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Die Mammutjagd

Gegen Mittag kommt Harrar an die Niederungen des Biberflusses.

Gebeugt unter der strahlenden Glut der Mittagssonne wandert er wankend zwischen den spärlichen Erlenbüschen und Birkenstämmen dahin. Er hat nichts zu essen, denkt nicht an Rast; die Ereignisse der letzten Tage lasten wie ein herbstlicher Tundranebel auf seiner Seele.

Immer wieder steigt in ihm die Frage auf: wer war der Mann heute morgen auf der Gletscherzunge? – War's sein Freund, der seelenedle Künstler von Arah? Was hatte er erlebt in jener furchtbaren Lößsturmnacht? Fast zieht es den Wildjäger wie mit unsichtbarer Land nach Arah …

Plötzlich, mit einem Rucke schnellt er auf; die Müdigkeit und Schlaffheit des Wanderers ist verschwunden – die Natur des Jägers ist erwacht!

Ein tiefes, gurgelndes Schnarchen, Grunzen – Stöhnen? Ein Ton, der mit nichts verglichen werden kann als mit den Stößen eines Urhornes aus dem Innern einer tiefen Höhle.

Der Jäger weiß sofort, was es ist; in seinen glänzenden Augen strahlt das Entzücken der Jagdlust: so »singt« nur das – Mammut! Mit schleichender Sorgfalt pirscht er sich durch die Stauden; lautlos streicht er die Laubzweige auseinander: ah – ja, dort sind sie, die Riesen der Steppe, eine Herde von fünf, sieben, neun, dreizehn, achtzehn Stück. Unter ihnen scheint ein »Herr« zu sein (»Männchen« darf man kaum sagen!), der die Herde leitet.

Ja, lieber Leser, wie stellst du dir wohl das Mammut vor? Anhand der neuesten Forschungen sind wir glücklicherweise imstande, den »Herrn« oder sagen wir: den König des Diluviums zu beschreiben.

Der Mammutelefant – oder das Mammut – war ein Tier, das seine noch lebenden Blutsverwandten, den afrikanischen und indischen Elefanten um einen Meter Rückenhöhe, somit um das Doppelte bis Dreifache des Gewichtes übertraf. Den gewaltigen, wie ein Ammonshorn gerippten Rüssel hätte ein großer Mann kaum in der Mitte umarmen können, und aus den Knochenröhren im Oberkiefer schwangen sich zwei Stoßzähne auf, die beim männlichen Tiere vier Meter lang und vierhundert Kilogramm schwer werden konnten, indessen seine Backenzähne »nur« ein Gewicht von acht Kilo erreichten. Sein ganzer Körper war – mit Ausnahme des Rüssels – mit ellenlangen, straffen Haaren von hellbrauner bis dunkelbrauner Farbe bedeckt, was ihn also im Gegensatz zu seinen heutigen Vettern als kälteliebendes Tier ausweist.

Daß die ersten Knochenfunde von diesem Riesen die Phantasie der ratlosen Gelehrten beschäftigten, zeigt das Beispiel von Reiden im Kanton Luzern: Im Jahre 1577 hatte der Sturm dort beim (ehemaligen) Kloster eine Rieseneiche entwurzelt, deren Wurzelstock große Knochen bloßlegte. Der berühmte Arzt und Gelehrte Dr. med. Felix Plater aus Basel untersuchte sie im Jahre 1584 und erklärte sie als die Ueberreste eines vorsündflutlichen Menschen von neunzehn Fuß Höhe! Eine Zeichnung (Rekonstruktion) dieses ertrunkenen Riesen soll im ehemaligen Jesuitenkloster zu Luzern und drei von den »erschröcklichen« Knochen im dortigen Naturalienkabinett zu sehen sein.

