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Mitten im Winter des Jahres 1799 kamen wir in der Gouvernementsstadt Kasan an. Ich war damals acht Jahre alt. Es herrschte eine furchtbare Kälte. Zwar waren für uns im voraus zwei Zimmer in dem kleinen Hause der Frau Hauptmann Aristowa gemietet; aber wir fanden unsere Wohnung nicht so bald, die übrigens in einer guten Straße, der Grusinskaja-Straße, lag. Wir kamen gegen Abend an, in einem einfachen Reiseschlitten mit Mattendach, bespannt mit drei unserer eigenen Pferde (der Koch und das Stubenmädchen waren schon vor uns angekommen); die Fahrt mit der Fütterung hatte lange gedauert; lange fuhren wir in der Stadt umher und fragten nach unserer Wohnung, und lange hielten wir infolge der Ungeschicklichkeit unserer ländlichen Diener; ich erinnere mich, daß ich schrecklich fror, daß die Wohnung kalt war, daß der Tee mich nicht erwärmte, und daß, als ich mich schlafen legte, ich wie im Fieber zitterte; noch deutlicher erinnere ich mich, daß meine Mutter, die mich leidenschaftlich liebte, ebenfalls zitterte, aber nicht vor Kälte, sondern vor Angst, daß ihr geliebtes Kind, ihr kleiner Sergei, sich erkälten könnte. An das Herz der Mutter geschmiegt und über dem Oberbett noch mit einem Damenfuchspelz zugedeckt (er war mit Atlas überzogen und stammte noch von der Aussteuer her), wurde ich endlich warm, schlief ein und erwachte am andern Tage gesund und munter, zur unbeschreiblichen Freude meiner beunruhigten Mutter. Meine Schwester und mein Bruder, die beide jünger waren als ich, waren im Gouvernement Simbirsk geblieben, in dem reichen Dorfe Tschufarowo bei einer Tante meines Vaters, von der wir in Zukunft eine Erbschaft erwarteten; zur Zeit aber unterstützte sie meinen Vater auch nicht mit einer Kopeke, so daß er mit seiner Familie nicht selten Not leiden mußte; nicht einmal leihweise gab sie ihm auch nur einen Rubel. Ich weiß nicht, durch welche Umstände meine Eltern sich genötigt sahen, bei ihrer mißlichen pekuniären Lage nach der Gouvernementsstadt Kasan zu reisen; aber ich weiß, daß dies nicht meinetwegen geschah, obgleich meine ganze Zukunft durch diese Reise bestimmt wurde. Als ich am andern Tage erwachte, war ich überrascht durch die Bewegung auf der Straße; ich hatte bisher noch nichts Ähnliches zu sehen bekommen. Der Eindruck war so stark, daß ich mich gar nicht vom Fenster losreißen konnte. Die Antworten, die mir die mit uns mitgekommene Parascha auf meine Fragen gab, konnten mich nicht befriedigen, da sie selbst nichts wußte; so machte ich mich denn an ein Mädchen unserer Wirtin heran und quälte sie mehrere Stunden hintereinander, indem ich ihr manchmal Fragen vorlegte, die sie nicht zu beantworten verstand. Mein Vater und meine Mutter waren nach dem Dom gefahren, um dort ihre Andacht zu verrichten, und in geschäftlichen Angelegenheiten noch sonstwohin; mich hatten sie nicht mitgenommen, aus Furcht vor der strengen Kälte, wie sie der Zeit um das Epiphaniasfest eigen ist. Zu Mittag aßen sie zu Hause; am Abend aber fuhren sie wieder weg; ermüdet durch die neuen Eindrücke schlief ich, mit Parascha plaudernd und ihr Geplauder anhörend, früher als gewöhnlich ein; aber kaum war ich eingeschlafen, als die freundliche Hand eben dieser Parascha mich behutsam weckte. Es wurde mir gesagt, es sei ein Schlitten gekommen, um mich abzuholen; ich müsse aufstehen und zum Besuch zu einer Familie fahren, bei der mich mein Vater und meine Mutter erwarteten. Man zog mir meine Sonntagskleider an, wusch und kämmte mich und setzte mich in den Schlitten; neben mir nahm Parascha Platz. Aus dem festen Kinderschlaf herausgerissen, erschrocken über einen Vorgang, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, und von Natur blöde und schüchtern, fuhr ich mit starkem Herzklopfen und mit der Vorahnung von etwas Schrecklichem durch die leer gewordenen Straßen der Stadt. Endlich kamen wir an. Parascha zog mir im Dienerzimmer meine Umhüllungen aus, wiederholte mir ins Ohr die Ermahnung, die sie schon unterwegs mehrmals an mich gerichtet hatte, nicht ängstlich zu sein, führte mich an der Hand bis zum Salon, ein Diener öffnete die Tür, und ich trat ein. Das Licht vieler Kerzen und das laute Sprechen machten mich so verwirrt, daß ich wie angenagelt an der Tür stehen blieb. Der erste, der mich sah, war mein Vater; er sagte: »Da ist ja der Rekrut!« Ich wurde noch verlegener. »Tauglich!« rief eine dröhnende Stimme, und ein Mann von gewaltiger Statur erhob sich von seinem Lehnstuhl und trat zu mir. Ich bekam einen solchen Schreck (denn ich verstand den furchtbaren Sinn dieses Wortes), daß ich, fast besinnungslos, davonstürzen wollte. Das laute Gelächter aller Anwesenden ließ mich stehen bleiben; aber meiner Mutter gefiel dieser Scherz nicht; ihr Mutterherz war empört über den Schrecken, den man ihrem Kinde eingejagt hatte; sie eilte auf mich zu, umarmte mich, ermutigte mich mit Worten und Liebkosungen, und nachdem ich ein bißchen geweint hatte, beruhigte ich mich bald. Jetzt muß ich erzählen, wohin man mich gebracht hatte: es war dies das Haus alter Freunde meines Vaters und meiner Mutter, namens Maxim Dmitrijewitsch Knäschewitsch und Jelisaweta Alexejewna Knäschewitscha, die früher mehrere Jahre in Ufa gewohnt hatten, wo Maxim Dmitrijewitsch als Kollege meines Vaters das Amt eines Gouvernements-Staatsanwaltes bekleidet hatte; von dort war er, ebenfalls als Staatsanwalt, nach Kasan übergesiedelt. Maxim Dmitrijewitsch war noch als junger Mensch aus Serbien nach Rußland gekommen. Er war zunächst bei der Chevaliergarde eingetreten, dann aber in Ufa zum Staatsanwalt beim Oberlandesgericht ernannt worden. Er konnte der wahre Typus eines Südslawen genannt werden und zeichnete sich durch Dienstfertigkeit und Gastfreundlichkeit aus. Obgleich sein Äußeres und sein Benehmen, bei seiner gewaltigen Statur und seinen scharfen Gesichtszügen, anfänglich finster und streng erschienen, hatte er doch ein sehr gutes Herz; seine Frau war eine russische Adlige, eine geborne R…wa; das Haus des Ehepaares in Kasan zeichnete sich durch die echt slawische Überschrift über dem Tor aus: »Gute Leute, seid willkommen!« Als Knäschewitschs in Ufa lebten, hatten wir einander sehr oft besucht, und ich und meine Schwester hatten mit ihren ältesten Söhnen Dmitri und Alexander gespielt, die jetzt ebenfalls anwesend waren, und die ich nicht sofort erkannte; aber als meine Mutter mich an all dies erinnert und mir alles erklärt hatte, da rief ich auf einmal: »Ach, Mama, das sind die Knäschewitsch'schen Jungen, die mich gelehrt haben, wie man Walnüsse mit der Stirn aufknacken kann.« Mein Ausruf erweckte allgemeines Gelächter. Meine Blödigkeit war vergangen, und ich wurde vergnügt und befreundete mich von neuem mit meinen alten Freunden; sie trugen jetzt grüne Uniformen mit roten Kragen, und ich erfuhr, daß sie das Kasaner Gymnasium besuchten, wohin man sie eine Stunde darauf zurückbrachte. Dies begab sich an einem Sonntage; die jungen Knäschewitschs waren vom Morgen bis acht Uhr abends zu ihren Eltern beurlaubt. Nun begann ich mich zu langweilen und war, während ich die Gespräche meines Vaters und meiner Mutter mit anhörte, eingeschlafen, als auf einmal an mein Kinderohr die folgenden Worte schlugen, die mich in Schrecken versetzten und mir alle Schläfrigkeit verscheuchten: »Ja, mein lieber Timofei Stepanowitsch und verehrte Marja Nikolajewna,« sagte Maxim Dmitrijewitsch in festem, energischem Tone, »lassen Sie sich von mir freundschaftlich raten, und geben Sie Ihren kleinen Sergei aufs Gymnasium. Ich rate Ihnen dazu besonders deswegen, weil er, wie es scheint, ein Muttersöhnchen ist; die Mutter verwöhnt ihn, verzärtelt ihn und macht ihn weibisch. Es ist Zeit, daß der Knabe Unterricht bekommt; in Ufa gab es keine Lehrer außer Matwjei Wasiljewitsch in der Volksschule, und auch der verstand nichts; jetzt aber sind Sie zu dauerndem Aufenthalte aufs Land gezogen, wo nicht einmal ein Matwjei Wasiljewitsch zu haben ist.« Mein Vater stimmte dieser Meinung bedingungslos bei, meine Mutter aber, erschreckt durch den Gedanken, daß sie sich von ihrem Kleinod trennen solle, wurde ganz blaß und erwiderte in großer Aufregung, ich sei noch zu klein, hätte eine schwache Gesundheit (was zum Teil wahr war) und hinge so an ihr, daß sie sich nicht so plötzlich dazu entschließen könne. Ich saß in einem Zwischenzustande zwischen Leben und Tod dabei und hörte und verstand von da an nichts mehr von dem, was geredet wurde. Um zehn Uhr wurde zu Abend gegessen; aber weder ich noch meine Mutter war imstande einen Bissen herunterzubringen. Endlich brachte derselbe Schlitten, der mich hergebracht hatte, uns wieder nach unserer Wohnung. Als wir uns schlafen legten und ich, wie gewöhnlich, meine Mutter umarmte und mich an ihre Brust schmiegte, begannen wir beide laut zu schluchzen. Außer den von Tränen fast erstickten Worten: »Mama, gib mich nicht auf das Gymnasium!« vermochte ich nichts zu sagen. Auch die Mutter schluchzte, und wir ließen meinen Vater lange Zeit nicht einschlafen. Endlich faßte die Mutter den Entschluß, sich um keinen Preis von mir zu trennen, und gegen Morgen schliefen wir ein.
Wir blieben in Kasan nicht lange. Später erfuhr ich, daß mein Vater und die Knäschewitschs meiner Mutter noch weiter zugeredet hatten, mich unverzüglich als Staatsalumnus auf das Kasaner Gymnasium zu geben; sie führten ihr dabei als Grund an, daß jetzt gerade eine Stelle frei sei, was später vielleicht nicht der Fall sein werde; aber meine Mutter wollte sich durchaus nicht einverstanden erklären, sondern sagte, sie brauche mindestens ein Jahr Zeit, um mit ihrem Herzen zurecht zu kommen, und um sich und mich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Vor mir hielt man dies alles geheim, und ich glaubte, daß mir dieses furchtbare Unglück nie zustoßen werde.
Wir fuhren wieder mit unseren eigenen Pferden, zunächst nach dem Gouvernement Simbirsk, wo wir meine Schwester und meinen Bruder abholten, und dann über die Wolga nach Neu-Aksakowo, wo meine neugeborene Schwester Annuschka zurückgeblieben war. Diese Winterreise mit unseren eigenen Pferden auf den Landwegen des damaligen Gouvernements Ufa, wo man manchmal auf eine Entfernung von zehn Werst kein Dorf fand, steht mir noch jetzt in so schrecklicher Gestalt vor Augen, daß sich mir das Herz bei der bloßen Erinnerung zusammenkrampft. Der Landweg war nichts anderes als eine Spur, die einige Schlitten in die Schneewehen gedrückt hatten, und die beim leisesten Winde von darübergewehtem Schnee völlig verdeckt wurde. Auf einem solchen Wege mußte man sich mit einem Spitzpferde sieben Stunden hintereinander hinschleppen, weil die Orte, wo gefüttert wurde, fünfunddreißig oder mehr Werst auseinanderlagen; und wer hat diese Wersten ausgemessen! Zu diesem Zweck mußte man sich um Mitternacht vom Nachtlager erheben, die verschlafenen Kinder wecken, sie in Pelze hüllen und in die Fuhrwerke legen. Das Kreischen der Kufen auf dem trockenen Schnee quälte meine empfindlichen Nerven, und die ersten vierundzwanzig Stunden litt ich immer an Erbrechen von Galle. Der Aufenthalt während des Fütterns und während der Nachtruhe in rauchigen Bauernhäusern, zusammen mit Ferkeln, Lämmern und Kälbern, die Unsauberkeit, der üble Geruch – Gott lasse niemanden davon auch nur träumen! Gar nicht zu reden von den Schneestürmen, durch die man manchmal gezwungen wurde in irgendeinem Dörfchen Halt zu machen und ein paar Tage zu warten, bis sich das Unwetter legen würde. Eine schreckliche Erinnerung! Aber wir gelangten endlich doch nach meinem lieben Aksakowo, und alles war vergessen. Ich begann wieder mein glückseliges Leben an der Seite meiner Mutter zu führen; ich fing wieder an, ihr meine Lieblingsbücher vorzulesen: »Kinderlektüre für Herz und Verstand« und sogar »Hippokrene oder unterhaltende Sprachkunde«, allerdings nicht zum erstenmal, aber mit immer neuem Vergnügen; ich fing wieder an, Verse aus Sumarokowschen Dramen zu deklamieren, wobei ich besonders gern Boten darstellte, zu welchem Zwecke ich mich mit einer breiten Binde umgürtete und in diese statt eines Schwertes eine Fensterstütze hineinsteckte; wieder begann ich, mit meiner Schwester zu spielen, die ich seit meiner frühesten Kindheit innig liebte, sowie mit meinem kleinen Bruder, und wälzte mich mit ihnen auf dem Fußboden umher, der um der Wärme willen mit doppelten, schneeweißen, kalmückischen Filzdecken belegt war; wieder begann ich, meine Schwester lesen zu lehren; sie ließ sich anfangs beim Lernen etwas stumpf und träge an, und natürlich verstand ich auch nicht, die Sache anzugreifen, wiewohl ich mich sehr eifrig damit abgab. Ich erinnere mich noch recht wohl, daß ich meiner sechsjährigen Schülerin absolut nicht klar machen konnte, wie man die Buchstaben zu ganzen Worten zusammenfügt. Ich geriet in Verzweiflung, setzte mich auf ein Bänkchen in der Ecke und fing an zu weinen. Auf die Frage meiner Mutter, worüber ich denn weinte, antwortete ich: »Schwesterchen begreift nichts!« Wieder begann ich mit meiner Katze zusammen zu schlafen, die mir so anhänglich war, daß sie mir wie ein Hündchen überall nachlief; wieder begann ich, kleine Vögel mit Sprenkeln zu fangen und sie in ein kleines Zimmer zu setzen, das auf diese Art in ein geräumiges Vogelhaus verwandelt wurde; wieder begann ich, mich mit meinen Tauben abzugeben, doppelschopfigen und rauhfüßigen, die während meiner Abwesenheit in verschiedenen Stuben der Gutsleute unter dem Ofen vor der Winterkälte geschützt gewesen waren; wieder begann ich zuzusehen, wie die Jäger Elstern und Tauben töteten und damit die Habichte fütterten, die man im Sommer aufsteigen ließ. Der Tag war nicht lang genug, um alle diese Freuden zu genießen! Der Winter verging, und der Frühling kam; alles wurde grün und fing an zu blühen, und eine Menge neuer, schöner Genüsse bot sich dar: die hellen Gewässer des Flusses, die Mühle, der Teich, das Krähenwäldchen und die auf allen Seiten von dem alten und dem neuen Buguruslan eingeschlossene, mit schattigen Linden und Birken bestandene Insel, wohin ich täglich ein paarmal zu laufen pflegte, ohne eigentlich selbst zu wissen, warum; da stand ich dann regungslos wie verzaubert, mit stark klopfendem Herzen und stockendem Atem. Den allergrößten Reiz hatte für mich das Angeln, und unter der Aufsicht meines Hüters Jefrem Jewsejitsch überließ ich mich bis zur völligen Selbstvergessenheit diesem Vergnügen; denn es wimmelte von Fischen in dem klaren, liefen Buguruslan, der unmittelbar unter den Fenstern des Schlafzimmers vorbeifloß, das der selige Großvater aus rohen Balken an das alte Haus hatte anbauen lassen, damit seine Schwiegertochter ihr eigenes Zimmer hätte. Dicht vor dem Fenster wuchs, sich über das Wasser neigend, eine vollwipflige Birke, ein starker Ast derselben zweigte sich derart vom Stamme ab, daß eine Art von Lehnstuhl entstand, und ich liebte es ganz besonders, mit meiner Schwester darauf zu sitzen. Jetzt haben die Gewässer des Buguruslan die Wurzeln der Birke unterspült; sie ist vor der Zeit gealtert und zur Seite gesunken; aber sie lebt und grünt immer noch. Der neue Besitzer hat einen neuen Baum neben sie gepflanzt.
O, wo bist du, du Zauberwelt, du Märchenzeit des menschlichen Lebens, mit der die Erwachsenen oft so unhold und plump umgehen, indem sie durch Spöttereien und verfrühte Bemerkungen ihren Reiz zerstören! Du goldene Zeit kindlicher Glückseligkeit, wie süß und wehmütig bewegt die Erinnerung an dich die Seele des alten Mannes! Glücklich, wer eine solche Zeit gehabt hat und nachher etwas hat, woran er zurückdenken kann! Bei vielen vergeht die Kindheit unvermerkt oder unfroh, und es bleibt in reiferem Alter nur die Erinnerung an die Kälte oder gar Grausamkeit der Menschen zurück.
