömung wurde unsere Fähre mehrere Werst stromabwärts getrieben und strandete endlich auf einer Sandbank, glücklicherweise nur fünfzig Faden vom gegenüberliegenden Ufer. Iwan Borisow sprang ins Wasser, das ihm bis an den Gürtel reichte; er gelangte in einer Furt bis ans Ufer; das Wasser stieg ihm dabei nie über die Brust. Er kehrte auf demselben Wege zur Fähre zurück, zog das ruhigste unserer Pferde heraus, setzte mich rittlings darauf, sagte mir, ich möchte mich an der Mähne und am Halse des Pferdes recht festhalten, und führte es am Zügel; Jewsejitsch ging hinterher und hielt mich mit beiden Händen. Die trüben, gewaltigen Wogen rauschten zwischen uns hindurch und übergossen uns mit ihren Köpfen; unglücklicherweise kam der vorangehende Borisow von der Furt ab, in der er zweimal gegangen war, und geriet in eine tiefere Stelle hinein; auf einmal versank er im Wasser, mein Pferd begann zu schwimmen, und Jewsejitsch blieb hinter mir zurück; in dieser Lage empfand ich vor dem nahen Tode eine Angst, die ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen habe; jeden Augenblick war ich nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren, und erstickte beinahe: zum Glücke war die tiefe Stelle nicht länger als zwei oder drei Faden. Borisow schwamm meisterhaft, mein Pferd leistete das gleiche, und ohne den Zügel aus den Händen zu lassen, schwamm er schnell nach einer seichten Stelle hin und führte mein Pferd glücklich ans Ufer; aber Jewsejitsch, der nicht gut schwimmen konnte, wäre beinahe ertrunken und arbeitete sich nur mit großer Mühe nach dem Ufer durch. Ich wurde, naß bis auf den letzten Faden, fast besinnungslos vom Pferde gehoben; die Finger, mit denen ich mich in die Mähne meines Pferdes geklammert hatte, waren mir ganz starr und steif geworden; aber ich kam bald wieder zu mir und freute mich unaussprechlich über meine Rettung. Jewsejitsch blieb bei mir; Borisow aber begab sich wieder zur Fähre, von der nun die Weiber unter Schreien und Heulen, ohne sich von ihren Körben mit Beeren zu trennen, ins Wasser stiegen; die Männer stießen ihre Pferde und Wagen herunter, und alle gelangten, nachdem sie glücklicherweise eine noch etwas seichtere Furt gefunden hatten, so leidlich an das Ufer. Die Fähre, die nun um einen großen Teil ihrer Belastung erleichtert war, hob sich und begann von der Strömung mitgezogen zu werden. Da aber erwies sich Iwan Borisows Kraft als sehr nützlich; er hielt die Fähre so lange fest, bis unser Kutscher unsere Pferde und unseren Wagen auf die Sandbank gebracht hatte; dann ließ Borisow die Fähre los, und sie wurde sogleich stromabwärts getragen. Bis zum Gürtel im Wasser stehend, spannten sie die Pferde an, und mein Wagen fuhr ans Ufer, wobei freilich alles darin Befindliche durchnäßt wurde. Naß und frierend stiegen wir ein und jagten nach Schuran; dort wärmten wir uns auf, trockneten uns, tranken heißen Tee, und das kalte Bad hatte für uns keinerlei üble physische Folgen. Aber dafür hatte meine Seele einen argen Schreck bekommen, und ich habe in meinem ganzen Leben einen großen Fluß nicht mit Gleichmut ansehen können, selbst nicht bei stillem Wetter; und bei Sturm empfinde ich eine unwillkürliche Angst, deren ich mich nicht zu erwehren vermag.
Nachdem ich auf das Gymnasium zurückgekehrt war, machte ich mich eifrig ans Lernen. Die Familie Jelagin war auf dem Lande, und niemand lenkte mich ab. Guri Iwlitsch, erfreut über meinen Fleiß, beschäftigte sich mit mir eifrig, und ich wurde bald in allen Unterrichtsfächern des mittleren Kursus mit Ausnahme der Mathematik einer der besten Schüler. Von Ibrahimows Lehrgegenständen rede ich nicht weiter: da war ich beständig der Erste. Zu dieser Zeit liebte ich schon sehr das Gymnasium, die Lehrer, die Inspektoren und die munteren Kameraden. Jetzt belästigte mich nicht mehr dieser stete Wirrwarr, das Gelaufe, der Lärm, das viele Reden, Lachen und Schreien. Ich hörte das alles gar nicht; ich sang selbst im Chor mit, und dieser Chorgesang kam mir wohlklingend und angenehm vor. – Der Herbst dauerte sehr lange und war sehr regnerisch. In der Stadt trat eine starke Fieberepidemie auf, die auch mich heimsuchte. Dr. Benis war nicht mehr der Arzt des Gymnasiums, und so behandelte denn unser Bekannter Andrei Iwanowitsch Ritter alle Gymnasiasten, sogar die Halbpensionäre und die zahlenden Schüler, unter diesen auch mich. Anfangs vertrieb er mir das Fieber ziemlich schnell; aber es kehrte nach einigen Tagen wieder. Gewaltig große Chininpulver mit Glaubersalz, an die ich bis jetzt nicht ohne Ekel denken kann, verscheuchten das Fieber zum zweiten Male; aber zwei Wochen darauf stellte es sich von neuem mit großer Heftigkeit ein; so dauerte die Sache ziemlich lange. Jewsejitsch, welcher sah, daß die Kur nicht erfolgreich war, begann an der Kunst des Arztes zu zweifeln, den er von früher her als einen argen Lebemann kannte, und von dem er versicherte, er sei oft zu mir schwer betrunken gekommen. Jewsejitsch wagte es, Iwan Ipatowitsch davon zu benachrichtigen und ihn zu bitten, er möchte einen anderen Arzt für mich annehmen. Aber Iwan Ipatowitsch wurde ärgerlich, erwiderte, daß Herrn Ritter in der ganzen Stadt nachgerühmt werde, er verstehe es gut, Fieber zu kurieren, und wies meinem Hüter die Tür; aber dieser, der mich herzlich liebte und an den Befehl seiner Herrin dachte, machte ihr brieflich von meiner Krankheit Mitteilung. Erschrocken und aufgeregt fuhr meine Mutter, obgleich sie nach ihrer Entbindung noch nicht ganz wiederhergestellt war (unsere Familie hatte sich um einen dritten Bruder vermehrt), unverzüglich allein nach Kasan, mietete sich eine Wohnung, nahm mich zu sich herüber, rief den besten Arzt zu mir und nahm nun meine Kur in Angriff. Die Reise nach Kasan war ein neuer Akt der Selbstaufopferung von seiten meiner Mutter. Ihre Gesundheit litt sehr darunter, – und ihr ganzes Leben bestand aus solchen Handlungen der Selbstaufopferung! Mit Iwan Ipatowitsch ging es nicht ohne unangenehme Auseinandersetzungen ab; er fühlte sich sowohl dadurch gekränkt, daß meine Mutter mich in ihre Wohnung herübergenommen hatte, als auch dadurch, daß sie einen anderen Arzt hatte rufen lassen. Während meiner Kur, die etwa zwei Monate dauerte, weil ich heftige Schmerzen in der linken Seite hatte, fand ein unangenehmes Renkontre zwischen Iwan Ipatowitsch und den Eltern Manasein statt, infolge dessen er sein Pensionat aufgab und erklärte, er werde künftig keine Pensionäre mehr annehmen. Meine Mutter freute sich über diesen Vorfall sehr: sie hätte mich sowieso nicht bei Iwan Ipatowitsch gelassen; aber dann wäre es ihr weit schwerer, ja unmöglich gewesen, Grigori Iwanowitsch dazu zu überreden, mich unmittelbar von seinem Freunde zu sich zu nehmen. Übrigens stieß sie auch jetzt auf so viele Schwierigkeiten, daß der Erfolg lange zweifelhaft schien. Es muß bemerkt werden, daß während meines ganzen zweiten Aufenthaltes auf dem Gymnasium die freundschaftlichen Beziehungen Grigori Iwanowitschs zu meiner Familie nicht nur nicht schwächer, sondern allmählich noch herzlicher geworden waren. Meine Mutter stand mit ihm in sehr lebhafter Korrespondenz, und er konnte nicht umhin, ihren Verstand, ihre außerordentliche Mutterliebe und ihre unveränderlich freundschaftliche Gesinnung gegen ihn zu schätzen, die sich auf eine aufrichtige Hochachtung vor seinen strengen moralischen Prinzipien gründete. Ich habe mehrmals selbst vom anstoßenden Zimmer aus gehört, mit wie warmen, beredten Worten, mit wie heißen Tränen meine Mutter Grigori Iwanowitsch zu überreden suchte und anflehte, mein Erzieher zu werden. Endlich ließ sich seine Festigkeit doch überwinden: er willigte ein, wiewohl nur sehr ungern. Er nahm mich nicht als Pensionär, sondern als seinen jungen Kameraden; er war damals sechsundzwanzig Jahre alt und ich dreizehn. Aber unter keinen Umständen wollte er für mich Geld nehmen, sondern schlug vor, wir wollten die Wohnungsmiete und die Kosten des Essens zu gleichen Teilen tragen, und zu größerer Bequemlichkeit sollte ich mir meinen eigenen Tee halten; alle übrigen Ausgaben sollte derjenige von uns, den sie angingen, selbst bezahlen. Als meine Mutter so die Erfüllung ihres langgehegten, heißen Wunsches erreicht hatte, war sie so glücklich, heiter und froh, daß ich im tiefsten Herzen die Empfindung hatte, mit der Mutterliebe sei doch keine andere Liebe zu vergleichen. Ich freute mich ebenfalls sehr darüber, daß ich zu Grigori Iwanowitsch kam. Ich hegte gegen ihn eine große Verehrung, ja ich liebte ihn; seine etwas seltsamen, trockenen Manieren schreckten mich nicht; ich wußte recht wohl, daß er sich dieses äußerlich kalte Benehmen nur infolge seiner pädagogischen Ansichten zum Grundsatz für den Verkehr mit jungen Leuten gemacht hatte; ich dachte damals, daß ein solches Verfahren vielleicht sogar das richtige sei, was ich allerdings jetzt nicht mehr denke.
