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Die Sprache des Toten

Die Frühlingsstürme jubeln und die Steppe erwacht aus ihrer Totenstarre.

Warme Föhntage locken das horchende Leben. Ströme von getrübten Schmelzwassern ergießen sich über Tundra und Steppe, lösend, reißend, nagend und befruchtend. Aus den weitgeöffneten Nachen der Gletschertore heulen die gischtweißen Fluten wie das Erbrechen eines von Sonnenspeeren getroffenen Drachens.

Die Steppe grünt.

Die Wintervögel stimmen ihre Instrumente zum Empfange der aus dem Süden heimkehrenden Vagabunden, und unter dem Antrabe der Wildherden erzittert die Steppe. Ihr Wiehern und Brüllen läßt den Jäger aufhorchen; heiß schlagen seine Pulse den wilden Jagden entgegen.

Die Sommer der Nacheiszeit müssen ebenso heiß gewesen sein, wie etwa heute in Kanada; sonst wären die Gletscher nicht zurückgeschmolzen. Diese scharfen Gegensätze hatten u. a. zur Folge, daß Tundra und Steppe sich berührten.

Vor der Höhle von Hador stehen fünf gerüstete Jäger, unter ihnen Harrar und Ruwo mit ihrem Vater Ahar. Sie wollen über »Die Zunge des bösen Weibes« nach der jenseitigen Tieftundra, um in den Mooren das wühlende Nashorn zu jagen; sein horniges Leder gibt die besten Sandalen und Wurfschlingen.

Das diluviale Nashorn ( Rhinoceros tichorhinus) – von der heutigen Wissenschaft »sibirisches Nashorn« benannt – war ein Riesentier. Es dürfte zu seiner Charakteristik genügen, darauf hinzuweisen, daß von seinen zwei Nasenhörnern das vordere, das vorn auf der Nase saß, bis 1.20 Meter lang wurde. Von diesem Großwild der Eiszeit fand man 1907 in Galizien einen Kadaver mit Laut und Weichteilen, mit Mammutresten vergesellschaftet …

Es ist daher begreiflich, wenn unsere fünf Jäger wie zur Mammutjagd ausgerüstet sind.

Unter den Eingang kommt Großmutter und spricht mit eindringlicher Stimme:

»Ahar! Gib acht auf den ›Kleinen‹!«

Das wurmt den Kleinen gewaltig.

»Komm mit, Großmutter« – entgegnet er gereizt. – »Wenn ich mich hinter dir verberge, wird das Nashorn ausreißen!«

»Spotte nur! Es ist mancher verunglückt, der sich über seine alten Erzieher lustig gemacht hat!«

»Dann müßte ich lange tot sein, Großmutter!«

»Meine Zaubersprüche haben dich bisher gerettet! Wenn ich einmal nicht mehr bin – – –«

»Dann ist das Nashorn tot, Großmutter!«

»Ahar! Hau' ihm eins, dort dem Erzschlingel!«

»Soll ich?«

Ahar hat seine Faust aufgezogen.

»Nein, laß ihn, – – – es wird nichts nützen!«

»Also fort – Hallohuh!«

Es geht über die aufgrünende Steppe der Tundra entgegen.

Ein lauer Wind lockt die ersten Blüten. Die Jäger sehen nichts von der erwachenden Frühlingspracht; die Stimmung des aufwachenden Lebens wirkt unbewußt auf ihr Blut. Sie ziehen wie junger Morgen daher. In der Nähe der »Zunge des Bösen Weibes« bleibt Ruwo stehen:

»Wenn diese nur nicht zu reifen anfängt!« lacht er übermütig.

»Still dort!« ruft Harrar plötzlich mit unterdrückter Stimme. – – »Eine Renntierherde naht!« Alle werfen sich an eine Höckerlehne … Die Tiere kommen! Ahar hat seinen Speer aufgelegt; für die Schlinge wäre es zu weit.

Schßt! –

Ein junges Ren stürzt zappelnd zusammen und wälzt sich in seinem Blute. Es wird ausgeweidet und die besten Stücke werden verpackt.

