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Vor Jahrtausenden – kein Gelehrter hat auch nur annähernd die Zeit bestimmt – da war das Gebiet unserer Heimat in einer bergmächtigen Eiskruste begraben. Wo heute Flüsse und Bäche durch blühende Täler rauschen, da zwängten sich unter Aechzen und Krachen die urgewaltigen Eisströme durch, deren Tiefenmächtigkeit nicht selten 2000 Meter übertraf. Einer der gewaltigsten dieser Titanen war der Rhonegletscher.
Wie ein stöhnender Drache war er aus seinen himmelanstarrenden Felsentoren zu Tale gekrochen, hatte seinen linken Flügel über das Gebiet der heutigen Südwestschweiz bis nach Lyon ausgereckt, und als sich der wilde Jura seinem Vordringen trotzig entgegenstellte, überrannte er ihn mit eisharter Stirne, paarte sich mit dem jungen Drachen vom Oberaarhorn, dem Aaregletscher, und drang mit ihm über das schweizerische Mittelland vor bis ins heutige Baselland hinein. Da machten der Reuß- und Linthgletscher mit ihnen gemeinsame Sache, und zugleich stieg der alte Drache vom Rheinwaldhorn nieder, stieß mit Berggewalt bis ins Gebiet des heutigen Bodensees vor und streckte seine Zunge fächerförmig bis gegen Sigmaringen und Ehingen hinaus. Sein Schweif reichte immer noch zurück bis in die Lochmulden und Klüfte des Paradiesgletschers im Gebiete des Rheinwaldhorns. Sein Panzerleib schrammte felsige Talsohlen auf, hobelte Bergwände und schliff ganze Felsmassive, die sich ihm entgegenstellten, bis auf glattpolierte Rundhöcker ein. Wo er solche Höcker und Abhänge überwand, da sträubte sich sein gewaltiges Schuppenkleid wie in namenloser Wut, um sich nachher wieder schlangenglatt zu schließen.
Viermal stießen sie vor, die eisgepanzerten Drachen des Diluviums (Eiszeit). Unter ihrem Hauche erstarrte die Blume des Tales wie die Alpenrose an hoher Felsenwand – die Region des ewigen Schnees war bis ins Flachland vorgedrungen!
Beim vierten Vorstoß war ihre Titanenkraft gebrochen. Der Rhonegletscher z. B. brachte es diesmal nur noch bis in die Gegend des heutigen Solothurn. Da legte sich der lebensmüde Drache zum Verenden nieder, d. h. er schmolz unter steigender Durchschnittstemperatur stetig ein und trat den Rückzug an.
Versetzen wir uns in diese Zeit!
Wir steigen auf den kalten Nacken des sterbenden Titanen, aber mit sorglicher Vorsicht; er ist immer noch ein tückischer Geselle; in seinen Runzeln und Fallen lauert der Tod: die Längs- und Querspalten eines eiszeitlichen Gletschers, auch in seiner Rückzugsphase, führen immer noch in eine unheimliche Tiefe. – Wie aus weiter Ferne hören wir dort unten ein heimliches Gurgeln und Zischen: die Schmelzwasser fallen nieder, rieseln und sprudeln und plätschern, reißen Blöcke und Schottermassen mit und rösten sie in den bauch- und schraubenförmig ausgeschliffenen Töpfen und Gletschermühlen. Das faucht und gähnt und rülpst wie im Innern eines sterbenden, wassersüchtigen Riesen. Durch seinen aufgesperrten Rachen, das Gletschertor, ergießt dieser verendende Riesendrache sein gelbliches Leichenwasser.