Wir mieteten unverzüglich ein sehr gutes, geräumiges Haus, das eben jenen Jelagins gehörte, das sie aber damals nicht bewohnten, sondern vermieteten. Meine Mutter zog zunächst mit mir um, richtete uns unsere künftige Wirtschaft ein, übergab mich, der ich nun vollständig wiederhergestellt war, meinem nunmehrigen Erzieher Grigori Iwanowitsch und reiste, von den angenehmsten Hoffnungen erfüllt, nach Aksakowo zu ihrer übrigen Familie zurück. Dies war schon im Februar 1804. Ich weiß keine erfreulichere Erinnerung aus meiner frühen Jugend als die Erinnerung an mein Leben bei Grigori Iwanowitsch. Dieses dauerte zwei und ein halbes Jahr, und obgleich sich gegen das Ende sein heller Glanz ein wenig trübte, so sind doch in meiner dankbaren Erinnerung nur die freundlichen Bilder lebhaft und klar haften geblieben. Lange hatte Grigori Iwanowitsch sich dagegen gesträubt, mich zu nehmen; aber dafür widmete er, nachdem er einmal eingewilligt hatte, sich mir auch vollständig. Die Teilnahme am Schulunterricht stand, obwohl ich sie erfolgreich fortsetzte, doch erst in zweiter Linie; die Hauptsache waren die häuslichen Übungen. Nur zu gewissen Lehrern ging ich beständig hin; dagegen besuchte ich die Mathematik-, Zeichen- und Schönschreibestunden nur selten; während dieser Stunden arbeitete ich zu Hause unter der Anleitung meines verständigen Erziehers. Sonderbar, daß mir die Mathematik absolut nicht in den Kopf wollte! Grigori Iwanowitsch unterrichtete mich anfangs eifrig in diesem Gegenstande, und ich kann nicht sagen, daß ich seine außerordentlich klaren Auseinandersetzungen nicht verstanden hätte; aber ich vergaß das, was ich verstanden hatte, sofort wieder, und Grigori Iwanowitsch meinte dann, ich hätte überhaupt nichts verstanden gehabt. Da er wußte, daß ich mit einem sehr tüchtigen Studenten der Mathematik, Alexander Knäschewitsch, befreundet war, bat er diesen, versuchsweise mit mir Mathematik zu treiben; und sollte man es denken: bei Knäschewitsch verstand ich alles weit besser als bei Grigori Iwanowitsch und behielt es länger. Aber all das führte zu weiter nichts: einige Tage darauf war in meinem Kopfe kein Lehrsatz und kein Beweis mehr vorhanden. Mein sonst so vorzügliches Gedächtnis erschien bei der Mathematik als ein Blatt reines, weißes Papier, auf dem kein mathematisches Zeichen haften blieb! Daher entwarf mein Erzieher, meinen natürlichen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend, für mich einen Bildungsplan: zur allgemeinen Bildung sollte namentlich die literarische hinzutreten. Er ließ für mich sofort eine Menge Bücher kommen. Soweit ich mich erinnern kann, waren dies: Lomonosow, Derschawin Es war damals erst ein Band Oden von Derschawin im Druck erschienen und ein kleines Bändchen anakreonitscher Gedichte; dieses war in »Petrograd« gedruckt, wie auf dem Titelblatte angegeben war. Offenbar war der fremdländische Name der neuen russischen Residenz nicht nach Derschawins Geschmack. (Anmerkung des Verfassers.), Dmitrijew, Kapnist und Chemnitzer. Sumarokow und Cheraskow besaß ich bereits; aber Grigori Iwanowitsch las diese beiden nie mit mir. Von französischen Büchern ließ er mir die Predigten von Massillon, Fléchier und Bourdaloue kommen, ferner die Märchen der Scheherazade, Don Quichotte, den Tod Abels, Geßners Idyllen, den Vikar von Wakefield und zwei Naturgeschichtsbücher, eines davon mit Abbildungen, aber ich weiß nicht mehr, von welchen Verfassern. Die Naturgeschichte war für mich die anziehendste Wissenschaft. Auf andere Bücher kann ich mich nicht besinnen; aber es waren ihrer noch mehrere. Vor allem trieb mein Erzieher mit mir fremde Sprachen, namentlich Französisch, worin ich, wie fast alle Schüler, sehr schwach war; in drei Monaten konnte ich flott lesen und verstand jedes französische Buch. Das Erlernen von Vokabeln, grammatischen Regeln und kleinen Gesprächen ging in der Schule seinen Gang für sich; aber zu Hause lernte ich nichts auswendig. Grigori Iwanowitsch nahm ein Buch, ließ mich lesen und mündlich übersehen. Anfangs verstand ich geradezu nichts, und das war mir peinlich und langweilig; aber mein Lehrer verblieb hartnäckig bei seiner Methode, und ihr schneller Erfolg versetzte mich in Erstaunen und machte mir Freude. Die mir unbekannten Worte notierte ich mir besonders; dann schrieb ich die Übersetzung, die immer zweimal mündlich wiederholt wurde, auf ein Blatt Papier; bei meinem guten Gedächtnisse wußte ich, ohne erst noch zu lernen, am anderen Tage immer sowohl das französische Original als auch die russische Übersetzung und alle besonders aufgeschriebenen Worte auswendig. Die ersten Stücke, die ich las und übersetzte, waren aus einer französischen Chrestomathie: Les aventures d'Aristonoy; unmittelbar darauf begann ich auch Scheherazade zu lesen und zu übersehen und dann den Don Quichotte. Manche Stellen zu lesen wurde mir nicht erlaubt, und ich befolgte diese Weisung gewissenhaft. O Gott, welchen Genuß gewährte mir das Lernen aus diesen heiteren, anziehenden Büchern! Selbst jetzt, wo schon fünfzig Jahre dazwischen liegen, erinnere ich mich an diese Lektüre mit dem lebhaftesten Vergnügen; ich erinnere mich, mit welcher Ungeduld ich auf die dafür angesetzte Stunde wartete, fast immer unmittelbar nach dem Mittagessen!
Grigori Iwanowitsch beschäftigte sich eifrig mit seiner eigenen Wissenschaft und schrieb, unter Benutzung der Arbeiten von Gelehrten, die damals auf diesem Gebiete berühmt waren, ein eigenes Lehrbuch der reinen Mathematik zum Gebrauche der Gymnasien; er las auch viele deutsche Schriftsteller, namentlich philosophische, und vervollkommnete sich beständig im Lateinischen Grigori Iwanowitsch besaß eine ausgezeichnete Kenntnis fremder Sprachen und schrieb sie fließend. Durch sein Latein setzte er die Universität Wilna in Erstaunen, deren letzter Kurator er in der Folgezeit war. Es ist erstaunlich, wie und wo er sich solche Sprachkenntnisse hatte erwerben können. (Anmerkung des Verfassers.). Wenn er mit mir Scheherazade und Don Quichotte las, so war das für ihn eine Erholung von seiner geistigen Arbeit, und er lachte herzlich mit mir, als wenn er ganz gleichaltrig mit mir wäre, oder, richtiger gesagt, wie ein Kind, wodurch er mich anfangs in großes Erstaunen versetzte; in solchen Augenblicken war mein Erzieher gar nicht wiederzuerkennen; seine ganze Trockenheit und Strenge war verschwunden, und ich gewann ihn so lieb wie einen älteren Bruder, obwohl ich ihn gleichzeitig sehr fürchtete. Aber als ich im Französischen hinreichende Fortschritte gemacht hatte, wurde die Lektüre russischer Schriftsteller, namentlich russischer Dichter, unsere Hauptbeschäftigung. Grigori Iwanowitsch erklärte mir so vortrefflich und verständlich die poetischen Schönheiten, den Gedanken des Verfassers und den Wert der einzelnen Ausdrücke, daß meine Neigung zur Literatur sich bald in eine leidenschaftliche Liebe verwandelte. Ohne alle Anstrengung meinerseits lernte ich viele der besten Gedichte von Derschawin, Lomonosow und Kapnist auswendig, die mein strenger Erzieher für mich ausgewählt hatte; die Gedichte von Dmitrijew, die damals wegen ihrer reinen, regelrechten Sprache als vorbildlich galten, konnte ich fast alle auswendig. Russische Prosa lasen wir nur sehr wenig, wahrscheinlich weil meinem Erzieher die damaligen Prosaiker nicht zusagten. Es verdient angemerkt zu werden, daß er nicht mit mir Karamsin las, außer einigen der »Briefe eines reisenden Russen«, und mir nicht erlaubte, »Meine Bagatellen« in meiner Bibliothek zu haben. Ich hatte schon vorher alles gelesen, was Karamsin geschrieben hatte, konnte »Hektors Abschied von Andromache« und die »Praktische Weisheit Salomonis« auswendig und deklamierte diese Gedichte mit Feuer. Ich wollte mich damit vor meinem Erzieher rühmen; aber er zog ein finsteres Gesicht und sagte, das erste Gedicht gebe keinen richtigen Begriff von Homer und das zweite nicht von dem Ekklesiasten, und fügte hinzu, Karamsin sei kein Dichter, und ich täte am besten, diese Gedichte ganz zu vergessen. Ich war sehr erstaunt; beide Gedichte gefielen mir, und ich deklamierte sie auch weiter im stillen, wenn ich allein im Garten umherging. Aufsätze zu schreiben erlaubte er mir nicht, und ich genoß dieses Vergnügen entweder in der Schule bei Ibrahimow oder zu Hause, ebenfalls im stillen. Ich hörte einmal von meinem Zimmer aus, das nur durch eine dünne Tür von der Stube getrennt war, die Grigori Iwanowitsch als Arbeits- und Schlafstube benutzte, wie er über mich mit Ibrahimow sprach. Ibrahimow lobte mich sehr, zeigte meinem Erzieher meinen Schulaufsatz in Gestalt eines Briefes an einen Freund: »Über die Schönheit des Frühlings« und fügte hinzu, es würde sich empfehlen, mich recht viel Aufsätze schreiben zu lassen. Grigori Iwanowitsch, der immer seinen Kollegen gegenüber eine überlegene Stellung einnahm, erwiderte ihm in sehr bestimmtem Tone: »Das sind alles lauter Possen, lieber Kollege! Sein Aufsatz besteht aus fremden Phrasen, die er aus allerlei Büchern aufgeschnappt hat, und deshalb kann man daraus noch gar nicht darüber urteilen, ob er eigene Begabung besitzt. Lust hat er allerdings gewaltige, und ich weiß, daß er oft rasch Papier vollkritzelt; aber ich werde ihn möglichst lange im Zügel halten; je später mein Telemach So nannten mich im Scherz alle Kollegen Grigori Iwanowitschs, indem sie gleichzeitig ihm selbst den Namen Mentor oder Minerva beilegten. (Anmerkung des Verfassers.) anfängt, selbst etwas zu schreiben, um so besser für ihn. Ein junger Mensch muß sich an gute Vorbilder halten und seinen Geschmack bilden, indem er Schriftsteller liest, die glatt und regelrecht schreiben. Meinst du, ich gebe ihm den ganzen Derschawin zum Lesen? Durchaus nicht; er kennt etwa zwanzig Gedichte von ihm, nicht mehr; aber Dmitrijew kennt er vollständig. Ich glaube, du verdirbst ihn mir. Wahrscheinlich traktierst du in der Klasse fortwährend ›Die arme Lisa‹, ›Natalja, die Tochter des Bojaren‹, und das dramatische Fragment ›Sofja‹.« Ibrahimow fühlte sich gekränkt und erwiderte, er wisse sehr wohl, daß diese Stücke trotz ihrer Reize für Schüler nicht passend seien. »Gut so,« fuhr mein Erzieher fort; »aber unser Erich Erich war ein großer Linguist und sowohl der neueren als auch der allen Sprachen in hohem Maße kundig. Am Gymnasium unterrichtete er im obersten Kursus Französisch und Deutsch und an der Universität machte man ihn zum Adjunkten des Lateinischen und Griechischen. (Anmerkung des Verfassers.) läßt gerade diese Stücke ins Französische übersetzen.« Das Gespräch dauerte ziemlich lange, und so jung ich war, so erkannte ich doch sehr wohl, wie verständig die Reden meines Erziehers waren. Er wußte nicht, daß ich zu Hause war, und sprach daher über mich so laut: ich war aus dem Gymnasium ungewöhnlich früh zurückgekommen, weil in unserer Klasse kein Lehrer war, und war in mein Zimmer gegangen, ohne daß mich jemand bemerkt hätte. Hier hörte ich ebenfalls, wie hoch Grigori Iwanowitsch meine Mutter schätzte; aber leider sagte er auch nicht ein einziges schmeichelhaftes Wort über mich, und wie gern hätte ich etwas Derartiges gehört! Gerade als ob er gewußt hätte, daß ich an der Tür horchte! – Es war eine sonderbare, unbegreifliche Sache! Wenn ich jetzt über die Vergangenheit nachdenke, so vermag ich es mir nicht zu erklären, was für einen Grund meine warme Zuneigung zu Grigori Iwanowitsch hatte. Infolge meiner Jugend konnte ich es damals nicht völlig durchschauen, daß sich hinter seinem trockenen Benehmen ein lebhaftes Interesse und ein herzliches Wohlwollen gegen mich verbarg. Niemals liebkoste er mich, niemals schmeichelte er meiner Eitelkeit durch ein Lob, er ermunterte meinen Fleiß nicht; und trotz alledem liebte ich ihn so warm, wie ich außer meinen Verwandten keinen Menschen liebte. Ich erinnere mich, daß ich ihn einmal lachen hörte. Ich blickte in sein Zimmer und sah, daß mein strenger Erzieher, ein mathematisches Buch in der Hand, wie ein Kind über ein paar spielende Kätzchen lachte. Sein Gesicht war in diesem Augenblicke so gutmütig, freundlich, ja zärtlich, daß ich ordentlich die Kätzchen beneidete. Ich trat mit meinem Hefte zu ihm ins Zimmer, und die frühere ruhige Kälte, ja sogar eine gewisse Verdrossenheit prägte sich auf seinem Gesichte aus.