Nun geht's über das Eis, ein Jäger hinter dem andern. Vor der gefährlichsten Stelle, vor der steilen Wand, steht der voranschreitende Vater Ahar mit einem Rucke still und hebt warnend die Hand, läßt sie sofort wieder sinken und geht weiter: eine Hyäne flieht über das Eis; sie muß an der nächsten Gletscherspalte gestanden haben.

»Das gibt zu denken!« meint Harrar sinnend.

»Wieso?« fragt sein Vater – »ein Wild wird hier gestürzt sein!«

Ich sah den Aashund im letzten Herbst zweimal an derselben Stelle!«

»Hm!«

Ruwo sagt nichts – eine Ausnahme! – Seine Augen feuchten unternehmungslustig.

Jenseits der Gletscherzunge angekommen, wandern die Jäger etwa eine Stunde durch die Tundra, dem Gletscherrand entlang. Da steigt Ahar auf einen flechtenbedeckten Moränenhügel und hält Umschau. Neben ihm steht der neugierige Ruwo.

»Noch nichts!« meint der Vater. – »Wir müssen weiter!«

»Was ist das dort in der Moorniederung?«

»Wo?«

»Links am höchsten Hügel vorbei, an jenem langgezogenen Tümpel!«

»Bei allen Geistern! Du hast recht: dort scheint etwas zu wühlen – vielleicht Wasserschweine?«

»Mit halbmannslangen Hauern, Vater!«

»Du könntest recht haben, Sperber! – Gehen wir zum nächsten Hügel, aber in guter Deckung!«

Auf dem Hügel angekommen, bestätigt sich die Annahme Ruwos: ein Nashorn wühlt im Moorschlamme, daß die Schollen fliegen und der Morast hoch aufspritzt; neben dem Alten vergnügt sich ein Junges, es wälzt sich behaglich in allen Tümpeln und Lachen.

»Wir müssen uns teilen und die beiden gegen den Gletscher hin einkreisen. Die Mammutschlingen können nichts helfen, da kein fester Gegenstand Halt gewährt und das Tier samt dem Werfer davonlaufen würde. Lassen wir sie hier; ein Speerstoß ins Maul hat Erfolg.«

Der »Kleine« reckt sich:

»Gut, ich werde – – –«

»Nichts wirst du!« unterbricht ihn der Vater zornig – er darf nicht die Sorgen um seinen Liebling an den Tag legen – »den Stoß übernehme ich! Du hast mitzutreiben!«

Alle legen die schweren Schlingen ab – der »Kleine« nicht! Er tut so, als ob er sie ablegte, verbirgt sie aber unauffällig unter seinem weiten Fellüberwurf.

»Gehen wir in Abständen und bilden um das Tier einen Halbkreis!« entwickelt der Alte seinen Kriegsplan. – »Ihr treibt mir das Tier zu, falls es mir nicht gelingt, dasselbe an Ort und Stelle anzuschleichen!«

Er geht voran! Ruwo ist der zweite, Harrar der dritte; die beiden andern bilden den Schluß.

Wie der Bogen hergestellt ist, schleichen sie sich an wie Marder; jede Senkung, jede Unebenheit, jede Zwergbirke wird als Deckung ausgenützt. Die Farbe des Felles paßt sich dem Boden an, daß ein fernes Auge nicht das Geringste bemerken würde, doch brütet die Stille der Tundra möglicherweise Katastrophen, wie sie ein Kampf mit den Riesen des Diluviums mit sich bringen kann; hier ist das Menschenleben ein zitterndes Birkenblatt.

Bald muß etwas geschehen; der Kreis der Jäger hat sich so zusammengezogen, daß die Entfernung der einzelnen vom grunzenden und schmatzenden Dickhäuter zwanzig bis dreißig Mannslängen beträgt.

Ruwo ist der vorderste!

Mit trotzig verschlossenen Lippen liegt er hinter einem dichten Röhrichtbüschel und spitzt hinüber: wenn er nicht »stoßen« darf, so will er ziehen! Das hat ihm der Vater nicht verboten, und Harrar würde ihm helfen, wenn's schief gehen sollte!

Leise wickelt er den Lasso wurfgerecht.

Zwischen ihm und der überkoteten Alten liegt das Junge, mit allen Vieren die Luft bearbeitend.

