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Um die späten Nachmittagsstunden dieses Tages langten der Markgraf und Bilky an einem einsamen Wirtshause, etwa zwei Stunden vor dem Wildbad an.
»Es ist nicht nötig, daß wir bei hellem Tag in den Ort reiten, man könnt's doch nicht wissen, ob mich nicht einer kennte! Auch unser lieber Eberstein möcht' uns erspähen, das Abenddunkel ist uns günstiger«, erklärte der Markgraf.
»Wohl! so bleiben wir in aller Ruhe, es wird hier wohl irgend etwas Eßbares geben; ich fühle, als ob mir zur Not selbst Kieselsteine heute schmecken würden!« stimmte Siegfried Bilky zu.
Der Wirt, zwei Herren an seiner Tür sehend, kam eilig heraus. Schon bei der ersten Frage gab er Bescheid, ein Herr, in den Vierzigen etwa, und sein Diener, ein grauköpfiger Mann, seien vor zwei Stunden auf Wildbad zugeritten.
Was wollten sie besser? Jetzt konnte ihnen ihr Vorhaben nicht fehlgehen.
Es währte nicht lange, so standen Forellen und Wildbraten vor ihnen und dufteten so einladend, daß sie schon im voraus der hurtigen Frau ein Lob spendeten.
Inzwischen neigte sich die Sonne dem Untergange zu, und die beiden im Herrenstübchen flüsterten jetzt eifrig miteinander, so daß man nur gelegentlich einmal ein zusammenhangloses Wort verstehen mochte.
Dann wurde nach einer Weile Peitschenknall hörbar und das Schnauben von Pferden, auch aus einiger Entfernung allerlei anderes Getön wie von Wagen und Menschen.
Der Wirt lief an die Tür, die Frau folgte ihm, und die Gäste im Herrenstübchen blickten neugierig auf. Da kam von der Offenburger Straße, die hier mündete, ein großer vornehmer Reisezug daher; – eine ungeheure Kutsche mit acht Pferden bespannt – zwei Diener hinten auf – welche wie der Kutscher und die Vorreiter sämtlich in übereinstimmender Livree waren, dunkelgrün mit gelben Schnüren und grüngelben Büschen auf den Hüten.
Die Vorreiter und ein ihnen nachfolgender Herr ritten eilfertig an dem Wirtshause vorüber, dem Wildbade zu.
Langsam kam die große Kutsche durch den tiefen Sand heran.
»Werden sie bleiben? Wir würden gut verdienen!« das waren die Gedanken des Wirts und der Wirtin. –
Drinnen standen jetzt der Markgraf und Bilky am Fenster.
»Das sind Ausländer«, darin stimmten sie sofort überein, denn der Aufzug wich vielfach ab von den deutschen Moden.
»Sieh! sieh nur! Die kleine Hand! Am offenen Wagenfenster! Was machen sie denn da drinnen im Wagen?« rief der Markgraf. Eine behandschuhte Damenhand war in der Tat sichtbar geworden – dann beugte sich ein altes Männergesicht vor – nun Frauenköpfe.
Und jetzt wurde offenbar ein Zeichen gegeben; einer der hintenaufstehenden Diener sprang im Fahren herab und eine Dame, welche einen Schleier über dem Haar trug, sprach durch das Fenster zu ihm, er dann zu dem Kutscher und jetzt –
»Sie kommen, und der Knecht ist zum Mähen! und die Kathrin zum Melken!« riefen Wirt und Wirtin hinausstürzend.
Der Wagen hielt, die Diener rissen den Schlag auf. – Ein junges Mädchen sprang zuerst heraus, schlank und biegsam wie eine Weide; im schmalen, etwas blassen Gesichtchen große blaugraue Kinderaugen und einen Ausdruck von Mädchenhaftigkeit, Schrecken und Sorge, der außerordentlich anziehend war. Ihr aschblondes Haar trug sie am Hinterkopf zusammengebunden und mit einer silbernen Spange festgeheftet.
Markgraf Ludwig war wie angewurzelt und blickte auf die junge Fremde.
Eine in tiefste Trauer gekleidete Dame entstieg dann dem Wagen und drinnen sah man noch einen alten Herrn, der blaß und krank und sehr schwach aussah. Auch die jüngere Dame, anscheinend die Tochter, trug Trauerkleider.
Indes war von der andern Seite ein etwa siebenzehnjähriger, junger Herr aus dem Wagen gesprungen, eine hohe schlanke Gestalt wie das junge Mädchen und demselben auch ähnlich.
Während die ältere der beiden Damen den Wirt heranwinkte, war der Jüngling an den Wagen getreten und sprach mit dem alten Herrn. In den Gesichtern der Diener zeigte sich dabei eine ängstliche Verlegenheit.
»Laß uns hinaus, nach unseren Pferden sehen, dann können wir besser observieren, wir sind Reisende wie sie!« flüsterte Bilky.