Den Sommer verlebte ich in solchem kindlichen Glücksrausche, ohne etwas Schlimmes zu argwöhnen; aber im Herbste, wo ich anfing mehr zu Hause zu sitzen, meine Mutter mehr zu sehen und mehr zu hören, was sie sagte, da begann ich an ihr eine gewisse Veränderung wahrzunehmen: ihre schönen Augen waren mitunter mit einem eigentümlichen Ausdruck geheimen Grames auf mich gerichtet; ich sah sogar Tränen, die sie sorgsam vor mir zu verbergen suchte; beunruhigt und bekümmert setzte ich, unter Zuhilfenahme aller möglichen herzlichen Liebkosungen, meiner Mutter mit Fragen zu. Zuerst versicherte sie mir, das habe keinen besonderen Grund, es habe nichts zu bedeuten; aber bald hörte ich aus ihren Gesprächen mit mir heraus, daß sie sich Sorgen darüber machte, daß niemand da war, um mich zu unterrichten; Unterricht sei für einen Knaben unentbehrlich; sie wolle lieber sterben als ihre Kinder ohne Bildung heranwachsen sehen; ein Mann müsse ein Amt bekleiden, und um das zu können, müsse er etwas lernen. Das Herz in der Brust krampfte sich mir zusammen; ich verstand, worauf diese Worte hinzielten, daß das Unglück nicht vorübergegangen war, sondern heranrückte, und daß ich dem Kasaner Gymnasium nicht entgehen konnte. Meine Mutter bestätigte meine Vermutung und sagte, daß sie sich jetzt entschlossen habe; und ich wußte, daß ihre Entschlüsse unabänderlich fest waren. Mehrere Tage lang weinte ich nur, wollte auf nichts hören und schien gar nicht zu verstehen, was meine Mutter zu mir sagte. Endlich wurde es anders: ihre Tränen, ihre Bitten, ihr verständiges, von den zärtlichsten Liebkosungen begleitetes Zureden, ihr inniger Wunsch, mich als einen gebildeten Menschen zu sehen, begannen meinem Kinderkopfe verständlich zu werden, und mit blutendem Herzen fügte ich mich in das Schicksal, das meiner wartete. Alle meine ländlichen Vergnügungen verloren auf einmal für mich ihren Reiz; zu nichts fühlte ich mich hingezogen; alles erschien mir fremd; alles war mir gleichgültig, und nur die Liebe zu meiner Mutter wuchs in einem solchen Maße, daß sie darüber erschrak. Man begann, mich für den Schulunterricht vorzubereiten. Lesen konnte ich für mein Alter so gut, wie es nur irgend zu verlangen war; aber meine Handschrift war sehr kinderhaft. Mein Vater hatte mir schon früher seine mathematischen Kenntnisse mitteilen wollen, d. h. die vier Spezies; aber ich hatte mich beim Lernen so schwer von Begriffen und so träge gezeigt, daß er den Unterricht wieder aufgab. Jetzt hatte sich alles geändert: in zwei Monaten erlernte ich diese vier Spezies, die auch jetzt von der ganzen Mathematik das einzige sind, was ich nicht vergessen habe; in der übrigen Zeit vor der Abreise nach Kasan wiederholte mein Vater mit mir nur das Frühere; im Kopieren von Vorschriften erreichte ich ebenfalls einen befriedigenden Grad von Vollkommenheit. All dies tat ich unter den Augen meiner Mutter und einzig und allein um ihretwillen. Sie sagte mir, sie würde sich totschämen, wenn ich bei dem Examen, das ich gerade in diesen Gegenständen beim Eintritte ins Gymnasium zu bestehen hatte, nicht gelobt würde; aber sie sei überzeugt, daß es mir gut gelingen werde, – und das genügte. Ich wich keinen Schritt von meiner Mutter. Vergebens schickte sie mich weg mit der Weisung, spazieren zu gehen oder nach den Tauben und Habichten zu sehen. Ich ging nirgends hin und antwortete immer nur: »Ich habe keine Lust, Mama.« In der Absicht, mich an den Gedanken der Trennung zu gewöhnen, redete meine Mutter unaufhörlich mit mir vom Gymnasium und vom Unterricht; sie wollte mich in späterer Zeit unbedingt nach Moskau bringen und mich in die adlige Universitätspension tun, wohin sie ehemals, als sie noch ein siebzehnjähriges Mädchen war, direkt aus Ufa ihre Brüder gebracht hatte. Mein Geist war über meine Jahre hinaus entwickelt; ich hatte viele Bücher still für mich gelesen und ihrer noch mehr meiner Mutter vorgelesen; selbstverständlich waren diese Bücher für mein Lebensalter zu hoch. Es muß hinzugefügt werden, daß meine Mutter meine einzige Gesellschaft bildete, und man weiß, was die Gesellschaft Erwachsener für die geistige Entwicklung von Kindern für eine Bedeutung hat. So konnte sie mit mir über die Vorzüge des Gebildeten vor dem Ungebildeten reden, und ich konnte sie verstehen. Da sie außerordentlich klug war, die Gabe der Rede in seltenem Maße besaß und ihre Gedanken in leidenschaftlicher, hinreißender Art auszusprechen wußte, so hatte sie die unbeschränkte Herrschaft über mein ganzes Wesen gewonnen und flößte mir einen solchen Mut, einen solchen Drang ein, ihren heißen Wunsch recht bald zu erfüllen und ihre Hoffnungen zu rechtfertigen, daß ich schließlich die Abreise nach Kasan mit Ungeduld erwartete. Meine Mutter schien mutig und heiter, aber wie teuer kamen ihr diese Anstrengungen zu stehen! Mit jedem Tage wurde sie magerer und gelber; sie weinte nie; sie betete nur mehr als sonst, wozu sie sich in ihr Zimmer einschloß. Das war ein wahrer Triumph der grenzenlosen, uneigennützigen, selbstverleugnenden Mutterliebe! Da zeigte mir meine Mutter, wie sehr sie mich liebte! Ich war früher ein kränkliches Kind gewesen, und sie hatte damals ganze Jahre unausgesetzt an meinem Kinderbette zugebracht; niemand hatte gewußt, wann sie eigentlich schlief; keine Hand außer der ihrigen hatte mich angerührt. In der Folgezeit war sie im Frühjahr bei Tauwetter über die schreckliche, schon bläulich werdende Kama gegangen, die für sonst niemand mehr passierbar war und jeden Augenblick aufzubrechen drohte, weil sie wußte, daß ich im Krankenhause lag und mich das Heimweh quälte. Aber all dies hatte nichts zu bedeuten im Vergleich mit dem Entschlusse, ihren herzallerliebsten, schwächlichen, verzärtelten, geradezu vergötterten Sohn im Alter von neun Jahren als Staatsalumnus auf das Gymnasium zu geben, vierhundert Werst weit weg, weil es keine andere Möglichkeit gab, ihm Bildung zukommen zu lassen.
Wieder war der Winter gekommen, und im Dezember machten wir uns auf nach Kasan. Damit für meine Mutter die Rückfahrt nach Hause nicht so trübselig sein sollte, wurde auf den dringenden Wunsch meines Vaters meine liebe ältere Schwester mitgenommen; der Bruder und die jüngere Schwester blieben in Aksakowo bei der Tante Jewgenija Stepanowna. In Kasan stiegen wir in der vorjährigen Wohnung ab, bei der Frau Hauptmann Aristowa. Mit Maxim Dmitrijewitsch Knäschewitsch hatten wir vom Dorfe aus korrespondiert; wir wußten vorher, daß eine staatliche Alumnenstelle im Gymnasium frei war, und es waren alle für meinen Eintritt erforderlichen Papiere im voraus in Ordnung gebracht worden. Zur Einleitung unseres Unternehmens machte mein Vater sich durch Knäschewitschs Vermittelung mit all denjenigen Persönlichkeiten bekannt, mit denen wir bei meiner Aufnahme zu tun haben würden, und vierzehn Tage nach unserer Ankunft reichte er, nach einem innigen Gebete zu Gott, dem Direktor Peken ein Bittgesuch ein.
Die Gymnasialkonferenz beauftragte den Oberinspektor Nikolai Iwanowitsch Kamaschew, mich zu examinieren, und den Dr. Benis, mich in gesundheitlicher Hinsicht zu untersuchen. Kamaschew befand sich auf Urlaub; die Obliegenheiten des Oberinspektors nahm der Inspektor des »adligen Zimmers« Wasili Petrowitsch Upadyschewski wahr, und die Obliegenheiten des Unterrichtsinspektors der erste Lehrer der russischen Literatur Ljow Semjonowitsch Lewizki. Beide waren brave, freundliche Männer, und Upadyschewski wurde in der Folge mein und meiner Mutter wahrer Schutzengel: ich weiß nicht, was ohne diesen wohlwollenden alten Mann aus uns geworden wäre. Als mein Vater zum Direktor fuhr, um das Bittgesuch einzureichen, nahm er mich mit, und der Direktor liebkoste mich. Lewizki war krank und konnte nicht ins Gymnasium kommen, daher brachte mich mein Vater zu ihm in die Wohnung. Ljow Semjonowitsch war ein liebenswürdiger, heiterer, rotbäckiger dicker Herr, der trotz seines jugendlichen Alters schon ein gehöriges Bäuchlein hatte. Er bezauberte uns beide durch die Art, wie er uns empfing: er begann damit, mich zu streicheln und zu küssen, gab mir Prosa von Karamsin und Verse von Dmitrijew zu lesen und geriet in Entzücken, da er fand, daß ich mit Gefühl und Verständnis las; dann ließ er mich etwas schreiben und geriet wieder in Entzücken; in den vier Spezies leistete ich ebenfalls Vorzügliches; aber Lewizki, als echter Philologe, benutzte sogleich die Gelegenheit, sich über die Mathematik geringschätzig zu äußern. Nach Beendigung des Examens lobte er mich außerordentlich; er war erstaunt, daß ein Knabe meines Alters, der auf dem Lande gewohnt hatte, so gut vorbereitet war. »Wer hat ihn denn im Schönschreiben unterrichtet?« fragte Ljow Semjonowitsch meinen Vater gutmütig lachend. »Ihre eigene Handschrift ist doch wohl nicht sonderlich schön?« Erfreut über das seinem Sohne erteilte Lob und beinahe bis zu Tränen gerührt, antwortete mein Vater schlicht, ich hätte das alles durch meine eigene Bemühung unter der Anleitung meiner Mutter gelernt, von der ich fast unzertrennlich gewesen sei; er selbst habe mich nur im Rechnen unterrichtet. Er fügte hinzu, meine Mutter habe immer in der Gouvernementsstadt gelebt; wir seien erst kürzlich auf das Land gezogen, sie sei die Tochter eines ehemaligen hohen Beamten und eine große Freundin von Büchern und von Poesie. »Ah, jetzt verstehe ich,« rief Lewizki, »woher Ihr lieber Sohn das Gepräge guter Gesittung und sogar einer gewissen Eleganz an sich trägt: das ist die Frucht der weiblichen Erziehung, die Frucht der Arbeit einer gebildeten Mutter.« Als wir wegfuhren, waren wir von ihm ganz bezaubert. Dr. Benis, der ein schönes Haus in der Ljadskaja-Straße besaß, empfing uns sehr höflich und stellte mir ohne alle Schwierigkeit ein Zeugnis aus, daß ich gesund und von kräftiger Konstitution sei. Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, bemerkte ich, daß meine Mutter viel geweint hatte, obgleich ihre Augen die Eigenheit hatten, daß Tränen ihren Glanz nicht trübten und keine Spur zurückließen. Mein Vater erzählte ihr mit Wärme alles, was wir erlebt hatten. Meine Mutter richtete auf mich einen Blick, dessen Ausdruck ich nicht vergessen werde, und wenn ich noch hundert Jahre leben sollte. Sie umarmte mich und sagte: »Du bist mein Glück, du bist mein Stolz!« Was konnte ich mehr wünschen? Auch ich war in meiner Weise glücklich, stolz und mutig.
Meine Mutter machte der Frau des Dr. Benis einen Besuch und lernte dabei auch ihn selbst kennen. Es war schwer, der Jugend, der Schönheit, dem Verstande und den Tränen meiner Mutter sein Mitleid zu versagen; der Doktor und seine Frau gewannen sie lieb, und der Doktor gab ihr das Versprechen, daß im Falle der geringsten Unpäßlichkeit bei mir alle Mittel der ärztlichen Kunst zur Anwendung kommen sollten. Ein furchtbares Versprechen nach meinen jetzigen Anschauungen: ich fürchte ein Übermaß medizinischer Mittel; aber damals hatte dieses Versprechen die Wirkung, meine arme Mutter einigermaßen zu beruhigen. – Wasili Petrowitsch Upadyschewski war Witwer, und zwei seiner Söhne befanden sich unter den Staatsalumnen des Kasaner Gymnasiums. Mein Vater machte seine Bekanntschaft und lud ihn zu uns in unsere Wohnung ein. Dieser gute alte Mann war von dem Wesen meiner Mutter so angenehm berührt, wußte ihre heiße Liebe zu ihrem Sohne so sehr zu schätzen und gewann sie so lieb, daß er gleich beim ersten Zusammensein sein Ehrenwort darauf gab: erstens, mich nach einer Woche in sein adliges Zimmer herüberzunehmen (denn einen unbekannten Knaben ohne weiteres dorthin zu setzen, wäre allen als offenbare Bevorzugung erschienen), und zweitens, auf mich mehr zu achten als auf seine eigenen Galgenstricke, d. h. auf seine leiblichen Söhne. Er erfüllte gewissenhaft sowohl das eine als das andere. Als wenn es heute wäre, sehe ich sein gutmütiges, freundliches Gesicht vor mir und seinen rechten Arm, der mit einem breiten, schwarzen Bande umwickelt war, weil ihm die Hand durch das Springen einer Kanone abgerissen und statt ihrer an den Arm ein schwarzer, mit Watte ausgestopfter Handschuh angebunden war; übrigens schrieb er sehr deutlich und gut mit der linken Hand.
Endlich waren alle Formalitäten erfüllt, und die Konferenz verfügte, ich solle als Staatsalumnus in das Gymnasium aufgenommen werden; es wurde mir sogar Maß genommen zum Zwecke der Anfertigung eines Uniformanzuges. Der Zustand seelischer Spannung, in dem meine Mutter und ich selbst uns befanden, erfuhr keine Abschwächung. Wir fuhren nach dem Dom und verrichteten Dankgebete an die Kasaner Wundertäter Guri, Warsonofi und German; von dort brachten mich mein Vater und meine Mutter direkt nach dem Gymnasium und übergaben mich Herrn Upadyschewski; mein Hüter Jefrem Jewsejitsch trat ebenfalls dort als Zimmerdiener ein. Der Abschied war natürlich von Tränen, Segenswünschen und guten Ermahnungen begleitet; aber es trug sich dabei nichts Besonderes zu. Ich wurde am Vormittag um zehn Uhr hingebracht; der Unterricht wechselte gerade Der Vormittagsunterricht begann im Winter um acht Uhr; um zehn wechselten die Lehrer; um zwölf schloß der Unterricht; um halb eins wurde zu Mittag gegessen; im Sommer begann der Unterricht um sieben Uhr und schloß um elf; pünktlich um zwölf wurde zu Mittag gegessen; nachmittags begann der Unterricht immer um zwei und schloß um sechs Uhr; zu Abend wurde um acht gegessen; um neun legte man sich schlafen und stand im Sommer um fünf, im Winter um sechs auf. (Anmerkung des Verfassers.), und alle Schüler befanden sich oben in den Klassenzimmern. Die unten gelegenen Schlafzimmer waren leer, und meine Mutter konnte sie besichtigen; sie konnte sich sogar das Bett ansehen, in dem ich schlafen sollte; es schien, daß sie mit allem zufrieden war. Sobald meine Eltern weggefahren waren, nahm mich Upadyschewski bei der Hand, führte mich in die Schönschreibeklasse, stellte mich dem Lehrer vor, empfahl mich ihm als einen sehr wohlgesitteten Schüler und bat ihn, sich meiner besonders anzunehmen. Ich wurde mit anderen Neuen zusammen an einen besonderen Tisch gesetzt und angewiesen, Striche nach einer Vorschrift zu machen. Ich war von allem so verstört, daß ich mich in einer Art von Selbstvergessenheit befand; alles erschien mir wie ein Traum; aber Furcht und Kummer empfand ich nicht. Nach dem Mittagessen, das ich eigentlich gar nicht bemerkte, zog man mir eine Uniformjacke an, band mir eine Krawatte von Tuch um, schor mir das Haar kurz, rangierte mich nach der Größe in einen Zug ein, in dem immer zwei Schüler nebeneinander standen (ich kam neben einen Knaben namens Wladimir Graff zu stehen), und unterwies mich sofort im Schritthalten. Ich führte alles mechanisch aus, gerade als ob es sich dabei gar nicht um mich handelte. Am Schlusse des Unterrichts nahm mich Upadyschewski an der Tür in Empfang, sagte mir: »Deine Mutter wartet auf dich,« und führte mich in den Empfangssaal. Mein Vater und meine Mutter waren dort. Als mein Vater mich erblickte, lachte er laut auf und sagte: »Ei, wie haben sie unsern Sergei verkleidet!« Aber meine Mutter, die mich im ersten Augenblicke nicht erkannt hatte, schlug die Hände zusammen, stöhnte auf und sank besinnungslos zu Boden. Ich schrie ganz außer mir laut auf und warf mich ebenfalls ihr zu Füßen hin. Upadyschewski, der dies durch die halb offene Tür gesehen hatte, erschrak und lief davon, um Hilfe herbeizuholen. Die Ohnmacht meiner Mutter dauerte etwa eine halbe Stunde, erschreckte meinen Vater sehr und beunruhigte den armen Upadyschewski dermaßen, daß er von der Krankenstation den dort wohnenden Unterarzt Ritter herbeirief, der meiner Mutter eine Arznei reichte und sogar mir etwas zu trinken gab. Als meine Mutter wieder zu sich kam, war sie sehr schwach, und der gute Upadyschewski machte selbst den Vorschlag, ich sollte wieder mit nach Hause gehen und die Nacht dort zubringen: »In Gottes Namen,« sagte er; »meinetwegen mag Nikolai Iwanowitsch« (der Oberinspektor) »auf mich ärgerlich werden, wenn er zurückkehrt und es erfährt; er würde es allerdings unter keinen Umständen erlauben; aber ich will alles auf meine Kappe nehmen. Nur, bitte, bringen Sie ihn morgen um sieben Uhr wieder her, gleich zum Frühstück!« Wir konnten gar keine Worte finden, um dem guten Menschen zu danken, und begaben uns nach unserer Wohnung. Zu Hause kam meine Mutter wieder in andere Stimmung, wurde mutiger und ermutigte mich. Sie zwang sich, ruhig meinen fast wie rasierten Kopf anzusehen, wo ihre Hand vergebens meine weichen, blonden Locken suchte, und die Tuchkrawatte, die mir schon den zarten Hals wundgerieben hatte, und das nagelneue seidene Taschentuch. Alles fand sie verständig und notwendig, so daß man sich darein fügen müsse. Unsere beiderseitige seelische Festigkeit und Entschlossenheit erfüllte uns mit neuer Kraft. Am anderen Tage war ich um sieben Uhr schon wieder im Gymnasium. Meine Mutter kam täglich zweimal zu mir, um zwölf Uhr vor dem Mittagessen nur auf eine halbe Stunde und um sechs Uhr abends, und dann konnte ich anderthalb Stunden mit ihr zusammenbleiben. Bei dem Zusammensein mit mir schien sie ruhig und sogar heiter; aber aus dem trüben Gesichte meines Vaters konnte ich erraten, daß es zu Hause, wo ich nicht bei ihr war, ganz anders mit ihr stand. Nach einigen Tagen gelangte mein Vater zu der Überzeugung, daß es so nicht weitergehen könne, und daß dieses stete Wiedersehen und Abschiednehmen nur eine nutzlose Qual sei; er fragte Knäschewitsch um Rat, und sie entschieden sich beide dafür, meine Mutter müsse unverzüglich wieder aufs Land gebracht werden. Sich dafür zu entscheiden war leicht; aber schwer war die Ausführung; mein Vater wußte das recht gut; aber wider sein Erwarten und zu seiner großen Befriedigung gab meine Mutter den gemeinsamen Bitten und Vorstellungen bald nach. Die Worte des Dr. Benis, der sich an diesen Verhandlungen ebenfalls beteiligte, fielen dabei ohne Zweifel stark mit ins Gewicht. Er versicherte, dieses häufige Zusammensein reize meine schwachen Nerven und sei meiner Gesundheit schädlich, und ich würde mich nie oder erst sehr spät an mein neues Leben gewöhnen, wenn meine Mutter nicht abreise. Selbst der gute Upadyschewski bat inständig darum und wies daraufhin, daß ich unter solchen Umständen nicht gut lernen könne und die Lehrer eine schlechte Meinung von mir bekommen würden. So erklärte sich denn meine Mutter damit einverstanden, gleich am anderen Tage abzureisen. Ich wundere mich nur über eines: wie sie sich dazu entschließen konnte, mich zu täuschen. Sie sagte mir vor dem Mittagessen, sie werde morgen oder übermorgen abreisen, und wir würden uns noch etwa zweimal sehen; sie sagte auch, sie werde diesen Abend bei Frau Knäschewitscha sein und deshalb nicht zu mir kommen. Eine heimliche Abreise ohne Abschied von mir, das war der unglückliche Gedanke, welchen Benis und Upadyschewski befürworteten. Selbstverständlich wollten sie uns beiden und besonders mir den letzten Abschied aus Schonungsrücksichten ersparen; aber diese Rechnung erwies sich als falsch. Ich bin auch jetzt noch davon überzeugt, daß diese wohlmeinende List viele traurige Folgen herbeiführte.