»Ein scheußliches Kind!« murmelt er – »wie die Alte nur Freude haben kann an einem solchen Schmutzfink! Ob es auch eine Großmutter hat? Wie müßte erst die aussehen! – Ah! Aufgepaßt! Das Kalb liefert zwar keine Sandalen, aber das Fleisch soll so zart sein, wie der Blick eines verliebten Mädchens!«

Das Kleine hat sich erhoben und trottet langsam näher; zwischen ihm und Ruwo ist noch eine größere Lache. Wie es mit dem Vorderkörper hineinplumpst, schßt – – – – fällt Ruwos Schlinge so meisterhaft, daß er den Braten wie an der Halfter hält!

Das junge Nashorn ist so bestürzt, daß es wie verwundert aufglotzt: will ein anderes Kalb drüben mit ihm spielen? Aber wie Ruwo mit einem festen Ruck die Schlinge anzieht, fängt das Tier so kläglich zu quietschen an, daß das alte Nashorn mit einem kurzen, grunzenden Tone sich nach seinem Liebling erkundigt. Das heult und Ruwo bringt es mit aller Macht nicht von der Stelle. – – – Ein grimmiges Gurgeln, daß der Morast nach allen Seiten spritzt, und die Alte ist da! Zwei boshafte Augen glühen dem »Kleinen« aus rohen Faltenwülsten entgegen – – ein Augenblick nur! – das gewaltige Tier setzt mit gesenktem Riesenhorn zum Stoße an –! Ruwo kann nicht ausweichen – – er hört ein rasendes Schnauben – und fühlt sich in der nächsten Sekunde vom gewaltigen Hornstoße unter dem Gürtel erfaßt und hoch in die Luft geschleudert – – im Bogen landet er auf dem Rücken des ungeheuren Tieres – – – mit dem letzten Funken von Geistesgegenwart klammert er sich an die mäßigen Hautwülste. – Das Tier wendet sich, schießt vorwärts, mit seiner teuren Last auf dem Rücken! –

Rings erhebt sich das schrille Warngeschrei der Jäger, vermischt mit dem Hilferuf des unseligen Reiters – das Nashorn schreckt auf und schießt davon, das Kleine quietschend nach, die lange »Leine« nachschleppend. – Die wilde Jagd rast vorwärts – – einem großen Tümpel entgegen – – Wenn es sich dort wälzt, ist der kühne Jockey rettungslos verloren. – – Seine Haare sträuben sich, er brüllt wie ein angeschossenes Mammut – – der Tümpel ist da! – Menschenleben hangen an Strohhalmen, an flüchtigen Gedanken. – In seiner Todesverachtung läßt sich der Reiter rückwärts heruntergleiten und faßt den buschigen Schwanz des rasenden Horntieres. – – Es fährt mit ihm in den Tümpel hinein und macht eine Seitenwendung nach seinem Anhängsel herum, der »Kleine« wird klatschend auf das Wasser geschlagen, er läßt nicht los; Loslassen heißt hier Tod. – Jetzt wird es sich wälzen, Ruwo fühlt es – – wie der Blitz zieht er seinen Dolch und – – stößt ihn mit Todesverzweiflung ein-, zwei-, fünfmal in die Weichen des Hinterteils. – Das Nashorn brüllt vor Wut und wild aufrasend stöhnt es weiter, den Frechling durch den kotigen Tümpel schleppend, nein schleudernd. Wie es festen Boden fühlt, geht die Jagd wie im Wahnsinn weiter. – – Aus weiter Ferne klingt das Geschrei der Jäger; der Nachgezogene macht Sprünge wie ein Heuschreck, fliegt hierher, dorthin, und – als ihn Kraft und Atem verlassen, purzelt er wie ein geschossenes Faultier in eine ganz weiche Gegend – – an ihm vorüber rast das Kleine, und – Braten und Sandalen und Mammutschlinge fliegen über die Tundra davon …!