Mit der über zwei Zentimeter dicken Haut des Mammuts konnte der Eiszeitjäger eine ganze Höhle auslegen. – Welch ein Lagerteppich für den Winter: ein Teppich mit ellenlangen Haaren! Was sollen wir erst sagen von der Fleischmasse, die dieser Pflanzenfresser dem Höhlenbewohner lieferte! Der Leser wird an Holzfasern denken und die Nase rümpfen; gemach! Im Jahre 1886 entdeckte der greise Tunguse Ossip Slepzow an einem Nebenflusse der Dodoma (Sibirien) im gefrorenen Boden ein Mammut, das (wenn wir sein Aussterben erst in das Ende der Nach-Eiszeit versetzen! wenigstens 6000 Jahre als »Gefrierfleisch« im Eise gelegen hatte. Der russische Forscher E. von Toll erzählt in seinem Berichte, »daß die Sehnenfasern der Ellenbogengelenkkapsel den Appetit eines Arbeiters, eines Lamuten, beständig reizten; er konnte sich nicht enthalten, von diesem seltenen Leckerbissen von Zeit zu Zeit ein wenig zu naschen!« Diese unglaubliche Tatsache wird durch andere Beispiele aus neuester Zeit einwandfrei erhärtet. Wir entnehmen dem Tagebuch des (nun verstorbenen) Zoologieprofessors Dr. O. F. Herz über einen andern Fund aus dem Jahre 1901 folgende Stelle:

3. Oktober 1901: »… Nachmittags entfernten wir die rechte Schulter; das Fleisch an ihr ist sehnig und mit Fett durchsetzt und sieht so frisch her, als ob es gefrorenes Rinder- oder Pferdefleisch wäre. Es war so appetitlich, daß wir uns fragten, ob wir es nicht kosten sollten, aber niemand wollte das Risiko wagen. Die Hunde dagegen verschlangen alles gierig, was man ihnen zuwarf.«

Wenn wir noch mit dem Gezähne eines Urjägers rechnen, so begreifen wir, daß eine Mammutjagd das Höchste seiner Träume war – – –!

Mit klopfendem Herzen zieht sich unser Jäger zurück und blickt nach der Sonne:

»Ich kann bis heute abend daheim sein!« spricht er laut zu sich selber. – »Bis morgen mittag sind wir gerüstet. – Huioh! Eine Mammutjagd!«

Er kommt in Laufschritt, der »müde Wanderer«, fegt wie ein Bison über die herbstliche Steppe und landet in der Höhle von Hador vor Sonnenuntergang. Eben bringen drei Jäger, unter ihnen Ruwo, der »Kleine«, auf einem Baumaste einen erlegten Moschusochsen dahergeschleppt.

– Der Moschusochse nimmt eine Mittelstellung zwischen Schaf und Rind ein und trägt einen straffen Haarmantel aus 60-70 Cm. langen Grannenhaaren, die bei seiner kaum Metergröße überragenden Gestalt den Boden erreichen und nur Gesicht und Füße freilassen; die breiten, flachen Hörner berühren sich fast an der Stirnwurzel, ziehen sich erst wie ein Verband zu beiden Seiten abwärts und dann in schwungvoller Drehung sich verjüngend aufwärts. Der Moschusochse lebt heute noch in den Tundren Nordamerikas und Grönlands. –

»Hoioh! – Harrar! Wo schleicht Ahour, der Satan der Steppe?« ruft Ruwo dem Heimgekehrten entgegen.

»Gruß! – – Zwischen Arah und Chohor!«

»Hat ihn der alte Rahu von Chohor noch nicht erjagt?«

»Vorläufig wünscht er ihn dem alten Howe an den Hals!«

»Und dieser?«

»Hofft wohl, daß er die Knochen Rahus von Chohor vorziehen werde – – –«

»Er hat also die Wahl zwischen Urstier und Wildesel! Der alte Haß – – –.«

»Ist in diesem Falle Ausrede – ich glaube, beide fürchten ihn und hoffen, daß er mit den Herden weiterziehe!«

»Wenn er hier sein Wesen triebe, so würde ich ihm einen Handel vorschlagen!« entgegnet der Kleine.

»Vorläufig wird Ruwo sich mit einem Mammut begnügen müssen!«

»Harrar!« rufen alle drei wie aus einem Munde. Ihre Augen blitzen vor Abenteuerlust; die von Hador galten als die furchtlosesten Jäger der Steppe.

»Wo ist er?« ruft auch schon Vater Ahar, der unter die offene Höhle getreten ist.

