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Ueber Nacht ergraut!

Für Harrar ist kein Grund mehr zum Bleiben.

Seine Sendung ist erfüllt; über Owinars Verschwinden weiß er weniger als vorher; das Eine scheint ihm klar zu sein: Owinar ist tot und der alte Rahu hat ein schlechtes Gewissen! Etwas ist vor sich gegangen, dieses Etwas wird durch das gleichzeitige Verschwinden Tarahus noch rätselhafter.

Er verabschiedet sich kurz und tritt seinen Rückweg an.

In allen Farben strahlen die Höhenzüge im Glanze der Herbstsonne, die Steppe ist öde und ausgebrannt wie ein Leben ohne Liebe und Freundschaft. Die herbstlichen Farben, das Sterben der Natur drückt auf die Menschenseele wie ein banges Ahnen. Selbst der Instinkt der Tiere wird von dieser Herbststimmung ergriffen: sie sammeln, sie wandern, verkriechen sich. Ein überraschendes Beispiel dieser herbstlichen Unruhe bietet der Lemming, eine Wühlmaus von nicht Rattengröße und kurzem Schwanzstummel. Er ist ein kälteliebendes Tier, lebt im Sommer in der Nähe der Gletscher in seinen Höhlengängen und bezieht im Winter sein weich ausgefüttertes Nest mitten im Schnee. Er vermehrt sich in trockenen Sommern unglaublich massenhaft und hat deshalb zahlreiche Feinde. Sogar das Renntier verschlingt ihn. Wenn seine Todfeinde die Uebervölkerungsfrage nicht zu lösen vermögen, so begeht er Massenselbstmord durch seine Wanderungen – Todesfahrten, wie der Jäger sie nennt. Wenn die Tundra von Lemmingen wimmelt, kommt die Herbstahnung über sie, die Ahnung vor der Hungersnot. Die geängstigten Tiere rotten sich zusammen und beginnen zu wandern; Wanderzüge von Hunderten stoßen zu Tausenden, zu Hunderttausenden, werden zu einem Strome von Millionen. – In unabsehbaren Scharen fahren sie über Tundra und Steppe, kopflos, ziellos, von unerklärlicher Last getrieben. Ganze Heere stürzen über Felsen und Klüfte, ertrinken zu Tausenden in Flüssen und Strömen, erfrieren in den Schründen und Mühlen der Eisfelder – – wenige Kranke und Vergessene bleiben zurück, um das Geschlecht zu erhalten …

Wie Harrar sich der Tundra nähert, sieht er am westlichen Himmel eine langgezogene Wolke von Rauhfußbussarden, Wanderfalken, Raben, Eulen und Raubmöven, die sich ihm nähert. Er kennt das Schauspiel: die Todesfahrt des Lemmings! Erst kommen einzelne pfeifend dahergesprungen, dann Trüppchen zu fünf, hundert, endlich steht der Jäger mitten in einem dunklen Strome lebendiger Tiere. Eis- und Rotfüchse, Wölfe, Wildkatzen und Vielfraße verfolgen sie, nein – waten im Meere der todgeweihten Flüchtlinge, Falken und Eulen tauchen auf und nieder, zerreißen mit den fletschenden Vierbeinern um die Wette das wandernde Wild: das ist keine Jagd mehr, das ist ein quietschendes, krächzendes und heulendes Fletschen und Wälzen in ungesättigter Mordlust. Diese ist so groß und blindlings gierig, daß der Jäger oft die stürmenden Jagdtiere, Falken und Bussarde, von sich abwehren muß. Welch ein Kampf ums Dasein, wie im Reiche der Menschen! Stundenlang dauert das Schauspiel, der Vorübergang der Todgeweihten!

Der Jäger ist froh, dem Sturme der Tiere entronnen zu sein, noch lange verfolgt er das Gewimmel, bis es sich in der Ferne verflüchtigt.

Diesmal kann er den Gletscher bei Tage überqueren. Wieder fassen ihn an der Todeswand Gedanken des Grauens. – – Wenn die Drachenschlünde reden könnten! Wenn – – –

»Wschscht!« – Wieder huscht die gefleckte Riesenhyäne an ihm vorbei – – der Totengräber der Eiszeit!

Die höchsten Gletscher leuchten im Abendrot, als der Jäger die »Zunge des bösen Weibes« hinter sich hat. Ueber ihr liegt ein leiser Rosaschimmer, so zart und lockend wie eine unberührte Mädchenwange. Bald ist es Nacht und die Tundra ist noch nicht überschritten. Hinter einem Felsen der Lochtundra, auf einem Moosteppich mit Rausch- und Preißelbeeren, die der erwärmten Lößdüne entsprossen, setzt sich Harrar nieder. Die Fellbekleidung der Eiszeitjäger gestattet ein Nächtigen bei jeder Jahreszeit und Temperatur.

Harrar schläft nicht gut; die Rätsel der letzten Tage beschäftigen seine Phantasie, und das Heulen des streichenden Raubwildes aus nah und fern läßt seine Vorsicht nie erlahmen. In der Rechten den Speer, in der Linken den Dolch, kauert er mit halbgeschlossenen Augen da und sinnt halb träumend, halb wachend vor sich hin. Mehrmals fährt er auf und horcht in die Nacht hinaus. Täuschen ihn seine Sinne, hat er geträumt oder – war das nicht jener unheimliche Ton, bei dem die Urstiere der Steppe flüchten und die windschnelle Antilope erstarrt?

Wenn er ahnte, was ihm die folgende Nacht bringen wird – – –!

Wie der Kuß einer liebenden Mutter erscheint ihm das dämmernde Morgenrot. Er reckt seine erstarrten Glieder und wandert der Sonne entgegen. Ein leises Heimweh ergreift ihn ob der trostlosen Oedenweite der moorigen Tundra. Wie ein ausgehungerter Bison begrüßt er aufatmend die ersten Pflanzenbüschel der herbstlichen Steppe. Am Ufer eines sandigen Baches läßt er sich nieder und trinkt. Er will weitergehen; da hemmt er jäh seinen Fuß! Vor ihm im Sande geht eine frische Fährte: Katzenpfoten von der Größe einer ausgespreizten Menschenhand! Er verfolgt sie eine Strecke weit; sie haben die gleiche Richtung wie sein Weg. Ein und wieder bückt er sich nieder und betrachtet etwas: dunkelrote Flecken! Sie führen in ein niedriges Buschwerk von Schilf und Zwergerlen. Lautlos geht er weiter. Dort liegt etwas! – Soll er weiter gehen? Er blickt um sich: auf dieser ebenen Fläche lagert sich bei Tage kein Raubtier; vorwärts also! Ah! Dort liegt der blutende Kadaver eines Wildhengstes. Harrar tritt näher. Welch ein Anblick! Die Halswirbel des Tieres sind zermalmt, der Kopf ist abgetrennt, und aus der zerrissenen Brust dringt die Lunge hervor. An der Schulter sind Krallenmale, als ob der alte Rahu seine Finger eingepflanzt hätte. Das ausgeflossene Blut ist kaum verdickt. Harrar hat genug gesehen. Seine Sinne haben ihn heute nacht nicht getäuscht! Hier war der Unheimliche an der Arbeit! – Dort in der Ferne ragt der Höhenzug des Weißfelsens empor!

Der Jäger schwenkt ab in der Richtung auf Arah. Man erwartet ihn dort mit Bangen. Was soll er ihnen sagen? Diese Frage sollte zu bald in unerwarteter Weise gelöst werden!