Es geschah zum ersten Male, daß meine Mutter am Abend nicht zu mir kam, und obwohl sie es mir vorher mitgeteilt hatte, quälten dennoch Kummer und die Ahnung eines unbestimmten Unglücks mein Herz. In der Nacht schlief ich schlecht. Am anderen Tage morgens, als ich anfing mich anzuziehen, übergab mir mein Hüter Jewsejitsch ein Briefchen: meine Mutter sagte mir Lebewohl; sie schrieb, wenn ich sie lieb hätte und wollte, daß sie ruhig und wohl sei, so solle ich mich nicht grämen und fleißig lernen. Sie war tags zuvor um acht Uhr abends abgereist. Ich erinnere mich deutlich an diesen Augenblick, bin aber nicht imstande, ihn zu schildern: ein schmerzhaftes Gefühl durchdrang meine Brust, preßte sie zusammen und benahm mir den Atem; gleich darauf begann ein furchtbares Herzklopfen. Halb angezogen setzte ich mich auf das Bett und blickte in sinnloser Verzweiflung alle an, ohne etwas zu hören und zu verstehen. Upadyschewski, der mich zwei Tage vorher in sein adliges Zimmer herübergenommen hatte, von der Abreise meiner Mutter wußte und folglich die Ursache meines Zustandes verstand, verbot den anderen Zöglingen, sich mit mir abzugeben, führte sie so schnell wie möglich nach oben, übergab sie dort einem der Inspektoren und lief zu mir zurück: ich saß noch in derselben Haltung auf meinem Bette; Jewsejitsch stand vor mir und weinte. Upadyschewski mochte reden, was er wollte, ich hörte nichts und schwieg. Ich konnte keinen Gedanken fassen, und meine Augen waren, wie mir nachher gesagt wurde, ganz verstört und starr. Ich wurde nach der Krankenstation gebracht; auch dort setzte ich mich, ohne von mir selbst zu wissen, auf ein Bett und saß ebenso stumm und mit ebenso verstörten Augen da. Eine Stunde darauf kam Dr. Benis; er untersuchte mich ärztlich, schüttelte den Kopf und sagte etwas auf Französisch; später erfuhr ich von anderen, daß er gesagt hatte: » Pauvre enfant!« Man gab mir eine widerwärtige Medizin zu schlucken, zog mich aus, legte mich ins Bett und rieb mich mit Tüchern. Bald brachten mich ein starker Fieberschauer und ein Zittern wieder zum Bewußtsein. Ich schrie laut: »Mama ist abgereist! …« und die zurückgehaltenen Tränen stürzten stromweis aus meinen Augen. Dr. Benis freute sich offenbar, setzte sich neben mich und begann von der Abreise meiner Mutter zu reden, von der Notwendigkeit dieser Abreise für ihre Gesundheit, von den schädlichen Folgen, die das Abschiednehmen hätte haben können, und daß ich mich unter diesen Umständen wie ein verständiger Knabe benehmen müsse, der seine Mutter lieb habe und sie zu beruhigen wünsche. Seine Worte waren eine Eingebung von oben; denn der Doktor, ein so hochachtbarer Mann er auch war, zeichnete sich nicht durch ein zartes, weiches Wesen aus; meine Tränen liefen noch stärker, aber es wurde mir leichter ums Herz. Dr. Benis fuhr weg. Ich schluchzte noch ein paar Stunden lang und schlief endlich vor Ermüdung ein, und ein wohltätiger Schlaf stärkte meinen schwachen Organismus. Upadyschewski kam nochmals zu mir; er brachte mir sogar zur Zerstreuung die »Kinderschule«, die ich noch nicht kannte. Upadyschewski wußte, daß ich leidenschaftlich gern las; aber mir war damals noch nicht nach Lektüre zumute. Ich bat um die Erlaubnis, schreiben zu dürfen, und schrieb an meinen Vater und an meine Mutter den ganzen Tag und den ganzen Abend und weinte fast ununterbrochen. In der Nacht schlief ich unruhig und träumte viel, wozu ich immer geneigt hatte. Jewsejitsch wich nicht von meiner Seite. Am anderen Tage morgens fand Dr. Benis meine Gesundheit in besserem Zustande; er entließ mich aus der Krankenstation, weil er der Ansicht war, die Untätigkeit und der Aufenthalt unter Kranken sei in seelischer Hinsicht für mich schädlich, und befahl, man solle mich in geringem Maße mit Unterricht beschäftigen. Upadyschewski führte mich wieder selbst in die Unterrichtszimmer, und es traf sich, daß ich wieder in jene Schönschreibeklasse kam und dann in die Klasse des Geistlichen. Zwei Stunden lang hörte ich mit an, wie meine Kameraden ihre Lektionen aus dem Katechismus und der biblischen Geschichte aufsagten, wie der Geistliche eine neue Lektion aufgab und vieles zur Erklärung und Verständlichung sagte; aber ich war nicht nur diesmal, sondern während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes auf dem Gymnasium außerstande, seine Erklärungen zu verstehen. Meine Lektionen konnte ich diesmal nicht. Der Geistliche war vorher von meinem kränklichen Zustande in Kenntnis gesetzt, und obgleich er ein unnachsichtiger, strenger Mann war, beschränkte er sich doch auf einen Verweis und befahl mir, es zum nächsten Mal nachzulernen. Nach dem Mittagessen gab Upadyschewski, damit ich nicht müßig bliebe und mich traurigen Gedanken überließe, einem älteren Zögling, Iwan Schewanow, der gut zeichnete, den Auftrag, mich mit Zeichnen zu beschäftigen, wozu ich in meiner Kindheit große Neigung hatte. Ich hörte selbst, wie dieser gute alte Mann den Schüler bat, er möchte ihm doch den großen Gefallen tun, den er ihm nie vergessen werde, und mit dem armen Jungen, der sich sehr nach seiner Mutter sehne, ein bißchen zusammen zeichnen. Schewanow beschäftigte sich wirklich mit mir; aber der Unterricht blieb nicht nur diesmal, sondern auch in der Folgezeit bei mir erfolglos: das Zeichnen von Kreisen, Augenbrauen, Nasen, Augen und Lippen verdarb mir für alle Zeit den Geschmack am Zeichnen. Nach dem Abendunterrichte ließ mich wieder derselbe wohltätige Genius Wasili Petrowitsch Upadyschewski meine Aufgabe an seiner Seite lernen, und als er sah, daß ich nicht imstande war, mit meinen Gedanken bei meinen Aufgaben zu sein, begann er mit mir von meinem Leben auf dem Lande und von meinem Vater und von meiner Mutter zu sprechen und erlaubte mir sogar, ein bißchen zu weinen. Ich weiß nicht, wie sich mein Leben weiter gestaltet hätte; aber nun änderte sich plötzlich alles mit einem Schlage: am dritten Tage übergab mir während des Mittagessens Jewsejitsch ein Briefchen von meiner Mutter, worin sie mir schrieb, sie bereue es, von mir nicht ordentlich Abschied genommen zu haben; nachdem sie neunzig Werst weit weggefahren sei, sei sie wieder umgekehrt, um mich noch einmal, wenn auch nur für einen Augenblick, zu sehen. Ich kann es mir in keiner Weise erklären, warum ich im ersten Augenblick nicht diejenige große Freude empfand, die ich, wie man hätte meinen können, eigentlich hätte empfinden müssen. Aber ich bekam eher einen Schreck, konnte kaum daran glauben und meinte zu träumen. Upadyschewski hatte ebenfalls einen Brief erhalten: meine Mutter bat ihn darin, mich von sechs bis neun Uhr abends zu beurlauben; wenn das nicht anginge, so wolle sie selbst hinkommen; sie fügte hinzu, sie werde in Kasan nur bis zum Morgen bleiben. Upadyschewski befahl mir zurückzuschreiben, Marja Nikolajewna möge sich nicht die Mühe machen, selbst zu kommen; er werde mich mit meinem Hüter vielleicht schon vor sechs Uhr beurlauben, da zu den letzten Stunden der betreffende Lehrer wegen Krankheit wahrscheinlich nicht kommen werde; ich könne bis sieben Uhr morgens bei ihr bleiben. Ich schrieb dies meiner Mutter und glaubte entschieden, daß alles nur ein Traum sei. Jewsejitsch lief mit meinem Briefe davon. Nach anderthalb Stunden kehrte er mit einem Briefe zurück, der eine solche Freude, eine so heiße Dankbarkeit gegen Upadyschewski atmete, daß der alte Mann beim Durchlesen Tränen vergoß. Jewsejitsch erzählte uns, die gnädige Frau sei im Dorfe Alexejewskoje, von Kasan auf der Poststraße neunzig Werst entfernt, allein umgekehrt; der Herr sei mit dem erkrankten Fräulein dort geblieben, und meine Mutter sei in einem leichten Postschlitten mit Postpferden eilig zurückgefahren, nur von einem Dienstmädchen und einem Diener begleitet. Nun kam ich endlich einigermaßen zu mir, begann an mein Glück zu glauben und glaubte bald so fest daran, daß die letzte Stunde Wartezeit mir zu einer unerträglichen Pein wurde. Der Lehrer ließ wirklich sagen, daß er nicht kommen könne, und um vier Uhr fünf Minuten stieg ich mit meinem Hüter in eine Schlittendroschke, fast sinnlos vor unbeschreiblicher Freude. Meine Mutter war in der Prolomnajastraße abgestiegen, ich weiß nicht bei wem; aber es war kein Gasthaus. Als ich ins Zimmer hereingelaufen kam, sah ich von weitem, daß meine Mutter, blaß und abgemagert, in einer warmen Pelerine am geheizten Kamine saß, weil das Zimmer sehr kalt war. Dieser Augenblick des Wiedersehens war von der Art, daß es unmöglich ist, jemandem eine Vorstellung von ihm zu machen! Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder ein ähnliches Gefühl des Glücks empfunden. Mehrere Minuten lang sprachen wir nicht, sondern weinten nur und freuten uns. Aber das dauerte nicht lange. Bald verscheuchte der Gedanke an die nahe Trennung alle anderen Gedanken und Empfindungen und preßte mir das Herz schmerzhaft zusammen. Mit bitteren Tränen erzählte ich meiner Mutter alles, was mir seit ihrer plötzlichen Abreise begegnet war. Ich erschrak über die Wirkung, die meine Erzählung hervorbrachte! Wie klagte meine arme Mutter sich an, und wie bereute sie es, daß sie eingewilligt hatte, mich zu täuschen und ohne Abschied wegzufahren! Dann erzählte sie mir von sich selbst; sie hatte keine Erinnerung daran, wie sie aus Kasan fortgekommen war, weil ihr schlecht geworden war, als man sie in den Schlitten gehoben hatte. Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, um so übler war ihr von Stunde zu Stunde geworden; es hatte nicht lange gedauert, da hatte der Gedanke umzukehren in ihr Macht gewonnen; aber das Zureden des Vaters und die eigene Überlegung hatten eine Zeitlang den Impuls der Mutterliebe zurückgedrängt. Schließlich war sie nicht mehr imstande gewesen, ihren Gefühlen zu widerstehen, und war allein umgekehrt, weil sie sich fürchtete, meiner Schwester, die ohnehin schon nicht wohl war, die anstrengende Fahrt zuzumuten. Mein Vater und meine Schwester sollten in Alexejewskoje auf sie warten; für meine Schwester war eine solche Ruhepause sogar dringend nötig. Den ganzen Abend und die größere Hälfte der Nacht verbrachten wir unter Gesprächen und Tränen; aber wie alles sein Maß hat, so wurden auch wir endlich, man kann sagen, des Weinens satt und schliefen ein. Ich erinnere mich, daß ich mehrere Male im Schlafe zusammenfuhr und zu schluchzen begann; aber meine Mutter umarmte mich, drückte meinen Kopf an ihre Brust, und ich schlief wieder ein. Um sechs Uhr wurden wir geweckt. Wir waren ruhiger und mutiger. Meine Mutter gab mir das Versprechen, sowie die Wege im Sommer fest geworden sein würden, nach Kasan zu kommen und bis zum Schlusse der Prüfungen dort zu bleiben; und nach dem Gymnasialaktus, der immer in den ersten Tagen des Juli stattfand, wolle sie mich für die Ferien mit aufs Land nehmen, wo ich dann bis Mitte August bleiben solle. Ein tröstliches Gefühl erfüllte mein Herz; wir nahmen ziemlich ruhig voneinander Abschied. Um sieben Uhr stieg meine Mutter in ihren Postschlitten und ich mit Jewsejitsch in eine Schlittendroschke, und wir fuhren gleichzeitig vom Hofe: der Postschlitten fuhr nach rechts zum Schlagbaum hin und ich nach links zum Gymnasium; bald bogen wir von der Straße in eine Seitengasse ab, und der Schlitten meiner Mutter entschwand meinen Augen. Das Herz brach mir, wie man zu sagen pflegt, und Trauer legte sich auf meine Seele; aber mein Kopf war nicht mehr verwirrt; ich hatte ein klares Verständnis für das, was um mich herum vorging, und was mich in der Zukunft erwartete. Das mächtige, auf einer Anhöhe stehende, weiße Gymnasialgebäude mit seinem hellgrünen Dache und seiner Kuppel von gleicher Farbe trat mir bald entgegen und überraschte mich, als ob ich es noch nie vorher gesehen hätte. Es erschien mir wie ein furchtbares, verzaubertes Schloß (von solchen hatte ich in Büchern gelesen), wie ein Gefängnis, in dem ich eingekerkert werden sollte. Die gewaltige, oberhalb einer hohen Freitreppe befindliche, von Säulen flankierte Tür, die ein alter Invalide öffnete, und die mich zu verschlingen schien; die beiden breiten, hohen Treppen, die vom Hausflur zum zweiten und dritten Stockwerk hinaufführten und ihr Licht von oben her von der Kuppel empfingen; das Durcheinanderschreien vieler Stimmen, das mir von ferne aus allen Klassen entgegentönte, da die Lehrer noch nicht gekommen waren: all dies sah ich, hörte ich und verstand ich zum erstenmal. Trotzdem ich schon länger als eine Woche im Gymnasium gewohnt hatte, hatte ich das alles nicht bemerkt. Erst jetzt fühlte ich mich als Staatsalumnus eines staatlichen Unterrichtsinstitutes. Den ganzen Tag über wunderte ich mich über alles wie über etwas Neues, nie Gesehenes; und mein Gott! wie widerwärtig erschien mir alles! Das Aufstehen beim Läuten, lange vor Tagesanbruch, bei erloschenen oder erlöschenden Nachtlampen und Talglichten, die die Luft mit einem unerträglichen Geruch erfüllten; die in den Zimmern herrschende Kälte In den Schlafzimmern wurde die Temperatur auf zwölf Grad Wärme gehalten, was, wie es scheint, auch jetzt auf allen staatlichen Unterrichtsanstalten geschieht und meiner Ansicht nach für die Gesundheit der Kinder entschieden schädlich ist. Erforderlich ist eine Wärme von nicht weniger als vierzehn Grad. (Anmerkung des Verfassers.), die das Aufstehen für ein armes Kind noch unangenehmer machte, das unter seiner Friesdecke nur notdürftig warm geworden war; das gemeinsame Waschen in messingenen Waschbecken, um die es stets Streit und Prügelei setzte; das Marschieren im Zuge zum Gebete, zum Frühstück, in die Klassen, zum Mittagessen usw.; das Frühstück, das an Nichtfasttagen aus einem Glase Milch, zur Hälfte mit Wasser verdünnt, und einer Semmel, an Fasttagen aus einem Glase Sbiten Ein Getränk aus Wasser, Honig und Gewürz. (Anmerkung des Übersetzers H. R.) mit einer Semmel bestand, und in ähnlicher Weise das Mittagessen mit seinen drei und das Abendessen mit seinen zwei Gerichten: wie mußte das alles einem verzärtelten, verwöhnten Knaben vorkommen, den seine Mutter in einer so luxuriösen Weise gepflegt hatte, als ob ein großes Vermögen dahinterstände? Am meisten aber brachten mich meine Kameraden zur Verzweiflung: die schon älteren Schüler der obersten und mittleren Abteilung beachteten mich nicht; aber die Schüler, die sich in der untersten Abteilung befanden und mit mir gleichaltrig oder sogar noch jünger als ich waren, erwiesen sich größtenteils als unausstehliche Schlingel und Raufbolde; und auch zwischen den übrigen und mir bestand so wenig Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit in Anschauungen, Interessen und Sitten, daß ich ihnen nicht näher treten konnte und inmitten einer so zahlreichen Gesellschaft allein dastand. Alle waren gesund, zufrieden und von einer unerträglichen Lustigkeit, so daß ich keinen auch nur einigermaßen traurigen oder nachdenklichen Knaben fand, der an meinem steten Kummer hätte Anteil nehmen können. Ich hätte mich ihm kühn an den Hals geworfen und ihm den Zustand meines Inneren gezeigt. »Wie wunderbar!« dachte ich. »Gewiß haben diese Kinder weder einen Vater, noch eine Mutter, noch Brüder, noch Schwestern, noch ein Haus und einen Garten auf dem Lande,« und ich begann, sie zu bemitleiden. Aber bald stellte ich fest, daß sie fast sämtlich Väter und Mütter und Familien hatten und manche auch Häuser und Gärten auf dem Lande; es fehlte ihnen eben nur jenes Gefühl der Anhänglichkeit an Familie und Haus, von dem mein ganzes Herz voll war. Es versteht sich von selbst, daß ich als »weichlicher, pimpliger Junge«, als »Muttersöhnchen«, das immer »nach der Mama wimmert«, sogleich der Gegenstand der Spöttereien meiner Kameraden wurde; davor konnte mich weder die Amtsgewalt noch der moralische Einfluß Wasili Petrowitsch Upadyschewskis schützen, der nicht aufhörte, mich Tag und Nacht zu behüten. Er selbst verbot mir, mich über Kränkungen von seiten meiner Kameraden zu beschweren, da er recht wohl wußte, wie verhaßt in den Schulen die Petzer sind, ein Name, mit dem jeder gebrandmarkt wird, der sich bei den Vorgesetzten über ein von Kameraden ihm angetanes Unrecht beschwert. Er ließ mein Bett zwischen die Betten Kondyrews und Morejews stellen, die erheblich älter waren als ich und beide als sehr gesetzte und zugleich energische Schüler galten; er stellte mich unter ihren Schutz, und ihnen hatte ich es zu verdanken, daß keiner der Schlingel an mein Bett heranzukommen wagte. Ich muß bemerken, daß es damals bei uns keine Erholungssäle gab und die Staatsalumnen und Pensionäre die ganze unterrichtsfreie Zeit in den Schlafsälen verbrachten.