So verging meine Zeit; Grigori Iwanowitsch zeigte sich zuzeiten zugänglicher, und seine Redeweise wurde, wenn auch nicht freundlich, so doch wenigstens manchmal scherzhaft, aber nur wenn wir unter vier Augen waren, namentlich bei der Lektüre des Don Quichotte, bei welcher Sancho Pansa für uns eine unerschöpfliche Quelle des Gelächters war; sobald ein Dritter erschien, und wenn es nur Jewsejitsch war, wurde mein Erzieher sofort wieder ernst.
Grigori Iwanowitsch war der Sohn eines kleinrussischen Adligen, eines Geistlichen, der ungefähr hundert Leibeigene besaß; sein Urgroßvater, ein Türke, war, ich weiß nicht aus welchem Grunde, aus der Türkei ausgewandert, zum Christentum übergetreten, hatte sich verheiratet und in Kleinrußland niedergelassen. Grigori Iwanowitsch erfreute sich nicht der Liebe seiner Mutter; aber dafür liebte ihn sein Vater mit mütterlicher Zärtlichkeit. Da dieser sah, daß der Knabe zu Hause ein schlechtes Leben hatte, so brachte er ihn in seinem neunten Lebensjahre nach Moskau und verschaffte ihm eine Alumnenstelle am Universitätsgymnasium. Der Sohn hing mit warmer, leidenschaftlicher Liebe an seinem Vater und grämte sich sehr, als er allein in Moskau zurückblieb; ein Jahr darauf besuchte ihn der Vater dort, und der Knabe freute sich dermaßen, daß er vor Aufregung das Fieber bekam; der arme Vater konnte nicht lange in Moskau bleiben und mußte seinen Liebling dort krank zurücklassen. Nach einem Jahre starb der Vater. Im Laufe von achtzehn Jahren, von seinem Eintritte in das Moskauer Gymnasium an, fuhr Grigori Iwanowitsch nur ein einziges Mal zum Besuch nach Kleinrußland, und zwar ehe er in das Lehramt eintrat; aber er nahm aus seinem Elternhause eine unangenehme, peinliche Empfindung mit. Alles dies erzählte mir sein Diener, der Kleinrusse Jaschka, den er mitgebracht hatte. In der Aussprache meines Erziehers, in seiner Denkweise und in seinem Äußeren war nicht das geringste von einem Kleinrussen zu spüren. Es scheint, daß die Heimat keinen Reiz für ihn hatte, und ich habe oft gehört, wie er, während er das großrussische Wesen hoch stellte, sich über die kleinrussische Trägheit und Stumpfheit lustig machte, sehr zum Ärger seiner Landsleute Iwan Ipatowitsch und Markewitsch, des Ökonomen am Gymnasium, eines sehr guten Menschen mit einem gehörigen Bäuchlein, geborenen Humoristen und amüsanten Spaßmachers, der sehr freundlich gegen mich war, und den ich sehr gut leiden konnte.
Es kam der Frühling des Jahres 1804, und in der Leidenswoche bereitete sich Grigori Iwanowitsch mit mir auf das Abendmahl vor, wobei er das Fasten und alle kirchlichen Vorschriften aufs strengste beobachtete. Unsere Pfarrkirche zur heiligen Großmärtyrerin Warwara lag dicht am Schlagbaum, hinter dem sogenannten Arskoje-Felde. Trotzdem die Wege infolge des Frühjahrs sehr schlecht waren, gingen wir zu allen Gottesdiensten nach der Kirche, sogar zur Frühmesse. In dieser Zeit kam einmal Iwan Ipatowitsch zu uns, und ich hörte zufällig, wie er über Grigori Iwanowitschs Frömmigkeit seine Witze machte. Aus dem, was er sagte, konnte man entnehmen, daß mein Erzieher früher kein eifriger Beobachter der religiösen Gebräuche gewesen war; aber dieses Mal schalt er seinen Freund ernstlich aus wegen seiner unangebrachten Späße, so daß Iwan Ipatowitsch, der für einen Philosophen zu gelten beanspruchte, sich sehr gekränkt fühlte und lange Zeit nicht zu uns kam. Ich muß sagen, daß Grigori Iwanowitsch sein ganzes Leben lang ein wahrer Christ war. Trotz des kleinen Streites mit Iwan Ipatowitsch fuhr mein Erzieher mit mir nach dessen Gute, und wir verlebten beide in Abwesenheit der Besitzer in Koschtschakowo eine sehr angenehme Zeit; wir wohnten in einem kleinen Nebengebäude, am Ufer eines großen Teiches, der eben erst von seinem Wintereise frei geworden war; wir lasen beständig etwas und gingen trotz des Schmutzes täglich zweimal spazieren. Der Frühling stimmte mich heiter und erinnerte mich nur zu lebhaft an den Frühling in Aksakowo. Das Geschrei der ankommenden Zugvögel erregte das Herz des künftigen Jägers. Einmal, als Grigori Iwanowitsch mit mir ein ernstes französisches Buch las und, am offenen Fenster sitzend, sich bemühte, mir einen Gedanken zu erklären, den ich nicht recht verstanden hatte, ließ plötzlich eine rotfüßige Schnepfe ihr melodisches Getriller hören, bog die Flügel nach oben und ließ sich, die langen, roten Beine ausstreckend, in weichem Fluge am Ufer des Teiches nieder, gerade dem Fenster gegenüber. Ich fuhr zusammen; das Buch fiel mir aus der Hand, und ich stürzte zum Fenster hin. Mein Erzieher war ganz starr vor Staunen. Ganz atemlos sagte ich: »Eine Schnepfe, eine rotfüßige Schnepfe hat sich ans Ufer gesetzt, ganz nahebei; da geht sie …« Aber Grigori Iwanowitsch hatte kein Verständnis für die Empfindungen eines Jägers und befahl mir mürrisch, mich hinzusetzen und fortzufahren. Ich gehorchte, und obgleich ich nicht mehr nach der Schnepfe hinsah, hörte ich doch ihre Stimme; das Blut stieg mir ins Gesicht, und ich verstand in meinem Buche kein Wort mehr. Mein Erzieher befahl mir unzufrieden, es hinzulegen und eine meiner früheren, schon von ihm korrigierten Übersetzungen ins Reine zu schreiben; er selbst aber fing an, für sich zu lesen. Nach einer Stunde fragte er mich: »Nun? Ist die Schnepfe aus Ihrem Kopfe hinausgeflogen?« Ich antwortete bejahend, und wir nahmen die unterbrochene Beschäftigung wieder auf. Ich muß hinzufügen, daß Grigori Iwanowitsch in solchen Fällen immer sehr nachsichtig war; sobald er merkte, daß ich müde wurde oder mich durch irgend etwas zerstreuen ließ, befahl er mir immer, im Garten spazieren zu gehen oder mich mit einer mechanischen Arbeit zu beschäftigen.
Es kam der Juni und die Zeit der Examina. Ich war in allen Lehrgegenständen des mittleren Kursus, die ich besuchte, ein vorzüglicher Schüler; aber da ich an einigen überhaupt nicht teilnahm, so erhielt ich keine Prämie; das hinderte mich jedoch nicht daran, in den obersten Kursus versetzt zu werden. Nur neun Schüler, die den obersten Kursus absolviert hatten, verließen das Gymnasium; alle übrigen verblieben im obersten Kursus noch ein weiteres Jahr.
Der mit drei Pferden bespannte Reisewagen, der mich abholen sollte, war bereits eingetroffen. Ich und Jewsejitsch machten uns zur Reise fertig, und unsere Abreise sollte am Tage des öffentlichen Aktus, der wieder Anfang Juli stattfand, nach dem Mittagessen erfolgen. Tags zuvor sagte Grigori Iwanowitsch zu mir, er wolle mich eine Strecke begleiten, und fragte mich, ob mir das auch recht wäre. Ich antwortete, daß ich mich sehr darüber freute. Ich glaubte, er wolle bis vor die Stadt mitfahren. Am Vormittage des folgenden Tages flüsterte mir Jewsejitsch heimlich zu: »Grigori Iwanowitsch fährt mit uns nach Aksakowo; aber er hat uns allen verboten, es Ihnen zu sagen.« Obgleich mir das Lernen Freude machte, behagte mir diese Nachricht doch nicht sonderlich, weil ich gehofft hatte, in den Ferien tüchtig zu angeln und besonders zu schießen; mein Vater hatte mir im vorigen Jahre versprochen, ein Gewehr für mich bereit zu machen und mich schießen zu lehren. Ich wußte, daß Grigori Iwanowitsch meinen Unterricht nicht verkürzen und mir auf diese Art viel Zeit entziehen werde; außerdem berührte mich seine Verschlossenheit unangenehm. Auch Jewsejitsch war aus irgendwelchem Grunde nicht zufrieden. Nach dem Aktus aßen wir etwas früher als gewöhnlich zu Mittag und fuhren dann ab. Ich tat, als ob ich von Grigori Iwanowitschs Absicht nichts wüßte. Als wir den Schlagbaum passiert hatten, gingen wir zu Fuß. Mein Erzieher war in sehr guter Stimmung und sogar heiter: er freute sich über den Anblick der grünen Felder, der Wälder und der kleinen Wölkchen am sommerlichen Himmel. Aus einmal sagte er lächelnd: »Das Wetter ist so schön, daß ich Sie bis zum nächsten Nachtquartier, bis zur Mjoscha, begleiten möchte; ich will einmal sehen, wie Sie mich mit Fischen bewirten werden.« Ich stellte mich, als wüßte ich nichts. »Dann wollen wir einsteigen und recht schnell fahren,« sagte ich, »damit wir möglichst früh hinkommen. Aber wann und wie wollen Sie denn zurückkehren?« – »Ich werde mit Ihnen im Wagen übernachten und mir morgen früh einen Bauernwagen nehmen,« antwortete Grigori Iwanowitsch, mich unverwandt anblickend. Wir setzten uns wieder in den Wagen und fuhren in flottem Trabe weiter. Es war ein prächtiger, entzückender Abend; wir hatten Angelgerät bei uns, und ich und Jewsejitsch fingen in der Mjoscha eine Menge Fische, die gekocht und gebraten wurden; schlafen legten wir uns im Wagen. Als ich am andern Morgen aufwachte, sah ich, daß wir bereits fuhren, daß die Sonne schon hoch stand, und daß Grigori Iwanowitsch neben mir saß und lachte. Ich fing selbst an zu lachen und gestand, daß ich von seiner Absicht schon längst Kenntnis gehabt hatte. Er schalt Jewsejitsch ein bißchen wegen seiner Plauderhaftigkeit, und da er auf meinem Gesichte las, daß ich nicht völlig zufrieden war, sagte er: »Sie fürchten, daß ich Ihnen bei Ihren Vergnügungen hinderlich sein werde; aber fürchten Sie das nicht! Ich werde mit Ihnen nur dann arbeiten, wenn Sie selbst darum bitten werden. Jetzt unterwegs haben wir nichts zu tun; da wollen wir etwas lesen.« Damit zog er ein Buch aus der Tasche. Ich war durch diese Worte völlig beruhigt und wäre meinem Erzieher gern um den Hals gefallen; aber daran wagte ich nicht einmal zu denken. Wir trieben unterwegs viel Wissenschaftliches, und außerdem sagte ich alles auf, was ich auswendig wußte; ja, wir unterhielten uns sogar weit mehr und offenherziger als in Kasan; aber überall, wo es möglich war zu angeln, angelte ich nach Herzenslust. Auf diese Weise gelangten wir am fünften Tage nach Aksakowo. Grigori Iwanowitschs Ankunft war für meine Mutter eine überaus angenehme Überraschung; sie geriet darüber in das größte Entzücken.