Kaum hat er den sogenannten Fuchsweg erreicht, der durch felsiges, mit Krüppelföhren bestandenes Höhenterrain führt, als er unter vorgebeugtem Felsen eine Jagdgesellschaft lagern sieht.

Ein Weib ist bei ihnen! Zögernd hemmt er den Fuß, schreitet sofort weiter, wie er den alten Howe erkennt. Dieser steht auf, als erwarte er sein Näherkommen. Die weibliche Gestalt, die er zuerst für Howelin gehalten hatte, ist keine andere als – – Raha von Chohor! Harrar ist namenlos erstaunt. Die hübsche Katze hatte also den langen und gefahrvollen Weg vor ihm, dem gewandten Jäger, zurückgelegt! Da muß was los sein! Er soll nicht lange im Zweifel bleiben, Howe kommt auf ihn zu, und die Jäger umringen ihn. Kein Gruß, kein fröhlicher Zuruf ist bis jetzt gefallen. Im Gegenteil; Harrar kommt es vor, als ob die Jäger mit düsterem Schweigen auf ihn gewartet hätten.

»Welche Kunde bringst du von Chohor, Jäger von Hador?« fragt der Anführer mit messendem Blicke.

»Nichts Neues, außer, daß auch Tarahu verschwunden ist!«

»Harrar hätte sich den Gang ersparen können!«

»Ich sehe es: die Botschaft ist mir vorausgeeilt!« erwidert der Angekommene mit einem Blick auf die lauernde Raha.

»Nicht nur deshalb war Harrars Gang unnötig!«

»Nicht nur deshalb. – Weshalb noch?«

»Weil Harrar den Erfolg seiner Erkundigungsreise vorher gekannt hat!«

»Vorher? Wie soll ich das verstehen?«

»Wenn einer auf der Welt Kunde weiß von Owinar, meinem Sohne, so ist es Harrar von Hador!«

»Ich?«

»Ja, du hast ihn zuletzt gesehen, Harrar! – Lebte er noch, als du ihn zuletzt sahest, Jäger von Hador?«

Die Stimme des Alten klingt wie drohendes Ungewitter.

»Du fragst merkwürdig, Vater Howe!«

»Wenn man weiß, daß du in Chohor fortgingst mit dem Todeshasse der Eifersucht im Herzen, daß du jetzt seinen Dolch trägst, so ist die Frage nicht so merkwürdig!«

Harrar fährt sich über die Stirne, ihm dämmert leise der Zusammenhang!

»Howe – Vater Howe! Laß mich darüber nachdenken. Das ist ja – – Wahnsinn!«

»Du willst Ausreden ersinnen, nicht?«

»Bei meiner Jägerehre! – Nein! Vater Howe! Wenn ich das Schicksal Owinars zum voraus gekannt hätte: warum sollte ich nach Chohor gegangen sein?«

Der Alte zeigt auf Raha:

»Um die Früchte deiner Tat zu ernten!«

»Vater Howe! Raha mag dir selbst erzählen, wie Harrar von Hador die ›Früchte seiner Tat‹, wie du es nennst, geerntet hat!«

»Wir wissen es: sie hat dich abgewiesen, sie liebte nur Owinar!«

Harrar greift sich an die Stirne.

»Du schweigst, Harrar!« fragt der Alte düster.

»Nein! Ich schweige nicht! Die Katze von Chohor hat euch belogen! Vater Howe, sie ist Rahus Tochter!«

»Sie hat meinen Sohn geliebt und will ihn rächen. – – Harrar, gib seinen Dolch her! Du hast ihn geraubt!«

»Er hat ihn mir geschenkt als heiliges Andenken!«

»Wofür – nicht einmal seinem Vater würde er ihn geschenkt haben – – wofür?«

»Ich – kann es selbst nicht sagen, ich glaube: aus reiner Freundschaft!«

»Nicht einmal eine Ausrede! – Gib ihn her! Er gehört nicht an den Gürtel seines – Mörders!«

»Vater Howe! Dich hat das Alter mit Irrsinn gesegnet! Nur meiner Leiche wirst du den Dolch entreißen! – Hier ist er! – Wer holt ihn aus der Hand des Jägers von Hador?«

»Ich!« – kreischt Raha wie ein Raubvogel aus. – »Mit diesem Dolche will ich dir die Augen ausstechen, die den Tod Owinars geschaut haben!«

»Hole ihn – Kröte!«

»Das geht einfach – schau mal: so!«

Mit glühenden Augen schleicht Raha lauernd zu ihm heran, als ob sie mit ihm einen Ringkampf eingehen wollte. Die schlaue Hexe erreicht ihr Ziel, Harrar behält sie so scharf im Auge, daß er der Umgebung nicht achtet. Wie er sie ruhig erwartet, erhält er von hinten eine Schlinge. Wie der Blitz greift er darnach, ehe sie zugezogen werden kann:

»Feiglinge! Die Viper von Chohor muß euch helfen, einen Jäger von Hador zu besiegen, Schande über diese …«

Er erhält eine zweite Schlinge und wird von hinten gepackt – ein Schrei – der Dolch Owinars hat getroffen! In wildem Knäuel ringen sehnige Wildgestalten mit dem Athleten von Hador: Hiebe fallen, Gelenke knacken, würgendes Aechzen durchdringt den Lärm. Noch hat Harrar eine Hand frei – aber eine Schlinge schließt sich um den Hals – der Atem behemmt und lähmt ihn, unter einem halbparierten Keulenschlage sinkt er zusammen; aber der Kampf ist nicht vollendet. –

Im Falle hat sich die Schlinge ein wenig gelockert – dies genügt dem gewandten Jäger, einem Gegner den Arm auszurenken und der Schönen von Chohor mit dem Fuße einen Stoß ins Gesicht zu versetzen – nun aber ist er von Riemen und Sehnen eingeschnürt wie ein Wickelkind; seine Arme und Füße werden gebunden und die Halsschlinge freigegeben, sein Gesicht ist bereits blau angelaufen und die starrenden Augen treten aus ihren Höhlen. Lange, lange holt er Atem, mit einem wehen Blicke schaut er zu Howe empor:

»Howe, du hast deinen Sohn unglücklich gemacht! Du hast ihn unschuldig vertrieben und in den Tod gejagt, nun überfällst du seinen Freund …«

»Seinen Mörder!« –

»Seinen Freund, auf die Verdächtigung und Lüge eines Wesens hin, das sein Dasein deinem Todfeinde verdankt!«

»Dieser Umstand gibt mir Gewähr für die Wahrheit ihrer Worte!«

»Vater Howe, du wirst alt; du hast trotz deiner Jahre die Zeit der Kindheit noch nicht hinter dir!«

Der Alte knirscht.