Wenn eine Leiche verwest, so bleibt das Gerippe zurück. Auch der sterbende Gletscherdrache hinterläßt ein Beingerüst, ein Skelett von solcher Furchtbarkeit, daß noch kommende Jahrtausende vor ihm schaudern. Hoch droben in den Alpen waren schwere Felstrümmer auf seinen Leib gefallen; diese hat er eingebettet und, weil sie infolge ihres schwereren Gewichtes immer tiefer sanken, als Grundmoräne verfrachtet; zu beiden Seiten fielen Blöcke und Schutt auf seine Flanken, und er nahm sie als Seitenmoränen mit ins offene Land. Wo zwei Gletscher zusammenfließen, bilden ihre innern Seitenmoränen zusammen die Mittelmoräne. Dieses sein ganzes Knochengerüst hat das sterbende Untier bei seinem Zurückschmelzen liegen gelassen. – – –
Eine sternenklare Nacht leuchtet auf den Vorlandgletscher nieder; er liegt so still wie ein in Hochflut erstarrtes Meer; nur in seinem Innern ist geheimnisvolles Knistern und Gurgeln.
Leise erhebt sich im Osten der junge Tag. Da fangen die erstarrten Wogen zu glühen an, und wie der steigende Sonnenball das Firmament entzündet, leuchten sie wild auf, als hofften sie von dort Erlösung aus ihrer Starrheit. Ein Blick nach Norden: dort liegt das »Knochengerüst« des zurückweichenden Gletschers. Langgezogene Seitenmoränen, hügelige Endmoränen und dazwischen ungeheure Schotterfelder, trostlos und leer, eine Wüste des Todes. Nur die Renntierflechte wagt sich spärlich bis an den Saum der Gletscherzunge heran.
Doch halt! Ist dort nicht – – –?
Wahrhaftig! Dort hinter dem Vorsprunge des Gletschertores kauert – – – – ein Mensch!
Erst in allernächster Nähe fällt er dem Auge auf; die graugelbe Farbe seines enganliegenden Rumpfkleides aus dem Felle der Saiga-Antilope vermischt sich mit dem Grau des Trümmerfeldes; sein Ueberwurf aus Renntierfell erscheint aus einiger Entfernung wie ein Flechtenteppich, und selbst das mit Rot-Ocker bemalte Gesicht und die tätowierten Arme unterscheiden sich kaum von der Farbe seiner Umgebung. Sein scharfgeschnittenes, schönes Gesichtsprofil verrät hohe Intelligenz und Energie. Und sein Auge – –!
Solche Augen haben nur Menschen, deren Blick an weite Fernen gewohnt ist, und dieser Fernblick gibt dem Auge, in der Nähe betrachtet, etwas Träumerisches, Rätselhaftes.
Wie starr blickt es auch jetzt in die Ferne. Wohin? –
Ah – –!
Dort, über die ferne Gletscherzunge bewegen sich dunkle Punkte, fünf, sechs, sieben, acht … Renntiere!
In einiger Entfernung hinter ihnen tauchen fünf andere Punkte auf.
Erst scheinen es ebenfalls Tiere zu sein!
Sie verschwinden hinter einer Eiskante – kommen wieder zum Vorschein – – gebückt schleichende Menschen!
Vor ihnen her trotten die Renntiere, mehr von ihrem Instinkte als von den Verfolgern gejagt.
Kein Zweifel: die Menschen treiben die Herde unserm Jäger zu! Dieser wickelt bedächtig die Lasso-Schlinge von den Lenden, faßt den mit Wildpferden gravierten Griff mit der Linken und nimmt die kunstvoll aufgewickelte Lederschlinge in die Rechte.
So wartet er!
Seine sehnigen Oberarmwülste zucken wie verhaltene Spannkraft. Der Mann kann seine Neugierde beherrschen: nicht ein einziges Mal späht er um die Kante. Es geht noch lange, bis sich von jenseits ein kaum hörbares Schnauben vernehmen läßt: sie kommen!
Lautlos, wie eine gespannte Feder, nimmt der Jäger Wurfstellung ein. Ein nahes Knistern des Schotters, ein leises Plätschern; jetzt muß das Leittier um die Kante des Gletschertores biegen, jetzt – – – jetzt!