»Es ist ein Trupp von achtzehn Stück – im großen Knie des Biberflusses!«

»Legt euch zum Schlafe nieder, um nach Mitternacht gerüstet zu sein!« sagt der Sippenvater Ahar.

Den Befehl zum Schlafen konnte Ahar geben, aber schlafen – schlafen vor einer Mammutjagd! Man legt sich hin auf die weichen Felle und ißt und erzählt von altersgrauen Heldentaten. Die Weiber und Mädchen sind gedrückt; wenn einer der Ihrigen vom Mammut angenommen und erreicht wird, so geht es gut, wenn man eine Locke von ihm heimbringt! Ein roter Brei bezeichnet die Stelle, wo der gereizte König der Steppe seiner Ungnade Ausdruck verliehen hat.

Gegen Mitternacht steht der Alte auf:

»Harrar! Du gehst mit dreien voraus und bereitest die Fallgrube und die Schlingen! – Wähle dir die drei Gewandtesten – wir acht übrigen sind morgen abend im Erlenwäldchen beim Schelchsumpfe. Sende dorthin Bericht!«

»Gut!« erwidert Harrar. – »Ich nehme den Howah, den Tujoh und …«

»Ich will auch mit!« ruft Ruwo energisch. Harrar wirft auf den Vater einen fragenden Blick und sagt: »Meinetwegen! – Rüstet die Werkzeuge und die Waffen!«

Harrar und die drei Jäger treffen ihre Vorbereitungen: Holzspaten, Schlingen aus Mammutsehnen an mehrfach gedrehten Lederriemen, Schleudern und Wurflanzen schwersten Kalibers werden zusammengebunden und auf die Rücken geschnallt. Die andern acht Krieger rüsten Kienfackeln, Urhörner, Lanzen und Proviant für den Fall, daß der Zug mißlingen sollte.

In der Nacht bricht Harrar mit seinen Genossen auf. Große, bange Augen schauen ihnen nach. Die drei haben die Aufgabe, an günstiger Stelle eine Fang- oder Fallgrube mit Schlingenvorrichtung anzulegen. Jeder von ihnen trägt ein Bündel von halb Mannsgewicht; die Mammutsehnen sind steife, geschmierte Schlingen von Daumendicke und die gedrehten Riemen daran haben den Umfang eines Armgelenkes. Zudem tragen die Schleuderschlingen oft Schwungsteine. Eine solche Schlinge richtig auf zwanzig Mannslängen zu werfen, braucht es einen Arm von Sehnen und Stahl. Harrar ist der richtige Führer; er hebt mit jedem Arme den schwersten Mann aus den Angeln. Nicht einmal der alte Rahu leugnet es mehr!

Am Vormittage nähern sich die vier der Stelle, wo Harrar gestern den Trupp entdeckt hat.

Vorsichtig wie Füchse auf dem Strich gehen sie vor; einmal »angescheucht«, flieht das Mammut in die Steppe und legt im gemütlichsten Trott in zwei Stunden einen Tagesmarsch zurück. Wird es verfolgt, so rast es mit erhobenem Rüssel und hochgeschwungenem Schwanzstummel über die Ebene hin, daß Wildpferd und Hirsch im Wettlaufe zurückbleiben würden; es scheint ein plumper Schlemmer zu sein, aber wenn es sich in Rennlauf setzt, erzittern die obersten Erdschichten unter seinen Säulen und die hinter ihm sich schließende Luft wird zum hörbaren Wirbelwinde.

Harrar geht voran wie die schleichende Wildkatze.

Er hat die Stelle erreicht, wo er gestern stand; ein hörloser Zug durch den Busch wie beim Schwimmen, und er bleibt enttäuscht stehen: die Herde ist fort!

Ruwo, der »Kleine«, heult:

»Nun sind sie fort, die Feiglinge! Die Freude war zu groß! – Ich wollte lieber, meine Großmutter wäre gestorben!«

»Schäme dich, Grunznase! (Nashorn). Wenn mich nicht alles täuscht, so kann deine Großmutter ihren Liebling überleben. Die Mammute sind nicht geflohen, sondern sie haben sich nur im Weiden verzogen – vorwärts!«

Lautlos durch die Erlenbüsche weiter!