Gegen alle Erwartung fanden wir das Haus voll von Verwandten und Gästen und in ihm einen argen Wirrwarr: meine Tante Jewgenja Stepanowna verheiratete sich, und die Hochzeit sollte in einigen Tagen stattfinden. Jewgenja Stepanowna war schon vierzig Jahre alt; aber sie war sehr frisch und sah noch recht jugendlich aus; es mißfiel ihr auf die Dauer, im Hause ihrer Schwägerin zu leben und sich in vollständiger Abhängigkeit von der Hausfrau zu befinden, die in früheren Jahren viel von ihren Schwägerinnen auszustehen gehabt hatte und darunter auch von ihr selbst, wiewohl sie besser gewesen war als die anderen. Jewgenja Stepanowna wollte wenigstens im Alter in einem eigenen Häuschen wohnen, ihr eigenes Winkelchen haben und darin vollständige Herrin sein. Sie heiratete Wasili Wasiljewitsch Uglitschinin, der sein ganzes Leben lang beim Militär gewesen war und sich vor kurzem hatte als Oberstleutnant pensionieren lassen. Er war ein sehr schlichter, gutmütiger, friedlicher und ehrenhafter Mensch und war schon weit über die fünfzig hinaus. Er besaß gar kein Vermögen und hatte keine Einnahme als seine Pension; er stammte aus einer ganz armen adligen Familie, die nach der Statthalterschaft Ufa übergesiedelt war. Im Alter von vierzehn Jahren hatte man ihn in den Militärdienst treten lassen; er hatte still und pflichttreu gedient, beständig Not gelitten, viele Kämpfe mitgemacht und mehrere leichte Wunden empfangen; er hatte keine Ehrenzeichen, obwohl sein Dienstzeugnis so lang war und so schön klang, daß man hätte meinen sollen, er müßte mit allen möglichen Orden dekoriert sein. In der letzten Zeit hatte er im Kaukasus gedient und von dort eine kleine Geldsumme, die er sich von seinem Gehalte zusammengespart hatte, eine Uniform ohne Epauletten, ein vor Alter weißlich gewordenes Gebirgspferd, einen Rheumatismus im ganzen Körper und den grauen Star auf dem rechten Auge mitgebracht; der graue Star war zum Glück nicht gerade auffallend, und Wasili Wasiljewitsch gab sich alle Mühe, ihn zu verbergen, da er fürchtete, einen Einäugigen würde kein Mädchen heiraten. Jewgenja Stepanowna besaß, sieben Werst von ihrer Schwester Alexandra Stepanowna, ein Dörfchen mit fünfundzwanzig Seelen, dabei ein kleines Häuschen, das aus zwei Bauernhäusern zusammengesetzt war, an der Quelle des Flüßchens Bawla, das von Forellen wimmelte (ein entzückendes Winkelchen!), und eine ausreichende Menge vorzüglichen Ackerlandes mit allem Zubehör. Dieses Besitztum war für sie den Baschkiren abgekauft worden, und zwar für einen ganz geringen Preis; der Kauf war durch die Bemühungen ihres Schwagers I. P. Krotkow, der selbst ein halber Baschkire war, zustande gekommen Leider ging dieses Gütchen nach einem langjährigen Prozeß mit einer benachbarten Baschkirenhorde verloren, welche bewies, daß sie die richtige Erbbesitzerin desselben sei. Meine arme Tante kaufte nicht weit davon neunhundert Deßjätinen und mußte das Dörfchen und das Gutshaus dorthin verlegen. (Anmerkung des Verfassers.). Und ein so winziges Gütchen erschien dem verabschiedeten Offizier als ein ruhiger Hafen, als ein Ort, wo er im Alter sein tägliches Brot haben werde.
Alle machten sich im stillen über den alten, einäugigen Bräutigam lustig, außer meiner Mutter, meinem Vater und meinem Erzieher Grigori Iwanowitsch, die mit ihm respektvoll und höflich verkehrten. Böse Zungen erklärten die Freundlichkeit meiner Mutter damit, daß sie sich ihre Schwägerin vom Halse schaffen wolle. Aber das ist unwahr; meine Mutter wußte schlichte, harmlose Menschen immer zu schätzen und zu achten; sie gab ihrer Schwägerin Jewgenja Stepanowna aus aufrichtiger Überzeugung den Rat, den guten Menschen zu heiraten, und diese war ihr für den Rat ihr ganzes Leben lang dankbar. Grigori Iwanowitsch fand überdies ein besonderes Vergnügen daran, sich mit dem ausgedienten Invaliden zu unterhalten, und Wasili Wasiljewitsch, der mit anderen äußerst schweigsam zu sein pflegte, antwortete gern auf seine Fragen und erzählte sehr viel Interessantes. Mein Erzieher lenkte gleich damals meine teilnahmsvolle Aufmerksamkeit auf diesen Mann und setzte mir seine trefflichen Eigenschaften auseinander, die ich infolge meines jugendlichen Alters von selbst nicht bemerken und würdigen konnte. – Im Hause war für die Männer kein Platz; sogar die Unterbringung der Frauen hatte große Mühe gemacht, weil drei Zimmer für das künftige junge Ehepaar bestimmt waren. Dadurch kam meine Mutter in arge Verlegenheit, und sie griff zu einem Auskunftsmittel, das die männliche Verwandtschaft ihr nie verziehen hat: sie gab meinem Erzieher Grigori Iwanowitsch ihr Schlafzimmer, das sonst kein Fremder auch nur zu betreten wagte, und quartierte auch mich dort mit ihm ein, selbstverständlich nur für die Zeit, bis die Gäste abgereist sein würden. Am festgesetzten Tage wurde die Eheschließung glücklich vollzogen. Mein Vater begleitete das junge Paar nach dessen neuem Wohnsitze und kehrte sogleich zurück. Endlich blieb unsere Familie für sich allein.
Ich unterbreche hier meine Erzählung und eile voraus. Das Leben des Uglitschininschen Ehepaares steht mir so lebhaft vor Augen, daß ich ein paar Worte darüber sagen möchte. Jewgenja Stepanowna hatte Mangel und Not in ihrer Mädchenzeit nicht gekannt, da sie zuerst im Elternhause und dann im Hause ihres Bruders und ihrer Schwägerin gelebt hatte; jetzt, wo sie verheiratet war, lernte sie sie kennen, war aber trotzdem vollkommen glücklich. Sie liebte ihren invaliden Oberstleutnant zärtlich und innig, der ihre Liebe in gleicher Weise erwiderte. Leider hatten sie keine Kinder. Jewgenja Stepanowna behielt bis in ihr hohes Alter eine Art von mädchenhaftem, keuschem Aussehen; im Umgange mit ihrem Manne war sie schüchtern und ließ ihm nie vor Zeugen eine Liebkosung zuteil werden, worüber der alte Krieger sich manchmal lustig machte, indem er andeutete, daß Jewgenja Stepanowna nicht immer so unzugänglich sei. In Gegenwart anderer behandelten sie einander wie Fremde, sagten zueinander stets »Sie« und verkehrten überhaupt unter sich sehr höflich. Auf den ersten Blick konnte man das für Kälte halten; aber bald mußte man bemerken, wie sorglich sie aufeinander aufpaßten, wie sie einander beständig im Auge behielten, wie jedes Wort und jede Bewegung des einen das Interesse des anderen erweckte, und jedermann mußte zu der Überzeugung gelangen, daß Jewgenja Stepanowna nur für ihren Wasili Wasiljewitsch lebe und Wasili Wasiljewitsch, wenn auch in ruhigerer Weise, nur für seine Jewgenja Stepanowna. Ihr Häuschen glänzte von Reinlichkeit und Sauberkeit und hatte etwas außerordentlich Behagliches und Friedliches. Man kann nicht sagen, daß sie den gleichen Geschmack gehabt hätten; aber gerade die verschiedenen Töne flossen bei ihnen zu einer harmonischen Lebensführung zusammen. Jewgenja Stepanowna liebte z. B. Katzen und Hunde, wobei bemerkt werden muß, daß diese Tiere merkwürdigerweise bei ihr keine Schmutzerei machten und nichts verdarben; Wasili Wasiljewitsch liebte sie ganz und gar nicht; aber selbst der häßliche, heisere Mops Kalmück mit der seitwärts heraushängenden Zunge war ihm lieb und wert, weil Jewgenja Stepanowna ihn liebte, und er fütterte und liebkoste den widerwärtigen Kalmück mit Vergnügen und in dankbarer Gesinnung gegen seine Frau. Sogar der Bobak, der unter dem Ofen überwinterte, seiner Herrin viel Amüsement bereitete und den Hausherrn sehr ärgerte, weil er ihm oft seine Pantoffeln wegschleppte und so kunstvoll versteckte, daß derselbe oft barfuß aus dem Bette aufstehen mußte und sie manchmal den ganzen Tag über nicht finden konnte, – selbst dieser Bobak erfreute sich von seiner Seite einer guten Behandlung. Alles befand sich bei ihnen in ihrem Häuschen am richtigen Platze und war besser als bei anderen Leuten: die Hunde und Katzen waren wohlgenährter und sauberer, die Singvögel fröhlicher und sangeslustiger, die Pflanzen grüner. Wenn ihnen jemand manchmal einen Topf mit vertrocknenden Blumen schenkte, so wurden diese bei ihnen wieder frisch und grün und fingen munter zu wachsen an, so daß der frühere Besitzer sie sich von ihnen zurückerbat. In Jewgenja Stepanownas kleinen Zimmern wuchsen Johannisbrotbäume und Dattelpalmen und aus Rosinenkernen gezogene Weinstöcke und andere Gewächse, die eine warme Temperatur verlangen. Es lag gewissermaßen in der Luft etwas Beruhigendes und Belebendes, wovon die Tiere und Pflanzen sich behaglich fühlten, und was ihnen wenigstens zum Teil die unbeschränkte Freiheit oder das natürliche Klima ersetzte. Wasili Wasiljewitsch und Jewgenja Stepanowna führten gemeinschaftlich ihre kleine Hauswirtschaft, und ohne alle Überanstrengung erlangten sie alles in größerer Quantität, zu früherer Zeit und in besserer Qualität als andere Leute. Sie gingen zusammen aus, um Pilze und Beeren zu sammeln, fingen zusammen die prächtigen Forellen in ihrem Flüßchen und freuten sich zusammen über jedes Gelingen. Und wie wurde es nun gar mit ihnen, wenn einer von ihnen erkrankte! Da zeigte sich erst in vollem Maße diese wechselseitige, tiefe, zärtliche Liebe, die man in gewöhnlichen Zeiten nicht gleich bemerkte. – Aber ich nehme Abstand davon, weitere Einzelheiten mitzuteilen, da mich dies zu weit führen würde. Ich sage nur, daß ich in der Folgezeit, wenn ich manchmal nach diesem einsamen Winkelchen kam und ein paar Stunden lang dieses blumenlose, bescheidene Leben betrachtet hatte, mich immer gern dem Eindrucke überließ, den es auf mich machte, und mich fragte: wohnt hier nicht das wahre Glück des Menschen, das nichts weiß von unlösbaren Fragen, nichts von unbefriedigten Forderungen, nichts von Leidenschaften und Aufregungen? Lange tönte in meinem Innern der harmonische Klang dieses Lebens nach, lange fühlte ich eine Art von wehmütiger Rührung, eine Art von Bedauern über den Verlust von etwas, was, wie es schien, so leicht zu erreichen war, wonach man nur die Hände auszustrecken brauchte. Aber wenn ich mir dann die Frage vorlegte: »Möchtest du wohl Wasili Wasiljewitsch sein?« dann erschrak ich über diese Frage, und das Gefühl der Rührung verschwand augenblicklich.