»Verspotte mich vor meinen Kriegern! Dadurch beweisest du ihnen, daß deine Worte der Freundschaft Heuchelei waren!«

»Ich will dadurch zeigen, daß ich dich nicht fürchte!«

»Ehe die Sonne sinkt, wirst du anders reden!«

»Was kannst du mir beweisen?«

»Die Tatsachen zeugen gegen dich – so laut, daß nur ein Tor zweifeln könnte!«

»Wirst du mich töten? – Ich schwöre ohne Furcht bei meiner Jägerehre, bei den Gräbern meiner Ahnen und bei meiner toten Mutter, daß ich unschuldig bin!«

»Sonst bei nichts mehr?«

»Howe: ich schwöre auch beim Gotte des Todes. Er mag die Gefilde der ewigen Jugend verschließen, wenn ich lüge!«

»Die Angst preßt dir den furchtbaren Meineid aus! Gut! Wir werden dich nicht töten! Du hast den Gott des Todes angerufen! Er mag dich retten, wenn du wahr geschworen. – – – Gut, Jäger von Hador! Der Gott des Todes soll über dich entscheiden!«

Ein »Gottesgericht« der Eiszeit! Harrar erwartet einen Zweikampf; er spricht sehr keck:

»Gut! – – Wo ist mein Gegner?«

»Am Weißen Felsen!«

»Am – – –? Soll ich mit Ahour kämpfen, mit dem Satan der Steppe? – Weißt du, was du sagst, Howe?«

»Ah! – Der Mond deiner Kühnheit nimmt ab! Tröste dich; du sollst nicht mit ihm kämpfen!«

»Ich – – verstehe dich nicht!«

»Du wirst mich bald verstehen; ich meine so: wir haben eine Antilope erlegt, schau her; sie blutet und zuckt noch. Wir werden sie über die Fährte ziehen, wo der Satan zur Tränke geht und dich dort gefesselt niederlegen!«

Der todeskühne Jäger wird blaß bis an die Lippen. Raha jubelt. Eine Bewegung geht durch die Reihe der Jäger. Harrar spricht – mit bebender Zunge:

»Vater Howe, das wirst du nicht tun!«

»Warum nicht, Großmaul von Hador?«

»Weil du ein Mensch bist und kein Raubtier!«

»Warum noch, tapferer Jäger?«

»Weil ich einen Vater habe, der mich liebt, wie du den deinen geliebt hast.«

»Und?«

»Weil ein Vernichtungskrieg anheben würde zwischen Hador und Arah, bis die Kerben der Rache zahlreicher sein würden als die Zahl der Ueberlebenden!«

»Diese Drohung ist ein Schrei der Angst!«

Harrar bäumt sich in den Fesseln wie in Atemnot:

»Ja, Howe, ich will auch jetzt nicht lügen: Ich habe Angst – zum erstenmal in meinem Leben, so wahr mein Name noch nie mit der Furcht genannt wurde. Verurteile mich zum Kampfe mit einer Uebermacht, mit minderwertigen Waffen, laß mich meine Kraft und Gewandtheit mit dem Mammut und mit Ahour messen, messen ohne Aussicht; ich will nicht klagen und nicht weichen, bei meiner Kriegerehre nicht! Ich will den Tod segnen, wenn ich kämpfend sterben kann – ich will dir nicht fluchen, wenn du mir den Ehrentod des Steppenjägers gibst – – –.«

»Dem Mörder meines Sohnes – dem Beschmutzer seines Vaters!«

»Howe, wenn du mich mit gebundenen Händen vor den Löwen legst, so sollst du in alle Ewigkeit als Aashund die Steppe durchziehen! Mein Geist wird dir den Schlaf verscheuchen und im Sterben den Schweiß der Todesangst auspressen!«

»Du hast den Gott des Todes angerufen! Er soll richten zwischen mir und dir! Wenn du am zweiten Morgen noch lebst, so will ich an deine Unschuld glauben!«

»Howe – Howe – sei barmherzig!«

»Ah – großer Jäger von Hador, pfeift's aus diesem Loche?«

»Töte mich! Ich will nicht zucken! Nimm meinen Leib unter die Marter! Ich will in stummen Qualen sterben – nur das nicht! – – Wehrlos! – Mit gebundenen Händen! – – O Howe, bei deiner Liebe zu Owinar und zur Blume von Ulianti – – tu' es nicht!«

»Das Urteil ist gesprochen!«

»Howe, Vater Howe: du glaubst diesem Weibe, wie du dem – – andern geglaubt hast! – Raha! Kühle dein heißblütiges Herz! – Stoße mir den Dolch Owinars in meine Brust!«

»Nein, stolzer Feigling von Hador, die Rache Howes ist süßer – so süß wie die Liebe! – Vater Owinars, ich danke dir! Sein Geist wird aus dieser Rache Seligkeit trinken und mir im Traume der Nacht die Seele mit Wonne beglücken! Ich segne ihn, diesen Tag der Rache – Howe, wann ist's Zeit?«

»Jetzt! – Faßt ihn an!«

Man fällt einen armsdicken Lärchenstamm und bindet den Gefesselten daran.

Er sagt nichts! –

Höhere Mächte scheinen sein Schicksal besiegelt zu haben. Wie scheint ihm das Leben so schön, jetzt vor dem entsetzlichen Tode … Hoch in den Lüften kreist ein Adler … eine Lerche jubelt in übersprudelnder Lebenslust zum Aether empor … in einer paradiesischen Flut von Sonnengold erstrahlen die herbstlich-satten Farben der Höhenzüge, und die sterbende Steppe leuchtet so hoffnungsvoll, als träumte sie vom ersten Frühlingstage – – leb' wohl, du blumige Steppe …

Schweigend bewegt sich der Zug nach dem Biberflusse, voran der alte Howe. Nicht weit vom Kadaver des gefällten Wildhengstes, zwischen spärlichen Erlenbüschen bleibt er stehen:

»Hier ist die Fährte!«

Niemand antwortet.

Dem Gefangenen wird eine Sehnenschlinge um den Hals gelegt und am Stamm einer Birke verknotet. Aus dem Tragstämmchen macht man einen Pfahl und zwingt ihn mit schweren Steinschlägen in den Boden ein. Mit starken Lederriemen befestigt man Harrars gebundene Füße daran. Wenn er den Versuch macht, sie zu straffen, zieht ihm die obere Schlinge den Hals zusammen; seine Arme sind fest an den Leib gebunden. Nur der Kopf ist halbwegs bewegungsfähig.

»Kommt mit der Antilope!« befiehlt der alte Howe.

Sie gehen!

Harrar ist allein!

Er kann nicht einmal das Fliegengewimmel abwehren, das massenhaft den Flußniederungen und Mooren entsteigt.

Bald wird die Sonne sinken.

Zwei Jäger Howes kommen mit der Antilope zurück und legen sie nicht weit von ihm auf die dem Weißen Felsen entgegengesetzte Richtung der Fährte.

»Jäger von Arah!« ruft Harrar.

»Wir dürfen nicht sprechen!«

»Ich will euch nicht bereden, gegen eure Pflicht zu handeln. Vernehmt die letzten Worte eines Sterbenden: Sagt dem alten Howe, eurem Häuptling, daß Harrar unschuldig war – ein Sterbender lügt nicht – daß ich ihm verzeihe, um Owinars, seines Sohnes willen. – Sagt Raha, daß der arme Jäger von Hador sie einst ehrlich geliebt, daß er nie mehr eine andere geliebt hätte. Freunde, reicht mir noch einen Trunk Wasser!«

Der eine löst seinen Lederbecher und geht nach dem Flusse.

»Harrar,« flüstert der andere. – »Ich werde Howelin Mitteilung machen! Wir haben schwören müssen, gegen jeden Fremden zu schweigen – Howelin gehört ja zu uns!«

»Ich danke dir, Ahan!«

»Ich fürchte …«

»Was?«

»Daß Howe uns vor übermorgen nicht heimführen werde, und Raha wird – wachen!«

»Du hältst mich nicht für schuldig?«

»Nein, Harrar!«

»Sei gesegnet! Nimm mich bei der Hand, Ahan – so! Lebe wohl, Freund! – Wenn ihr meinen zerrissenen Körper finden werdet: diese Hand wird ganz sein. Begrabe sie am Fuße dieses Baumes und schneide mein Zeichen in ihre Rinde, ein Efeublatt. – Willst du?«

Der andere kommt und hält dem Liegenden den Becher an den Mund.

»Ich danke euch! – Geht und grüßt mir alle, die meinen Worten glaubten. – – Seid glücklicher als Harrar von Hador – –!«

Mit gesenktem Haupte gehen die zwei.