Kaum zeigt sich das Geweih des Ren – – schßt! Fliegt der Lasso! Das erschreckte Tier prallt mit einem Hochsprunge zurück, aber die Schlinge hat sich kunstgerecht um seine linke Geweihstange verfangen. Dann zappelt es verzweifelt, wie ein Fisch an der Angel, indes die erschreckte Herde in eleganten Hochsprüngen ausreißt und im nächsten Augenblicke hinter den Schutthalden und Eistrümmern verschwunden ist.
Das vor Todesangst rasende Tier reißt den Jäger ein Stück mit sich fort; der hält wie eine in sein Opfer verbissene Wildkatze.
»Halloh-hoh! – Heil! Heil, Harrar!«
Die Jäger sind da, schon hebt der Vorderste seinen Wurfspeer mit der hellglänzenden Spitze aus Elfenbein: zischend fährt er dem armen Tier in die Flanke; ein zweiter folgt nach. Da verdreht das Wild rollend die Augen, legt den Kopf noch einmal zurück, wie zu einem letzten Sprunge ansetzend, und – knickt mit einem tiefen Atemzug zusammen. Seine Hinterläufe arbeiten noch, aber aus dem Maule hängt die blutige Zunge.
»Ihr habt sie weit her gebracht, Ruwo?« frägt unser mit Harrar angeredete Jäger.
»Ja, Bruder,« entgegnet der Angeredete, – »und wir hatten große Mühe, die Tiere in dieser Richtung zu treiben!«
»Weshalb? Der Morgenwind war doch mit euch!«
»Gewiß, Harrar! Aber ich hatte das Gefühl, als ob das Ren diese Richtung scheute. Wir hatten große Mühe, es am Ausbrechen nach Norden zu verhindern.«
»Unbegreiflich! Seit Jahren haben die Tiere doch diesen Wechsel!«
»Ja, Harrar. Mein Bruder steige auf jene Gletscherzinne und schaue, ob er im weitesten Umkreise irgendein Wild bemerken kann!«
»Pah! Sie sind jetzt vergrämt! – An die Arbeit!«
Harrar zieht den feingeschnitzten Elfenbeindolch aus dem Gürtel und kauert vor dem leise zuckenden Tiere nieder; mit einem gewandten Stoßschnitte öffnet er ihm die Halsader und verhält die Wunde so, daß das Blut in die bereitgehaltenen Lederbecher abströmen kann.
Dieses Blut wird von den Jägern mit Hochgenuß getrunken; es enthält die Seele des Tieres und gibt Schnelligkeit und Ausdauer.
Die vom Blute geröteten Lippen der Jäger machen den Eindruck, als seien diese Menschen selber am Verbluten.
Im Winter wird das Blut gefroren von der Jagd nach Hause getragen und dort monatelang aufbewahrt, wie das Fleisch auch. Schon der Magdalenienjäger kannte also das Gefrierfleisch. –
Jetzt ist es Hochsommer; deshalb wird der Lebensstrom des Tieres an Ort und Stelle getrunken. Dazu werden kalte Bratenstücke von Bison und Wildpferd von den Jägern unter frohen Reden verzehrt.
Nach diesem blutigen Frühstück werden vier Wurfspeere zu zweien mit Sehnen, Darmsaiten und Schnüren (aus Wildpferdhaar) zusammengebunden und die Wurfstangen aus Renntierhorn als Querhölzer benutzt. Ihrer vier tragen das erlegte Wild.
Harrar und ein Alter gehen voraus, um den Weg zu prüfen, und dies ist keine Ueberflüssigkeit; es geht durch die Tundra!
Als eine Wüste von unendlicher Trostlosigkeit liegt sie vor dem Auge der Renntierjäger, die Tundra der letzten Nacheiszeit. Wie ein fahles Leichengesicht zeigt sie ein die Seele bedrückendes Bild der überstandenen Agonie, wie gebrochene Augen starren ihre Tümpel und Seen zum Himmel empor und unter der dünnen Haut von Flechten und Moosen scheint sich mit grauenhafter Deutlichkeit das Moränenskelett des alten Gletschers wie unter einem Leichentuche hinzurecken.