Mein Vater hatte sein Versprechen gehalten: er hatte mir ein leichtes Gewehr beschafft, mit sehr handlichem Kolben und hübsch gearbeitet, mit einem oben etwas erweiterten Laufe (nach Art der damaligen englischen Jagdflinten) und mit silbernem Visier und Korn. Er hatte es bei irgendwelcher Gelegenheit für fünfzehn Rubel gekauft, und obgleich das Gewehr Tulaer Arbeit war, so war es doch auch nach damaligen Preisen zwei- oder dreimal soviel wert; es traf auf fünfzig Schritte sehr gut. Der erste Schuß, den ich aus diesem Gewehr abfeuerte, und mit dem ich eine Krähe traf, entschied über mein Schicksal: ich wurde ein fanatischer Schütze. Am anderen Tage schoß ich eine Ente und zwei Sumpfschnepfen, und nun war ich vollständig wie von Sinnen. Die Angel und die Habichte waren vergessen, und von meiner natürlichen Leidenschaftlichkeit fortgerissen, lief ich den ganzen Tag mit dem Gewehr umher und träumte von ihm in der Nacht. So vergingen auch die folgenden Tage. Grigori Iwanowitsch, der mich nur flüchtig zu sehen bekam und mich immer beschäftigt und eilig fand, wartete vergebens darauf, daß ich ihn bitten würde, sich mit mir zu beschäftigen. Er machte meiner Mutter von unserer Verabredung Mitteilung, und sie befahl mir, Grigori Iwanowitsch zu bitten, daß er mir eine Beschäftigung geben möchte, täglich zwei Stunden, mit irgendwelchem Gegenstande nach seinem Ermessen. Dieser Befehl war sehr wenig nach meinem Geschmack; aber ich gehorchte. Anfangs konnte Grigori Iwanowitsch meine klägliche Gestalt und mein betrübtes Gesicht nicht ansehen ohne zu lachen; aber als ich ein französisches Buch aufgeschlagen und daraus zu übersetzen angefangen hatte, mich jedoch fortwährend dabei verwirrte und vor Zerstreutheit das, was ich las, nicht verstand, denn vor meinen Augen flogen Enten und Schnepfen umher, und in meinen Ohren ertönte ihr Geschrei: da zog mein Erzieher die Augenbrauen zusammen, nahm mir das Buch aus der Hand und hielt mir, im Zimmer von einer Ecke in die andere gehend, eine ganze Stunde lang eine Strafpredigt, in der er mir zuredete, ich möchte meine schädliche Eigenheit, mich bis zur Verdrehtheit, bis zu völligem Vergessen meiner ganzen Umgebung von etwas fesseln zu lassen, energisch bekämpfen. Leider hörte ich nichts und verstand nichts, und alle seine goldenen Worte, richtigen Gedanken und überzeugenden Beweise waren in den Wind geredet. Da er die Erfolglosigkeit seiner Ermahnungen erkannte, so versuchte Grigori Iwanowitsch es mit einem anderen Mittel: er ließ mich eine ganze Woche lang in völliger Freiheit vom Morgen bis zum Abend mit dem Gewehr herumlaufen, bis zum Umfallen, bis zu völliger Erschöpfung; er hoffte, ich würde von selbst zur Besinnung kommen, die Übersättigung der neuen Leidenschaft und die Ermüdung würden mich zur Vernunft bringen; aber vergebens: ich ließ das Gewehr nicht aus der Hand, aß wenig, schlief schlecht, wurde dunkel wie ein Mohr und magerte merklich ab. Da ergriff mein Erzieher, der für meine Gesundheit zu fürchten begann, entschiedene Maßregeln, zu denen ihm meine Mutter längst geraten hatte, ohne sich jedoch in seine Anordnungen hineinmischen zu wollen: er hängte das Gewehr an die Wand und verbot mir, auf die Jagd zu gehen. Nicht ohne zu lachen und mich zu schämen kann ich daran denken, wie ich mich in den ersten vierundzwanzig Stunden benahm! Ich weinte, heulte wie ein kleines Kind, wälzte mich auf dem Fußboden, raufte mir das Haar und hätte beinah meine Bücher und Hefte zerrissen; nur die Betrübnis meiner Mutter und das sanfte Zureden meines Vaters retteten mich vor dummen, sinnlosen Handlungen. Am anderen Tage war ich zur Besinnung gekommen, und am dritten konnte ich bereits geistig arbeiten und meine Lieblingsdichter mit Achtsamkeit und Vergnügen deklamieren; am vierten Tage hatte ich mich völlig beruhigt, und da erst hellte sich das Gesicht meines Erziehers auf. Alle diese Tage her hatte er fast gar nicht mit mir gesprochen und mich bald finster bald mit einem kränkenden Mitleid angesehen. Nun endlich wandte er sich teilnahmsvoll mit verständigen, freundlichen Worten zu mir, und diesmal mit vollem Erfolg. Ich schämte mich und ärgerte mich über mich selbst fast bis zu Tränen, und von einem Extrem zum anderen übergehend, wollte ich nun ganz und gar auf das Gewehr verzichten. Grigori Iwanowitsch war wieder unzufrieden: er mißbilligte meine Absicht und verlangte, ich sollte täglich entweder vom Morgen bis zum Mittagessen oder vom Mittagessen bis zum Abend auf die Jagd gehen, täglich aber auch drei bis vier Stunden mit Eifer und Fleiß arbeiten, besonders in der Geschichte und Geographie, Unterrichtsgegenständen, in denen ich etwas schwächer war als andere hervorragende Schüler. So verging nun die Zeit ordnungsmäßig und angenehm.
Während dieses Monats, wo meine Eltern ungestört viele freundschaftliche, offenherzige Gespräche mit Grigori Iwanowitsch führen konnten, hatten sie seinen klaren Verstand und seine vortrefflichen seelischen Eigenschaften noch mehr achten und schätzen gelernt, die mit vielseitiger Bildung und gründlicher Gelehrsamkeit verbunden waren. Meine Mutter bot den ganzen Einfluß, den ihre Liebe bei mir hatte, auf, um mir verständlich zu machen, was für einen Menschen ein gütiges Geschick mir zum Erzieher gegeben habe. Sie sah darin eine besondere Gnade Gottes. Was meine Mutter sagte, verstand ich nicht nur, sondern ich fühlte es auch in tiefster Seele. Ich versicherte ihr (obwohl ich sie leider nie davon völlig überzeugen konnte), daß ich selbst eine große Liebe und Verehrung für Grigori Iwanowitsch empfände, und daß ich mich nur in der Familie und auf dem Lande durch allerlei geliebte Personen und Dinge und durch die neue, mir bis dahin noch unbekannte Jagd mit dem Gewehr zerstreuen ließe, daß ich aber in der Stadt einzig und allein daran dächte, wie ich mir die Liebe und Zufriedenheit meines Erziehers erwerben könne, und daß ein einziges freundliches Wort von ihm mich vollkommen glücklich mache.
Meine liebe Schwester und Herzensfreundin war herangewachsen und erstaunlich schön geworden. Sie konnte meine ländlichen Vergnügungen und Passionen nicht mehr teilen und nicht mehr so häufig mit mir zusammen sein; aber sie sah, wie vergnügt ich war, und trug die eigene Entbehrung geduldig; dafür schalt sie aber auf mein Lernen und war wahrscheinlich deshalb meinem Lehrer nicht wohlgeneigt.
Am 10. August fuhren wir aus Aksakowo ab und langten am 15. ohne alle Abenteuer glücklich in Kasan an. Zu meiner Verwunderung verbot mir gleich an diesem Tage Grigori. Iwanowitsch, zum Unterrichte ins Gymnasium zu gehen, und gab mir verschiedene häusliche Arbeiten und Beschäftigungen auf. Er selbst aber begab sich jeden Morgen in die Gymnasialkonferenz, deren Sekretär er war, und blieb dort sehr lange. Endlich, nach fünf Tagen, sagte er zu mir, der Unterricht im Gymnasium sei noch nicht recht in Gang gekommen, da viele Schüler noch nicht wieder eingetroffen seien; es sei so wundervolles Wetter, und wir wollten zu Iwan Ipatowitsch nach Koschtschakowo fahren, um noch eine Woche in Freiheit spazieren zu gehen und zu lernen. Ich wunderte mich noch mehr, war aber damit sehr zufrieden. Wir blieben in Koschtschakowo nicht eine Woche, sondern langer als zwei; Grigori Iwanowitsch fuhr einige Male nach der Stadt; er fuhr früh morgens weg und kam erst zu dem späten Mittagessen zurück. Ich beachtete das nicht weiter. Als wir nach Kasan zurückgekehrt waren, befahl mir Grigori Iwanowitsch, gleich am anderen Tage zum Unterrichte zu gehen. Ich lief sehr vergnügt nach dem Gymnasium; aber meine Kameraden empfingen mich mit trübseligen Gesichtern und teilten mir folgendes unangenehme Begebnis mit.