Bald rennen die Jäger an und heben den Halbbetäubten auf. Er scheint nicht verletzt zu sein; aber wie sieht er aus! Ein einziger Kotwickel umschließt ihn. Sie schleppen ihn in den nächsten Tümpel – tragen kann man so etwas nicht! – und legen ihn hinein. Wie das Wasser des einen Tümpels schmutzig ist, zieht man ihn zum zweiten hin und so fort, bis man wieder Haut feststellen kann, mit ihr erscheinen auch einige blaue Flecken als beredte Zeugen der bewegten Fahrt. Man legt den »Ritter« an die Sonne und umringt ihn besorgt; bisher hat er noch keinen Laut von sich gegeben; endlich öffnet er Mund und Augen:

»Habt ihr ihn?«

»Ja, wir haben ihn,« entgegnet Harrar – »aber seine Haut ist noch nicht gegerbt!«

»Wenn ihr ihn nur habt! – Wenn ich nicht gewesen wäre – –.«

»Hätten wir ein anderes Rhinozeros erlegt; nun müssen wir mit dem da zufrieden sein!«

»Wo ist es?«

»Hier! Greif dir an die Nase; dann hast du sein Horn!«

»Ah, es ist fort! – Nicht Harrar?«

»Ja, es ist fort und auch dein Spielkamerad, samt dem schönen Lasso!«

»Ich bin nicht schuld! Ich habe gehalten, was ich konnte! Warum habt ihr mir nicht geholfen? Hattet ihr Angst?«

»Ruwo! Rede jetzt nicht von solchen Dingen! Wir sind einem gewissen Hilfeschrei oder vielmehr Hilfeheulen nachgerannt, bis du deine Beute fahren ließest!«

»Ich wollte euch die Richtung angeben!«

»Wo hast du deinen Dolch?«

»Ah ja, mein Dolch! Er muß in der Nähe liegen.«

Man sucht nach allen Seiten, findet ihn aber nicht; er muß in einem Tümpel liegen. Zum Glück hat der »Kleine« einen Reservedolch bei sich.

Er richtet sich halb auf und zieht diesen Dolch; man läßt sich soeben zum Essen nieder. Während desselben wirft Ruwo verstohlene Blicke nach dem Gesichte seines Vaters; dieses bleibt unerforschlich, wie versteinert, ja grimmig. Der Kleine fühlt ein Donnerwetter in der Nähe und stellt sich leidend. Wie ein sterbender Ahne legt er sich mit halbgeschlossenen Augen zurück, blickt aber unter den Wimpern hervor nach seinem Vater hin. Da ist es mit der Kraft Ahars vorbei; er lacht heraus, daß ihm die Tränen fließen, und ein solches Lachen wirkt wie das Gähnen: ansteckend. Lange ist keiner eines Wortes fähig.

Der »Sterbende« richtet sich mit einem Ruck auf, als ob ihn eine Schlange gebissen hätte:

»Was meint ihr? Ihr seid froh, daß die Gefahr vorüber ist?«

Der Alte bringt nur unter Krämpfen einige Worte hervor:

»Auf dem – Nashorn – davon, davongeritten! – Am Schwanze – – in die Tümpel. – – Oh, meine Lenden, mein armer Magen – – –«

»Ihr seid wohl schwach begabt!« entrüstet sich der »Kleine«. – »Ihr seid erst vorgegangen, als das Viehzeug die Stifel in die Luft warf! Auf euch kann man sich verlassen!«

Vater Ahar ist einfach hin:

»Ruwo – mein Sohn – gib mir – deine Hand!« spricht er in Absätzen zwischen seinen Tränenkrämpfen. – »Gib mir deine Hand, ›Kleiner‹! In dieser heiligen Stunde vergebe ich dir allen Verdruß, den du mir während deines ganzen Lebens verursacht hast!«

»Vater!« erwidert der »Kleine« mit einem spitzbübischen Seitenblick. – – »Es kommt vielleicht die Gelegenheit, wo ich dir alle – Prügel verzeihen kann! Du bist zwar alt und weise, aber ein altes Sprichwort sagt: Alter schützt …«

Er kann den Satz nicht vollenden, im Westen erscheint eine antrabende Mammutherde. Der Boden bebt leise und die Luft erzittert weithin ob ihren gewaltigen Trompetenstößen. Des Jägers Herzblut wallt auf: stehend betrachten sie die nicht fern vorüberstürmende Herde.

»Welch ein gewaltiger Kerl voranzieht!« ruft selbst Vater Ahar bewundernd aus.