Gleich in den ersten Tagen nach meinem endgültigen Abschiede von meiner Mutter machte ich mich mit Eifer ans Lernen. Ich bat meine Lehrer (immer durch Upadyschewskis Vermittlung), mir jedesmal nicht ein, sondern zwei oder drei Pensa aufzugeben, damit ich die älteren Schüler einholen könnte und nicht mit den Neuen auf einer Bank zu sitzen brauchte. Verständnis und Gedächtnis waren bei mir gut entwickelt; in Zeit von einem Monat hatte ich nicht nur die Neuen überholt und hinter mir gelassen, sondern ich saß auch in allen Gegenständen mit den besten Schülern auf der ersten Bank. Dieser Umstand verstärkte die Abneigung gegen mich sowohl bei denjenigen, die ich überholt hatte, als auch bei denjenigen, denen ich nun gleichgekommen war.
Gerade zu dieser Zeit kehrte der Oberinspektor Nikolai Iwanowitsch Kamaschew zu seiner amtlichen Tätigkeit zurück. Ich weiß nicht, ob er mit Recht für einen sehr klugen Menschen galt; aber das ist sicher, daß er ein sehr kalter, fester Mann war, der immer leise und lächelnd sprach und in seinem Handeln einen unbeugsamen Willen bewies. Alle ohne Ausnahme fürchteten ihn weit mehr als den Direktor. Er liebte persönliche Macht, hatte es verstanden, sich solche zu erwerben, und bediente sich ihrer mit pedantischer Genauigkeit. Upadyschewski merkte, daß Nikolai Iwanowitsch auf ihn ärgerlich war; dieser hatte sogleich alle Abweichungen von der Schulordnung erfahren, die der ihn vertretende Inspektor um meinet- und meiner Mutter willen sich erlaubt hatte, nämlich: unzeitiges Zusammensein mit den Eltern, während doch bestimmte Tage und Stunden dazu angesetzt waren, ungesetzliche Beurlaubung nach Hause und namentlich Beurlaubung über die Nacht. Der Oberinspektor erteilte meinem Wohltäter einen solchen Verweis, daß der alte Mann lange ganz bedrückt umherging. Kamaschew sagte ihm mit einem ruhigen Lächeln, wenn so etwas noch einmal vorkomme, werde er den verehrten Wasili Petrowitsch bitten müssen, seine Stellung am Gymnasium aufzugeben. Ich weinte bitterlich, als ich dies erfuhr, und faßte einen unüberwindlichen Widerwillen gegen den Oberinspektor, ja schon sein bloßer Name setzte mich in Angst – und nicht ohne Grund: er konnte mich ohne alle Ursache nicht leiden, wurde mein Bedrücker, und meine arme Mutter hat in der Folgezeit viele Tränen um seinetwillen vergossen. Drei Tage nach seiner Rückkehr rief mich Kamaschew vor in die Mitte des Saales und richtete an mich eine ziemlich lange Ermahnung folgenden Inhalts: es sei häßlich, ein verwöhnter Knabe zu sein; es schicke sich nicht, die parteiische Freundlichkeit eines Vorgesetzten auszunutzen und undankbar gegen die Behörde zu sein, die die nicht unbedeutenden Kosten meiner Ausbildung großmütig auf sich genommen habe. Ich war zwar ein sanfter, gutmütiger Knabe, dabei aber doch von Natur empfindlich und hitzig. Ich stand mit niedergeschlagenen Augen da, und ein mir bis dahin unbekanntes Gefühl unverdienter Kränkung und auflodernden Zornes wogte in meiner Brust. »Warum sehen Sie mich nicht an?« fragte Kamaschew auf einmal. »Das ist ein schlechtes Zeichen, wenn ein Knabe seine Augen versteckt und nicht wagt, seinen Vorgesetzten gerade anzusehen, oder es nicht tun will. Sehen Sie mich an!« sagte er in strengem Tone und mit erhobener Stimme. Ich blickte auf, und in meinen Augen prägte sich offenbar ein so starkes innerliches Gefühl beleidigten kindlichen Stolzes aus, daß Kamaschew sich abwandte und beim Weggehen zu Upadyschewski sagte: »Er ist ganz und gar nicht so friedlich und gutmütig, wie Sie sagen.« Später erfuhr ich, daß der Oberinspektor mich hatte aus dem adligen Zimmer wegversetzen wollen; er hatte von allen Lehrern und Inspektoren Zeugnisse eingefordert; aber überall hatte gestanden: »Führung und Fleiß musterhaft, Leistungen vorzüglich,« und so hatte mich denn Kamaschew an meinem bisherigen Platze gelassen. In der ganzen Zeit meines ersten Aufenthaltes auf dem Gymnasium revidierte er oft in den Unterrichtsstunden meine Bücher und Hefte, veranlaßte die Lehrer, mich in seiner Gegenwart zu fragen, und schalt mich nicht selten wegen unbedeutender Kleinigkeiten; den Inspektoren aber befahl er, sie sollten mich veranlassen, mit den anderen Zöglingen zusammen zu spielen, indem er hinzufügte, er könne Duckmäuser und Sonderlinge nicht leiden. Jetzt verstehe ich recht wohl, daß eine solche Bemerkung manchmal ganz angebracht ist; aber auf mich paßte sie durchaus nicht und steigerte nur meine begründete Gereiztheit. Upadyschewski liebte mich zärtlich und besichtigte mit der Sorglichkeit einer Mutter alle Tage meinen Anzug und mein Bett, sowie die Reinheit meiner Hände, Hefte und Bücher; er schärfte mir oft ein, ich solle Nikolai Iwanowitsch ja immer in die Augen sehen und auf seine Bemerkungen und Verweise nichts erwidern. Aus Liebe zu dem alten Manne kam ich seiner Weisung genau nach.
Kamaschew ließ nicht locker. Nach Anordnung der Gymnasialbehörde durfte kein Zögling eigene Sachen oder eigenes Geld in Händen haben; Geld, wenn solches vorhanden war, wurde bei dem Inspektor des betreffenden Zimmers aufbewahrt und durfte nur mit Erlaubnis des Oberinspektors verausgabt werden; der Ankauf von Eßwaren und Leckereien war streng verboten; allerdings kamen Übertretungen vor, aber nur in größter Heimlichkeit. Zu den sonstigen strengen Bestimmungen gehörte auch die, daß die Korrespondenz der Zöglinge mit den Eltern und Verwandten durch Vermittelung der Inspektoren vor sich ging: jeder Schüler mußte seinen Brief, damit er auf die Post gebracht werde, unversiegelt dem Inspektor seines Zimmers übergeben, und dieser hatte das Recht, den Brief durchzulesen, wenn der Zögling nicht sein Vertrauen genoß. Diese Bestimmung wurde durchaus nicht beobachtet; aber Kamaschew verlangte, Upadyschewski solle ihm meine Briefe zeigen. Der gute, alte Mann, der bei jedem meiner Briefe, ohne ihn zu lesen, selbst ein paar Zeilen hinzuzuschreiben pflegte, mußte seinen Ärger unterdrücken und sich zu meinem Zensor machen. Der erste Brief, den er durchlas, setzte ihn in die größte Verlegenheit: er bestand ganz aus einer Schilderung meines traurigen täglichen Zustandes, aus Klagen über meine Kameraden und sogar über die Lehrer, aus dem Ausdrucke des heißen Wunsches, meine Mutter wiederzusehen, recht bald das verhaßte Gymnasium zu verlassen und für den Sommer aufs Land zu fahren. Das war alles nichts Tadelnswertes; aber Wasili Petrowitsch sagte sich, daß in Nikolai Iwanowitschs Augen jedes meiner Worte ein Vergehen sein werde, daß er darin unziemliches Murren, Anklage der Vorgesetzten, Verleumdung der Unterrichtsanstalt und Undank gegen die Behörde finden werde. Was sollte er tun? Mir die wahre Lage der Dinge aufzudecken, dazu konnte er sich zunächst nicht entschließen; das hieß mit einem Knaben ein Komplott gegen den eigenen Vorgesetzten machen; er sagte sich sogar, ich würde ihn gar nicht verstehen, ich würde es nicht fertig bekommen, einen solchen Brief zu schreiben, daß Kamaschew mit ihm zufrieden sein könne; und bei seiner Herzensgüte war es ihm unmöglich, meine Mutter ihres einzigen Trostes zu berauben, der darin bestand, daß sie meine brieflichen Herzensergüsse erhielt. Einen ganzen Tag lang zerbrach er sich den Kopf, konnte aber, wie er selbst nachher erzählte, kein Auskunftsmittel ersinnen und entschloß sich endlich dazu, mir die ganze Wahrheit zu entdecken und damit zugleich seinen strengen Vorgesetzten zu täuschen. So veranlaßte er mich denn, nach seinem Diktat einen anderen Brief zu schreiben, einen ganz offiziellen Brief, und zeigte ihn dem Oberinspektor, der selbstverständlich darin nichts finden konnte, was mir hätte zum Vorwurf gemacht werden können. Beide Briefe wurden gleichzeitig abgeschickt. Die ganze folgende Korrespondenz bestand nun aus solchen doppelten Briefen: öffentlichen und geheimen, sogar zu der Zeit, als mein Bedrücker aufgehört hatte, sie zu lesen. Wasili Petrowitsch schrieb meiner Mutter sogleich, wie das zusammenhing; zur Post trug die Briefe Jewsejitsch selbst. Ich verstand damals nicht die ganze Größe der Aufopferung zu würdigen, die mein Wohltäter dabei bewies; aber meine Mutter würdigte sie vollständig und schrieb an Upadyschewski einen Brief, in dem die heißeste mütterliche Dankbarkeit zum Ausdruck kam. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß, obgleich sie die Bedrückungen von seiten Kamaschews nicht in ihrem ganzen Umfange kannte, sie doch darüber höchst empört war.
Die Dinge gingen ihren früheren Lauf weiter; aber mit mir begab sich eine Veränderung, die allen sonderbar und unnatürlich vorkommen muß, weil zu erwarten gewesen wäre, daß ich im Laufe von anderthalb Monaten mich an die neue Lebensordnung gewöhnt hätte: ich begann melancholisch und trübsinnig zu werden; dann ging der Trübsinn in periodisch wiederkehrende Herzbeklemmungen über und schließlich in eine Krankheit. Zwei Ursachen waren es, die diese traurige Veränderung herbeiführten: da ich in allen Unterrichtsgegenständen meine Kameraden eingeholt hatte und nun die gewöhnlichen, sehr kleinen Aufgaben erhielt, die ich häufig schon gelernt hatte, ehe ich noch aus der Klasse hinausging, so war ich mit nichts beschäftigt, nicht nur in der ganzen unterrichtsfreien Zeit, sondern auch während des Unterrichts, und die geistige Tätigkeit des Knaben, die ihre eigentliche Nahrung verloren hatte, richtete sich nun ganz darauf, beständig die eigene derzeitige Lage zu betrachten und zu überdenken, sich beständig vorzustellen, was wohl in seiner Familie geschehe, wie sich seine unglückliche Mutter nach ihm sehne, und sich an das frühere glückliche Leben auf dem Lande zu erinnern. Ich haßte in tiefster Seele das widerwärtige Gymnasium und den Unterricht und bildete mir nach meiner Einsicht das Urteil, daß er völlig nutzlos und unnötig sei, und daß infolge desselben alle Kinder Taugenichtse würden. Die zweite und vielleicht hauptsächlichste Ursache bildeten die ungerechten Bedrückungen, die ich von Kamaschew erlitt. Sein Erscheinen rief jedesmal eine heftige Erschütterung in meinem Nervensystem hervor, und er kam täglich zweimal, und niemand wußte die Zeit seines Kommens. Es gab keine Stunde bei Tage oder bei Nacht, wo er nicht manchmal das Gymnasium besucht hätte, und diese Besuche waren ganz unerwartet und plötzlich. Jetzt lasse ich seiner unermüdlichen, wiewohl allzu strengen, pedantischen Tätigkeit volle Gerechtigkeit widerfahren; aber damals erschien er mir als ein Tyrann, als ein Unmensch, als ein böser Geist, der gleichsam aus der Erde hervorstieg, sogar an solchen Orten, wohin auch die Inspektoren keinen Blick warfen. Seine furchtbare Gestalt haftete dauernd in meiner kindlichen Einbildungskraft, und ich wurde das Gefühl seiner bedrückenden Gegenwart nie los. Dabei wurden meine geheimen Briefe an meine Mutter weit kürzer als die früheren und wurden von einem Mal zum anderen mit immer größerer Zurückhaltung, mit immer größerer Vorsicht abgefaßt. Ich verstand endlich, welchen Zwang Upadyschewski seinem ehrlichen, geraden Charakter antat, und was er dabei aufs Spiel setzte. In der Folge kam auch noch eine dritte Ursache hinzu. Ende März und Anfang April begann die Sonne kräftig zu wärmen; der Schnee schmolz; Bäche flossen durch die Straßen; es roch nach Frühling, und dieser Geruch erschütterte die Nerven des Knaben, der noch unbewußt, aber bereits leidenschaftlich die Natur liebte. Welche aufregende Wirkung die Sonnenstrahlen im Frühling auf den menschlichen Organismus ausüben, ist eine bekannte Sache. Ich erinnere mich lebhaft, daß ich mich an schönen Tagen weit mehr bedrückt fühlte als an trüben. Wie dem nun auch sein mochte, jedenfalls begann ich, mich meinen Gedanken zu überlassen, oder, richtiger gesagt, ich hörte auf zu hören, was andere sagten; ohne innere Teilnahme lernte ich meine Aufgaben, sagte sie auf, hörte die tadelnden oder lobenden Bemerkungen der Lehrer an und stellte mir oft, während ich ihnen gerade in die Augen sah, vor, ich sei in dem lieben Aksakowo, in meinem stillen Elternhause, neben meiner mich liebenden Mutter: allen erschien dies einfach als Zerstreutheit. Um mich lebhafter den Träumereien meiner Phantasie überlassen zu können, deren Vorstellungskraft mit jedem Tage wuchs, kniff ich die Augen zusammen und erhielt nicht selten Püffe von meinen Nachbarn, welche glaubten, ich schliefe. Einmal, als wir gerade russische Grammatik hatten, rief ein böser Knabe, namens Ruschka, laut: »Aksakow schläft!« Der Lehrer befragte andere Schüler, ob ich wirklich geschlafen hätte, und als er eine bejahende Antwort erhielt, zwang er mich, beinahe auf den Knien um Verzeihung zu bitten. Ich hörte nun damit auf, in den Unterrichtsstunden die Augen zusammenzukneifen, und begann statt dessen häufig unter gewissen Vorwänden aus der Klasse zu gehen, natürlich nachdem ich vorher meine Lektion aufgesagt hatte, und es gelang mir manchmal, ruhig eine Viertelstunde irgendwo in einer Ecke des Korridors zu stehen und mit geschlossenen Augen zu träumen. Nach dem Schlusse des Nachmittagsunterrichtes und nach einem halbstündigen Umherlaufen im Empfangssaale, woran ich nur notgedrungen manchmal teilnahm, mußten sich alle hinsetzen, jeder an sein Tischchen neben seinem Bette, und die Aufgabe zum folgenden Tage lernen; dann setzte ich mich auch hin, legte das Buch vor mich hin und versetzte mich mitten in dem lauten Gemurmel der Kameraden, die ihre Aufgaben lernten, mittels der Phantasie immer nach derselben Gegend, in das gelobte Land, in das ländliche Haus am Ufer des Buguruslan. Bald jedoch nahm diese angestrengte Tätigkeit der Einbildungskraft so gewaltige Dimensionen an, daß der schwache leibliche Organismus ihr nicht mehr gewachsen war. Es befiel mich eine hysterische Seelenangst, von so heftigem Weinen und Schluchzen begleitet, daß ich für mehrere Minuten bewußtlos wurde; nachher erfuhr ich, daß während dieser Bewußtlosigkeit sich auf meinem Gesichte krampfhafte Bewegungen gezeigt hätten. Zuerst brachte ich es fertig, meinen Zustand anderen auf die eine oder andere Art zu verbergen. Ich tat das unbewußt, vielleicht weil ich durch ein geheimes Gefühl ahnte, daß man mich hindern werde, mich meinen Träumereien hinzugeben, die meine einzige Erquickung bildeten. Diese Seelenangst überkam mich fast immer abends; ich fühlte ihre Annäherung und lief durch die Hintertür auf den inneren Hof hinaus, wohin alle Schüler wegen körperlicher Bedürfnisse gehen durften; manchmal versteckte ich mich hinter einer Säule, manchmal verbarg ich mich in einem Winkel, der von einer hohen Freitreppe gebildet wurde, die aus der Mitte des Gebäudes vorsprang; manchmal lief ich die Treppe hinauf und setzte mich in eine Ecke des Flures der zweiten Etage, wohin von einer unten hängenden Laterne nur ein schwaches Licht drang. Wahrscheinlich wurde durch die kalte Luft eine Abkürzung des Anfalls befördert, und ich kehrte in meinem gewöhnlichen Zustande an meinen Platz zurück. Aber einmal flüchtete ich mich in ein unverschlossenes Klassenzimmer, als die Schuldiener es gerade reinmachten; ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ich mich unter der Bank eines Tisches versteckte. Ich glaube, dieser Anfall dauerte länger als die früheren, vielleicht deshalb, weil er sich nicht in der frischen Luft begab. Ein Schuldiener bemerkte mich und wollte mich hinausjagen; aber da er sah, daß ich keine Antwort gab, meldete er es einem Inspektor; dieser erkannte mich und benachrichtigte Upadyschewski. Beunruhigt kam der alte Mann zu mir nach oben gelaufen; aber in demselben Augenblicke kam ich wieder zu mir und kehrte nun ruhig mit ihm in mein Zimmer zurück. Vor diesem Falle hatte Upadyschewski, von froher Hoffnung erfüllt wegen meines zweimonatigen Aufenthaltes und wegen meines fleißigen Lernens, zwar meine Zerstreutheit oder Versunkenheit bemerkt, aber ihr keine besondere Bedeutung beigelegt. Nun aber fragte er mich eingehend nach allem. Ich erzählte ihm mit völliger Offenherzigkeit alles, was ich von meinem Zustande wußte; aber vieles verstand ich nicht, und an vieles erinnerte ich mich nicht. Die Nacht über hielten er selbst und mein Hüter Jewsejitsch bei mir Wache: ich schlief völlig ruhig bis zum Morgen. Ich muß bemerken, daß ich während dieser ersten Periode meiner Krankheit jede Nacht gut schlief; ich erwähne das deshalb, weil in der zweiten Periode die Krankheit einen ganz entgegengesetzten Charakter annahm. Am anderen Tage kam Dr. Benis, wie gewöhnlich, vormittags nach der Krankenstation, wohin auch ich von Upadyschewski geführt wurde. Der Arzt befragte und untersuchte mich sorgfältig, fand, daß ich etwas mager und blaß geworden sei, und daß mein Puls nicht ganz regelmäßig gehe; aber er ließ mich in die Klasse gehen, ohne mir eine Arznei zu verschreiben, verbot nur, mich mit dem Unterrichte zu sehr anzustrengen (ohne meiner Versicherung zu glauben, daß alles sehr leicht sei), und ordnete an, man solle gut auf mich achten und mich nirgends allein hingehen lassen. Er fügte hinzu, ich solle täglich zu der Zeit, wo er nach der Krankenstation komme, mich ihm vorstellen. Upadyschewski traf alle erforderlichen Maßregeln: abgesehen davon, daß er selbst fortwährend zu mir kam, beauftragte er zwei Zöglinge, mich in der unterrichtsfreien Zeit beständig im Auge zu behalten; mein Hüter Jewsejitsch mußte mich jedesmal begleiten, wenn ich nach dem hinteren Hofe ging. Im ganzen Gymnasium verbreitete sich das Gerücht: »Aksakow bekommt die Epilepsie.« Ich erschrak, obgleich ich die Bedeutung dieses Ausdrucks nicht verstand. Die beständige Aufmerksamkeit fremder Leute auf jede meiner Bewegungen war mir sehr unangenehm; den ganzen Abend über war ich mißgestimmt und traurig. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt, in meinen Träumereien zu schwelgen; aber der Gedanke, daß mehrere Augen mich beobachteten, hinderte mich jetzt daran, mich von der rauhen Wirklichkeit loszureißen, um mich wachend süßen Träumen hinzugeben; jedoch verging der Abend trotzdem gut: es stellte sich weder Seelenangst noch ein hysterischer Anfall ein. Upadyschewski und mein Hüter freuten sich; sehr zufrieden war auch Dr. Benis, als ich am anderen Morgen zu ihm nach der Krankenstation kam und Wasili Petrowitsch ihm erzählte, daß ich den ganzen gestrigen Tag, den Abend und die Nacht ruhig verbracht hätte. Obwohl der Arzt meinen Puls immer noch ebenso unregelmäßig fand, entließ er mich ohne alle medizinischen Mittel mit der Versicherung, die Sache werde in Ordnung kommen und die Natur werde den Krankheitsstoff überwinden; aber am anderen Tage zeigte es sich, daß die Sache nicht in Ordnung gekommen war, sondern nur eine andere Gestalt angenommen hatte; als ich zwischen acht und neun Uhr vormittags in der Rechenstunde saß, fühlte ich auf einmal ganz unerwartet eine starke Brustbeklemmung; nach einigen Minuten fing ich an zu schluchzen, sank um und fiel in Ohnmacht. Es entstand ein großer Aufruhr; es wurde zu Upadyschewski geschickt; zum Glück war er zu Hause Von den vier Inspektoren entfernten sich zwei, welche Dejour hatten, niemals; die übrigen durften während des Unterrichts weggehen, wie es ihren Bedürfnissen entsprach. Zum Mittagessen und Abendessen aber waren alle anwesend. (Anmerkung des Verfassers.) und ließ mich auf das Schlafzimmer bringen; dort kam ich nach einer Viertelstunde wieder zu mir, und ich kehrte sogar in die Klasse zurück. Am Abend wiederholte sich der Anfall und dauerte erheblich länger. Der gute Wasili Petrowitsch geriet in noch größere Aufregung als vorher, und mein braver Hüter Jewsejitsch war tief erschrocken. Diesmal gab mir Dr. Benis gewisse Tropfen (wahrscheinlich Nerventropfen), die ich einnehmen sollte, sobald ich Beklemmung verspürte; an Fasttagen befahl er, mir zum Mittagessen Fleischspeisen aus der Krankenstation zu verabfolgen, und statt des Schwarzbrotes Semmel; aber mich auf der Krankenstation zu lassen, davon wollte er absolut nichts wissen. Die Tropfen halfen mir anfänglich, und drei Tage lang fing ich zwar an, Beklemmung zu fühlen und zu weinen, fiel aber nicht in Ohnmacht. Dann jedoch, sei es weil meine Natur sich an die Arznei gewöhnt hatte, sei es weil die Krankheit gewachsen war, begannen die Anfälle häufiger und stärker als früher wiederzukehren.