Harrar ist allein.

Ein letzter Sonnenstrahl dringt durch das Laubwerk der Büsche. Leise sinkt die Nacht. Ein warmer Westwind hebt an. Wolken fahren am Himmel und verdecken den leuchtenden Stern über ihm. Geheimnisvoll rauschen die Blätter. Aus der Ferne tönt das klagende Hu-Huuh einer Eule; im dürren Laube huscht eine Ratte, die nach Vogelnestern sucht.

Wird – er kommen?

Die Frage ist schrecklicher als die Gewißheit: heiß fährt es dem Gefesselten über den Rücken; seine Arme zucken. Ist's wahr? Ist's kein Wundfieber, das ihn schüttelt? Wenn die Seinen ahnten, daß er hier liegt, hilflos wie ein Kind, ein Fraß für den Satan der Steppe. – Wehe den Bewohnern von Arah! – Warum hassen sich die Menschen? Warum mußte der unschuldige Owinar sterben? Owinar, der herrliche Künstler mit seinen innigen Kinderaugen!

Harrar weint!

In der Steppe streichen Hyänen.

Kommt nicht ihr kläffendes Geheul näher? Sie wittern den Kadaver des gefällten Steppenhengstes!

Horch!

Ein Wildtrab durchfegt die Ebene. Die Hyänen verstummen, bis jene vorüber sind.

Dort im Gebüsche raschelt es. Man hört ein gieriges Schnauben, Fletschen und Knacken: ein »Gefleckter« (Hyäne) hat die Antilope gefunden – und drüben beim toten Hengste! Ein Fauchen und Heulen und Knirschen, daß die Ratten ängstlich fliehen: »Aashunde« streiten sich um den Pferdekadaver. Die große Hyäne des Diluviums besaß ein Gebiß, das demjenigen des heutigen Bengaltigers an Kraft nicht nachstand. Der widrige Gestank ihrer Drüsen verpestet die Luft und dringt bis zum Gefesselten herüber.

Plötzlich verstummen sie wie auf Verabredung. Auch das Raubleben in der Ebene ist verstummt.

Die Steppe scheint aufzuhorchen.

Aus der Ferne klingt es wie unterdrücktes Gähnen. Harrar fühlt, wie seine Haut sich fröstelnd zusammenzieht: er ist auf der Fährte, Ahour, der Satan der Steppe!

Wie unter dem Alpdruck krampfen sich machtlos die Glieder des Gebundenen. Sein Mund ist halb geöffnet, seine Augen starren zum nächtlichen Himmel empor; alles an ihm scheint zu horchen. Wenn nur eine Hyäne käme und sein Gehirn anfräße – sein Bewußtsein vernichtete! Das Grauen hält seine Stimme wach, sein Denken klar.

Keine wohltätige Ohnmacht kann sich seiner bemächtigen; jede Faser an ihm lebt, sträubt sich gegen das heimlich Nahende!

Am Himmel jagen die Wolken; zwischen ihren leuchtenden Rändern erscheint der Mond und versteckt sich wieder, als fürchte er sich herabzuschauen; sein fahler Schein jagt über die Steppe, als wollte er das Gelände absuchen im Dienste jenes Unheimlichen. Der Wind fährt mit unterdrücktem Flüsterton durch die Büsche, als wollte er alles Lebendige warnen. Nichts regt sich! Die Hyänen scheinen sich verzogen zu haben. Ist er auf einer andern Fährte? Alles bleibt ruhig, lange, lange. Mitternacht mag nahe sein. Harrar schöpft Hoffnung. Hoch geht seine Brust unter den befreienden, tiefen Atemzügen. Müdigkeit will seine Augen zudrücken. Es ist so still – so still! Wenn nur die Röte des Ostens den nahenden Tag verkündete! Doch, es ist erst Mitternacht. Wenn jetzt – – – was ist dort? – – – dort!

Harrars Körper zuckt auf wie ein getroffenes Wild. Seine weitgeöffneten Augen stieren ins Dunkel. Ihm will das Blut aus den Augenhöhlen dringen, das Mark in den Knochen gefrieren:

Ahour ist da! – Schon lange! – Dort!

Jener dunkle Schatten ist kein Gebüsch. – Das ist ein Kopf, und das Flackernde sind keine mondbeschienenen Blätter – das leuchtet wirklich. Es sind die Augen eines furchtbaren Kopfes! Regungslos starrt er herüber wie ein Steinbild! Er scheint sich gelegt zu haben, wartend, lauernd. Harrar will die Augen schließen und muß, muß doch hinsehen, muß offenen Auges den Todessprung erwarten. – Der nächtliche Kopf bleibt unbeweglich wie ein Granitstein, die glühenden Augen leben, öffnen sich weit und drücken sich wieder halb zusammen. Nun wird er zum Fangbiß anspringen – nun – noch nicht!
Er wartet – wartet – oh!

Der Mond schiebt sich hinter einer Wolke hervor und beleuchtet das Gelände – nur für Augenblicke …

In diesem Moment setzt Harrars Herzschlag aus; sein Blut weicht aus allen Gliedern zurück.

Was dort liegt, ist ein Wesen des Grauens!

Ja, dort liegt er, den gewaltigen, fleischlosen Kopf auf die furchtbaren Pranken gelegt. Der Mondblick scheint ihn orientiert zu haben …; langsam hebt er den Kopf, greift mit der einen Pfote behutsam vor und zieht sie wieder an; so steht er auf drei Gliedern in horchender Stellung!

Kein Laut stört ihn!

Er greift wieder vor und hebt die andere Pranke; so naht er schleichend, langsam, bedächtig, als ob er selbst Gefahr witterte, den Körper kaum vom Boden erhebend.

Jetzt steht er zwei Mannslängen von Harrar entfernt, den gewaltigen Schädel wie prüfend weit vorgestreckt, die kurzen Ohren zurückgelegt. Nie hat er seinen Blick von Harrar weggewendet und auch der Unglückliche könnte mit keiner Gewalt sein Auge von ihm wenden. Er muß ihn ansehen, wie der Zaunkönig die nahende Ringelnatter.

Wieder stutzt der gewaltige Schleicher, die eine Pfote hochgezogen – einen Moment, dann kommt er lautlos heran und – – – legt sich nieder.

Der Gefesselte fühlt, wie ihm die Füße und Hände erkalten, wie seine Haare sich straffen. Der Jäger, der das Mammut gejagt und dem Nashorn entgegengetreten, ist dem Irrsinn nahe. Er riecht die stechende Ausdünstung und den blutrünstigen Atem des Ungeheuers.

Ist es Grausamkeit oder Argwohn, daß es nicht brüllt, nicht angreifen will?

Grauenhaft liegt vor ihm die scheußliche Riesenkatze, und ihre Lichter blinzeln in verhaltener Mordgier. Warum kommt er nicht, der Satan da neben ihm? Ein einziger Schlag, ein Biß seiner dolchlangen Reißzähne, und es wäre überstanden!

Ihn reizen? –

Ah! – – –

Nur nicht diese Mark und Hirn durchbohrende Folter …

»Satan! Friß! – Komm her, du Hund der Hölle! – – – Zerquetsche meinen Schädel. – Friß mein Gehirn! Komm, du Feigling – hier bin ich – hier ist mein Hals – Haah – Haah – Los – Haaah – – –!«

So gellt es jetzt durch die Nacht …!