Ich muß vorausschicken, daß der Direktor des Gymnasiums Lichatschew ein sehr schlechter Direktor war und überdies ein sehr wunderliches Äußeres hatte, das keine Zuneigung erwecken konnte; unter anderm war seine Unterlippe so groß, als ob sie von dem Stiche einer bösen Fliege oder Wespe angeschwollen wäre. Weder die Lehrer und Beamten noch die Schüler hatten Respekt vor ihm, und schon vor meiner Abreise zu den letzten Ferien war der Direktor, als er während des Mittagessens durch den Speisesaal ging, laut von den Schülern verhöhnt worden, die über die schlechte Grütze empört waren, in welcher einer ein Stück Lichttalg gefunden hatte. Gleich in der darauf folgenden Nacht wurden viele Wände innerhalb des Gymnasiums, auch die Außenwände, ja sogar die Kuppel des Gebäudes mit Inschriften, in denen der Direktor beschimpft wurde, versehen; und zwar waren sie mit Rotstift meisterhaft in großen Druckbuchstaben geschrieben. Die Inschriften waren so hoch angebracht, daß es unmöglich gewesen sein mußte, sie ohne Hilfe einer Leiter zu verfertigen, und von der Inschrift an der Kuppel mußte man bekennen, daß sie ein Wunder von Kühnheit und Geschicklichkeit sei; aber weder damals noch später wurden die Schuldigen entdeckt. Ich weiß auch heute noch nicht, wer es getan hat. Einige Tage, bevor ich mit Grigori Iwanowitsch aus Aksakowo zurückkehrte, als schon fast alle Schüler sich wieder im Gymnasium zusammengefunden hatten, hatte sich ein eigenartiger Vorfall abgespielt. Ein verabschiedeter Militär, der, ich weiß nicht warum, Quartiermeister genannt wurde und alle am Gymnasium angestellten Invaliden unter seinem Kommando hatte, war auf einen derselben zornig geworden und züchtigte ihn in grausamer Weise mit einem Stocke auf dem hinteren Hofe, der durch einen Zaun von dem vorderen, reinen Hofe abgeteilt war, wo alle Zöglinge in der Freizeit spielen und promenieren durften. Das Wehgeschrei des armen Invaliden erweckte in den jungen Herzen ein solches Mitleid, daß einige Schüler des obersten Kursus, darunter Alexander Knäschewitsch, das Verbot übertraten, durch das Pförtchen auf den hinteren Hof gingen und laut forderten, der Quartiermeister solle mit der Züchtigung des Delinquenten aufhören. Der Quartiermeister wurde über diesen Eingriff in seine Amtsgewalt sehr aufgebracht und fing an zu schreien und die Schüler in den gemeinsten Ausdrücken zu schimpfen; und da Alexander Knäschewitsch infolge seiner überaus großen Herzensgüte am meisten von allen aufgeregt war und vor den anderen stand, so waren alle Schimpfworte direkt und unmittelbar an ihn gerichtet. Als sie das Geschrei und das Schimpfen hörten, kamen die sämtlichen Schüler des obersten Kursus und nach ihnen auch andere auf den hinteren Hof. Der ältere Knäschewitsch, Dmitri, der die Stimme seines von ihm zärtlich geliebten Bruders erkannte, war der erste, der herbeigelaufen kam; da er von Natur ein hitziges Temperament hatte, trat er energisch für seinen Bruder ein; die anderen Zöglinge standen ihm einmütig bei; es mangelte nicht an kräftigen Ausdrücken und Drohungen, und der Quartiermeister sah sich genötigt, die Exekution abzubrechen und sich schleunigst zu retirieren. Dieses so unbedeutende Ereignis, dem das schöne Gefühl des Mitleids und dann die gerechte Entrüstung über eine grobe, freche Beleidigung zugrunde lagen, hatte sehr traurige Folgen, einzig deswegen, weil der Direktor kein Verständnis dafür hatte und der Sache eine üble Wendung gab. Zunächst reichten die Schüler des obersten Kursus ein schriftliches, ergebenes Gesuch ein, in dem sie um die Entlassung des grausamen und groben Quartiermeisters baten; aber der Direktor lehnte dieses Gesuch ab, schob die ganze Schuld auf die Schüler und verhängte über einige von ihnen sogar eine Strafe. Natürlich reizte eine solche Ungerechtigkeit die jungen Menschen: die zurückgewiesene respektvolle Bitte verwandelte sich in eine dringende Forderung und in eine Verletzung der bestehenden Schulordnung. Die Schüler des obersten Kursus hörten auf, den Unterricht zu besuchen; sie erklärten, sie würden nicht eher wieder in die Klasse gehen, ehe nicht der verhaßte Quartiermeister aus dem Gymnasium entfernt sei. Bald schloß sich auch der mittlere, ja sogar der unterste Kursus dem obersten an, und da der ganze Tumult sich hauptsächlich deswegen erhoben hatte, weil einem der besten Schüler, Alexander Knäschewitsch, eine Beleidigung zugefügt worden war, so war es nur natürlich, daß sein Bruder, der in jeder Beziehung der erste unter allen Schülern und bei seinen Kameraden sehr beliebt war, sozusagen das Haupt dieser Bewegung wurde. Der Direktor bekam es mit der Angst; er wagte nicht, sich den Schülern zu zeigen, und benutzte sogar, wenn er in die Konferenz gehen wollte, einen hinteren Ausgang, durch Jakowkins Wohnung; er schickte Vermittler zu den Schülern, um ihnen gütlich zuzureden; aber die Verhandlungen blieben resultatlos. Es ist nicht zu bezweifeln, daß, wenn der gute, allgemein beliebte und geachtete Wasili Petrowitsch Upadyschewski damals das Amt des Oberinspektors verwaltet hätte, dieses ganze unglückliche Begebnis in seinen Anfängen unterbrochen worden wäre; aber er war einige Wochen vorher krankheitshalber vom Gymnasium abgegangen, und seine Obliegenheiten versah nun ein ganz unbedeutender Mensch. So zog sich die Sache in ein und demselben unentschiedenen Zustande etwa drei Tage lang hin. Da brachten die Gymnasiasten in Erfahrung, daß der Direktor sich in der Konferenz befinde, besetzten vorsorglich den anderen Ausgang, drängten in dichter Schar zu der Haupttür des Konferenzzimmers und forderten laut die Entlassung des Quartiermeisters aus dem Dienste. Der Direktor wollte sich entfernen; aber da ihm mitgeteilt wurde, daß der Weg zur Flucht versperrt sei und ihn auch an dem hinteren Ausgange Gymnasiasten erwarteten, so erschrak er dermaßen und verlor so die Fassung, daß er sofort eine Verfügung über die Entlassung des schuldigen Quartiermeisters aufsetzen ließ. Die Verfügung wurde den Schülern vorgelesen; sogleich beruhigten sich alle, bedankten sich bei ihrem Vorgesetzten und kehrten zum vollen Gehorsam zurück. Das Gymnasium kam wieder in seine gewöhnliche Ordnung, und der Unterricht bewegte sich wieder in seinem hergebrachten Geleise. Anfangs glaubten die Schüler, der Vorfall werde keine weiteren Folgen haben; aber darin hatten sie sich sehr geirrt. Der Direktor berichtete sofort über den Hergang an die höchste Behörde, und nachdem er sich auf irgend jemandes Rat mit dem Gouverneur in Beziehung gesetzt hatte, ergriff er folgende Maßregeln: nach einigen Tagen traten während des Mittagessens auf einmal Soldaten mit Gewehren und Bajonetten in den Saal; hinter ihnen erschienen der Gouverneur und der Direktor. Der letztere rief sechzehn Schüler des obersten Kursus mit Namensnennung vor, darunter natürlich den älteren Knäschewitsch, und ließ sie unter Bedeckung der bewaffneten Soldaten in den Karzer abführen. Alle übrigen waren starr vor Schrecken, und Totenstille herrschte im Saale. An jede Außentür des Gymnasiums wurden zwei Soldaten mit Gewehren und Bajonetten als Posten gestellt; vor der Karzertür standen ihrer vier. Zwei Wochen nach diesem traurigen Ereignis kam ich zum erstenmal nach meiner Rückkehr von den Ferien, oder richtiger gesagt aus Koschtschakowo, in meinen so stark verstümmelten obersten Kursus, wo mich meine Mitschüler sogleich mit der Erzählung des soeben hier mitgeteilten Ereignisses empfingen. Da wurde es mir verständlich, warum mein umsichtiger Erzieher mir zuerst nicht erlaubt hatte, in die Klasse zu gehen, und mich dann mit aufs Land genommen hatte. Ohne allen Zweifel wäre ich einer der eifrigsten Teilnehmer an diesem unglücklichen Begebnis gewesen. Nach anderthalb Monaten traf die Entscheidung der höchsten Behörde ein. Wieder erschien im Speisesaal der Gouverneur, der Direktor und die ganze Konferenz; es wurde ein Schriftstück verlesen, in welchem die Schuld der meuternden Schüler dargelegt und gesagt war, zum warnenden Beispiel für die anderen würden acht Schüler des obersten Kursus, die als die Rädelsführer befunden seien, Dmitri Knäschewitsch, Peter Alechin, Pachomow, Syromjatnikow und Krylow (auf die übrigen besinne ich mich nicht) aus dem Gymnasium ohne Führungszeugnis verwiesen. Die Verwiesenen waren die besten Schüler. Dmitri Knäschewitsch und Alechin galten als der Stolz und die Zierde des Gymnasiums. Nach Ausführung des Urteilsspruches, über den alle äußerst bestürzt und betrübt waren, wurden die Militärposten aus dem Gymnasium weggeführt und der Belagerungszustand, durch den wir uns sehr gekränkt fühlten, aufgehoben.
Lichatschew wurde bald darauf entlassen, und an seiner Statt wurde der erste Oberlehrer, I. F. Jakowkin, Direktor. Dmitri Knäschewitsch hielt sich lange Zeit in enger Verbindung mit seinen Schulkameraden. Er war in Petersburg in den Staatsdienst getreten und schrieb fast mit jeder Post an seinen Bruder, wobei er sich nicht selten an uns alle wandte. Seine Briefe wurden stets feierlich vor der ganzen Klasse vorgelesen.
Die jugendliche Bevölkerung des Gymnasiums, die sich zuerst sehr niedergeschlagen gefühlt hatte und schweigsam geworden war, beruhigte sich allmählich wieder, begann das traurige Ereignis zu vergessen und fing wieder an zu lärmen, zu singen, zu springen, zu lachen, – und das Leben floß wie früher dahin, als ob nichts geschehen wäre.