In der Tieftundra herrschen die von Insekten wimmelnden Moore, in der Hochtundra krüppeln vereinzelte Zwergbirken ihr greisenhaftes Leben dahin; einige Lärchen und Föhren suchen in besonders günstiger Lage ihre Daseinsberechtigung darzutun; der rasende Lößsturm hat sie gestriegelt, daß sie aussehen, als ob eine Riesenfaust sie zehnmal um ihre eigene Achse gewickelt hätte.
Sengend brennt die Sonne wie ein glühendes Auge auf die stille Unendlichkeit der Tundra.
Gegen Nachmittag scheint die Vegetation reicher zu werden, aber die Gefahr der Tundra ist noch nicht vorüber: nicht immer strömen ihre Wasser zu einem Moortümpel oder See zusammen; oft durchsickern sie den Boden und schaffen unter dem trügerischen Moos- und Flechtenteppich einen Hohlraum oder Morast, der nur vom breithufigen Ren gefahrlos beschritten werden darf. Hundertmal sich windende Flüsse ohne wahrnehmbares Gefälle sperren des öftern die Landschaften und lagern feine Sandbänke ab, die vom Lößsturm aufgewirbelt und mit den dürren und losen Produkten der Steppe an den Anhöhen als Dünen abgelagert werden.
Auf den Dünenhügeln erhebt sich die Lärche zum stattlichen Baume und wird hie und da im Vereine mit Weiden- und Zwergerlenbüschen zum Schmucke der Landschaft. Im Schutze der Lärche siedeln sich auch andere hochstämmige Pflanzen an, spitzblätterige Weiden, Ebereschen, Geißblattgebüsche, Faulbäume und Zwergfichten. Hatten wir bisher nur spärliche Tundrenflora: Renntierflechte, Wassermoos, Riedgras und Wollweiden, so kennzeichnen Rosmarinheide, Nießwurz und Thymian, Nelke und Glockenblume, Vogelwicke und Schnittlauch, Alpenerbse, Hahnenfuß und Immortelle den Uebergang zur solideren – Steppe!
Die Steppe mit ihren wandernden Wildherden!
Während Mammut und Nashorn, Eisfuchs und Lemming die Tundra vorziehen, durchrasen Heere von Urstier und Bison, von Wildpferden, Elchen, Hirschen und Antilopen die leichtbestandene, grasreiche Prärie.
Was der abgehärtete Jäger der Eiszeit leisten und ertragen kann, das zeigt sich hier: die sechs Jäger haben auf ihrem beschwerlichen Marsche noch nie gerastet!
Nun hebt der rüstig voranschreitende Alte die Hand:
»Halt! – Wir haben den halben Weg – nieder mit der Last!«
Zwischen Erlenbüschen, im Schatten einer stattlichen Birke, lassen sich die Jäger nieder und greifen nach ihren Mundvorräten: Bratfleisch mit Fisch, Kleinwaldfrüchten und Zwiebeln.
An die Birke gelehnt, schaut der Alte sinnend in die Ferne.
Von Zeit zu Zeit schiebt er ein Stück Fleisch zwischen seine elfenbeinernen Zähne. Keiner spricht ein Wort; denn der Alte hat noch nicht gesprochen; er ist das Haupt der Höhlensiedlung von Hador.
Hoch in den Lüften zieht ein Falkenpaar nach der Tundra.
Der Alte verfolgt die Vögel mit seinen kristallenen Augen, bis sie als kleine Pünktlein im blauen Aether aufgehen.
»Dank dem Allschaffer, daß wir Vorrat haben!« spricht er – »das Wildrind fängt zu wandern an, die Steppenhengste nüstern der Sonne entgegen und der Lemming rüstet sich zur Todesfahrt!«
»Glaubt mein Vater, daß das bald geschieht?« fragt Harrar, sein Aeltester.