Ein Rasender bäumt sich wie ein getretener Wurm; Schaum liegt auf seinen Lippen. – – – Sein entsetzlicher Schrei dringt in die Steppe hinaus – – – – wird zu einem schluckenden, kurzatmigen Stöhnen, zu einem leisen Wimmern. Seine Brust zuckt auf und nieder wie im Todeskampfe – die Augen weiten sich wie im Vergiftungsrausch, starren blutunterlaufen zum Himmel empor, nicht mehr zum Löwen hinüber.

Dieser bleibt unbeweglich!

Nein, er erhebt sich! –

Er kommt! Mit weit vorgestreckter Schnauze beschnuppert er den Gefesselten – zuerst die Füße. – Ein frostiges Kitzeln geht durch den ganzen Körper des Jägers. – Die letzte Kraft des Selbsterhaltungstriebes bäumt sich auf – der Halbirrsinnige fühlt einen heißen Atem im Gesicht, stachelige Haare …, Puls und Atem stocken. –

Da fühlt die Katze die Halsschlinge und schnellt fauchend zurück – halbseitlich gewendet steht Ahour in seiner gewaltigen Größe da wie versteinert, entweicht rücklings, umkreist den gefesselten Menschen mit argwöhnischem Flackern seiner Lichter und – hat er eine Falle gewittert? – weit draußen in der Steppe rollt seine furchtbare Stimme – – – ein verirrtes Füllen ist gefallen! –


Die Gletscher brennen!

Morgenlicht flutet über die Steppe!

Ein jubelnder Tag steigt empor und streicht mit seinen frischen Fittigen rauschend die glitzernden Perlen von Blumen und Gräsern und Zweigen.

Nur – ein Tag!

Was bedeutet ein Tag, wenn er der letzte ist!

Was bedeutet eine Nacht, in welcher der Tod umging!

Ueber die morgenlichte Steppe geht ein junger Mensch dem Biberflusse zu.

Plötzlich bückt er sich nieder und nickt befriedigt: er hat die Löwenfährte gefunden und folgt ihr fröhlich pfeifend. Das kann nur einer sein, der auf einer Löwenfährte pfeift: Ruwo, der furchtlose »Kleine«! Er scheint wieder gut beisammen zu sein; er hinkt nicht mehr, und sein Schulterfell fliegt lustig hinter ihm her – dort im Gebüsch bleibt er vor dem Pferdekadaver stehen:

»Beim hohlen Zahn meiner Großmutter! Dich hat er gehörig beim Wickel genommen. – Uebrigens scheinen hier die singenden Nachtwächter sich gebalgt zu haben – horch! Dort muß einer sein; er hat gestöhnt! Hat wohl den Bauch überladen, ich will ihm ein bißchen Luft machen, dem armen Geschöpfe! Zuviel fressen ist auch eine Krankheit!«

Mit aufgelegtem Speer geht er weiter und bleibt vor einer Birke verwundert stehen. Sein Arm fällt nieder …

Da liegt einer am Boden, zwischen Baum und Pfahl gebunden. –

Ein Mensch!

Sein Gesicht ist blaß und eingefallen wie bei einer Leiche. Die blutunterlaufenen Augen starren glanz- und leblos ins blendende Morgenlicht, ohne sich zu schließen. Sein Schläfenhaar ist grau und die Wurzeln des Scheitelhaares schimmern weißlich.

Ruwo kniet nieder:

Die Hände sind kalt, der Puls geht noch leise. – Wer mag das sein? –

Ruwo blickt um sich und stutzt. – Hah! Löwenfährten ringsum! Der Mann war da, als der Satan umging! Also – nur eines ist möglich. – – – Bei allen Aashunden der Nacht! Hier ist etwas geschehen, wie es diese alte Steppe nie geschaut! Menschen haben einen Menschen dem Satan der Steppe gebeizt!

Einen lebendigen Menschen! –

Armer Teufel, wärst du mein Todfeind – – die Hand sollte mir faulen, wenn ich dich nicht rächte.

Wo sind sie, die Hyänen – nein, das ist eine Beschimpfung der Aashunde, wenn man sie nach diesen Menschen benennt. –

Kein Raubtier kann so etwas ersinnen. – Wo sind sie, die denkenden Scheusale? Ich werde – ah, ich muß den lebendigen Leichnam da losschneiden. –

Ob er noch zu retten ist?

Ruwo kniet nieder und schnellt wieder auf. –

Er ist weiß geworden bis an die Zähne. – – Diese Bekleidung da – dieser Gürtel – die Narbe an der Hand!

Der junge Jäger stellt sich über den liegenden Körper und betrachtet das Gesicht, lange, lange.

Seine Lippen sangen zu zucken, seine Hände zu zittern an. Mit einem Schrei wirft er sich über den erstarrten Körper:

»Harrar – Harrar! Mein armer, lieber Bruder! Harrar, schau mich an – Harrar, sprich!«

Keine Bewegung, kein Laut!

Mit Todeshast schneidet Ruwo die Schlingen und Fesseln durch. Der Befreite bleibt liegen, sein Atem scheint tief und tiefer auszuholen.

Der Jäger des Magdalenien war ein ausgezeichneter Arzt und Chirurge. Ruwo ist einen Augenblick in Verwirrung, dann kauert er sich über seinen Bruder:

»Erst die Lunge und das Herz antreiben!« Er reibt und knetet Harrars Körper, hebt und senkt, zieht und streckt seine Glieder so schnell es ihm möglich ist, klopft ihm auf die Brust und zwischen die Schulterblätter, schlägt ihm mit der flachen Hand die Muskelteile und spritzt ihm Lederbecher voll Wasser ins Gesicht. –

Der Erfolg bleibt nicht aus: die Haut rötet sich, das Herz schlägt lauter, und die Lunge zieht stärker an. Die starren Augen bewegen sich, das Gesicht zeigt Lebensspuren.

»Harrar, Harrar!«

Man sieht: der Angerufene macht Anstrengung zum Sprechen; der Kiefer will sich bewegen, aber noch ist der starrkrampfartige Zustand nicht besiegt.

Die Arbeit des »Kleinen« geht weiter, bis endlich ein langes, erlösendes Stöhnen die Lösung der Starre ankündigt.

»Harrar – Harrar, schau mich an!«

Zwei blutunterlaufene, schreckgeweitete Augen richten sich auf Ruwo, fragend, erstaunt, rätselhaft.

»Harrar! Wie ist dir?«

Der dürre Mund öffnet sich:

»Mein Gehirn zuerst! – Nur nicht ins Gesicht, du Satan. – Haaah! – – – Los, du Höllenhund!«

»Harrar, schau mich an! Kennst du mich nicht, Harrar? Schau, ich bin da, dein Bruder Ruwo!«

»Howe! – Ich bin unschuldig! – Raha lügt. Schau, sie hat einen Löwenkopf. – Da, da, schau, wie sie ihre Krallen einziehen kann – dort schleicht sie heran, und ich kann mich nicht wehren. Helft mir! – Oh, seht dort! Das ist kein Schatten! Das ist ein Kopf mit Augen. – – – Oh, warum kann ich nicht sterben – mich friert, deckt mich zu, damit er mich nicht sieht – – –.«

Ruwo kniet nieder, bedeckt mit beiden Händen das Gesicht und weint.

»Harrar – irrsinnig!«

»Owinar gab mir den Dolch, Howe! Er war mein Freund. – Wenn du mich unschuldig dem Löwen hinlegst, sollst du nach dem Tode als Aashund die Steppe durchwandern – dann wird Rache sein zwischen Hador und Arah. – Howe, nur das nicht! Die Arme nicht binden, nur das nicht, Howe, o schau, ich bitte dich. – Raha, du lügst. – O seht den fleischlosen Kopf. – – – Er ist schon lange da – es ist kalt – deckt mich – ein Mammut ist hinter mir!«

Ruwo hält die Hand seines Bruders. Sie ist fieberwarm.