Harrar bleibt stehen:

»Fühlst du nichts, kleiner Pfeifhase?«

»Nein! Ich fühle – – halt! – Da! Ja doch! Da hat, hm, hm – – –«

»Was du riechst, ist nichts anderes als die Ausdünstung. Mir nach!«

Wiederum schleichen die Jäger tief ins Gras gebückt weiter.

Gesenkten Hauptes folgt Ruwo als letzter, bis Harrar zurückwinkt; sie bleiben lautlos stehen, indes der Führer allein weiter geht und verschwindet.

Bald kommt er wieder: sein Gesicht strahlt!

»Sie sind im großen Flußbogen – sie haben einen zweijährigen Ruwo bei sich; er wälzt sich in allen Pfützen und streckt alle Viere in die Höhe! Ein gutes Zeichen, der Platz ist ausgezeichnet!«

»Wieso?«

»Wir gehen quer durch den Bogen ans andere Knie; dort hat es starke Bäume und eine alte Grube. Die können wir bis zum Abend herrichten. Die andern acht können uns die Bande mit Leichtigkeit herbringen – vorwärts!«

»Ich nehme den Alten!« schmunzelt Ruwo zwischen den Zähnen.

»Oder er – dich!« warnt Harrar.

Am jenseitigen Knie des Biberflusses angekommen, werfen sie ihre Last ab und ruhen ein Weilchen. Indessen schleicht Ruwo durch die Büsche, um Ausschau zu hallen. Nach einer Weile geht Harrar ihm nach und findet ihn behaglich im Geäste einer Birke sitzend.

»Was tust du da?« fragt er ihn.

»Ich bin auf der Lauer!«

»Bis sie dich fühlen! – Was siehst du?«

»Ich glaube, sie machen ein Feuer an!«

»Bist du – verrückt?«

»Schau mal her!«

Mit drei Ruckschwüngen ist Harrar oben:

»Aha! Sie bespritzen einander mit den Rüsseln und die Sonne scheint darein; der Wasserstaub wirbelt dabei wie Rauch in die Höhe. – Komm' herab!«

»Wozu?«

»Weil du deine Dummheiten unten ausführen kannst!«

»Wenn es sich darum handelt, so bin ich kaum notwendig!«

So necken sich die beiden Brüder, wenn sie in der fröhlichsten Jagdstimmung sind, wobei der »Kleine« sich immer zuletzt der Autorität des ältern fügt. So auch jetzt; er steigt nieder.

»Wo ist die Grube, Harrar?« fragt er im Absteigen.

»Hier, zwischen deinem Baume und dem Flußknie muß sie sein – ah, schau dort! Die Erlenbüsche haben sie in den letzten Jahren schön verdeckt. Hole die andern zwei und alles Material!«

Wie die drei mit ihren Geräten anrücken, erklärt ihnen Harrar den Plan:

»Erst höhlen wir die Grube gründlich aus, belegen sie mit Schlingen und ›blenden sie ab‹ (d. h. sie wird mit Aesten, Zweigen, Gras und Flechten der Umgebung angepaßt). Einer von euch bringt den andern acht die Meldung und rückt mit ihnen vor. Wir andern verteilen unsere Rollen so: an dieser Birke befestige ich eine Wurfschlinge; die nimmt Howah zur Hand und wirft, wenn das Mammut zwischen ihm und der Grube durch will oder wenn es, was ich nicht hoffe, nach der Außenseite in Wurfweite vorbeiflieht; Tujoh stellt sich mit der Schleuder zwischen Fluß und Grube und sucht die Flucht nach der Grube zu lenken. Ich selbst gehe mit Speer und Schleuder weiter in die Steppe hinaus nach vorn!«

»Und ich?« fragt Ruwo.

»Du gehst zum Vater und meldest ihm, daß sie um Mitternacht treiben sollen. Bis dann sind wir gerüstet!«

»Harrar, laß mich bei dir! Ich will ja gewiß …«

»Frage Howah!«

»Ich will ihm die Freude lassen« – erklärt dieser, »auf seine eigene Verantwortung hin!«

»Die will ich gerne übernehmen!« jubelt der Kleine.