»Ehe der Mond sein Geweih aufsetzt, wird der Lößsturm über die Steppe rasen!«
»Ziehen wir gegen Westen, Vater?«
»Nein! Wir bleiben diesen Winter in der Höhle von Hador; unter den Jägern des Westens frißt die Rache und der Speer der Vergeltung!«
»Anthors Sohn soll auf der Jagd getötet worden sein!«
»Aus Eifersucht! – Sie ist der Wurm des Friedens!«
»Wer wird siegen, Vater?«
»Das Recht und die Ehrlichkeit!«
»Wenn der Haß und die Tücke triumphieren, Vater –?«
»Greift die Gottheit ein mit Hunger und Seuche! – Glaube mir, Harrar, jedes Unrecht wird im Laufe der Jahre, früher oder später – – – horch! – Was war das?«
»Was hast du, Ahar?« fragt einer der Jäger.
Der Alte – der Vater Harrars und Ruwos – steht in horchender Stellung, die hohle Land am Ohr.
»Der Wind hat mir einen fernen Ton gebracht, aber ich kann nicht entscheiden, ob es das Brüllen eines Urstiers oder das Wiehern eines Hengstes war – still!«
Man würde einen Halm fallen hören, so still ist es geworden: keine Hand bewegt sich mehr, kein Atemzug ist wahrnehmbar. Die Gruppe ist wie erstarrt; das ist Jägerdisziplin!
»Ich höre nichts mehr!« unterbricht der Alte die Stille.
»Vielleicht ein Windzug!« meint Harrar.
»Möglich!« sagt Ahar gedankenlos, legt sich nieder und drückt das Ohr auf die Erde. Lange verharrt er so; endlich steht er auf und schaut wie sinnend vor sich hin.
»Ich vermute eine nahende Bisonherde oder einen wandernden Pferdetrupp – gehen wir auf die offene Steppe! Hier können wir nichts sehen!«
Die sechs Jäger ergreifen ihre Waffen und pirschen sich lautlos durchs Gebüsch auf die offene Steppe – gegen Osten. Hier eröffnet sich ein Fernblick bis an den grauen Horizont; zur Rechten zieht sich ein wildzerklüfteter Kalkfelsen gegen Sonnenaufgang, zur Linken schleppt sich ein halbtoter Fluß mit ermüdender Trägheit von Osten her bis nahe an die Erlenbüsche und in unzähligen Windungen mit Inseln und Untiefen nach Norden.
Rechts flieht eine Hyäne ins Gebüsch der Felsentrümmer.
Der alte Ahar schaut ihr lange nach. Ruwo, sein Jüngster, kann sich eines Lächelns nicht erwehren. Sein Vater sieht es, und zwischen seinen Brauen bildet sich eine strenge Falte.
»Ruwo! Du glaubst, ich hätte vorhin das ›Gelächter‹ dieses Leichenwolfes gehört?«
»Ja, Vater!« gesteht der Junge ehrlich.
»Es war nicht die Hyäne, auch nicht ein Hengst und noch weniger ein Stier!« erklärt der Alte in einem Tone, aus dem die innerste Ueberzeugung herausklingt.
»Wir stehen vor der Zeit der Wildfahrten!« wagt Harrar einzuwenden, nur, um den Vater zum Sprechen zu veranlassen; Ahar gilt als der erfahrenste Jäger der »Löß-Steppe«, wie man die Gegend zwischen den zwei »Großen Flüssen« nennt.
Ahar streckt seine Hand aus:
»Schau dort gegen Aufgang, Harrar! Siehst du ein Großwild?«
»Nein, Vater!«
»Dein Auge reicht hier weiter als der Ton deines Rufes. Der Ostwind hat jenen Ton gebracht, und doch sehen wir eine wildleere Steppe!«
»Ich weiß es nicht!« entgegnet der Alte nachdenklich. »Ich hörte ihn schon, diesen Ton; aber damals war es – – – kommt, wir wollen gehen – halt! Schlingen vor! Er kann uns nicht entrinnen!«
Im Röhricht des Flusses taucht das Schaufelgeweih eines Elches auf!