»Harrar, armer Harrar! Wo ist deine herrliche Seele? – Du redest irre, doch verstehe ich deinen Irrsinn mit grauenhafter Klarheit! Die Schufte von Arah haben dich zur lebendigen Leiche gemacht!«

»Bald ist's Mitternacht – – – horch, die Hyänen kommen – jetzt – jetzt sind sie still – horch – horch!«

»Ja, armer Kerl! Die Hyänen sind dagewesen. Man tötet sie nicht, aber – hier, Harrar, befühle meinen Dolch – von nun an wird er im Blute der Aashunde warm werden, und nicht erkalten soll er, bis Steppe und Tundra frei sind von ihrem Gezüchte!«

»Einen Schluck Wasser und dann geht!« –

Ruwo holt Wasser, und der Kranke trinkt mit Fieberhast. –

Während er trinkt, raschelt es im Gebüsche; dort steht ein stämmiger Jäger und schaut verdutzt herüber. –

Ruwo zuckt auf. –

Ein Jäger Howes, der nachschauen soll, wie es hier steht! Er sieht die beiden, und Ruwo sieht ihn. Fliehen kann er jetzt nicht, ohne feig zu erscheinen, und vor diesem – Knaben gar nicht!

»Was tust du hier?« fragt er den »Kleinen« langsam und düster.

»Komm! Ich will dem Jäger Howes etwas zeigen!« entgegnete Ruwo.

Der Jäger tritt näher. Ruwo steht feierlich auf:

»Jäger von Arah! Du siehst hier einen armen Irren! Jäger von Arah! Hast du eine Jägerehre?«

Der andere greift nach dem Dolche:

»Knabe! Hüte deine Zunge!«

»Jäger von Arah – gut! Ich will an deine Jägerehre glauben. So frage ich dich bei deiner Jägerehre, die du doch vor dem »Knaben« nicht verleugnen wirst: warst du dabei, als man den da auf die Fährte Satans band?«

Der Jäger von Arah beißt trotzig auf die Zähne:

»Ja! Ich war dabei, Knabe!«

»Gut, Jäger von Arah, ich danke dir, nun will ich deine Frage beantworten! Du hast mich gefragt, was ich tue – Jäger von Arah, ich schneide mit meinem Dolche die erste Kerbe auf meinen Lassogriff, schau – – – so! Ziehe auch den deinigen, Jäger von Arah, du wirst jetzt um dein Leben kämpfen!«

Die von Hador galten als die besten Jäger und Krieger der Lößsteppe, die von Arah als die besten Künstler und die von Chohor als die besten Spitzbuben – alles mehr oder weniger; jeder Jäger des Magdalenien war ein Meister der Waffe, ein Künstler, und – jede Siedlung hatte auch – wie heute noch – ihre ungeratenen Kinder! Dennoch verbrachten die Jäger von Hador die meiste Zeit des langen Winters mit Kampfübungen und Ausprobieren von Finten, die von Arah mit Schnitzen, Gravieren und – Malen. Die Blutsverwandten Rahus waren stark im Erzählen und Austauschen von »Jägerlatein« und Heimtücken.

Die von Hador überraschten daher durch ihre Sicherheit und Ruhe im Kampfe, durch Ausnützung der geringfügigsten Vorteile. Aber hier steht vor dem »Kleinen« der stärkste Krieger von Arah. Es kann daher nicht verwundern, daß er auf seinen jugendlichen Gegner niedersieht wie ein Igel auf eine Spitzmaus:

»Ruwo, schone deine zarte Gesundheit!« rät er im Tone eines wohlwollenden Lohnes.

»Bist du nicht Rarun, der Kampfmeister der Jungen von Arah?« fragt Ruwo dagegen.

»Ja, mein Sohn! – Willst du auch von mir lernen?«

»Rarun, die von Hador kämpfen nicht mit Worten! – Bist du bereit?«

»Gewiß, schöner Jüngling!«

»Willst du lieber eine andere Waffe als den Dolch, Kampfmeister von Arah?« fragt der Kleine kühn und gleichmütig.

»Jede Waffe ist mir recht, du junger Held!«

»Gut – den Dolch! Du darfst aber zu jeder Waffe greifen während des Kampfes – ich werde vielleicht auch den Lasso abwickeln!«

»Den – – hahaha! – den Lasso abwickeln! Schade, daß uns niemand hört! Du wirst vorher abgewickelt sein, Pferdespringer!« (Springmaus!)

Der Jäger von Arah ist bereit. Mit vorgestrecktem Kinn und blitzenden Augen steht er da, alle seine Muskeln sind gespannt. Der »Kleine« zählt:

»Eins, zwei, drei!« – – – und wirft den Dolch weg! Zwei Mannslängen von ihm liegt die Waffe am Boden. Mit über der Brust gekreuzten Armen steht er da! Der andere ist so erstaunt, daß er vergißt, den Mund zu schließen und die Situation auszunützen.

»Bist du – – verrückt geworden?« fragt er. – – – »Hol deine Nähnadel! So kämpf' ich nicht mit einem Knaben!«

»Feigling!«

»Gut also! Du hast es gewollt! Ich werde dich den Füchsen beizen!«

Rarun tritt vor, bis einen Schritt an seinen Gegner heran und hebt den Dolch:

»Soll ich?« Ruwo bleibt wie angewachsen stehen und schaut seinem Feinde lächelnd ins Gesicht:

»Plauderweib!« sagt er. Der athletische Jäger von Arah schnellt wie ein Tiger auf, holt aus, und – – – sinkt mit einem Wehschrei zusammen!

Ruwo hatte, als er die Arme über der Brust gekreuzt hielt, heimlich einen – zweiten Dolch aus dem Gürtel gezogen und ihn, schnell wie ein Schlangenbiß, dem nicht darauf vorbereiteten Gegner, als dieser den Arm hob, zwischen die Rippen gestoßen, indem er mit der Linken parierte. Wie der Blitz ist der »Kleine« über ihm und drückt ihn vollends nieder – – dem andern ist der Dolch entfallen. Ruwo hemmt seinem Gegner mit aufgesetztem Knie den Atem und wickelt den Lasso von den Hüften:

»Du siehst, Rarun, daß ich doch zum Abwickeln komme! Deine Wunde ist nicht tödlich; dafür wirst du die Stelle meines unglücklichen Bruders einnehmen!«

Mit einigen Griffen und Zügen hat Ruwo den Besiegten gebunden und schleppt ihn an den Haaren zur Birke hin. Mit den vorhandenen Riemen und Sehnenstumpen spannt er ihn ein, wie Harrar eingespannt war.

»So, Kampfmeister von Arah! Du wirst erlauben, daß ich jetzt Beute mache; deinen Lasso und den siegreichen Dolch nehme ich mit. Wenn Ahour von dir etwas übrig läßt – etwa das Maul, weil es ihm zu groß ist –, so kann der Rest von dir diese Beute in Hador abholen. Ich werde dir das Kochgerät vor allen Weibern überreichen. Meine Großmutter wird dir einen Kuß dazu geben!«

»Ruwo!« knirscht der Gefesselte dumpf – »der erste Krieger von Arah ist deiner Heimtücke zum Opfer gefallen! Ich will die Schande nicht überleben!«

»Das sollst du auch nicht!«

»Töte mich wenigstens!«

»Gut!«

Ruwo kniet nieder und drückt ihm die Kehle zu, bis sein Gesicht rot angeschwollen ist. Dann läßt er ihm wieder Luft:

»Soll ich fortfahren?«

»Der schwarze Tod soll dich fressen, du Aashund!«

»Auf Wiedersehen!«

Der »Kleine« geht. Der Kampf mit dem Kampfmeister von Arah hat ihn die Sorge um den Bruder vergessen lassen. Dieser liegt noch teilnahmslos am Boden. Mit unverständlichen Blicken empfängt er den Bruder. Ruwo faßt ihn am Arme:

»Harrar – steh auf!«

Mechanisch will der Irre gehorchen, fällt aber vor Schwäche zurück. Ruwo reißt ihn empor und stützt ihn. Der Kranke steht wie im Schwindel.