»Das wird der Alte sein!« naseweist der »Kleine« neben ihm. – »Wenn die Gefahr kommt, wird er schon zurückbleiben!«

Der Alte hat ihn nicht verstanden; die Aufmerksamkeit der andern ist zu sehr gespannt.

Eine verfehlte Jagd war bei den Eiszeitjägern kein Unglück: Fleisch und Haut sind ja im Ueberflusse vorhanden, Abenteuer sind die Hauptsache, und diese haben heute nicht gefehlt; der Nashornritt Ruwos von Hador wird durch die ganze Steppe seine Runde machen und nach hundert Jahren noch erzählt werden. – – –

Auf dem Rückwege, unmittelbar vor dem Gletscherübergange, packt Ruwo aus der Ausschmelze des Eises zwei über faustgroße, spitze Kiesel in seine Felltasche. Nach seiner Absicht befragt, schweigt er beharrlich. Wie sich die Jagdgesellschaft, einer sorglich hinter dem andern, der steilen Wand nähert, packt der »Kleine« einen der Steine aus, kniet nieder und fängt an, nach unten, gegen die Gletscherspalte zu, Stufen zu hauen.

»Was willst du dort?« fragt sein Vater.

»Harrar hat hier oft Hyänen gesehen. Ich will wissen, was es da unten Schönes gibt!«

»Bist du wahnsinnig?«

»Ja!« Er scheint vom Abenteuer etwas erzürnt zu sein, der »Kleine«.

Wie ein Schwarzspecht pickelt er weiter.

»Willst du gleich heraufkommen, oder wir gehen allein weiter!«

»Möglichst im Laufschritt!«

»Sei vernünftig!«

»Ich muß hier klopfen!«

»Soll ich befehlen, Ruwo?«

»Vater!« mischt sich Harrar in das Wortgefecht – »wenn unten in der Spalte ein furchtbares Geheimnis schlummerte!«

»Ueber hundert Mann tief muß die Spalte sein! Wer dort hinabstürzt, kommt nie mehr ans Tageslicht!« erklärt der Alte. – – »Was willst du denn, Ruwo?«

»Vogelnester ausnehmen!«

»Ich will dir helfen!« sagt Ahar entschlossen und – – löst seinen Lasso.

»Vater!« ruft Harrar aufgeregt. – »Ja, so würde es gehen, wenn du ihn mit dem Lasso hältst; dein Stand ist ja sehr günstig!«

»Also, Trotzkopf – – nimm die Schlinge um die Brust – – hier!«

»Natürlich – – das Gängelband!« murmelt der eigensinnige »Kleine«, streift sich aber die Schlaufe über die Brust und klopft weiter; er macht jetzt viel kleinere Stufen als vorher.

Atemlos gespannt verfolgen die vier das Unternehmen.

Von Westen her beleuchtet die Sonne den obern Teil der furchtbaren Spalte.

Ruwo ist unten und schlägt sich hart am Rande eine etwas weitere Vertiefung aus zum Knien.

Er beugt sich über die Spalte weit vor. – Ahar strafft den Riemen fester. Lange, wortlos schaut der »Kleine« in die Eisschlucht hinunter.

»Was siehst du?«

– – – Keine Antwort!

»Wenn's nichts ist – – –«

»Am rechten Ende der Spalte ist ein großer Granitstein eingeklemmt!« erklärt er, seine Augen beschattend.

»Die Aashunde werden diesen Stein für ein gestürztes Wild gehalten haben. – Komm' herauf!«

»Es riecht so eigentümlich!« murmelt der »Kleine« vor sich hin – – »wartet noch! Bald wird die Sonne längs der Spalte scheinen – – – Ah!«

Harrar ist totenblaß geworden!

»Ruwo! Sprich doch! Was – was – siehst du?«

Der »Kleine« richtet sich auf:

»Unten liegt eine – – Leiche! Zwischen Stein und Gletscher eingeklemmt! Ich sehe den Kopf deutlich!«

Eine Stille des Grauens ist eingetreten. Die ausgewetterten Jäger schauen mit geweiteten Augen einander an.

»Wie tief liegt der Stein?« fragt Harrar mit hochfliegendem Atem.