Bis zur Mitte des Winters nahm meine Arbeit in der Schule und zu Hause unter Grigori Iwanowitschs steter Aufsicht und Leitung ihren friedlichen Gang; um diese Zeit aber kam mein Onkel A. N. Subow nach Kasan, und dieser nahm mich zweimal mit ins Theater, selbstverständlich mit Erlaubnis meines Erziehers: in die Oper »Sangeslust« und in das Lustspiel »Die vom Bruder verkaufte Schwester«. Diese beiden Stücke übten auf mich fast dieselbe Wirkung aus wie die Jagd mit dem Gewehr. Ich hatte von jeher eine besondere Vorliebe für Theaterstücke und bildete mir nach den Erzählungen anderer, so gut es ging, eine Vorstellung von ihrer szenischen Aufführung. Aber die Wirklichkeit übertraf bei weitem meine Erwartungen. Ich träumte nun von den beiden Stücken, die ich gesehen hatte, Tag und Nacht und war so zerstreut, daß ich absolut unfähig war zu arbeiten. Natürlich sah Grigori Iwanowitsch dies sofort, nahm mich ins Verhör und erfuhr die wahre Ursache. Mein vernünftiger Erzieher machte ein finsteres Gesicht, wurde wieder ärgerlich, und ich mußte von neuem eine lange Ermahnung anhören. Aber diesmal fühlte ich sogleich, daß Grigori Iwanowitschs Vorwürfe berechtigt waren, und sah die schädlichen Folgen meiner Neigung zu maßlosem Enthusiasmus ein. Mit der größten Anstrengung überwand ich meine glühende Leidenschaft für das Theater, zu der der Keim schon lange in mir gelegen hatte und in meiner Freude am Deklamieren und an russischen und französischen Theaterstücken zum Ausdruck gekommen war; ich beruhigte mich und machte mich mit besonderem Eifer ans Lernen. Grigori Iwanowitsch war sehr zufrieden. Nach einer Woche begann er selbst mit mir vom Theater und der Schauspielkunst zu sprechen, gab mir davon eine richtige Vorstellung und erzählte mir von vielen berühmten lebenden und verstorbenen, russischen und ausländischen Schauspielern. Unter anderm erwähnte er auch die Moskauer Schauspieler Schuscherin und Plawilschtschikow. Diese für mich höchst angenehmen Gespräche, die in den Erholungsstunden nach der ernsten Arbeit geführt wurden, dauerten etwa drei Tage lang. Eines schönen Tages, als ich aus dem Gymnasium zurückgekehrt war und meinen Abendtee trank, öffnete Grigori Iwanowitsch auf einmal die Tür zu dem Zimmer, in dem ich mich befand, und sagte fröhlich: »Machen Sie schnell, daß Sie mit Ihrem Milchtrinken fertig werden Ich war ein großer Freund von Milch und pflegte so viel Sahne zum Tee zu nehmen, daß Grigori Iwanowitsch ihn geradezu als Milch bezeichnete und mich manchmal ein Milchkälbchen nannte, was ich für eine große Liebenswürdigkeit hielt. (Anmerkung des Verfassers.). Sie sollen gleich mit mir wegfahren.« Ich war in einem Augenblicke bereit. Wir stiegen in einen Schlitten und fuhren ab. Ich war des festen Glaubens, daß wir zu Herrn G. K. Woskresenski führen, welchen Grigori Iwanowitsch ab und zu mit mir besuchte, und dessen Sohn mein Schulkamerad war. An der Straßenecke befahl Grigori Iwanowitsch dem Kutscher, geradeaus die Grusinskaja-Straße zu fahren; das war nicht der Weg zu Woskresenski. Ich wunderte mich. Als wir nach einigen Minuten beim Theater waren, sagte er: »Zum Eingang des Theaters!« Der Kutscher fuhr vor. Grigori Iwanowitsch sprang aus dem Schlitten; ich aber, ganz starr vor freudiger Hoffnung, blieb regungslos sitzen. Jener konnte das Lachen nicht unterdrücken und fragte mich: »Nun, wie ist's? Mögen Sie nicht mit ins Theater kommen?« Ich sprang hinaus wie ein Unsinniger. Billette hatte mein Erzieher schon vorher genommen; wir gingen ins Parkett und setzten uns zusammen in die erste Reihe. Es wurde die Oper »Die Wursthändler« gegeben. O Gott, wie glücklich war ich! Bis heute sehe ich den Schauspieler Michail Kalmück in der Hauptrolle des alten Wursthändlers vor mir; bis heute höre ich den Schauspieler Prytkow zur Gitarre singen, d. h. er öffnete nur den Mund, und hinter den Kulissen sang statt seiner die Schauspielerin Marfuscha Anikiewa:
»Mein Herz brennt wie Feuer
Für dich, die mir teuer.
Ach, habe Erbarmen,
Und höre mich Armen …«
Aber es sind jetzt schon mehr als fünfzig Jahre vergangen, seit ich dieses Stück gesehen habe, und ich habe seitdem nie wieder etwas von der Oper »Die Wursthändler« gehört. Nach Hause zurückgekehrt, dankte ich meinem Erzieher von Herzen und hörte von ihm mit Freuden, daß das heutige Theaterstück eine Belohnung für mein vernünftiges Benehmen sei, und daß, wenn ich mich durch die »Wursthändler« nicht zerstreuen ließe, wir von Zeit zu Zeit ins Theater gehen würden. Um die Wahrheit zu sagen: die »Wursthändler« beschäftigten und zerstreuten mich allerdings sehr; aber ich bemühte mich aus aller Kraft, diese Einwirkung zu verbergen, und dank meinem guten, frischen Gedächtnisse lernte ich so tüchtig weiter, daß Grigori Iwanowitsch nichts merken konnte. In nicht allzu langer Zeit sah ich auf dem Theater: »Das Muttersöhnchen«, »Irrtümer oder: am Morgen ist man klüger als am Abend vorher«, die Oper »Nina oder die Irrsinnige aus Liebe« und Kotzebues Drama »Graf Waltron«. Mit jedem Tage wurde bei mir die Liebe zum Theater größer und stärker. Ich lernte die Stücke, die ich auf der Bühne gesehen hatte, auswendig und fand Zeit, unbemerkt von meinem Erzieher, mir selbst alle Rollen in den oben genannten Stücken vorzuspielen, zu welchem Zwecke ich mich in meinem Zimmer einschloß oder in das leerstehende, kalte Entresol ging.
In diesem selben Winter 1804 begann ich mit einem zahlenden Schüler Alexander Panajew in nähere Beziehungen zu treten. Er war ebenfalls ein großer Freund des Theaters und der russischen Literatur. Da er ein begeisterter Verehrer Karamsins war, so schrieb er Idyllen in Prosa, wobei er sich bemühte, die Glätte und den Farbenreichtum des von Karamsin geschaffenen Stiles zu erreichen. Sein Bruder Iwan war lyrischer Dichter. Alexander Panajew gab damals eine handschriftliche Zeitschrift heraus unter dem Titel: »Arkadische Hirten«, von der ich einige Nummern noch jetzt aufbewahre. Alle Mitarbeiter unterzeichneten sich mit Hirtennamen, z. B. Adonis, Daphnis, Amynt, Iris, Dämon, Palämon usw. Alexander Panajew schrieb eine schöne Hand und konnte gut zeichnen, und daher machte er selbst Abschriften von jeder Nummer seiner monatlich erscheinenden Zeitschrift und zeichnete kleine Bilder dazu. Wahrlich, Kindheit in zwiefacher Hinsicht: unsere Literatur stand noch im Kindesalter, und wir selbst waren unserem Lebensalter nach noch Kinder. Aber es verdient doch Beachtung, daß die Richtung dieser schriftstellerischen Tätigkeit und die äußeren Formen der Zeitschrift genau dieselben waren, die sich später in Rußland mehrere Jahrzehnte lang behauptet haben.
Dank den Bemühungen meines Erziehers hatte ich bis dahin noch nichts selbst verfaßt und beteiligte mich daher auch nicht an der Abfassung der Zeitschrift. Aber leider war das Beispiel sehr verführerisch, und ich begann insgeheim zu schriftstellern, verheimlichte es aber sogar meinem Freunde Panajew. In diesem Winter fand im Gymnasium eine Theateraufführung statt. Es wurde zweimal ein langweiliges moralisches Stück gegeben, dessen Titel ich vergessen habe, und dazu noch ein kleines Lustspiel von Sumarokow »Die Mitgift durch Betrug«. Ich war bei der Aufführung nur Zuschauer, erstens weil viele Liebhaber da waren, die älter waren als ich, und zweitens, weil ich gar nicht wagte, Grigori Iwanowitsch gegenüber ein Wort davon fallen zu lassen.
Schon ungefähr ein Jahr lang gingen Gerüchte, es werde in Kasan eine Universität gegründet werden. Diese Gerüchte fanden ihre Bestätigung, und im Dezember 1804 ging die offizielle Nachricht ein, daß das Universitätsstatut am 5. November vom Kaiser unterzeichnet sei. Zum Kurator war der Wirkliche Staatsrat Stepan Jakowlewitsch Rumowski ernannt worden, der denn auch in Kasan eintraf. Dieses Ereignis erregte die ganze Stadt, und noch mehr das Gymnasium und ganz besonders den obersten Kursus. Die Konferenz trat täglich zusammen; in ihr führte Rumowski den Vorsitz; die übrigen Teilnehmer waren zwei Professoren, die mit ihm zugleich angekommen waren, German und Zeplin, der Direktor des Gymnasiums Jakowkin und alle Oberlehrer. Was dort verhandelt wurde, davon erfuhren ich und meine Kameraden nichts. Da versammelten sich eines Abends bei Grigori Iwanowitsch viele Gäste: die beiden neu angekommenen Professoren, der Kanzleidirektor des Kurators namens Peter Iwanowitsch Sokolow und alle Oberlehrer des Gymnasiums, jedoch nicht Jakowkin; sie erschienen erst sehr spät, so daß ich mich bereits schlafen gelegt hatte; die Gäste waren sehr heiter und machten viel Lärm; ich konnte lange nicht einschlafen und hörte alle ihre lauten Gespräche und wechselseitigen Glückwünsche: es handelte sich um die neue Universität und um die Ernennung der Gymnasiallehrer zu Adjunkten und Professoren. Am anderen Tage sagte mir Jewsejitsch, die Gäste seien bis drei Uhr zusammengeblieben; sie hätten sehr viel Punsch und Wein getrunken, und viele seien beim Weggehen stark angeheitert gewesen. Er fügte hinzu, auch »Unserer« (so nannte er Grigori Iwanowitsch) habe nicht umhin gekonnt viel zu trinken, sei aber nicht im geringsten berauscht gewesen. Da in unserem Hause Trinkereien niemals stattfanden, so wunderten wir beide, ich und Jewsejitsch, uns über dieses Ereignis, obwohl seine Ursache am Tage war: Jewsejitsch hatte selbst gehört, und auch ich erzählte es ihm, daß Grigori Iwanowitsch zum Professor-Adjunkten an der neuen Universität ernannt war, zusammen mit Iwan Ipatowitsch, Lewizki und Erich. Aus ihren Gesprächen hatte ich ferner entnommen, daß Jakowkin unmittelbar zum ordentlichen Professor der russischen Geschichte gemacht und zum Inspektor der Staatsstudenten ernannt war, worüber sich alle mit Entrüstung geäußert hatten, da sie eine solche schnelle Beförderung Jakowkins in Anbetracht der Beschränktheit seiner wissenschaftlichen Kenntnisse für unerhört hielten. Ich hatte weiter erhorcht, daß, als von den Studenten die Rede war, Grigori Iwanowitsch laut sagte: »Für meinen Telemach verbürge ich mich, meine Herren.« Ich erriet, daß auch ich zum Studenten gemacht werden sollte, was ich in keiner Weise hatte hoffen können, weil ich den obersten Kursus noch nicht ganz absolviert hatte und in der Mathematik nichts wußte. Am Morgen des folgenden Tages schlief Grigori Iwanowitsch noch, als ich in das Gymnasium ging. Ich beeilte mich, meinen Kameraden die Neuigkeit mitzuteilen; aber dort hatten alle sie schon von Jakowkins Sohne erfahren, einem furchtbar dicken Kerle mit sehr beschränkten Fähigkeiten. Er rühmte sich, daß auch er werde zum Studenten gemacht werden, worüber alle lachten. Die besten Schüler des obersten Kursus, die das Pensum schon zum zweitenmal durchmachten, hofften natürlich, daß sie zu Studenten befördert werden würden; aber an mich und einige andere dachte niemand. Noch an demselben Tage wurde ein Verzeichnis der zu Studenten ernannten Schüler bekannt; aus diesem erfuhren wir, daß alle Schüler des obersten Kursus mit Ausnahme zweier oder dreier bei der Universität eintreten sollten; unter ihnen befand auch ich mich, sowie Jakowkin. Streng genommen verdienten etwa zehn Schüler, darunter selbstverständlich auch ich, wegen ihrer mangelhaften Kenntnisse und ihres jugendlichen Alters diese Beförderung nicht; ich will gar nicht einmal davon reden, daß niemand Lateinisch und nur sehr wenige Deutsch konnten; und dabei sollten wir vom nächsten Herbst an einige Vorlesungen in lateinischer und deutscher Sprache hören. Aber dennoch erfüllte uns alle eine beseligende Freude, die sich in lautem Lärm kundtat. Wir umarmten und beglückwünschten einander alle und nahmen uns vor, uns mit unermüdlichem Eifer die noch fehlenden Kenntnisse anzueignen, damit wir uns in einigen Monaten nicht zu schämen brauchten, wirkliche Studenten zu heißen. Es wurde sogleich lateinischer Unterricht eingerichtet, und ein großer Teil der künftigen Studenten machte sich daran, Lateinisch zu lernen. Ich folgte aus einem törichten Vorurteile gegen die lateinische Sprache diesem löblichen Beispiele nicht. Noch bis heute ist es mir unverständlich, warum Grigori Iwanowitsch, der doch selbst ein tüchtiger Lateiner war, mir gestattete, dem lateinischen Unterrichte fernzubleiben.