An keine Periode meiner Kindheit erinnere ich mich mit solcher Klarheit und Deutlichkeit wie an die Zeit meines ersten Aufenthaltes auf dem Gymnasium. Ich könnte (was ich natürlich nicht tun werde) den ganzen Verlauf meines sonderbaren Leidens ohne irgendwelchen Irrtum mit allen Einzelheiten erzählen. Allen, und darunter auch mir selbst, schien es damals, daß das Auftreten der Anfälle ohne jede Ursache stattfand; aber jetzt bin ich vom Gegenteil überzeugt: sie fanden immer statt infolge einer unerwartet auftauchenden Erinnerung aus meinem vergangenen Leben, das plötzlich mit der Lebhaftigkeit und Klarheit nächtlicher Traumbilder sich meinem geistigen Blicke darbot. Manchmal gelangte ich zu solchen Visionen mit Bewußtsein und stufenweise, indem ich mich in den unerschöpflichen Behälter meines Gedächtnisses vertiefte; aber manchmal suchten sie mich auch ohne mein Wissen und Wollen heim. Es kam vor, daß, während ich an etwas ganz anderes dachte, und sogar während ich eifrig mit Lernen beschäftigt war, auf einmal der Klang einer Stimme, der wahrscheinlich einem früher von mir gehörten ähnlich war, ein Streifen Sonnenlicht am Fenster oder an der Wand, der genau ebenso ehemals mir wohlbekannte, teure Gegenstände beschienen hatte, eine Fliege, die umhersummte und gegen die Fensterscheibe stieß, was ich in meiner Kindheit oft beobachtet hatte, – es kam vor, daß so etwas in einem Augenblicke, in einer für das Bewußtsein nicht greifbaren Weise, mir die vergessene Vergangenheit zurückrief und meine angespannten Nerven erschütterte. Übrigens erklärten sich mehrere Fälle gleich damals von selbst: einmal sagte ich gerade meine Aufgabe her, als sich plötzlich eine Taube auf das Fenstersims setzte und anfing sich herumzudrehen und zu gurren; das erinnerte mich sofort an meine geliebten Tauben und an das Landleben; die Brust wurde mir eng, und es erfolgte ein Anfall. Ein andermal kam ich, um Kwaß oder Wasser zu trinken, in ein besonderes Zimmer, das das Kwaßzimmer hieß; da fiel mir ein einfacher hölzerner Tisch in die Augen, den ich wahrscheinlich schon vorher oft gesehen hatte, ohne ihn zu beachten; aber jetzt war er neu abgehobelt und erschien ungewöhnlich rein und weiß; in einem Augenblicke stand mir ein ebensolcher Tisch von Lindenholz vor der Seele, der immer von Weiße und Glätte geblitzt hatte; er hatte ehemals meiner Großmutter gehört und dann in einem Zimmer bei meiner Tante gestanden, und es wurden in ihm allerlei Kleinigkeiten aufbewahrt, die für Kinder hohen Wert haben: Päckchen mit Kürbis- und Melonenkernen, aus denen meine Tante wundervolle Körbchen und Präsentierteller fabrizierte, Säckchen mit Johannisbrot, mit Krebssteinen, und vor allen Dingen war da eine große Nadelbüchse, in der außer den Nadeln auch Angelhaken aufbewahrt wurden, die mir die Großmutter manchmal herausgegeben hatte; all dies hatte ich oft mit Entzücken, mit gespannter Neugier, kaum Atem holend betrachtet. Ich war überrascht durch die Ähnlichkeit dieser Tische; die Vergangenheit leuchtete hell vor mir auf und wurde wieder lebendig, – der Herzschlag stockte mir, und es trat ein starker Anfall ein. Ganz dasselbe widerfuhr mir beim Anblicke einer Katze, die, zu einem Klümpchen zusammengerollt, im Sonnenschein schlief und mich an meine geliebte Katze auf dem Lande erinnerte. Ich glaube, diese Beispiele werden genügen, um für alle übrigen Fälle die Annahme ähnlicher Ursachen zu rechtfertigen.
Mein Zustand verschlimmerte sich immer mehr. Die Anfälle traten häufiger auf und dauerten länger; ich verlor den Appetit, wurde von Tag zu Tag blasser und magerer, und nur der Schlaf stärkte und erquickte mich. Der achtsame Wasili Petrowitsch merkte, daß mir das frühe Aufstehen schädlich war, versuchte es einmal damit, mich vor acht Uhr nicht zu wecken, und sah, daß ich mich an jenem Tage weit besser fühlte. Mein Hüter Jewsejitsch pflegte mich mit väterlicher Zärtlichkeit. Kamaschew versuchte ein paarmal, mit mir im Tone strenger Ermahnung zu reden, und drohte mir sogar mit Bestrafung, wenn ich mich nicht zusammennehmen würde, wie sich das für einen wohlerzogenen Knaben gezieme. Meine Krankheit nannte er Verzärtelung, Grillenfängerei, ein schlechtes Beispiel für die andern. Schließlich gab er den strikten Befehl, daß ich nach der Krankenstation gebracht werden solle; dies wünschten alle und ich selbst, nur Dr. Benis war dagegen; aber jetzt mußte er sich fügen, und so kam ich denn ins Lazarett.
Meine Mutter hatte, als sie zum letzten Male aus Kasan abfuhr, meinen Hüter Jewsejitsch vor dem Heiligenbilde schwören lassen, daß er sie benachrichtigen werde, wenn ich krank werden sollte. Es drängte ihn schon lange, sein Versprechen zu erfüllen, und er teilte diese seine Absicht Upadyschewski mit; aber dieser hielt ihn beständig davon zurück; jetzt indessen beschloß Jewsejitsch zu handeln, ohne jemand zu fragen: einer seiner Kollegen, der des Schreibens kundig war, schrieb ihm einen Brief, in dem er ohne alle Vorsicht und sogar nicht wahrheitsgemäß mitteilte, daß der junge Herr an Epilepsie leide und nach der Krankenstation gebracht sei. Man kann sich vorstellen, was für ein Donnerschlag dieser Brief für meinen Vater und für meine Mutter war. Der Brief war ziemlich lange unterwegs gewesen und gelangte nach dem Gute zu einer Zeit, wo sich die Wege dort in einem entsetzlichen Zustande befanden, von dem man sich in der Gegend von Moskau gar keine Vorstellung machen kann. Der Weg gab bei jedem Schritte nach, und jede Vertiefung war mit Matsch angefüllt, d. h. mit Schnee, der ganz mit Wasser durchtränkt war; zu fahren war beinah ein Ding der Unmöglichkeit. Aber meine Mutter ließ sich durch nichts zurückhalten; sie fuhr gleich an demselben Tage nach Kasan ab, mit ihrer Parascha und ihrem jungen Diener Fjodor; sie fuhr Tag und Nacht mit gewechselten, unbeschlagenen Auf Landwegen sind bei tiefem Schnee beschlagene Pferde in dieser Jahreszeit nicht zu gebrauchen. (Anmerkung des Verfassers.) Bauerpferden, in einfachen, einspännigen Bauerschlitten; es waren im ganzen vier Schlitten; in dreien saß je eine Person ohne alles Gepäck, das sämtlich auf den vierten Schlitten geladen war. Nur auf diese Art war es einigermaßen möglich, Schritt für Schritt vorwärts zu kommen, und zwar unter Benutzung der Nachtfröste, die diesmal zum Glück bis Mitte April andauerten. In zehntägiger Fahrt gelangte meine Mutter bis zu dem großen Dorfe Mursicha an der Kama; hier ging die große Poststraße vorbei, die fester angelegt war, so daß es eher möglich war auf ihr zu fahren; aber dafür mußte man von Mursicha aus über die Kama setzen, um nach dem Dorfe Schuran zu kommen, das, wenn ich nicht irre, ungefähr achtzig Werst von Kasan entfernt ist. Die Kama war noch nicht aufgegangen, aber angeschwollen und bläulich geworden; tags zuvor waren die Postsachen auf den Armen herübergetragen worden; aber in der Nacht hatte es geregnet, und niemand ließ sich bereit finden, meine Mutter und ihre Begleiter auf die andere Seite hinüberzuschaffen. Meine Mutter sah sich genötigt, in Mursicha zu übernachten; ängstlich darauf bedacht, jede Minute der Verzögerung zu vermeiden, ging sie selbst in dem Dorfe von Haus zu Haus und bat gute Leute, ihr zu helfen, erzählte ihr Leid und bot ihnen zur Belohnung alles, was sie hatte. Wirklich fanden sich brave, beherzte Männer, die für das Mutterherz Verständnis hatten und ihr versprachen, wenn der Regen in der Nacht aufhöre und es am Morgen auch nur ein wenig friere, würden sie sie glücklich nach dem jenseitigen Ufer bringen und nehmen, was sie ihnen für ihre Mühe geben wolle. Bis Tagesanbruch betete meine Mutter in dem Bauernhause, in dem sie die Nacht zubrachte, vor dem in der Ecke befindlichen Heiligenbilde kniend. Das warme mütterliche Gebet wurde erhört: der Wind verscheuchte die Wolken, und gegen Morgen machte die Kälte den Weg trocken und überzog die Lachen mit einer dünnen Eisschicht. Bei Tagesanbruch erschienen sechs tüchtige Männer, ihrem Berufe nach Fischer, an der Kama aufgewachsen und gewohnt, mit diesem Flusse in jeder seiner Gestalten umzugehen. Jeder von ihnen hatte eine Stange oder einen Bootshaken; sie banden sich jeder ein leichtes Stück Gepäck auf den Rücken, bekreuzten sich vor dem Kreuz auf der Kirche, faßten die beiden Frauen, welche Männerstiefel angezogen hatten, unter die Arme, gaben dem Diener Fjodor eine Stange und beauftragten ihn, den Tschuman zu ziehen, das ist ein breites Stück Borke, das vorn in die Höhe gebogen und an einen Strick gebunden ist; dieser Tschuman wurde für den Fall mitgenommen, daß die Dame etwa müde werden sollte. So setzten sie sich in Marsch, indem sie den behendesten unter ihnen vorausgehen ließen, um den Weg abzutasten. Der Weg führte schräg hinüber, und man hatte etwa drei Werst zu gehen. Der Übergang über den gewaltigen Fluß zu solcher Jahreszeit ist so schrecklich, daß nur jemand, der an dergleichen gewöhnt ist, ihn bewerkstelligen kann, ohne den Mut und die Geistesgegenwart zu verlieren. Fjodor und Parascha heulten einfach, sagten der Welt und allen ihren Angehörigen Lebewohl und mußten an einigen Stellen mit Gewalt zum Weitergehen gezwungen werden; aber meine Mutter wurde mit jedem Schritte mutiger und sogar heiterer. Ihre Geleitsleute blickten sie an und nickten freundlich mit den Köpfen. Man mußte offene Stellen umgehen, Spalten mittels der zusammengelegten Stangen überschreiten; meine Mutter wollte sich nirgends auf den Tschuman sehen, und erst als sich der Weg dem gegenüberliegenden Ufer genähert hatte und in seichter Gegend neben ihm herging und alle Gefahr vorbei war, erst da spürte sie Ermüdung. Sogleich wurde auf den Tschuman eine Pelzdecke gebreitet, Kissen darauf gelegt, und meine Mutter legte sich darauf wie auf ein Bett und verlor fast das Bewusstsein; in diesem Zustande zog man sie bis zur Poststation in Schuran. Meine Mutter wollte ihren Geleitsmännern hundert Rubel geben, d. h. die Hälfte ihres baren Geldes; aber die ehrlichen Leute lehnten eine so hohe Entlohnung ab; sie nahmen nur fünf Rubel pro Mann an. Mit Erstaunen hörten sie die heißen Danksagungen und Segenswünsche meiner Mutter und sagten ihr beim Abschiede: »Gott gebe Ihnen, daß Sie glücklich hinkommen!« Dann machten sie sich unverzüglich auf den Heimweg; denn sie durften sich nicht aufhalten: am andern Tage ging der Fluß auf. Alles dies erzählte mir Parascha eingehend. Von Schuran fuhr meine Mutter in zwei Tagen nach Kasan, stieg in einem Gasthause ab und war schon eine halbe Stunde darauf im Gymnasium.