Der Markgraf verstand die Absicht, aber er war völlig gefesselt durch den Anblick des jungen Mädchens, welches jetzt zum erstenmal so laut sprach, daß sie es verstehen konnten.
»Der Großvater will es, Mutter, so muß man es tun!« rief es bittend.
»Gut, so muß man es tun!« Das bedeuteten die Mienen der Mutter und des Sohnes.
Und jetzt ging man daran, den kranken Herrn aus dem Wagen zu heben. Aber da ergab sich, daß jede Bewegung ihm furchtbare Schmerzen machte, daß die Diener nicht wagten, recht zuzufassen, und auch vielleicht nicht verstanden, wie sie es zu machen hatten.
»Der Doktor! O, daß der Doktor nicht da ist!« rief man wiederholt. »Er allein trägt den Großvater, wohin er will!«
Mit vieler Mühe und unter dem Geschrei des Kranken bei jedem vergeblichen Versuch, hatten sie ihn von seinem Sitz gehoben, aber nun wußten sie ihn nicht aus der Wagentür zu bringen. Es war jammervoll anzusehen, wie die beiden Damen sich ängstigten und wie der Jüngling bei einem neuen Schrei des alten Herrn herzusprang, um ihn allein auf seine Arme zu nehmen, eine Absicht, für welche seine Kräfte unmöglich reichten.
Die Schwester flog zu ihm, ihm mit ihren schwachen Armen zu helfen – da – es ging das alles so schnell, daß niemand es begriff, bis die Sache vorbei war – sprang aus der Tür des Wirtshauses ein junger, kraftvoll gebauter Jägersmann, nahm mit entschlossener Miene den alten Herrn sachte, aber mit unabweislich befehlender Miene aus den Armen, die ihn umklammert hielten, ohne ihn halten zu können, und ehe man imstande war bis zwanzig zu zählen, hatte er den Kranken in das Haus getragen und von der vor ihm herlaufenden Wirtin geleitet, auf das große Gastbett gelegt, welches in der Kammer am Herrenstübchen stand.
»Das hat Er brav gemacht, mein Freund«, keuchte er matt. »Sehr brav – sehr brav! O, meine armen Glieder! Dank! Dank! Laßt mich liegen, ganz still, mir ist hier wohler.«
Die Seinen waren ihm nachgekommen. Jetzt standen sie um das Bett und um den Jäger herum, der errötend wie ein Mädchen seinen Jagdhut vom Kopfe riß.
Das war ja aber kein Jäger – das war ein Herr. Kein Zweifel. Mutter und Kinder sahen es sofort mit Bestimmtheit an allerlei an sich unbedeutenden Zeichen.
Ohne Frage, es war ein Kavalier!
Die Mutter der beiden jungen Leute faßte sich zuerst.
»Ihr habt uns sehr verpflichtet, mein Herr, und ich danke Euch die Liebestat um so mehr, als sie ohne Zweifel Eurer Herzensgüte entsprang. Wir gehen um der Leiden unseres lieben Herrn Vaters willen nach dem Wildbad und hatten die Diener und den Medikus vorausgeschickt, Quartier zu bereiten; ohne Euch wären wir übel daran gewesen, vor allem unser teurer Patient!«
Er hatte nur verlegene Mienen, Verbeugungen; sein Inkognito beengte ihn, denn eigentlich sah er nur Maria – so hatte ihr Bruder sie gerufen – und lebte sozusagen nur in dem Licht ihrer wundervollen Augen, die mit kindlicher Neugierde und tiefem Interesse auf ihn blickten.
Welche Augen! Eine ganze Welt lag darin und eine Wärme strahlte ihm daraus entgegen.
»Den Namen!« rief der Kranke.
»Vergebung! – Ich – Geroldstein – Baron Geroldstein!« stammelte Markgraf Ludwig in völliger Verwirrung einen Namen angebend, welchen er öfter schon auf Reisen geführt.
Und mit einem letzten Blick in Marias Augen, einer letzten flüchtigen Verbeugung, war er hinausgeeilt.
Draußen stand er, schwindelnd von einem nie gekannten Gefühl jubelnden Glückes, als Bilky auf ihn zulief, ihn am Arm nahm und in den Wirtsgarten führte.
»Weißt du, wer es ist, Lutz? Der Fürst Schwarzenberg ist's aus Wien, Johann Adolf, der Reichsfürst von Kaiser Leopolds Gnaden! Die Dame ist die Witwe seines Sohnes und der junge Herr sein Enkel Adam Franz, der Erbprinz! Wenn mich nicht alles täuscht, Lutz, so ist Eberstein diesem alten Herrn Fürsten Nachricht zu bringen nach Wildbad geschickt worden.«
»Eberstein? Und – sie –? Es handelte sich um dies Mädchen? Diesen Engel?« rief außer sich Markgraf Ludwig und fiel dem Freunde um den Hals.