»Etwa – wart' einmal! – – die Tiefe ist nicht gut zu schätzen, weil die Wand glatt ist – – etwa zehn bis höchstens dreizehn Mann tief!«

»Vater!« ruft Harrar – »ich gehe nicht heim, bis ich den Toten gesehen habe!«

»Du wirst nicht viel sehen!« erwidert Ruwo, sich vorbeugend. Der Kopf sieht aus, wie ein Totenschädel. – Jetzt liegt wieder Schatten darauf – –«

Der verwegene »Kleine« löst seinen eigenen Lasso von der Lende. Das war die leichte Fangschlinge, die jeder mit sich führt, auch wenn sie mit schweren Schlingen ausziehen.

»Ruwo! Was willst du tun? – Auf keinen Fall! Ich habe hier zu wenig Stand! Du willst deinen Lasso an den meinigen knüpfen?«

»Ja!«

»Um keinen Preis! – Komm! Wir wollen zurück und jenseits des Gletschers beraten! Ich bin dabei, daß wir das Rätsel lösen, um Harrars willen!«

Ruwo steigt herauf, und wortlos schreiten die fünf zurück. Wie sie die Tundra erreichen, ist die Sonne untergegangen. Auf einem trockenen Mooshügel lassen sie sich nieder. Ahar spricht:

»Ich mache folgenden Vorschlag: Ruwo, du bist der schnellste! Du rennst nach Chohor und holst Hilfsmittel: ein starkes Stämmchen, das wir quer über die Spalte legen können; sie ist doch höchstens anderthalb Mannslängen breit. Gut wär's, wenn jemand von dort mitkäme, als Zeuge, sonst könnte man sagen – –«

Schon ist der »Kleine« davon!

Die Zurückgebliebenen sammeln trockene Wurzeln und Flechten, reiben ein Feuer an und braten die frischen Renstücke. Es ist Nacht geworden. Weithin über die Tundra leuchtet der flackernde Schein.

Gegen Mitternacht kommt Ruwo vor der Höhle von Chohor an.

»Wer bist du?« tönt ihm eine hohle Stimme entgegen.

»Ich bin Ruwo von Hador! Wir haben in der Gletscherspalte einen Toten gesehen und wollen ihn heraufholen!«

»Wozu? – Laß die Toten schlafen; sonst kommen ihre Geister über dich!«

»Ich fürchte sie nicht, Rahu! Die Geister werden uns beschützen; wir wollen dem Toten ein Grab bereiten!«

»Geht mich nichts an! Willst du essen?«

»Ja! Ich habe Hunger wie ein Löwe!«

Das war die beste Empfehlung für den schlauen »Kleinen«!

»Du sollst zu essen haben, Jäger von Hador; ich habe von deiner Tapferkeit gehört!«

»Im Essen?«

»Das Essen ist der Maßstab für die Tapferkeit; ich habe auch immer tüchtig gegessen!«

Man bringt ihm Gemsschlegel und Eberspeck; der Alte tut mit. Die ganze Sippe umsteht die beiden und schaut ihnen respektlos zu.

»Laßt ihn liegen, den Toten!« brummt der Alte zwischen den fettigen Fingern hindurch, womit er ein knochiges Beckenstück gegen seinen Rachen preßt. – »Liegt er schon lange dort?«

»Wahrscheinlich; der Kopf scheint vermodert zu sein!«

Der Alte scheint aufzuatmen.

»Man würde ihn also nicht erkennen?«

»Ausgeschlossen – – höchstens an der Bewaffnung und Kleidung. – – Aber es scheint sich alles von ihm gelöst zu haben und in die Tiefe gestürzt zu sein!«

»Auch die – Bekleidung?«

»Nein! Doch würde man ihn daran kaum erkennen; sie scheint vollständig ausgewaschen und fetzig zu sein!«

Argwöhnisch glüht das Auge Rahus nach dem Gaste hin:

»Ruwo! Einen Lebenden zu retten, würden wir alles aufbieten; für einen Toten das eigene Leben zu wagen – – –«

»Ihr müßt es nicht wagen! Das besorgen wir selber! Ich bitte nur um einige Zeugen, Rahu!«