Ich kehre nun in meiner Erzählung wieder zurück. Auf der Krankenstation wurde ich sehr gut untergebracht; ich erhielt ein besonderes kleines Zimmer, das für Schwerkranke bestimmt war, die augenblicklich nicht vorhanden waren; dort schlief mein Hüter Jewsejitsch mit mir, der für diesen Zweck zum Krankenwärter gemacht worden war. Der Arzt oder Unterarzt (ich weiß das nicht genau) Andrei Iwanowitsch Ritter wohnte neben meinem Zimmer. Er war ein großgewachsener, gesund aussehender, hübscher, heiterer junger Mensch; zu Hause war er übrigens nur vormittags, wo er auf Dr. Benis wartete; dann ging er sofort auf Praxis, die er in Kaufmannsfamilien hatte; er war ein arger Herumtreiber und kam nicht selten erst spät und in betrunkenem Zustande nach Hause. Ich wundere mich, daß der Oberinspektor mit ihm Geduld hatte; indes kümmerte dieser sich weniger um die Kranken als um die Gesunden, und auf der Krankenstation hatte Upadyschewski mehr zu bedeuten. Ich habe vollständig den Vor- und Familiennamen des guten alten Mannes vergessen, der damals der Inspektor der Krankenstation war, obgleich ich sehr gut im Gedächtnis habe, wie fürsorglich und freundlich er gegen mich war. Upadyschewski sorgte sogleich dafür, daß ich keine Langeweile hatte, und versah mich mit Büchern: der »Kinderschule« in mehreren Banden, der »Entdeckung Amerikas« und der »Eroberung von Mexiko«. Wie freute ich mich über die Stille, die Ruhe und die Bücher! Der Schlafrock statt der Uniform, die völlige Freiheit im Gebrauche der Zeit, das Fehlen der Glocke und die Lektüre, diese Dinge waren mir nützlicher als alle Arzneien und als die nahrhafte Kost. Kolumbus und Pizarro erweckten mein Interesse und der unglückliche Montezuma meine ganze Teilnahme. Nachdem ich in einigen Tagen die »Entdeckung Amerikas« und die »Eroberung von Mexiko« durchgelesen hatte, machte ich mich auch an die »Kinderschule« heran. Bei dieser Lektüre trat mir ein Umstand entgegen, der mich in großes Erstaunen versetzte, und den ich mir erst in späterer Zeit einigermaßen erklärte. Beim Lesen, ich besinne mich nicht welches Bandes, kam ich an das Märchen »Die Schöne und das Tier«; gleich von den ersten Zeilen an kam es mir bekannt vor, und je weiter ich las, um so bekannter; schließlich überzeugte ich mich, daß dies ein Märchen war, das ich unter dem Titel »Aljonkas Blümchen« genau kannte, da ich es auf dem Lande Dutzende von Malen von unserer Schaffnerin Pelageja gehört hatte. Diese Schaffnerin Pelageja war in ihrer Art eine merkwürdige Frau: in sehr jungen Jahren war sie mit ihrem Vater ihrer früheren Herrschaft, der Familie Alakajew, weggelaufen und nach Astrachan gekommen, wo sie mehr als zwanzig Jahre lebte; ihr Vater starb bald, sie verheiratete sich, wurde Witwe, vermietete sich in Kaufmannshäusern, darunter auch bei Persern, bekam Heimweh, erfuhr irgendwie, daß sie einer andern Herrschaft zugefallen sei, nämlich meinem Großvater, einem strengen, aber gerechten und guten Herrn, und erschien ein Jahr vor seinem Tode als Deserteurin in Aksakowo. Mein Großvater nahm sie, in Anerkennung dieser freiwilligen Rückkehr, sehr gnädig auf, und da sie ein geschicktes Frauenzimmer war und sich auf alles mögliche vortrefflich verstand, so fand er Gefallen an ihr und machte sie zur Schaffnerin. Diese Stellung hatte sie auch in Astrachan bekleidet. Pelageja brachte außer ihrer Tüchtigkeit im Hauswesen auch ein ungewöhnliches Talent im Erzählen von Märchen mit, deren sie eine unendliche Menge kannte. Offenbar hatten die Orientalen in Astrachan auch unter den Russen eine besondere Leidenschaft zum Anhören und Erzählen von Märchen verbreitet. In Pelagejas reichem Märcheninventar befanden sich, neben allen möglichen russischen Märchen, auch eine Menge orientalischer und darunter mehrere aus »Tausendundeiner Nacht«. Der Großvater hatte seine Freude an diesem Märchenschatze, und da er schon zu kränkeln und schlecht zu schlafen anfing, so wurde Pelageja, die auch die wertvolle Eigenschaft besaß, ganze Nächte durchwachen zu können, ein rechter Trost für den kranken alten Mann. Von dieser Pelageja hatte ich an den langen Winterabenden eine Menge von Märchen gehört. Das Bild der gesunden, frischen, wohlbeleibten Märchenerzählerin, die mit der Spindel in der Hand am Spinnrocken saß, hat sich meinem Gedächtnisse unauslöschlich eingeprägt, und wenn ich ein Maler wäre, so könnte ich sie augenblicklich malen, wie sie leibte und lebte. Die Erzählung »Die Schöne und das Tier« oder »Aljonkas Blümchen« sollte mich in der Folge noch einmal in Erstaunen versetzen. Nach einer Reihe von Jahren hörte und sah ich im Kasaner Theater die Oper »Zemira und Azor«: es war wieder »Aljonkas Blümchen«, sowohl im Gange des Stückes als in den Einzelheiten.
Indessen trotz der interessanten Lektüre, trotz der vergnüglichen, durch nichts gestörten Gespräche mit Jewsejitsch über das Leben auf dem Lande, über Angeln, Habichte und Tauben, trotz des Entferntseins von dem widerwärtigen Schullärm und den Neckereien der Kameraden, trotz der Menge von Pillen, Pulvern und Mixturen, die ich hinterschluckte, wollte meine Krankheit, nachdem sie anfänglich sozusagen vor der ärztlichen Behandlung und vor der Ruhe auf der Krankenstation zurückgewichen war, sich dennoch nicht bessern, und die Anfälle wiederholten sich mehrere Male an jedem Tage; aber sie ängstigten mich nicht besonders, und im Vergleich mit meinem früheren Zustande war ich mit meinem jetzigen sehr zufrieden. Die Krankenstation war in der dritten Etage untergebracht, mit den Fenstern nach dem Hofe. Das Gymnasialgebäude (die jetzige Universität) stand auf einem Berge; der Blick von dort war prachtvoll: die ganze untere Hälfte der Stadt mit der Vorstadt Sukonnaja und der Tatarenvorstadt, der Bulaksfluß, der gewaltige See Kaban, dessen Gewässer im Frühjahr mit den ausgetretenen Gewässern der Wolga Zusammenflossen, dieses ganze malerische Panorama breitete sich vor den Augen aus. Ich habe es sehr gut im Gedächtnis, wie sich die Dämmerung darauf lagerte, und wie die Morgenröte und die aufgehende Sonne es allmählich erhellten. Überhaupt hinterließ der Aufenthalt auf der Krankenstation bei mir für alle Zeit eine stille, tröstliche Erinnerung, obgleich mich keiner meiner Kameraden besuchte. Nur die Knäschewitsch'schen Knaben kamen einmal, denen ich jedoch damals noch nicht nahe stand, weil ich wenig mit ihnen zusammenkam: sie waren im mittleren Kursus und wohnten im »französischen Zimmer« bei dem Inspektor Meißner. Zudem war ich so sehr mit mir selbst oder, richtiger gesagt, mit meiner Vergangenheit beschäftigt, daß ich nicht die geringste Zuneigung zu ihnen empfand oder zeigte; Freundschaft schloß ich mit den Knäschewitschs erst während meines zweiten Aufenthaltes auf dem Gymnasium und namentlich auf der Universität.
Nach Hause schrieb ich mit jeder Post und versicherte jedesmal, daß ich ganz gesund sei. Plötzlich erhielt ich eines Montags keinen Brief von meiner Mutter. Ich regte mich darüber sehr auf und wurde traurig; am folgenden Montag kam wieder kein Brief, und nun packte mich das Heimweh. Vergebens setzte mir mein Hüter auseinander, die Wege seien jetzt sehr schlecht, und es sei nicht möglich von Aksakowo nach Buguruslan zu fahren (der von unserem Gute etwa fünfundzwanzig Werst entfernten Kreisstadt); ich wollte nichts hören; ich wußte und erinnerte mich recht wohl, daß jeder Jahreszeit zum Trotz allwöchentlich jemand zur Post fuhr. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich auch am dritten Termin keinen Brief erhalten hätte; aber in der Mitte der Woche, nämlich Mittwoch, den 14. April, vormittags, setzte mein guter Jewsejitsch zunächst eine Art Vorbereitung ins Werk, die darin bestand, daß er zu mir sagte: »Gewiß kommen deswegen keine Briefe, weil die Frau Mutter selbst herfährt, und vielleicht ist sie sogar schon angekommen,« und teilte mir dann mit freudestrahlendem Gesichte mit, Marja Nikolajewna sei hier, im Gymnasium; man wolle sie aber ohne Erlaubnis des Dr. Benis nicht zu mir lassen, und der Doktor werde sogleich kommen. Trotz der Vorbereitung wurde mir schlecht. Als ich wieder zu mir kam, waren meine ersten Worte: »Wo ist Mama?« Aber neben mir stand Dr. Benis und schalt Jewsejitsch aus, der doch ganz unschuldig war; denn hätte man mir von der Ankunft der Mutter auch mit noch so großer Vorsicht Mitteilung gemacht, so hätte ich eine so unerwartete freudige Nachricht doch nicht ohne starke Aufregung empfangen können, und jede Aufregung hätte eine Ohnmacht zur Folge gehabt. Der Arzt war völlig überzeugt, daß das Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn gestattet werden müsse, besonders da der letztere schon von der Ankunft derselben wisse; aber er wagte dies nicht ohne Erlaubnis des Oberinspektors oder des Direktors zu tun und schickte briefliche Anfragen an beide. Von dem Direktor kam die Erlaubnis zuerst an, und als meine Mutter schon bei mir im Zimmer war, ging von Kamaschew die Weisung ein, es solle seine Ankunft abgewartet werden. Ich unternehme es nicht, meine Gefühle beim Eintritt meiner Mutter zu schildern; ich finde dafür keine Worte. Sie war so mager geworden, daß es schwer war, sie wiederzuerkennen; aber die Freude darüber, daß sie ihr Kind nicht nur am Leben, sondern sogar in weit besserem Zustande gefunden hatte, als sie erwartet hatte (denn was hatte sich die geängstigte Phantasie der Mutter nicht alles ausgemalt!), leuchtete so hell aus ihren auch sonst stets glänzenden Augen, daß sie gesund und heiter scheinen konnte. Ich vergaß alles, was um mich vorging, umschlang meine Mutter und ließ sie eine ganze Weile nicht aus meinen Kinderarmen heraus. Ein paar Minuten darauf erschien Kamaschew. Kühl und höflich sagte er zu meiner Mutter, die bestehende Schulordnung sei um ihretwillen durchbrochen worden; niemandem von den Eltern und sonstigen Angehörigen sei es gestattet, die inneren Räume der Unterrichtsanstalt zu betreten; dazu sei ein besonderer Empfangssaal bestimmt; der Eintritt in die Krankenstation sei vollständig verboten und sei für eine so jugendliche, schöne Dame besonders unpassend. Meiner Mutter stieg das Blut in den Kopf, und hitzig, wie sie von Natur war, sagte sie zu Kamaschew viele böse Worte. Unter anderm sagte sie ihm, gewiß sei dies das einzige Gymnasium, auf dem ein so barbarisches Gesetz existiere; eine Mutter könne sich, ohne gegen den Anstand zu verstoßen, überall aufhalten, wo ihr kranker Sohn liege; sie sei hier mit Erlaubnis des Direktors, der doch sein, des Herrn Oberinspektors, unmittelbarer Vorgesetzter sei, und es bleibe ihm nichts übrig als zu gehorchen. Damit hatte meine Mutter einen wunden Punkt berührt. Kamaschew wurde blaß. Er erwiderte, der Direktor habe dies zum erstenmal erlaubt; seine Anordnung sei ausgeführt worden; wahrscheinlich werde sie nicht wiederholt werden, und er bäte sie jetzt wegzugehen. Aber Kamaschew kannte meine Mutter nicht und überhaupt nicht das Herz einer Mutter. Meine Mutter sagte ihm, sie werde dieses Zimmer nicht eher verlassen, als bis der Direktor selbst persönlich oder schriftlich ihr befehle wegzugehen; bis dahin werde sie sich nur mit Gewalt von ihrem Sohne entfernen lassen. Alles dies sagte sie in einem solchen Tone und mit solcher Energie, daß nicht daran zu zweifeln war, daß sie genau so handeln werde. Sie nahm einen Stuhl, rückte ihn an mein Bett und setzte sich, dem Oberinspektor den Rücken zudrehend, darauf. Ich weiß nicht, was dieser letztere getan hätte, wenn nicht Dr. Benis und Upadyschewski ihn gebeten hätten, mit ihnen in ein anderes Zimmer zu gehen; dort sagte, wie ich nachher von Wasili Petrowitsch erfuhr, der Doktor dem Oberinspektor mit großer Festigkeit, wenn dieser sich irgendwelches gewaltsame Verfahren erlaube, so könne er für unglückliche Folgen keine Verantwortung übernehmen und nicht einmal für das Leben des Kranken einstehen; ebenso fürchte er auch für die Mutter. Upadyschewski seinerseits flehte ihn an, die arme Frau zu schonen, die in ihrer Verzweiflung von sich selbst nicht wisse, und vor allen Dingen den kranken Knaben zu schonen; er versprach ihm, er werde meine Mutter überreden, sich in einiger Zeit zu entfernen. Kamaschew willigte nur sehr ungern ein und begab sich mit Dr. Benis zum Direktor, um diesem alles zu berichten. Upadyschewski kehrte zu meiner Mutter zurück, suchte sie zu beruhigen und sagte, daß sie zwei Stunden lang bei mir bleiben könne. Meine Mutter blieb bis zum Dunkelwerden bei mir, fast bis sechs Uhr abends. Die Szene mit Kamaschew hatte mich anfänglich sehr erschreckt, und ich begann schon die gewöhnliche Brustbeklemmung zu fühlen; aber nun war er weggegangen, und die Gegenwart meiner Mutter, ihre Liebkosungen, ihre Gespräche, ihre Freude ließen den Anfall nicht zum Ausbruch kommen. Beim Abschiede sagte mir meine Mutter mit aller Bestimmtheit, sie werde mich vollständig aus dem Gymnasium fortnehmen und aufs Land bringen. Ich setzte völliges Vertrauen auf sie. Ich hatte mich daran gewöhnt, zu denken, daß Mama alles machen könne, was sie wolle, und eine glückliche Zukunft strahlte in allen Regenbogenfarben der glücklichen Vergangenheit vor meinem geistigen Auge auf.
Aus dem Gymnasium begab sich meine Mutter geradeswegs zu Dr. Benis; er war nicht zu Hause. Sie warf sich (im buchstäblichen Sinne) seiner Frau zu Füßen und flehte sie, in Tränen ausbrechend, an, ihr ihren Sohn aus dem Gymnasium zurückzugeben. Madame Benis, die für die Empfindungen einer Mutter Verständnis hatte, nahm an ihrem Schmerze lebhaften Anteil und versicherte ihr, ihr Gatte Christian Karlowitsch werde alles tun, was in seinen Kräften stehe; sie könne sich darin für ihn verbürgen. Der Doktor kam bald nach Hause. Beide Frauen, eine jede in ihrer Art, bestürmten ihn mit Bitten; aber es bedurfte bei ihm keiner Überredung; er sagte, das sei seine eigene Ansicht, und er habe schon dem Direktor eine dahingehende Andeutung gemacht; aber unglücklicherweise sei der Oberinspektor mit ihm zusammen dagewesen, der sich dem stark widersetzt und anscheinend den Direktor auf seine Seite gebracht habe; der Direktor sei zwar ein schwacher, aber kein böser Mensch, und so brauche man die Hoffnung auf ein Gelingen noch nicht aufzugeben. Nun erzählte meine Mutter von all den ungerechten Schikanen und beständigen Verfolgungen, die der Oberinspektor gegen mich verübt habe. Dr. Benis konnte ihn selbst nicht leiden, weil er sich eine Macht anmaßte, die ihm nicht zukam; weit entfernt, daß er versucht hätte, die Gereiztheit meiner Mutter zu mildern, steigerte er sie vielmehr noch, und sie haßte Kamaschew als ihren und meinen grimmigsten Feind. Der Doktor und seine Frau benahmen sich gegen meine Mutter wie Freunde und Verwandte; sie veranlaßten sie, sich auf das Sofa zu legen und etwas zu essen, da sie in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht einmal Tee getrunken hatte, reichten ihr eine Arznei und, was die Hauptsache war, versicherten ihr, daß meine Krankheit rein nervös sei, und daß ich auf dem Lande bei meiner Familie bald gänzlich wiederhergestellt sein werde. Man beschloß einen offenen Kampf gegen den Oberinspektor. Am nächsten Tage sollte meine Mutter morgens zu dem Direktor gehen, ehe noch Kamaschew mit dem Tagesrapport zu ihm käme; sie sollte ihn um die Erlaubnis bitten, mich zweimal am Tage auf der Krankenstation besuchen zu dürfen, und ihm dann das Versprechen abnötigen, mich, wenn der Arzt das für nötig erachte, bis zur Wiedergenesung aufs Land in die elterliche Pflege zu entlassen. Dr. Benis bat sie nur, sich nicht über Kamaschew zu beschweren, von ihm nichts Schlechtes zu sagen und nichts von dessen persönlicher Abneigung gegen ihren kranken Sohn und von der Art, wie er ihn verfolgt habe, zu erwähnen. Nachdem meine Mutter Gottes Segen auf den Doktor und seine Frau herabgefleht und ihnen alles gesagt hatte, was ihr dankbares Mutterherz ihr eingab, ging sie fort, um sich in ihrem Quartier zu erholen. Und Erholung war ihr dringend nötig: eine zwölftägige Fahrt auf solchem Wege, fast ohne Schlaf und Nahrung, und ein ganzer Tag voll solcher qualvollen, seelischen Aufregungen konnten selbst einen kräftigen Mann umwerfen, und meine Mutter war eine kranke Frau. Aber Gott erweist seine Kraft und Stärke an den Schwachen, und nachdem meine Mutter einige Stunden geschlafen hatte, erwachte sie neugestärkt und mutig. Um neun Uhr vormittags saß sie bereits im Besuchszimmer des Direktors. Er kam sofort herein und begegnete ihr mit offensichtlicher Voreingenommenheit, die jedoch bald vorüberging. Die Wahrhaftigkeit ihres Kummers und die Überredungskraft ihrer Tränen fanden den Weg zu seinem Kerzen; ohne viele Schwierigkeiten zu machen, erlaubte er meiner Mutter, täglich zweimal nach der Krankenstation zu gehen und bis acht Uhr abends dazubleiben; aber die Bitte, mich aus dem Gymnasium zu entlassen, stieß auf größeren Widerstand. Vielleicht hätten auch hier die Tränen und das Flehen meiner Mutter den Sieg davongetragen; aber plötzlich trat der Oberinspektor ein, und die Szene änderte sich. Der Direktor redete nun mit lauterer Stimme und erklärte in sehr bestimmtem Tone, Staatsalumnen wegen Krankheit oder Heimwehs zu entlassen, das sei etwas Unerhörtes: im ersteren Falle liege darin das Eingeständnis, daß es mit den ärztlichen Einrichtungen und der Pflege der Kranken übel bestellt sei, und im letzteren Falle sei ein solches Verfahren geradezu lächerlich; denn Heimweh empfinde eben jeder Knabe, der bisher nur gewohnt gewesen sei, sich mit kindlichen Spielen zu beschäftigen, wenn er auf die Schule komme, und ganz besonders ein verwöhnter Knabe. Kamaschew stimmte dem Direktor sogleich bei und unterstützte dessen Ansicht durch viele sehr kluge und zugleich spöttische Reden. Er wies darauf hin, welche schädlichen Folgen eine Erziehung durch Frauen, eine Verzärtelung von seiten der Mutter und schlechte Beispiele von Respektlosigkeit, Ungehorsam, Dreistigkeit und Undank hätten. Zum Schlusse sagte er, die Regierung gebe nicht dazu das Geld für die Besoldung der Beamten und Lehrer und für den Unterhalt der Staatsalumnen aus, um sie vor Beendigung des ganzen Unterrichtskursus zu entlassen, wobei sie dann nicht in die Lage käme, sich ihrer Dienste auf wissenschaftlichem Gebiete zu bedienen; die Gymnasialleitung müsse ganz besonderen Wert auf einen Knaben legen, der nach seinen ausgezeichneten Fähigkeiten und seiner guten Führung mit der Zeit ein vortrefflicher Lehrer zu werden verspreche. Meine Mutter war empört über eine solche jesuitische Doppelzüngigkeit; sie vergaß Dr. Benis' Warnung und sprach sehr hitzig und unvorsichtig ihr Erstaunen darüber aus, daß Herr Kamaschew ihren Sohn lobe, da er doch den armen Knaben gleich von seinem Eintritt an unablässig mit allen möglichen unnützen Schikanen, unverdienten Verweisen und Spöttereien verfolgt und ihm allerlei kränkende Spitznamen wie »Heulmichel«, »Muttersöhnchen« und dergleichen mehr gegeben habe, die dann selbstverständlich von allen Schülern wiederholt worden seien. Diese ungerechte Bedrückung seitens des Herrn Oberinspektors sei auch der einzige Grund dafür, daß das gewöhnliche Heimweh eines von seiner Familie getrennten Kindes sich in eine Krankheit verwandelt habe, die traurige Folgen zu haben drohe; sie halte den Herrn Oberinspektor für ihren persönlichen Feind, der sich eine Macht anmaße, die ihm nicht zukomme, und sie trotz der Erlaubnis des Direktors habe aus der Krankenstation vertreiben wollen; Herr Kamaschew könne als parteiisch in dieser Sache nicht Richter sein. Der Direktor war einigermaßen verblüfft; aber der ergrimmte Oberinspektor erwiderte ihr, sie selbst verderbe durch ihr leidenschaftliches Wesen die ganze Sache; sie habe in seiner Abwesenheit die Schwäche eines Vorgesetzten ihres Sohnes ausgenutzt und diesen beständig nach Hause genommen; sie sei beständig ins Gymnasium gekommen, sei auf der Reise wieder umgekehrt; schließlich sei sie nach zwei Monaten wieder hergekommen; auf diese Art gebe sie dem Knaben keine Möglichkeit, sich an seine neue Lebenslage zu gewöhnen. Die Ursache seiner Krankheit sei sie selbst und nicht seine strengen Vorgesetzten, und ihre jetzige Ankunft richte großen Schaden an, da ihr Sohn, der sich schon auf dem Wege der Genesung befunden habe, heute morgen sehr krank geworden sei. Bei diesen Worten schrie meine Mutter auf und fiel in Ohnmacht. Der gutherzige Direktor erschrak gewaltig und wußte nicht, was er tun sollte. Die Ohnmacht dauerte ungefähr eine Stunde; nur mit Mühe gelang es, meine Mutter wieder zum Bewußtsein zu bringen. Ihre ersten Worte waren: »Lassen Sie mich zu meinem Sohne!« Der Direktor, der einen großen Schreck bekommen hatte und herzliches Mitleid fühlte, freute sich, daß meine Mutter wenigstens nicht gestorben war (was er sehr befürchtet hatte, wie er selbst nachher erzählte), und gab dem Oberinspektor Anweisung, meine Mutter immer auf die Krankenstation zu lassen, wohin sie sich denn auch sogleich begab. In der Krankenstation begegnete ihr der Doktor und beruhigte sie nach Möglichkeit. Er versicherte, daß meine neue Krankheit, ein Fieber, nichts zu bedeuten habe; daß dies die Folge der Erschütterung des Nervensystems sei, und daß sie sogar für meine gewöhnlichen Anfälle nützlich sein könne. Und in der Tat war der erste fieberhafte Paroxysmus sehr leicht, und obgleich er am anderen Tage sich stärker wiederholte und das Fieber in dieser Gestalt zwei Wochen dauerte, so kehrten dafür doch die hysterischen Anfälle nicht wieder. Meine Mutter brachte fast die ganzen Tage bei mir zu. Der Direktor besuchte einige Male die Krankenstation und war jedesmal, wenn er meine Mutter bei mir traf, gegen uns beide sehr freundlich: es tat ihm leid, die Blässe und Magerkeit meines Gesichtes zu sehen; auch die lebhaften Züge meiner Mutter, in denen ihr innerer Seelenzustand klar zum Ausdruck kam, flößten ihm Teilnahme ein. Als Kamaschew am anderen Tage zu mir ins Zimmer kommen wollte, ließ meine Mutter ihn nicht herein und schloß die Tür zu; und dann bat sie den Direktor, der Oberinspektor möchte nicht zu mir hereinkommen, wenn sie da sei, mit der Begründung, sie könne diesen Menschen nicht mit Gleichmut ansehen und fürchte, den Kranken durch eine ebensolche Ohnmacht zu erschrecken, wie sie ihr in der Wohnung des Herrn Direktors zugestoßen sei. Er hatte das sehr gut in der Erinnerung und erklärte sich einverstanden. Der Oberinspektor fühlte sich beleidigt und kam überhaupt nicht zu mir.