Man kann nicht ohne Vergnügen und Respekt daran zurückdenken, von welcher Liebe zur Bildung und zu den Wissenschaften damals die ältere Gymnasialjugend beseelt war. Diese Schüler arbeiteten nicht nur bei Tage, sondern auch nachts. Alle magerten ab, alle veränderten sich im Gesichte, und die Behörde sah sich genötigt, wirksame Maßregeln zu ergreifen, um diesen Eifer einigermaßen abzukühlen. Der dejourierende Inspektor ging die ganze Nacht in den Schlafzimmern umher, löschte die Lichte aus und verbot den Schülern zu reden, weil sie auch im Dunkeln miteinander aus dem Kopfe die vorher durchgenommenen Pensa repetierten. Auch die Lehrer ließen sich durch diesen glühenden Eifer der Schüler dazu bewegen, sich mit ihnen nicht nur in der Klasse, sondern auch in allen Freizeiten, an allen Festtagen zu beschäftigen. Grigori Iwanowitsch las zu Hause für die besten künftigen Mathematiker angewandte Mathematik; seinem Beispiele folgten auch andere Lehrer. So setzte sich das auch während des ersten Jahres nach der Eröffnung der Universität fort. Eine schöne, goldene Zeit! Eine Zeit reiner Liebe zu den Wissenschaften, eine Zeit des edelsten Enthusiasmus! Ich kann darüber unparteiisch reden, weil ich an diesem hohen Streben nicht teilnahm, das namentlich die Staatsalumnen und die Pensionäre erfüllte; die zahlenden Schüler beteiligten sich merkwürdigerweise daran nur wenig, und mein Lernen hielt unter der Leitung meines Erziehers seinen gewöhnlichen Gang inne. Wahrscheinlich meinte er, daß ich keinen Beruf dazu hätte, ein Gelehrter zu werden, und wahrscheinlich irrte er sich darin. Er urteilte nach der leidenschaftlichen Begeisterung, die ich für die Literatur und das Theater an den Tag legte. Aber mir scheint, daß die Naturgeschichte für mich denselben Reiz gehabt hätte, und vielleicht wäre ich auf diesem Gebiete etwas Nützliches geworden. Übrigens hatten meine Eltern mich niemals für einen gelehrten Beruf bestimmt; sie hatten sogar ein Vorurteil gegen einen solchen, und in Übereinstimmung mit ihrem Willen gab Grigori Iwanowitsch meiner Bildung eine bestimmte Richtung. – Unsere Universität war allerdings eine frühreife Frucht; denn sie wurde schon anderthalb Monate darauf, d. h. am 14. Februar 1805, eröffnet. Es waren im ganzen nur sechs Universitätslehrer vorhanden: zwei Professoren: Iakowkin und Zeplin, und vier Adjunkten: Kartaschewski, Sapolski, Lewizki und Erich.
Im Jahre 1805 erweckten Dmitri Knäschewitschs Briefe, die immer mit lebhafter Freude begrüßt und angehört wurden, bei uns ein besonderes Interesse für die Politik. Damals war der erste Krieg gegen Napoleon im Gange. Ich weiß nicht, warum die Nachrichten über die kriegerischen Ereignisse auf anderem Wege so mühsam und so spät zu uns gelangten. Knäschewitsch aber teilte sie uns schnell und ausführlich mit. Und dazu waren seine Briefe von einer glühenden Begeisterung für den Ruhm der russischen Waffen durchtränkt und wirkten infolgedessen auf uns geradezu elektrisierend. Kaum daß manchmal Alexander Knäschewitsch gerufen hatte: »Ein Brief von meinem Bruder!« so umringten wir ihn auch alle sofort in freundschaftlichem, dichtem Schwarme: einer auf die Schultern des anderen gelehnt, hörten wir in tiefem Schweigen, das nur manchmal durch Ausrufe des Entzückens unterbrochen wurde, begierig die Vorlesung des Briefes mit an; sogar die Gymnasiasten kamen zu uns gelaufen, um ebenfalls zuzuhören. Der berühmte Bagration war unser Liebling, und als wir hörten, daß er, als Opfer für den Feind zurückgelassen, sich mit seiner Abteilung durch die ganze Armee der Franzosen hindurchgeschlagen habe, da erscholl ein solches donnerndes Hurra und es kam eine solche allgemeine, einmütige Begeisterung zum Ausbruch, daß ich es nicht zu beschreiben vermag. Ja, es herrschte ein reges Leben in unserer Jugendzeit, und es ist ein Vergnügen, sich daran zu erinnern.
Diejenigen Schüler, die zu Studenten ernannt waren, wurden weder von seiten des Gymnasiums noch von seiten der Universität den sonst üblichen Prüfungen unterworfen, sondern verwandten diese ganze Zeit darauf, weiterzulernen, um sich für das Hören der Universitätsvorlesungen vorzubereiten; ich weiß nicht, warum Grigori Iwanowitsch einige Tage vor dem Aktus mich in die Ferien schickte; ich und Jewsejitsch fuhren nach Alt-Aksakowo im Gouvernement Simbirsk, wo damals meine ganze Familie lebte. Was die Ursache dieses Umzuges von Neu-Aksakowo im Orenburgschen war, ist mir ebenfalls unbekannt; aber ich war mit ihm sehr unzufrieden: in dem wasserlosen Alt-Aksakowo war keine Angelgelegenheit, und auch zu schießen war nur wenig; Waldgetier war allerdings dort in Menge vorhanden; auch Schnepfen und Bekassinen waren zu finden; aber diese schwierige Jagd ging noch über meine Kräfte. Da ich alles dies vorher wußte, so versah ich mich mit einem Vorrat an Theaterstücken, um sie zu Hause in Muße zu lesen und sie sogar meiner Familie vorzuspielen, was ich denn auch mit großem Erfolge und mit großem Vergnügen tat. Mein Vater und meine Mutter freuten sich sehr über meine Ernennung zum Studenten; sie waren sogar nur mit Mühe davon zu überzeugen und bedauerten sehr, daß Grigori Iwanowitsch mich nicht bis zum Aktus dabehalten hatte, bei dem die Namen der Studenten feierlich verkündigt und ihnen die Degen überreicht werden sollten. O Gott, wie freute sich meine liebe Schwester über mich! Mit welcher Wonne hörte sie zu, wenn ich der Familie Tragödien, Lustspiele, ja sogar Opern vorlas oder, richtiger gesagt, vorspielte, wobei ich dann allein für alle Schauspieler und Schauspielerinnen redete: ich schnarrte, näselte, quiekte, sprach im Baß und sang alle möglichen Stimmen; ja, ich kostümierte mich sogar manchmal mit Hilfe von allerlei häuslichem Trödelkram. Dazu gesellte sich noch eine andere Tätigkeit: da ich wußte, daß ich von Mitte August an naturwissenschaftliche Vorlesungen bei Professor Fuchs hören würde, der soeben in Kasan angekommen war, so beschloß ich bereits jetzt, mir eine Schmetterlingssammlung anzulegen, und machte schon in diesen Ferien mit Hilfe meiner Schwester einen Anfang dazu; aber leider verstand ich es nicht, die Schmetterlinge aufzuspannen und zu trocknen, und so verdarb ich denn eine Menge dieser reizenden Geschöpfe. Im Laufe dieser Ferien fuhren wir zweimal nach Tschufarowo zu Nadeschda Iwanowna Kurojedowa und logierten dort jedesmal eine ganze Woche. Von Alt-Aksakowo nach Tschufarowo waren nur vierzig oder fünfzig Werst. Nadeschda Iwanowna freute sich sehr darüber, daß ich Student geworden war; mit Stolz erzählte sie es jedem Gaste, ließ mir eine Uniform machen und bedauerte sehr, daß ich keinen Degen hatte; sie schenkte mir sogar zehn Rubel zu Büchern. Da sie zufällig von meiner Neigung zum Theater hörte (die Meinigen hatten nicht gewagt, ihr davon geradezu Mitteilung zu machen, da sie fürchteten, dies könne ihr mißfallen), so veranlaßte sie mich vorzulesen, darzustellen und zu singen, und zu meiner großen Freude war sie mit meinen Leistungen sehr zufrieden und lachte viel. Sie hatte niemals ein Theaterstück gesehen und empfand bei ihrem lebendigen, heiteren, empfänglichen Naturell ein ihr bis dahin unbekanntes Vergnügen. Besonders gefiel ihr mein gewöhnliches Vorlesen. Wenn sie manchmal, namentlich zur Winterszeit, Langeweile gehabt hatte und es müde gewesen war, Karte zu spielen, die damals modernen Lieder zu singen und Klatschereien und Kritteleien anzuhören, dann hatte sie sich zeitgenössische Romane und Novellen vorlesen lassen, war aber immer mit den Vorlesern unzufrieden gewesen; nur meine Mutter hatte es ihr einigermaßen zu Dank gemacht. Nachdem sie aber mich gehört hatte, sagte sie: »Ja, so muß man lesen!« und trotz der Sommerszeit, die sie sonst gewöhnlich in ihrem wundervollen Garten verbrachte, ließ mich Nadeschda Iwanowna seitdem täglich zwei Stunden oder noch länger vorlesen. Manchmal erschien auf der Bühne »Der Müller« von Ablesimow oder »Der Limonadenverkäufer« von Knäschnin, und wie hell und gutmütig lachte sie, wenn ich junger Mensch den alten Müller und den alten Limonadenverkäufer darstellte! Ich erwarb mir Nadeschda Iwanownas volles Wohlwollen, worüber in meiner Familie große Freude war, weil der Gedanke an eine künftige reiche Erbschaft, die sie manchmal versprochen hatte uns zu hinterlassen, den menschlichen Überlegungen und Spekulationen nicht ganz fremd bleiben konnte. Bei meiner Abreise erhielt ich von ihr die freundliche Weisung, monatlich zweimal an sie zu schreiben, was ich denn auch bis zu ihrem Tode genau ausführte.
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