Er ist fern, hat aber genau Richtung auf unsere Jäger. Diese verteilen sich blitzschnell in Abständen hinter die Erlenbüsche und rüsten ihre Wurfschlingen. Gemächlich im Halbtrab trottet er heran, der langnasige »Bruder des Sumpfes«. Plötzlich stutzt er! Seine Ohren legen sich nach vorn und seine Nase windet wie ein Rüssel nach dem Felsgrate hin. Da, wie von einem Speere getroffen, schnellt er hoch und stürzt sich jäh ins aufzischende Wasser des Flusses. Er schwimmt nicht; er rast wie im Sprunge hinüber und verschwindet.
Enttäuscht winden die Jäger ihre Schlingen wieder auf und sammeln sich um Ahar.
»Der alte Schnüffler hat uns gerochen – oder war einer nicht in Deckung?« knurrt der enttäuschte und heißblütige Ruwo.
»Er hat uns nicht gerochen, und keiner hat einen Fehler gemacht! Der Schelch hat nach dem Felsen gewindet!« entscheidet der Alte und schaut mit einem langen Atemzug nach dem felsigen Höhenzuge.
»Hat er die Hyäne …«
»Kommt! Aber leise!« befiehlt der Alte mit unterdrückter, eindringlicher Stimme.
Die vier nehmen ihr Wild auf und der Alte macht den Führer. Hinter ihm geht Ruwo. Noch einmal wendet sich Ahar zurück.
»Der erwachsene Schelch flieht nicht vor der Höhlenhyäne. – Diese geht nur nachts auf Beute!« belehrt er den Jüngsten und geht stumm voran. Unruhig mustert er die Umgebung bis zum Horizont; meist hält er den Kopf gesenkt, als suche er nach Wildspuren.
»Halt!« ruft er plötzlich mit erhobener Hand. Alles steht still. – »Ruwo! Komm her! – – Was ist das hier?«
»Meint mein Vater diese Fährte? – Hm, hier ist wohl die Hyäne gestern nacht durchgekommen!«
»Harrar! Komm du, und sage dem ›Kleinen‹, was du siehst!«
Der »Kleine« mochte seine 20 Jahre hinter sich haben, und war so groß wie sein Vater!
Harrar betrachtet die Spur bedächtig und verfolgt sie ein Stück weit. Bald kommt er zurück. Seine Lippen sind blaß geworden. »Vater, du hast es gewußt!« sagt er, und in seiner Stimme klingt ein leises Beben.
»Nicht gewußt, aber ›gefühlt‹!« entgegnet sein Vater, nicht ohne eine gewisse Genugtuung, wenn auch mit verhaltenem Ernst.
»Was ist's?« frägt der »Kleine« ungeduldig.
Ein anderer Jäger kommt heran, Watu, der gewandte Speerwerfer. Kaum hat er sich über die Fährte gekauert, so schnellt er wieder auf:
»Ahour, der Satan der Steppe!«
Lange stehen die Männer rat- und wortlos da; tiefer Ernst liegt auf ihren Gesichtern; der Höhlenlöwe ist das furchtbarste Raubtier der Steppe, das nicht nur das Wild in weitem Umkreise vernichtet und verscheucht, sondern auch, getrieben von seiner nie befriedigten Blutgier, den Menschen anschleicht und nicht selten Ansiedelungen auf seinen nächtlichen Jagdzügen überfällt. Der »Höhlenlöwe« war wohl, nach dem Nasalfortsatze seines Oberkiefers zu urteilen, ein Mittelding zwischen Tiger und Löwe – der eigentliche Löwe ist nur in tropischen Gegenden zu finden, während z. B. der bengalische Tiger bis nach Sibirien getroffen wird! – Man wird sich fragen, warum diese gewaltige Katzenart der Eiszeit, die ihre heutigen Blutsverwandten, sogar den Senegal-Löwen, an Größe und Kraft weit übertraf, am Ende des Quartärs (Eiszeit, Diluvium) ausstarb; der Zoologe weiß, daß Tiere, die sich durch Größe und Angriffslust auszeichnen, der menschlichen Waffe schneller zum Opfer fallen als solche, die klein sind oder fliehen. Der Verfasser.