»– – Zeugen? Wozu Zeugen?«

»Sie sollen uns bestätigen, daß wir alles getan haben, um die Herkunft des Toten festzustellen und ihm ein ehrenvolles Grab zu sichern. – Man könnte sonst nachher sagen: die von Hador werden wissen, warum sie ihn haben liegen lassen. Du weißt ja, was Howe meinem Bruder vorgeworfen hat!«

»Howe, der Schuft? – Ja, ich weiß es von – Raha!«

Raha von Chohor kommt heran, groß, schön und schlank wie die Königin von Ulianti. Ruwo ist überrascht; ein so schönes Weib hat er noch nie geschaut. Jetzt begreift er seinen Bruder, und Raha muß seither noch schöner geworden sein. In ihren herrlichen Augen liegt etwas Trauriges, trotz des wilden Glanzes; in ihrer Hand spielt der Lassogriff mit dem weidenden Ren:

»Vater, wir gehen!« sagt sie ruhig, fast traurig, der Alte scheint unter diesen einfachen Worten zusammenzuzucken.

»Warum, Raha?« sondert er.

»Wir sind es dem Toten, unserer Gastehre und dem Angeklagten schuldig!«

»Wer ist der Angeklagte?« heult der Alte auf.

»Bis jetzt – – Harrar von Hador! Wir brechen gleich auf: zwei Jäger mögen mich und Ruwo begleiten!«

Sie spricht als Königin, und die zwei Bezeichneten gehorchen – – gerne; es wartet ja ein Abenteuer!

In Eile fällt jeder ein armdickes Stämmchen nach Ruwos Anweisung und – – sie gehen. Hinter den vieren trottet wortlos und stumm der Alte einher; ihm scheint die Luft nicht zu behagen.

Gegen Morgen kommen sie bei den harrenden Jägern an.

Man rüstet die Stangen zu, und Ruwo legt sie zu einem Bündel vereinigt über die Spalte. Sie hält. Harrar steigt zu ihm nieder; er will unbedingt in die Eisschlucht klettern; er hat das größte Recht darauf. Ruwo ist an seinen Vater gebunden, der sich droben fest verstemmt hat. Harrar zieht sich eine Mammutschlinge unter den Armen durch und verbindet das andere Ende mit den Stangen. Unter ihm gähnt die gründunkle Tiefe. Er wirf einen mitgenommenen Stein hinab. Man hört ihn wohl an den Wänden hinuntergleiten, aber nicht aufschlagen; der Aufschlag ist so schwach, daß er vom Geriesel des Schmelzwassers verdeckt wird.

Ruwo bindet seinem Bruder einen zweiten Lasso um die Brust und schlingt das Ende um die Stämmchen; so kann er langsam nachgeben; seine Lage ist gefährlicher als die Harrars; er muß rittlings auf dem schmalen Bündel sitzen, aber der Leichtfuß ist sich dessen kaum bewußt.

Harrar läßt sich langsam sinken, den schweren Lasso durch die Hände und um den rechten Fuß gleiten lassend. Durch Zurufe leitet er den »Kleinen«. Sein Fuß fühlt den Stein, aber nur die äußere, abgerundete Kante; durch Abstoßen und Schwingen gelangt er ans Ziel. Ein eigenes Gefühl übermannt ihn; er weint leise; hier liegt der geheimnisvolle Tote!

Wer ist's?

In der Spalte ist es grimmig kalt, doch fährt es dem kühnen Steiger heiß über den Rücken, denn aus abgefaulten und ausgewaschenen Fellkleidern starrt ihn ein Totenschädel an – – – ein Schädel mit sämtlichen Haaren; nur die verschrumpfte Haut bedeckt stellenweise das Gesicht; Augen und Nase sind eingefallen; ein Erkennen ist ausgeschlossen, auch an den Kleidern; der Gürtel muß geplatzt und in die Tiefe gestürzt sein; er fehlt. – Schade! Die Waffen hätten gesprochen! Aus der Beinkleidung ragen zwei Röhrenknochen; an dem einen hängt noch das Schienbein. Der Aasgeruch ist nicht stark; der Körper scheint über Nacht teilweise gefroren zu sein.

»Was tun? Ihn hinaufschaffen? Er würde auseinanderfallen. Er muß hier bleiben.

Mit allen Kräften der Selbstüberwindung wendet er den Leichnam um und – – prallt mit Entsetzen zurück!