»Wir müssen fort, Harrar, komm!«

Halb gestützt und halb getragen wankt der junge Greis neben seinem Bruder daher. Er sagt nichts, auch auf Befragen nicht. Der tapfere »Kleine« führt ihn bis gegen Mittag dem rechten Ufer des Biberflusses entlang. Ein einfließender Bach versperrt ihnen den Weg.

So, Harrar, jetzt müssen wir die Hunde von Arah an der Nase herumführen, für den Fall, daß sie uns folgen sollten!«

Die beiden setzen über den Bach und gehen gegen den Biberfluß hin; in den Fluß hinaus waten sie, bis das Wasser ihre Gürtel erreicht. Ruwo nimmt seinen Bruder auf die Arme und schreitet, rückwärts gehend, auf seiner eigenen Fährte zurück bis in den Bach. So muß die Doppelfährte den Eindruck erwecken, als seien die zwei über den Biberfluß geschwommen. Im Bache watend, schreiten sie bergan und gelangen am Nachmittage in eine felsige Waldschlucht. Ruwo weiß über dem Waldbache einen überhängenden Felsen, unter dem sie an geborgener Stelle Schutz finden. Der »Kleine« ist von der mühseligen Fahrt so müde, daß er schwankt wie sein kranker Bruder. Im trockenen Sande des Felsschutzes bereitet er dem Leidenden ein weiches Lager. Harrar fällt sofort in einen todesähnlichen Schlaf. Ruwo trägt Steine herauf und legt sie für alle Fälle neben sich griffbereit:

»Wenn die Hunde von Arah unsere Fährte finden sollten, so wird Ruwo sie zu empfangen wissen,« knurrt der »Kleine« grimmig. Ein Feuer darf er nicht anreiben; von hier aus könnten Licht und Rauch bis weit in die Steppe hinaus gesehen und gerochen werden. Proviant haben sie auch keinen mitgebracht, und die Sorge um Harrar würde keinen Ferngang erlauben. Also fasten! Der Eiszeitjäger konnte ungeheure Mengen von Wildbret vertilgen, aber wenn es galt, so schreckte er vor einem mehrtägigen Fasten nicht zurück. Ruwo wacht bei seinem Bruder bis zum nächsten Morgen. Er versucht ihn zu wecken, bringt ihn durch starkes Schütteln nur halbwach … und sofort schläft der Kranke wieder ein. Herz und Atem sind schwach, aber regelmäßig. Unter diesen Umständen darf Ruwo es wagen, in der Nähe herumzupirschen. Er entfernt sich mit Wurfspeer und Schlinge. Lange streicht er in den Felsen und Gebüschen herum, ohne ein Wild zu fühlen. In die weite Steppe hinaus darf er nicht, und so verlegt er sich am nahen Waldfluß auf etwas Sicheres. Er »fängt« Regenwürmer, indem er Grasbüschel ausreißt, macht Jagd auf Heuschrecken, Käfer und Mücken. Wie er seinen Lederbecher voll dieses friedlichen Gewimmels hat, zieht er sein Fischgerät hervor: fein zerlegte und zu einer langen, dünnen »Leine« verknüpfte Sehnen (oder Darmsaiten) mit überaus zierlichen, halbfingerlangen Harpunen aus Elfenbein verbunden. Eine Erlenrute dazu und die Angelrute ist fertig! Er kennt die Eigentümlichkeiten des Wildes besser als seine eigenen: aus dem Verborgenen läßt er an ruhigen Tiefstellen den Insekten-Köder nur streichend, wie im Fluge über das Wasser hüpfen und fliegen, so daß die Raublust der Forelle herausgefordert wird. In diesem Felsenkessel scheint die Gelegenheit günstig zu sein; er täuscht sich nicht: kaum hat die große Schlupfwespe an seiner Harpune einen ruhigen Wirbel zwei-, dreimal gestreift, so blinkt es weißgelb unter der Fläche, ein blitzschnelles Aufschnalzen, und an der Sehne zappelt und zuckt und flatscht eine herrliche Waldforelle, eine, mit großen schwarzen Tupfen auf dem Rücken. Der verborgene Räuber hinter dem Felsen scheint wenig Zartgefühl für ihre Schönheit zu fühlen: mit wollüstigem Behagen streckt er ihr den Daumen ins schnappende Maul und bricht ihr das Genick. Liebevoll betrachtet er das armsdicke Stück, löst die Harpune aus dem Rachen und legt die herrliche Forelle neben sich, wo sie eine Zeitlang zuckt, indes ihr Mörder eine Heuschrecke »lädt«. Bald kommt eine zweite Forelle, beißt an und schnellt »leer ab«. Der Fischer geht weiter; die Forellen in dieser »Stube« sind gewarnt und werden für heute verschüchtert sein. An einer andern baumüberhangenen Stelle läßt er sich nieder und beginnt sein heimtückisches Spiel von neuem. Schon hat er dreimal »geländet«, da hört er unter sich ein eigentümliches Plätschern; durch das überhängende Laubwerk sieht er einen Fischotter, der dem gleichen Handwerk obliegt! Soeben zermalmt dieser einer gefangenen Forelle den Kopf. – Ruwo faßt den Speer, zielt und – ein fauchendes Kreischen: der getroffene Räuber bäumt sich hoch auf und beißt rasend in den Schaft. Ruwo faßt die Wurfstange und zerschmettert dem sich verzweifelt wehrenden Tier den Kopf – zwei Fliegen auf einen Schlag. Denn auch die tote Forelle wird heraufgeholt. Gegen Mittag kehrt der Jäger beutebeladen heim. Harrar schläft noch. Der »Kleine« sucht nach einer verborgenen Felsennische und reibt mit Bohrholz und trockenem Kienholz nach unendlicher Mühe und Sorgfalt ein Feuer an. Die gebratenen Stücke werden auf einen erwärmten Stein gelegt. Dann versucht er seinen Bruder zu wecken; es gelingt, aber sofort schläft der Leidende wieder ein. Ruwo läßt ihn schlafen; er kennt die heilende Kraft des Schlafes. Nach dem Mahle begibt er sich auf einen hohen Felsen und hält Ausschau: kein Lebewesen zeigt sich auf der Steppe – doch halt! Dort im Föhrengebüsche lebt etwas. Ruwo verschwindet wie ein Wiesel vom Felsen und schleicht in die »verdächtige« Gegend. Gegen den Wind schleicht er an, in Deckung und mit vollkommener Lautlosigkeit. – Setzt ein Blick durch das Strauchwerk: Ah – zwei armstarke, schwergerippte Ziegenhörner. – – Ein Steinbock! Die Schlinge ist wegen des Strauchwerkes nicht gut verwendbar; der »Kleine« zieht aus seinem Wurfspeer die Elfenbeinspitze heraus und setzt ziemlich lose eine größere Harpune ein. An ihrem gestielten Hinterende befestigt er eine Sehne und umwickelt den Schaft bis in die Mitte, wo er sie ebenfalls verknotet. Also los! – Wo ist der Bock? Dort knuspert er an grünen Schößlingen herum; Ruwo setzt wie zum Sprunge an – – Schßt! – Hochauf springt der Gehörnte und schnellt davon; die Harpune mit ihren scharfen Widerhaken sitzt zwischen den Rippen, wie eine stachlige Aehre im Munde, und die »Schnur« wickelt sich ab, den Schaft als Querholz mitschleppend. Der Schütze folgt den Schweißspuren und findet das zuckende Tier atemlos und zitternd im nächsten Gebüsche verwickelt. Es ist ein alter Bock mit einem kurzen Kinnbart. Ruwo faßt ihn bei den gewaltigen Hörnern Bis 80 Zentimeter lang. Der Verfasser. und erdolcht ihn. Jetzt heim mit dem Braten, sonst erlischt dort das Feuer!