Die Ausführung des von Dr. Benis unterstützten Planes, mich vom Gymnasium wegzunehmen, war während meiner zweiten Krankheit ins Stocken geraten; nun aber wurden die dazu nötigen Schritte getan. In dem Wunsche, vorher über diese Angelegenheit Freunde um Rat zu fragen, fuhr meine Mutter zu Maxim Dmitrijewitsch Knäschewitsch; aber der energische, etwas derbe, wiewohl von Natur gutherzige Serbe billigte diesen Plan nicht. »Nein, meine gnädige Frau Marja Nikolajewna,« sagte er, »ich kann Ihnen nicht raten, Ihren Sohn wegzunehmen, ihn in Watte zu wickeln, zu verzärteln und mit Zucker zu füttern, ihn auf das Land zu bringen, damit er da mit den Bauernjungen umherläuft und zu einem Flaps heranwächst, der zu nichts zu gebrauchen ist. Was wird sich daraus für ein Mann entwickeln? Ich sage Ihnen offen: an Timofei Stepanowitschs Stelle würde ich Ihnen nicht erlauben, so zu verfahren.« Diese Worte gefielen meiner Mutter nicht; sie antwortete, es komme ihr nicht in den Sinn, ihren Sohn zu einem Flaps und Bauernschlingel zu erziehen; aber vor allen Dingen wolle sie sein Leben retten und seine Gesundheit wiederherstellen, – und sie kam nicht wieder mit Knäschewitsch zusammen. In Kasan lebte ein entfernter Verwandter meines Vaters, ein Gerichtsrat Michejew. Meine Mutter wandte sich an ihn, und obwohl er ebenfalls ihre Absicht nicht billigte und es ablehnte, zu ihrer Ausführung mitzuwirken, so erfüllte er doch ihren Wunsch und ließ ein Bittgesuch an die Gymnasialkonferenz, betreffend meine Entlassung, schreiben. In diesem Bittgesuche war gesagt, meine Mutter bitte, ihr ihren Sohn auf einige Zeit zur Wiederherstellung seiner Gesundheit zurückzugeben; sie verpflichte sich, sobald diese sich bessere, mich von neuem als Staatsalumnus zu präsentieren. Gleichzeitig mit diesem Bittgesuche ging an die Konferenz ein Bericht des Dr. Benis ab. Er schrieb, er halte es für durchaus notwendig, den Zögling Aksakow in das Elternhaus, nämlich auf das Land, zurückzuschicken; meine Krankheit sei von der Art, daß einzig und allein die Landluft und das Leben in der Heimat, im Schoße der Familie, sie besiegen könnten; die medizinischen Mittel auf der Krankenstation seien gegen diese Krankheit machtlos; meine Anfälle drohten in Epilepsie überzugehen, die mit Apoplexie oder mit Schädigung der geistigen Fähigkeiten enden könne. Ich kann nicht sagen, inwieweit dies wahr war; aber der Doktor begnügte sich damit noch nicht: er behauptete, ich hätte eine Verdickung der Kniegelenke und eine Krümmung der Beinknochen; auch aus diesem Grunde sei körperliche Bewegung in freier Luft notwendig, sowie andauernder Gebrauch eines Dekokts (ich kann mich nicht erinnern, was für eines Dekokts); er beantragte, mich mit diesem aus der staatlichen Apotheke zu versehen. Dieses Letzte war wohl alles unwahr, ich hatte allerdings wirklich sehr dicke Knie; aber das kommt bei Kindern häufig vor und geht von selbst vorüber. Nichtsdestoweniger wurden solche belanglosen äußerlichen Symptome in der Folge sehr beachtenswert gefunden. Nun begann die Verhandlung in der Konferenz, an der unter dem Vorsitze des Direktors der Oberinspektor und die drei ersten Oberlehrer teilnahmen. Kamaschew, von dem bisher immer alles abgehangen hatte, bot seinen ganzen Einfluß auf, und die Lehrer traten auf seine Seite. Der Direktor schwankte. Man wollte den Dr. Benis anweisen, den Inspektor des Medizinalkollegiums zu einem Konsilium einzuladen und es noch einmal bei mir mit arzneilichen Mitteln zu versuchen; aber Dr. Benis erklärte, er werde dieser Anweisung nicht nachkommen und rate der Konferenz, mich möglichst bald zu entlassen, da nach dem Verschwinden des Fiebers sich sogleich wieder Symptome einer Wiederkehr der früheren Anfälle gezeigt hätten, was auch vollkommen richtig war. Als meine arme Mutter sah, daß die Sache nicht gut ging, geriet sie vollständig in Verzweiflung. Schließlich riet Dr. Benis ihr, den Direktor zu bitten, er möchte anordnen, daß der Gymnasialarzt im Verein mit anderen, unbeteiligten Ärzten mich in seiner Gegenwart untersuchen solle, und möchte sich dann ihrer Meinung anschließen. Meine Mutter begab sich zu dem Direktor, um ihm diese Bitte vorzutragen; aber in dem Wunsche, der ermüdenden Bitten und Tränen überhoben zu sein, ließ dieser heraussagen, er könne sie heute schlechterdings nicht empfangen und bäte sie, zu einer anderen Zeit wiederzukommen; da dies jedoch nicht die erste derartige Abweisung war, so hatte meine Mutter schon einen Brief bereitgemacht, in dem sie schrieb, dies sei ihr letzter Besuch; wenn er sie nicht empfange, so werde sie nicht eher aus seinem Wartezimmer fortgehen, als bis man sie wegjage; und er werde gewiß nicht so grausam gegen eine unglückliche Mutter verfahren. Es war nichts zu machen. Der Direktor kam in das Besuchszimmer und konnte dem Ausdruck tiefer Bekümmernis, ja Verzweiflung wieder nicht standhalten. Er gab ihr sein Ehrenwort darauf, alles zu tun, worum sie gebeten hatte; und er hat sein Wort gehalten. Gleich am anderen Tage kam ein Beschluß der Gymnasialkonferenz zustande, der vollständig mit Dr. Benis' Wunsche und der gestrigen Bitte meiner Mutter übereinstimmte, was übrigens niemand außer dem Direktor selbst wußte; alle hielten vielmehr die Heranziehung der fremden Ärzte für eine Kränkung des Dr. Benis und waren überzeugt, daß die Ärzte anderer Meinung sein würden als er. Eingeladen wurden der Stadtphysikus und eines der Mitglieder des Medizinalkollegiums. Aber Dr. Benis, der ihrer Zustimmung zu seiner Meinung im voraus sicher war, erwartete ruhig die weitere Entwickelung; durch seine Zuversichtlichkeit ließ sich meine Mutter einigermaßen beruhigen, die ihrerseits mich zu beruhigen suchte. Sie erzählte mir mit der größten Ausführlichkeit alle Schritte, die sie unternommen, und all die Unterredungen, die sie gehabt hatte, und versicherte mir, daß sie trotz aller Hindernisse die Hoffnung auf ein gutes Gelingen nicht aufgegeben habe; aber ich gab mich nur zeitweilig und nicht auf lange dieser Hoffnung hin: die Befreiung aus dem steinernen Kerker, wie ich das Gymnasium nannte, und die Rückkehr zur Familie, aufs Land, das erschien mir als ein unerreichbares Glück. Die Korrespondenz mit den Behörden über die Abordnung der Ärzte zog sich etwas lange hin, und auf das dringende Verlangen des Oberinspektors befahl der Direktor, mich aus der Krankenstation zu entlassen, weil mein Fieber völlig verschwunden war. Dr. Benis mußte sich fügen. Ich zog wieder in das adlige Zimmer zu Upadyschewski und fand mein Bett von niemand besetzt. Nach dem ziemlich lange dauernden Aufenthalt in der Freiheit, im stillen, ruhigen Krankenzimmer, waren mir die ganze Tagesordnung und die geräuschvolle Lebensweise unter meinen Mitschülern noch widerwärtiger als vorher. Zudem erschien mir diese Übersiedelung als ein böses Vorzeichen, aus dem zu ersehen sei, daß man mich nicht entlassen wolle. Meine Mutter besuchte mich täglich, aber immer nur auf kurze Zeit, und zwar in dem allgemeinen Empfangssaal. All dies zusammen lastete wieder wie ein schwerer Druck auf meiner Seele, und meine Anfälle stellten sich wieder in ihrer früheren Stärke ein, als wenn sie gar keine Unterbrechung erlitten hätten. Aber Gott sei Dank, dieser qualvolle Zustand dauerte nicht lange. Genau nach einer Woche, als die Zöglinge nach dem Abendessen in die Schlafstuben hinuntergegangen waren und angefangen hatten sich auszuziehen, schob mir Jewsejitsch ein Briefchen von meiner Mutter in die Hand und sagte: »Lesen Sie es so, daß es niemand sieht!« Meine Mutter schrieb mir, ich solle am nächsten Tage morgens nicht aus dem Bette aufstehen, sondern zu Wasili Petrowitsch sagen, die Beine und namentlich die Knie täten mir weh, und ihn bitten, mich auf die Krankenstation ziehen zu lassen. Das Billett sollte ich verbrennen, was ich denn auch sogleich tat. Die Lüge war mir bis dahin völlig unbekannt. Meine Mutter pflegte dafür besonders streng zu strafen, und ich war über eine solche Weisung sehr erstaunt. Obgleich mir eine dunkle Vermutung durch den Kopf ging, daß diese Lüge mir zur Befreiung aus dem Gymnasium verhelfen solle, konnte ich doch lange Zeit nicht einschlafen vor dem quälenden Gedanken, daß ich morgen eine Unwahrheit sagen solle, deren ich von Wasili Petrowitsch und dem Doktor sogleich überführt werden würde. Am anderen Tage sagte ich meinem Hüter Jewsejitsch, als er mich weckte, die Beine täten mir weh, und ich möchte wieder auf die Krankenstation ziehen. Ein leises Lächeln spielte um seinen Mund, und er ging, um es zu melden, zu Upadyschewski, der zu meiner Verwunderung keinerlei Aufheben davon machte, sondern ganz gleichmütig sagte: »Nun gut, dann mag er liegen bleiben; ich will nur erst die Kinder nach oben bringen; dann werde ich ihn holen und auf die Krankenstation bringen.« Aber meine Kameraden ließen mich nicht in Ruhe, und viele von ihnen zogen mir die Bettdecke vom Kopfe, in die ich mich absichtlich eingehüllt hatte, und fragten mich: »Warum stehst du denn nicht auf?« Verlegen und errötend war ich genötigt noch mehrere Male zu lügen. Sie erwiderten mir lachend: »Schwindel! Du bist bloß zu faul zum Lernen; auf der Krankenstation hat es dir gefallen!« Die lärmende Knabenschar ordnete sich in den Zimmern zum Zuge und ging nach oben. Upadyschewski kam zurück, und ohne mich nach meiner Krankheit zu fragen, brachte er mich nach der Krankenstation und übergab mich persönlich dem Unterarzt Ritter und dem Inspektor der Krankenstation. Man quartierte mich in dem früheren Zimmer ein. Um neun Uhr kam Dr. Benis, begann, mich zu untersuchen, und kam mir mit der Frage zuvor: »Gewiß tun Ihnen die Beine weh? Das hatte ich erwartet!« und indem er dem Unterärzte und dem Inspektor meine Knie zeigte, fügte er hinzu: »Sehen Sie nur, wie sie in der einen Woche geschwollen sind, und wie die Hitze darin gestiegen ist!« Meine Knie befanden sich ganz und gar in ihrem früheren Zustande; Hitze verspürte ich nicht, und ich bemerkte mit Erstaunen, daß sich alle zum Lügen verschworen zu haben schienen. Noch mehr setzte mich meine Mutter in Erstaunen, die bald nach Dr. Benis kam und ohne alle Erregung mit ihm und den anderen über meine neue, noch nicht dagewesene Krankheit sprach. Als wir unter vier Augen geblieben waren, sah ich sie verwundert an und fragte: »Mama, was hat das zu bedeuten?« Sie umarmte mich und erwiderte: »Was sollen wir machen, liebes Kind? Es geht nicht anders; Dr. Benis hat es so angeordnet. In diesen Tagen werden dich noch andere Ärzte untersuchen, und du mußt ihnen sagen, die Beine täten dir weh. Christian Karlowitsch versichert, daraufhin werde man dich vom Gymnasium entlassen.« Ein Hoffnungsstrahl erhellte meine Seele, wiewohl ich keine besondere Veranlassung sah, darauf zu vertrauen. Zwei Tage darauf, am Abend, sagte mir meine Mutter, morgen würde ich untersucht werden, wiederholte mir noch einmal alles, was ich über die Krankheit meiner Beine sagen sollte, und überzeugte sich, daß ich dreist und ohne zu stocken antwortete. Am folgenden Tage, um elf Uhr, traten zu mir ins Zimmer: der Direktor, der Oberinspektor, Dr. Benis mit zwei mir unbekannten Ärzten, die drei der Konferenz angehörigen Lehrer und Upadyschewski. Mein kleines Zimmer war ganz voller Menschen, allen wurden Stühle gebracht, und alle setzten sich feierlich um mein Bett herum. Ich war so verlegen, daß mir sogleich übel zu werden anfing; indes erholte ich mich bald wieder ohne ein Arzneimittel und hörte, wie Dr. Benis den anderen Ärzten meine Krankheitsgeschichte vortrug, manchmal auf Lateinisch, aber größtenteils auf Russisch; in vielen Punkten berief er sich auf Upadyschewski, der auch sofort befragt wurde. Auch mein Hüter Jewsejitsch wurde herbeigerufen, und es wurden ihm mehrere Fragen über meinen Gesundheitszustand vor meinem Eintritt ins Gymnasium vorgelegt. Auch mich selbst fragten sie sehr viel; die Ärzte traten oft an mich heran, betasteten meine Brust und meinen Bauch, fühlten mir den Puls und besahen meine Zunge; als die Knie und die Beinknochen an die Reihe kamen, umringten sie mich alle drei und begannen auf einmal alle drei auf die angeblich kranken Stellen mit den Fingern zu tippen und sehr ernst und eifrig zu reden. Ich erinnere mich, daß häufig die Ausdrücke »Lymphe, Chylus, Skorbut« vorkamen. Endlich nahm diese lästige Untersuchung, die mich sehr müde machte, ein Ende; sie hatte mindestens eine Stunde gedauert. Als alle weggegangen waren, schlief ich sofort ein und sah beim Erwachen meine Mutter vor mir sitzen; auf dem Tische stand das kalt gewordene Kranken-Mittagessen. Meine Mutter hoffte zwar, wußte aber noch nichts Bestimmtes. Sie begab sich unverzüglich zu Dr. Benis und kam etwa zwei Stunden darauf mit freudestrahlendem Gesichte wieder zu mir: die Ärzte hatten sich unmittelbar von mir in die Gymnasialkonferenz begeben, wo sie ein gemeinschaftliches Untersuchungsprotokoll abgefaßt und unterschrieben hatten, in welchem es hieß, daß sie in völliger Übereinstimmung mit der Ansicht des Dr. Benis es für notwendig erachteten, den Staatsalumnus Aksakow in die elterliche Obhut auf das Land zurückzugeben; es erscheine angezeigt, zu dem Dekokt, das dem Kranken bereits verschrieben sei, noch die und die Medikamente hinzuzufügen und für später kräftigende kalte Wannenbäder zu verordnen. Der Direktor hatte dem entschieden zugestimmt; die drei Lehrer waren seinem Beispiele gefolgt; aber der Oberinspektor war bei seiner Ansicht verblieben und hatte das Protokoll Eine Abschrift dieses Aktenstückes wurde lange bei uns aufbewahrt. (Anmerkung des Verfassers.) nicht unterschrieben; übrigens hatte das auf den Gang der Sache keinen Einfluß.