Er muß sich an der Eiswand stützen. Im Rücken des Toten steckt ein abgebrochener Lanzenschaft!

Nicht ohne Mühe bringt er die Spitze heraus: es ist eine Harpune aus Renhorn! An ihrem Hinterende zeigt sie eine merkwürdige Kerbe. Er steckt sie in den eigenen Gürtel und klettert empor. Ruwo sitzt auf den Stangen und macht die Schlingen los.

»Kann man ihn nicht heben?« fragt Ahar von oben herab.

»Nein! Aber er hat zu mir gesprochen, der Tote!« ruft Harrar feierlich, indem er die Stufen hinaufsteigt. Wie ein leises Grauen geht es durch die Reihe, die an steiler Wand auf ihn wartet. –

Der Tote hat gesprochen!

»Harrar, was – – was hast du erlebt?« fragt sein Vater gedrückt. Wie Harrar seinen festen Stand eingenommen hat, hebt er die Harpune hoch empor:

»Diese Harpune hat im Rücken des Toten gesteckt. – Wer kennt diese Kerbe?«

Mit hastigen Schritten tritt Raha heran und nimmt die Waffe in die Hand. Kaum hat sie einen Blick darauf geworfen, so fangen ihre Finger zu zittern an. Grauenhaft glühen ihre geweiteten Augen:

»Vater! – – Du hast Owinar getötet!«

Wie ein Todesschrei klingt es über die Eisschluchten hin.

Totenstill ist es.

Am Ende der Reihe steht Rahu, geduckt wie ein Raubtier.

»Rahu!« – sie ruft nicht mehr »Vater« – »Rahu! Das ist deine Waffe – Meuchelmörder von Chohor!«

Welch eine ungeheure Leidenschaft muß in diesem schönen Weibe wühlen! Der Alte richtet sich auf:

»Lüge! – Aashund von Hador! – Du hast mir die Harpune gestohlen!«

»Rahu!« entgegnet Harrar mit unheimlicher Ruhe – – »mein Freund ist durch deine Hand gefallen; heimtückisch, meuchlerisch hast du den Ahnungslosen überfallen. Ueber deine Anklage sollen heute noch die Waffen und die Gottheit des Todes richten!«

»Ja, Hund von Hador, die Waffen – die Waffen – – gleich jetzt – – hier!«

Der Speer schwirrt. – Mit einem knappen Rucke kann Harrar ausbeugen. – Ein gellender Schrei – – hinter Harrar ist Raha gestanden. – Die Waffe Rahus steckt in ihrer Seite. Mit einem markerschütternden Stöhnen sinkt sie ein, wankt und – glitscht aus. – Ein einziger Schrei geht durch die Reihen. – Ruwo sieht die Gleitende kommen. – – Alle Pulse versagen. – – Er faßt nach ihr – – zu kurz! – verliert den Halt – faßt mit den Füßen die Stange – – ein markdurchschneidender Todesschrei. – Raha ist in der Spalte verschwunden – und alles ist still! –

Ruwo turnt sich empor, weiß wie Schnee und bebend an allen Gliedern. – – Die Schöne von Chohor liegt in der Gletscherspalte – hart am eingeklemmten Steine ist sie vorbeigestürzt. – Er hat es gesehen! – Kein Menschenauge wird sie mehr schauen – die Königin von Chohor. – In unergründlichen Tiefen schläft sie – bis der Rachen des Gletschertores ihre Gebeine ans Licht bringt – – nach Jahrhunderten. – –

Ein Brüllen durchzittert die Luft; das Brüllen eines verendenden Stieres:

»Rahaaaaaa – – –!«

Wie ein Wesen aus dem Jenseits steigt Rahu an die Kante des furchtbaren Spaltes, beugt sich vor und krallt seine Finger ins graue Haar:

»Rahaaah–aaah!«

Fast erstickt er am Schrei.

Wahrhaftig! Es ist das Brüllen eines verendenden Stieres.

Einer der Seinen wirft eine Schlinge um ihn. Entsetzen ist in alle gefahren.

»Der Gott des Todes hat gerichtet – fort – fort von hier!«

Ahar hat's gerufen; keuchend geht er den Seinen voran – fort von diesem Orte!


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