Harrar schaut mit einem langen, fast sehnsüchtigen Blicke gegen Westen; dort, jenseits der gewaltigen Eiszunge auf einem Kalksteingrate liegt die Höhlensiedlung Chohor. Das Vorlandeis bildet hier eine Bucht von zwei Tagreisen.
»Ob sie's wohl wissen in Chohor, daß Ahour im Lande ist?« frägt er zaghaft.
»Wohl kaum,« erwidert der Alte – »der Blutteufel ist jedenfalls mit den wandernden Herden gekommen!«
»Ob man sie nicht warnen sollte?«
»Wie meinst du, Harrar! Eigentlich ist es unsere Menschenpflicht – aber – – hüte dich vor dem alten Rahu!«
»Unser weiser Vater hat uns oft vor Rahu gewarnt, wenn wir unter uns waren; er ist ja ein wilder Geselle, aber schlecht …?«
»Kommt auf jene Anhöhe, damit wir von dem dort hinten« – Ahar deutet nach dem Felsen – »nicht gefühlt werden!«
Der Alte geht voran. Unter einem kleinen Felsenschutze bleibt er stehen und zeigt gegen Westen:
»Siehst du die glühende Eiszunge, welche sich in die Steppe hinein erstreckt? Sie heißt die ›Zunge des bösen Weibes‹.«
»Warum, Vater?« erkundigt sich der neugierige Ruwo.
Ein heiterer Schimmer geht über das verwetterte Gesicht des Alten:
»Du sollst es wissen, Ruwo! Nimm dir eine Lehre davon! Sie hat den schönen Namen aus drei Gründen. Erstens: weil sie sich nie zurückzieht. Zweitens: weil sie alles wieder ans Licht bringt, was man ihr vor Jahrhunderten im Gebirge anvertraut hat. Drittens: weil sie mit ihrem trüben Geifer alles beschmutzt, was in ihrem Bereiche liegt!«
»Und viertens,« fährt ein Jäger grimmig weiter, »weil sie's auf die Männer abgesehen hat!«
»Wieso das?« wundert der »Kleine«.
»Du mußt wissen,« – fährt Ahar weiter – »daß diese Vorlandzunge den Renjäger oft zu einem großen Umwege zwingt. Wenn er diesen abkürzen will, so muß er sie übersteigen, und dies ist nur möglich über den Lauerweg, so genannt, weil in den fürchterlichen Gletscherspalten der grüne Tod lauert. Der Name hat noch einen andern Grund: Ihr kennt den alten Howe von der Arah-Höhle?«
»Sein Sohn Owinar ist mein bester Freund!« bekräftigt Harrar mit leuchtenden Augen. – »Er ist der berühmteste Bildkünstler der Steppe und der Tundra!«
»Das war sein Vater auch, und wird es noch sein! – Im Steppenwalde jenseits der ›Zunge des bösen Weibes‹ hatte er in seiner Jugend ein Mädchen kennen gelernt, schlank wie die Gazelle der Steppe und rein wie der Himmel der Tundra. Auch Rahu traf sie einst nach einem Jagdzuge auf das Mammut und brachte ihr des öftern Jagdbeute, Schmucksteine und Flimmermuscheln. Howe schnitzte ihre Gestalt in Elfenbein und verzierte ihre Geräte aus Renhorn mit den Tiergestalten der Steppe. Eines Tages sagte die schöne Rah zu ihm: ›Howe, ich folge dir!