So hatte sich also das ersehnte Ereignis vollzogen, das so lange als ein unerfüllbarer Traum erschienen war! Meine Mutter strahlte vor Glückseligkeit; sie weinte, lachte, umarmte alle, besonders Upadyschewski und Jewsejitsch, und dankte Gott. Ich war so glücklich, daß ich zeitweilig gar nicht an mein Glück glaubte, sondern es für einen schönen Traum hielt, mich vor dem Erwachen fürchtete und an meine Mutter, indem ich sie umarmte, die Frage richtete: »Ist es denn wahr?« Länger als an allen früheren Abenden saß sie diesmal bei mir, und Upadyschewski kam mehrmals herein und bat sie fortzugehen. Kamaschew veränderte sich bis zum Schlusse nicht; er beantragte in der Konferenz, von meiner Mutter für meinen fünfmonatigen Aufenthalt auf dem Gymnasium die sämtlichen Kosten einzuziehen, die mein Unterhalt und mein Unterricht verursacht hätten. Aber der Direktor stimmte diesem Antrage nicht zu, sondern wandte ein, der Zögling werde nicht völlig entlassen, sondern seinen Eltern nur bis zur Wiedergenesung zurückgegeben. Am dritten Tage nach der Untersuchung wurde meine Mutter vor die Konferenz geladen; sie mußte sich durch ihre Unterschrift verpflichten, ihren Sohn nach seiner Genesung dem Gymnasium wieder zuzuführen; dann erlaubte man ihr, mich mitzunehmen. Die Mutter kam unmittelbar aus der Konferenz zum letztenmal auf die Krankenstation; Jewsejitsch war mir behilflich, meinen früheren Anzug anzulegen, und lieferte alle dem Staate gehörigen Sachen und Bücher ab. Mit heißen Tränen der Dankbarkeit nahmen wir von Upadyschewski und dem Inspektor der Krankenstation Abschied. Meine Mutter nahm mich bei der Hand und führte mich in Begleitung Jewsejitschs vor das Portal. Ich schrie vor freudigem Erstaunen auf: vor dem Portal stand unsere Gutskutsche, bespannt mit vier Pferden unserer eigenen Zucht; auf dem Bocke saß der mir wohlbekannte Kutscher und auf dem Sattelpferde der mir noch besser bekannte Vorreiter, der mir immer Würmer zum Angeln beschafft hatte. Fjodor und Jewsejitsch halfen mir beim Einsteigen in die altmodische Kalesche; ich setzte mich neben meine Mutter, und wir fuhren nach ihrer Wohnung. Den Wagen, die Leute und die Pferde hatte mein Vater vom Gute geschickt. Trotz der Freude, von der meine Seele nicht nur erfüllt, sondern man kann sagen betäubt war, fing ich beim Abschiede von Wasili Petrowitsch dermaßen zu weinen an, daß ich auch im Wagen lange Zeit nicht aufhören konnte. Und in der Tat: die Herzensgüte dieses Mannes, seine selbstlose, zärtliche, bis zur Selbstaufopferung gehende Teilnahme für Menschen, die ihm doch eigentlich ganz fremd waren, verdienten heißen Dank; es muß noch hinzugefügt werden, daß, da er sich bereits eine Reihe von Jahren am Gymnasium befand, er notwendigerweise an derartige Vorkommnisse gewöhnt sein mußte; Herzen, die sich durch die Gewohnheit nicht abstumpfen lassen, findet man aber nicht häufig. In der Wohnung erwarteten mich die Freudentränen Paraschas und sogar der Besitzerin des Hauses, d. h. immer derselben Frau Hauptmann Aristowa, die gleichfalls an unserer Lage herzlichen Anteil nahm. (Meine Mutter war von der Poststation unmittelbar zu ihr gefahren.) Noch am Abend desselben Tages fuhren die Mutter und ich zu Dr. Benis, um ihm zu danken und Abschied von ihm zu nehmen. Auch diesem Manne muß ich gebührende Gerechtigkeit widerfahren lassen, der, ich weiß nicht warum, in der Stadt in dem Rufe eines kalten Egoisten stand, sich aber uns gegenüber so freundlich und uneigennützig benahm; nicht nur, daß er von uns auch nicht eine Kopeke Geld annahm, er lehnte sogar ein Geschenk ab, das ihm meine Mutter zur Erinnerung an Menschen anbot, die ihm so viel Dank schuldeten. Den Ärzten, die mich untersucht hatten, hatte er in unserem Namen jedem fünfundzwanzig Rubel für ihre Bemühung geschenkt, wie wenn ein Konsilium stattgefunden hätte; selbstverständlich erstattete ihm meine Mutter diesen Betrag zurück. So konnten wir ihm nur mit Worten, Tränen und Gebeten danken, und meine Mutter dankte ihm so von Herzen, so heiß, daß Dr. Benis und seine Frau ganz gerührt waren. Was mich betrifft, so war ich merkwürdigerweise nicht gerührt, und obgleich ich sehr gut wußte, daß ich meine Befreiung aus dem Gymnasium einzig und allein dem Dr. Benis zu verdanken hatte, so fing ich doch nicht an zu weinen und dankte ihm sehr lau und matt, worüber meine Mutter mir nachher starke Vorwürfe machte. Am andern Tage begaben wir uns am Vormittage in den Dom und dann zu der Muttergottes von Kasan und verrichteten unsere Dankgebete. Darauf fuhren wir zum Direktor; aber er war nicht zu Hause oder wollte uns nicht empfangen. Als wir nach Hause zurückkehrten, fanden wir dort Wasili Petrowitsch vor, der gekommen war, um uns noch einmal zu sehen und uns Lebewohl zu sagen. Er weigerte sich ebenfalls, ein Geschenk zur Erinnerung anzunehmen, und antwortete kurz und bestimmt: »Kränken Sie mich nicht, Marja Nikolajewna!« Von ihm verabschiedete ich mich ganz anders als von Dr. Benis: ich weinte furchtbar; lange konnte man mich nicht beruhigen; man fürchtete sogar eine Wiederkehr der Anfälle; aber gewisse neue Tropfen linderten meine Aufregung; ich muß bemerken, daß diese Arznei in den letzten Tagen schon zum drittenmal das Übel an der Entwicklung hinderte. Nachdem Upadyschewski fortgegangen war, aßen wir eilig ein wenig zu Mittag und machten uns dann sofort an das Einpacken. Wir fürchteten uns gewissermaßen, in Kasan zu bleiben, und jede Stunde Verzögerung erschien uns wie ein langer Tag; zum Abend war alles fertig. Es war ein warmer, ganz sommerlicher Abend, und meine Mutter und ich legten uns im Wagen schlafen. Bei Tagesanbruch wurden ohne Geräusch die Pferde angespannt, und wir fuhren, ohne daß ich geweckt worden wäre, aus Kasan fort. Als ich erwachte, schien die helle Sonne in den Wagen herein: Parascha schlief; meine Mutter aber saß neben mir und weinte Tränen der Freude und des Dankes gegen Gott; dieses Gefühl prägte sich so in ihren Augen aus, daß niemand beim Anblick ihrer Tränen traurig geworden wäre, sondern sich vielmehr gefreut hätte. Sie umarmte ihren Goldjungen, und ein Strom zärtlicher Worte und Liebkosungen bekundete ihren seelischen Zustand. Es war der neunzehnte Mai, der Geburtstag meiner lieben Schwester. Der schöne, geradezu heiße Frühlingsmorgen eines richtigen Maitages übergoß die ganze Natur mit seinem warmen Lichte. Durch die Wagenfenster blickten die grünen, jungen Kornfelder, die Wiesen und Wälder herein; ich bekam solche Lust, meine Blicke über den ganzen fernen Horizont schweifen zu lassen, daß ich bat anzuhalten, aus dem Wagen sprang und zu laufen und zu springen begann wie das mutwilligste fünfjährige Kind; erst jetzt fühlte ich mich vollständig frei. Die Mutter sah mir vom Wagen aus zu und freute sich über mich. Ich umarmte Jewsejitsch und Fjodor und begrüßte den Kutscher und den Vorreiter, der sich beeilte, mir mitzuteilen, daß, als sie aus Aksakowo weggefahren seien, die Fische schon tüchtig angefangen hätten zu beißen. Desgleichen begrüßte ich alle Pferde: Jewsejitsch nahm mich auf die Arme, hob mich in die Höhe, und ich streichelte jedes von ihnen. Es war ein prächtiger Sechserzug, dunkelbraun mit gelblichen Flecken am Maule und in den Weichen, eine Rasse, von der jetzt im Gouvernement Orenburg schon lange nichts mehr zu sehen ist; aber zwanzig Jahre lang erinnerte man sich noch an sie und redete von ihr. Es waren derb gebaute, große Pferde von unglaublicher Kraft, gute Traber, die beim Laufen nicht den Atem verloren und keine Müdigkeit kannten. Mit schweren Equipagen machten sie ihre achtzig bis neunzig Werst täglich. O Gott, wie vergnügt war ich! Es kostete Mühe, mich wieder zum Einsteigen in den Wagen zu bringen; aber ich steckte den Kopf zum Fenster hinaus und fuhr so bis zur Fütterungsstation, indem ich alles, was mir auf dem Wege vor Augen kam, mit Freudenrufen begrüßte. Endlich blitzte ein Wasserstreifen auf, – das war die Mjoscha, ein nicht sehr großer, aber tiefer und außerordentlich fischreicher Fluß; zum Übersetzen diente eine sehr schlechte Fähre an einem Seil. Wir brauchten zur Überfahrt viel Zeit: die Pferde wurden nur paarweis auf die Fähre gestellt, und der Wagen wurde nur mit großer Mühe hinübergeschafft; um ihn zu erleichtern, mußten die Koffer und andere schwere Gegenstände herausgenommen werden, und trotzdem schöpfte die Fähre Wasser. Meine Mutter und ich fuhren zu allererst nach dem andern Ufer über, das von blühendem, duftendem Gebüsch bedeckt war. Ich kannte mich selbst nicht vor Entzücken. Der haushälterische Vorreiter, ein leidenschaftlicher Angler, hatte vom Gute ein vollständig fertiges Angelgerät mit einer Angelrute mitgenommen, die unter dem Wagen an die Verbindungsstange angebunden war; diese wurde sofort losgebunden, und während die Überfahrt bewerkstelligt wurde, angelte ich schon mit Brot und fing einen Plötz. Außer der Djoma habe ich nie einen fischreicheren Fluß kennengelernt als die Mjoscha; es wimmelte in ihr nur so von Fischen, und kaum hatte man die Angel ausgeworfen, so bissen sie auch. War es ein Wunder, daß nach der Befreiung aus der Gefangenschaft im Gymnasium diese Fütterungsstation mir geradezu als eine Stätte der Seligkeit erschien? Auf dem von uns verlassenen Ufer lag ein herrschaftliches Dorf; dort hatten wir Hafer, Heu, ein Huhn, Eier und alle sonst nötigen Viktualien bekommen. Was für ein köstliches Mittagessen bereitete uns auf einem Reisedreifuß Jewsejitsch, der auch ein wenig Koch war! Der in der Pfanne gebratene Fisch bildete ebenfalls ein sehr schmackhaftes Gericht. Wir waren von Kasan schon dreißig Werst gefahren, fütterten vier Stunden lang und machten uns dann auf die Weiterreise. Gewitterwolken zogen auf, der Donner rollte, der Regen besprengte die Erde, und es war zum Fahren nicht heiß und nicht staubig; anfangs fuhren wir Schritt, aber dann einen so starken Trab, daß wir mehr als zehn Werst in der Stunde zurücklegten. Bald klärte sich der Himmel auf, und die prachtvolle Sonne trocknete die Spuren des Regens; wir legten noch vierzig Werst zurück und machten halt, um auf dem Felde zu übernachten, da wir uns an der Fütterungsstation mit allem Nötigen zum Übernachten versehen hatten. Wieder eine Menge neuer Freuden, neuer Genüsse! Die Pferde wurden ausgespannt, gekoppelt und zum Weiden auf das saftige junge Gras gelassen; ein hell flackerndes Feuer wurde angezündet, der Reisesamowar, d. i. ein großer Teekessel mit einer Zugröhre, aufgestellt, eine Lederdecke neben dem Wagen ausgebreitet, der Proviantkasten geöffnet und Tee gereicht. Wie gut er in der frischen Abendluft mundete! Nach zwei Stunden wurden die Pferde, die sich unterdes abgekühlt hatten, getränkt, die Futtersäcke mit Hafer an die Deichsel und an eingerammte Pfähle gebunden und geöffnet und die Pferde herangeführt. Meine Mutter, ich und Parascha legten uns im Wagen schlafen, und mit Genuß schlief ich ein, während ich danach hinhörte, wie die Pferde den Hafer kauten und von dem Staube, der ihnen in die Nüstern kam, schnaubten. Am anderen Morgen setzten wir etwas oberhalb des Dorfes Schuran über die Kama, die noch ausgetreten war. Ich fürchtete mich als Kind (und fürchte mich auch jetzt noch) vor großen Gewässern, und damals wehte noch dazu ein tüchtiger Wind. An der Überfahrtsstelle erschien ein großes, neues Fahrzeug, das alle Pferde und den Wagen zu einer einzigen Fahrt aufnahm; ich und Parascha mußten im Wagen bleiben; es wurden sogar die Vorhänge herabgelassen und die Jalousien zugezogen, damit ich die wogenden Wasser nicht sehen sollte; aber ich wickelte mir obendrein noch ein Tuch um den Kopf und zitterte trotzdem während der ganzen Dauer der Überfahrt vor Angst; üble Folgen stellten sich jedoch nicht ein. Der Frühlings-Anlegeplatz befand sich noch in Mursycha; im Sommer lag er einige Werst weiter unterhalb. Meine Mutter suchte in Mursycha ihre früheren Geleitsmänner auf; sie brachte allen schöne Geschenke mit, die ohne Verwunderung, aber mit Freude und Dankbarkeit angenommen wurden. Wir fuhren noch fünfzehn Werst bis zu dem Orte, wo gefüttert wurde. In dieser Weise setzten wir unsere Reise fort und gelangten am fünften Tage nach dem am Flusse Sok nur zwanzig Werst von Aksakowo gelegenen Tatarendorfe Baitugan, wo wir übernachten wollten. Der Sok ist ebenfalls sehr fischreich; aber aus Furcht vor der feuchten Abendluft ließ mich meine Mutter nicht angeln; der Vorreiter jedoch lief hinunter und brachte einige Barsche und Plötze mit. Als wir wie gewöhnlich von unserem Nachtlager aufgebrochen waren, hätten wir die Möglichkeit gehabt, im Dorfe Nekljudowo einzukehren, wo die Familien Kalpinski und Lupenewski wohnten, mit denen wir von der Großmutter her verwandt waren, und ebenso in Bachmetewka, wo unlängst ein neuer Gutsbesitzer, namens Osorgin, mit seiner jungen Frau eingezogen war; aber sowohl wir als auch sie schliefen noch, als wir vorbeifuhren. Vier Werst vor Aksakowo, gerade an der Grenze unseres Besitztums, wachte ich auf, wie wenn mich jemand geweckt hätte; als wir zwischen dem Lindenhaine und dem Gemeinsamen Haine hindurchgekommen waren und auf den Bergabhang gelangten, mußte sofort unser Aksakowo sichtbar werden, mit dem großen Teiche, der Mühle, der langen Reihe von Bauernhäusern, dem Gutshause und den Birkenhainen. Ich fragte unaufhörlich den Kutscher: »Ist das Dorf noch nicht zu sehen?« Und als er sich endlich zum Vorderfenster hinabbog und sagte: »Da liegt unser Aksakowo, wie auf der flachen Hand,« da bat ich meine Mutter so inständig, daß sie mir meine Bitte nicht abschlagen konnte und mir erlaubte, mich zum Kutscher auf den Bock zu setzen. Ich unternehme es nicht, zu schildern, was mein Herz empfand, als ich mein liebes Aksakowo wiedersah! Die menschliche Sprache hat keine Worte, um diese Gefühle auszudrücken!
Im ganzen Verlaufe meines Lebens habe ich jedesmal, wenn ich mich Aksakowo näherte, ähnliche Empfindungen durchgemacht. Anders jedoch vor einigen Jahren, als ich nach zwölfjähriger Abwesenheit, ebenfalls ziemlich früh im Jahre, mich eben diesem Aksakowo näherte; mein Herz klopfte stark vor Erwartung, und ich hoffte auf die früheren freudigen Aufregungen; ich rief mir die liebe Vergangenheit ins Gedächtnis zurück, und ein ganzer Schwarm von Erinnerungen umwirbelte mich, – aber sie wirkten auf meine Seele nicht heiter, sondern schmerzlich und qualvoll, und es wurde mir unaussprechlich beklommen und traurig zumute. Einem Zauberer vergleichbar, welcher Geister herbeigerufen hat, aber nun nicht mit ihnen fertig zu werden versteht und nicht weiß, wo er vor ihnen bleiben soll, so wußte ich nicht, wie ich meine Erinnerungen verscheuchen, wie ich die unfrohe Aufregung beruhigen sollte. Alte Schläuche können jungen Wein nicht aushalten, und ein altes Herz erträgt keine jugendlichen Gefühle … Aber damals, o Gott, wie war es damals!
Einige Male empfand ich eine Beklemmung in der Brust und war nahe daran, umzusinken; aber ich schwieg, hielt mich an dem Seitengeländer des Kutschbocks und am Kutscher fest, und die Beklemmung ging von selbst vorüber. Schnell rollte der Wagen die Berglehne hinunter, fuhr auf der schlechten Brücke über den Buguruslan, wäre beinahe in dem Moorgrunde bei Krutez stecken geblieben, wurde aber durch die kräftigen Pferde noch herausgerissen, fuhr an dem Röhricht, an dem Teiche, an dem Dorfe vorbei, – und da lag nun unser Gutshaus, und auf der Freitreppe desselben stand mein Vater mit meiner lieben Schwester. Als wir näher kamen, klatschte sie in die Händchen und rief: »Bruder Sergei sitzt auf dem Bock!« Die Tante kam herausgelaufen und führte meinen Bruder mit heraus; die Amme kam heraus mit meiner kleinen Schwester auf dem Arme! Wieviel Umarmungen und Küsse gab es da, wieviel freudige Ausrufe, wieviel Fragen und Antworten! Das ganze Hofgesinde kam zusammengelaufen, sogar die Bauern, die gerade auf dem Gutsgehöfte waren, und ein Haufe von Jungen und Mädchen. Mein Vater freute sich sehr; er hatte nicht geglaubt, daß es gelingen werde, mich vom Gymnasium loszubekommen; in der letzten Woche war keine Zeit gewesen, aus Kasan an ihn zu schreiben, und er hatte nichts von dem, was dort vorging, gewußt.