Harrar schläft noch; der Jäger häutet und zerlegt sein Wild, brät große, mit Waldgewürzen gespickte Stücke und legt sich nach gründlicher Stärkung zur Verdauung nieder.

Harrar schläft bis in den folgenden Nachmittag hinein. Jetzt wird der »Kleine« besorgt.

»Er wird doch nicht schlafen wollen, bis er Großvater ist! Entweder-Oder!«

Er nimmt den starken Mann auf die Arme und trägt ihn zum Bache hinunter. Er taucht ihn mehrmals ins sprudelnd frische Wasser, bis der Eingetauchte wie unter Erstickungsanfällen schluckt und pustet, dann bettet er ihn auf den Bachrand an die Sonne. Er hat die Augen offen und schaut verwundert um sich:

»Wo bin ich – – Ruwo?«

Mit einem Freudenschrei sinkt Ruwo vor seinem Bruder nieder:

»Harrar! – Lieber, lieber Harrar! Sag' noch ein Wort – ein einziges Wort!«

»Wo sind wir, Ruwo?«

»In der Geisterschlucht, Harrar! – Wie ist dir?«

»Warum fragst du? Wie kommen wir hieher?«

Er spricht matt und schwer; sein Auge schaut nicht mehr so stier und irre wie gestern.

»Du hast lange geschlafen!«

»Und schauerlich geträumt!«

»Das war kein Traum, Harrar!«

»Kein – – Traum?«

»Sieh' mal hier in den Bach!«

»Ich sehe nichts – kein Schwänzchen!«

»So schaue dein Bild im Wasser!«

»Ah – – wie übernächtig! – Das Haar voll Sand und Asche!«

»Das ist – – kein Sand, Harrar!«

Der Erwachte fährt sich über die Locken:

»Kein Sand? – Was denn? Staub? – Es läßt nicht!« Er fährt sich über die Locken.

»Harrar, du bist nicht eitel? – Nicht wahr?«

»Dummes Zeug! Eitel! – Was ist's?«

»Harrar, du bist – grau!«

»Das seh' ich! – Von was? Ist's Farbe oder Staub?«

»Nein, Bruder, du bist ergraut!«

»Er–graut? So ist's wahr, wach ich – geträumt? – Wirklich wahr? – Ruwo, ich sah im Traume den Satan der Steppe, und ich war gebunden!«

»Das war kein Traum!«

Wie sich besinnend preßt Harrar die Hand an die Stirne.

»Man hatte dich dem Höhlenlöwen gebeizt!«

»Ah! – In jener Nacht! – Und ich bin – ergraut, Ruwo?«

»Tröste dich, Harrar! Das wird bessern mit der Zeit. Danke dem Allschaffer, daß deine Seele klar ist. Du bist grau; aber die »andern« sollen dafür alle Farben bekommen!«

»Die – andern? – Du meinst die von Arah? Ich erinnere mich!«

»Richtig! – Erzähle mir, Harrar: wie kam das alles?«

Harrar erzählt mit müder Stimme, abgebrochen und sich mehrmals besinnend; nach und nach bringt er alles zusammen. Ruwo hört knirschend zu:

»Den alten Howe werde ich rösten, nicht auf einmal, und dem Drachen von Chohor werde ich die Beine abschneiden bis zum Halse hinauf!«

»Ruwo, der alte Howe ist verblendet; erst verlor er sein Weib, die Blume von Ulianti, dann seinen Sohn und sein zweites Weib! Das Unglück hat seinen Geist getrübt. Er ist unglücklicher im Leben als im Tode. Wir wollen uns an ihm und den Seinen nicht rächen!«

»Waaas? – – Nicht – nicht rächen?«

»Ruwo! In jener Nacht habe ich gefühlt, was Menschenhaß ist! Er ist der größte Feind der Menschheit – ein Gott der Unterwelt; wir wollen ihm nicht opfern!«

»Hm! Einer ist bereits geopfert!«

»Einer? – Wer?«

»Rarun, der Kampfmeister von Arah!«

»Du hast ihn getötet, Ruwo?«

»Ein wenig, und dem Satan der Steppe gebeizt – an deiner Stelle!«

»Erzähle!«

»Ich lag noch in Arah, als Raha kam und mit den Gaunern tuschelte. Sie zogen aus, und nach einiger Zeit kehrte einer zurück – Rarun! – und meldete mir, daß sie dich auf dem Rückwege getroffen hätten. Du hättest dich ihnen angeschlossen zur Löwenjagd! Ich wollte mit dabei sein und folgte ihnen am Morgen!«

»Warum erst am Morgen?«

»Es fiel mir in der Nacht auf, wie eindringlich mir Rarun – Ahour fresse ihn – geraten hatte, mich zu schonen, und ich witterte etwas; der Halunke hätte mir sonst nie Teilnahme gezeigt!«

Harrar lächelte:

»Man wird nach ihm suchen und ihn finden!«

»Mag sein – der Teufel ist sein Schutzgeist. Ich werde …«

»Ruwo! Wir beginnen den Rachezug nicht! Schon um deinetwillen!«

»Um – meinetwillen?«

»Ja! Um deinetwillen! Du liebst Howelin!«

»Wenn's das ist! Die bleibt mir treu, auch wenn ich dem Alten ein wenig die Ohren abschneide!«

»Ruwo! Ich weiß dir eine schönere Rache!«

»Ich wüßte nicht welche!«

»Wir jagen Ahour, den Satan der Steppe!«

Der tatenlustige »Kleine« springt auf:

»Harrar! Das ist ein herrlicher Gedanke! Wir fangen ihn, den Satan, den Schleicher, wir zwei, wir allein, gelt, Harrar?«

»Ja, wir zwei! Ich fühle seit jener Nacht den Drang in mir, die Steppe von ihrem Schrecken zu erlösen, ihm mit freien Armen entgegenzutreten, vor dem ich hilfslos gebunden lag! Man soll nicht sagen, daß ein Feigling von Hador ergraut sei; sie sollen sehen, daß ich ihn mit freien Armen nicht fürchte – – wo willst du hin?«

»An den ›Weißen Felsen‹! Ihn fragen, ob er einen letzten Wunsch habe!«

Der Genesende lächelt:

»Nicht so schnell, kleiner Löwe! Wir müssen uns rüsten: mit Mammutschlingen, schweren Harpunenspeeren und Giften. – Außerdem muß ich mich einige Tage erholen und stärken!«

»Du hast recht! Wir müssen heim! Aber wenn die Hunde von Arah ihn uns wegschnappen?«

»Keine Angst! Sie hoffen ja, daß er mit dem Wild vor Winter nach Westen oder Süden weiterziehe. An dieser Jagd liegt ihnen nichts.«

»Gut! – Was sagen wir daheim – wegen deines Haares?«


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