‹ Da wurde Rahus Wange leer und seine Augen traten tief in ihre Höhlen zurück, um auf Taten der Rache zu sinnen. Auf dem ›Lauerwege‹ der ›bösen Zunge‹ lauerte eines Nachts Rahu auf den heimkehrenden Howe. Rahu war ein Riese an Größe und Kraft, Howe ein schlanker Jüngling von mittlerer Größe, mit geschärften Sinnen: plötzlich fühlte er sich verfolgt und stand, um seinen Verfolger anzurufen. Zugleich faßte er nach seinem Speer. Der falsche Rahu gab sich ihm zu erkennen, bot ihm die Hand zum Gruße und – packte ihn! Die sternenhelle Nacht sah einen furchtbaren Kampf zwischen den fürchterlichen Gletscherspalten. Rahu wollte seinen Gegner mit Stierenkraft in die Schründe schleudern; Howes Gewandtheit war der Kraft Rahus ebenbürtig; in seiner blinden Wut glitt der Riese aus und Howe ist mit gezücktem Elfendolche über ihm; er will seine Hand durchstechen, trifft im Ringen Rahus Auge. Der Riese gibt mit Brüllen den Kampf verloren; in der Nähe liegt der gurgelnde Rachen des Gletschers. Howe verachtet den tückischen Meuchler und läßt ihn liegen. Seit jener Nacht träumt Rahu von Rache und Vergeltung.«
Harrar erhebt sich:
»Der Gletscher leuchtet der Tundra zum Schlafe! Wir müssen uns trennen – oder soll ich bleiben, Vater? Wenn mein Vater meint – –?«
»Nein, geh', Harrar! Die von Chohor tragen keine Kerben der Rache gegen uns auf ihren Waffen. Sie werden uns danken, wenn wir sie warnen. Laß auch dich warnen, Harrar!«
»Vor dem – Löwen?«
»Ja – – auch!«
»Glück mit euch!«
»Das Heil der Gottheit!«
Harrar schreitet rüstig aus, ohne sich nochmals umzublicken. Seine Gedanken richten sich auf Chohor. Er ist froh, daß er einen wichtigen Grund hat, dorthin zu gehen; sonst ist er immer verlegen und befangen, der starke Jäger der Tundra und Steppe. – Ob sie wohl alle daheim sein werden, der alte Rahu und – – – die Seinen? Wird wohl Raha, seine Tochter, ihm einen Imbiß darreichen? Ja, Rahu ist immer noch ein wilder Geselle; der wird kein Wort der Liebe zum Fremden sprechen; aber Raha, seine Jüngste, sein Liebling, ist lieblich wie der Thymian der Tundra; ihre Wangen glühen wie der Gletscher im Morgenrot, ihr Gesang lockt wie die Stimme des Singschwans und ihr Auge spiegelt den Frühlingshimmel der Steppe …
Harrar betritt das Eis der »Zunge des bösen Weibes«.
Weil der Gletscher hier über felsige Höcker des Untergrundes geht, sind seine Schründe gähnend geöffnet. Wie lechzende Ungeheuer gähnen sie nach ihren Opfern; hundert Mann tief liegen hier verschlungene Menschen unverwest begraben. Erst an der Endmoräne wird sie der Drache unverdaut ausspeien, wo sie schnell in Verwesung übergehen.
Des öftern sind solch halbverweste Gletscherleichen und menschliche Knochen gefunden worden.
Harrar schreitet unbekümmert der Gefahr über Tod und Grab; er ist den »Lauerweg« oft gegangen, schon bei heller Nacht.
Er hat die Höhe der Wölbung hinter sich, steht still und beschattet seine Augen gegen die untergehende Sonne: dort aus jenem Felsengrate jenseits der schmalen Tundra steigt Rauch auf: Chohor!
Wie er wieder den »festen« Boden der Tundra betritt, leuchtet ihm der Abendstern und nach zwei Stunden nächtlicher Wanderung Wir kennen das damalige Zeitmaß nicht, darum müssen wir uns des Stundenbegriffes bedienen. steht er am Felsen von Chohor.