»Was? Alle Nothelfer steht uns bei! Diese? Meinst du diese, Lutz? Das wäre! Und ein Engel sagst du?«
»Ist sie's denn nicht? Ist sie nicht das holdeste, liebreizendste Geschöpf? Du hast sie gesehen und fragst noch!« rief der Markgraf.
»Herr Gott, keine zwei Minuten!« stöhnte Bilky ganz verdutzt.
»Minuten? Einerlei! Ich habe jetzt diejenige gesehen, die ich zum Weibe will! Sie, oder keine sonst. O Friedel, wie bin ich glücklich! Wie ist sie so schön! Diese Augen! Solche gibt's nur einmal im ganzen Erdenrund!«
»Aber Durchlaucht, besinne dich! Du hast doch nur zwei Maß getrun – – – – Na, na, nur gemach, das geht schon wieder vorüber, Lutz, weißt du, so war ich just auch hin, als die Dorina von Zorn aus Straßburg in Rastatt weilte«, beruhigte Siegfried Bilky mit Überzeugung.
»Sprich keinen Unsinn, Friedel! Glaub's mir auf mein Wort, ›sie‹ muß es sein, ich fühl' es hier. Herr Gott, wie will ich den Eberstein lieben und ehren mein Leben lang, wenn er mir dies Glück ersonnen! Und sieh, Friedel, es soll schon so sein, der Himmel hat uns ja geflissentlich zu dieser Begegnung geführt!«
Graf Bilky war plötzlich ernster geworden. Er hörte mit gedankenvoller Miene seines Freundes Jubel kaum an.
»Hör', Lutz, ich möchte dir keine Täuschung bereiten. Denke doch nur, wie deine Frau Mutter das österreichische Wesen haßt –«
»Vom Kaiserhaus ist uns Unrecht widerfahren, aber was geht die Schwarzenbergs das an?«
»Just erst recht, denn dieser alte Herr ist's ja eben, welcher den Kaiser Leopold und seinen Vorgänger gleichfalls beraten hat. Was könnte diese kleine Schwarzenbergerin dem Hause Baden-Baden sein?«
»Friedel, frag' ich danach? O Gott, – aber – wird sie mich gern haben?«
Der leidenschaftlich erregte junge Fürst konnte nicht aussprechen, denn in der Hintertür des Wirtshauses erschien plötzlich mit suchenden Blicken das Geschwisterpaar und kam, die beiden gewahrend, direkt auf den Markgrafen zu.
»Mein Herr«, sagte der junge Prinz an den Markgrafen herantretend, der ihnen entgegengegangen war –
»Mein Herr – der Großvater meint –«
Doch da stockte er mit der ganzen Schüchternheit seines Alters.
»Wir wissen keinen Weg, mein Herr, Euch für Eure Hilfe zu danken, als indem wir Euch bitten, ein kleines Andenken an diese Stunde zu nehmen –.«
Markgraf Ludwig trat mit äußerster Betroffenheit einen Schritt zurück, denn er sah in der Hand der jungen Dame ein Geldtäschchen, welches sie noch vorhin am Gürtel getragen.
Sein Antlitz verriet seine Gedanken.
»O nein, nein!« lächelte die kleine Schelmin. »Es ist nur ein Souvenir – ich habe es gestickt – es hat gar keinen Wert.« Wie sie nun im Sprechen auch errötete. Genau dieselbe herablassende Freundlichkeit der Mutter war auch ihr eigen; aus den Augen strahlte dabei die harmloseste Unbefangenheit.
Des Beschenkten sichtbares Entzücken schmeichelte dem jungen Dinge.
Und jetzt beugte er das Knie und küßte die kleine Hand, welche ihm die zierliche, goldgestickte Börse reichte.
»Die Mutter hat noch eine Bitte an Euch, Herr, der Wirt sagt, Ihr reitet auf Wildbad –« begann der Jüngling wieder.
»Wir haben schon satteln lassen und können sogleich abreiten, welches wäre der Wunsch Eurer Frau Mutter, Herr? Mein Freund und ich sind zu jedem Dienste gern bereit«, versicherte der Markgraf.
»Der Großvater kann mit seinen Leiden nicht weiter und muß doch heute noch einen Herrn sprechen, welcher gekommen sein wird, ihm Wichtiges mitzuteilen. Der Medikus Dr. Braunberg, welcher im Wirtshaus ›Zum goldenen Ei‹ weilt, weiß um die Sache und soll nun jenen Herrn noch vor Nacht hierherführen, ebenso auch den Kurier für Wien. Wolltet Ihr gefällig genug sein, dies zu bestellen?«
Mit Freuden versprach Markgraf Ludwig den Botendienst, fest überzeugt, daß derselbe sein eigenes Glück betreffe und voll Zuversicht zu Graf Ebersteins Plänen.
Eine Viertelstunde später sprengte er und Bilky, schon weit von dem Wirtshause entfernt, dem Wildbad zu.