»An die Arbeit!«

Mit Holzspaten und Elchschaufeln geht man an die Neuausgrabung der gewaltigen Grube. Alle arbeiten im Schweiße des Angesichts bis gegen Abend ohne jegliche Speise; die Jägerehre verlangt, daß bei einer Mammutjagd nur vom erlegten Tiere geschmaust wird, aber wie! Zudem verlangen die hohen Anforderungen dieser »Königsjagd« eine Gewandtheit, wie sie nur ein nüchterner Körper zu leisten imstande ist. –

Rings um die Grube werden dicke Pfähle in die Erde getrieben und daran die Legeschlingen befestigt. Das ganze wird »abgeblendet«.

Howah nimmt seine Waffen und geht. Die andern drei legen sich unterdessen auf die Lauer und beobachten die ahnungslosen Ungetüme, bis die Dämmerung sie ihren Blicken verhüllt. Harrar steht auf und befestigt einen Wurflasso unten am Stamme der Birke.

»Wie wär's, Harrar,« fragt Ruwo mit einem Freudensprunge – »wenn ich die Schlinge droben aus der Baumkrone des Baumes werfen würde?«

»Hast du Angst?«

»Ich und Angst? Wenn du willst, so biete ich dem ›Alten‹ eine Moorrübe an, wenn er kommt!«

»Steig' mal hinauf!«

Eins – zwei ist der Kleine oben, wo sich der Stamm in zwei mächtige Aeste teilt.

»Schau' hier: nach beiden Seiten hab' ich Raum zum Werfen – hier – hier! Dazu fliegt die Schlinge von hier aus höher und weiter!«

»Du magst recht haben! Siehst du gut?«

»Ausgezeichnet! – Der Mond kommt ja noch, heute nacht – nicht?«

»Ja!«

»Werdet ihr ein Feuer anreiben?«

»Wo denkst du hin! – Damit er sich etwa daran wärmen kann? – Komm', wir wollen eine kleine Stunde ruhen!«

Ruwo steigt nieder, und die drei sitzen flüsternd zusammen.

Feierlich steigt der Mond empor und übergießt die buschige Steppe mit seinem düstern Lichte. Ein leiser Abendwind bringt die Schattenbilder der Bäume und Büsche in heimlich-lebendige Bewegung; eine verspätete Wildente streicht mit ihrem elastisch pfeifenden Flügelschlage über die flüsternden Erlenstauden. Es ist so friedlich still wie – wie vor einer Katastrophe!

Harrar schaut nach dem Stande der Sterne:

»Auf die Posten! – Ruwo, steig' empor!«

– – Er ist schon oben:

»Wirf mir die Schlinge zu, Harrar!«

»Da! – Eins – zwei! Halte dich wacker! Wenn sie auf die Grube zu gehen, so quakest du, und wenn sie auf mich zu wollen, so – – –«

– – »kläfft die Hyäne!«

»Gut!«

»Wenn sie nicht kommen, Harrar?«

»Dann meckerst du wie Ruwo von Hador! – Nicht zu früh! Sie kommen sicher!«

»Ich passe auf wie ein Luchs!«

»Sei recht schön still; wenn er dich hört und sieht, so holt er dich mit dem Rüssel herunter wie eine Blattlaus!«

»Pah! Wenn er nur bald anrückt, der Braten; ich habe Hunger wie der alte Rahu!«

Wie Harrar seinen Außenposten bezogen hat, vollführt der »Kleine« einen Geniestreich: er legt die Wurfschlinge über einen Ast und steigt nieder. Er löst das Riemenende vom Stamme, klettert damit wieder hinauf und befestigt dasselbe an einem der großen Gabeläste.

»So«, spricht er zu sich selber – »so wird die Schlinge noch weiter reichen, wenn es nötig ist!«

»Was tust du?« ruft Harrar herüber. Seinem scharfen Ohr war das Geräusch nicht entgangen.

»Ich – ich wollte nachschauen, ob der Riemen fest hält!«

»Das hab' ich selbst besorgt, Kleiner!«

»Sicher ist sicher!«

Wieder eine bange Stille. Ruwo hat Fieber.

»Harrar!«

»Ja?«

»Welchen nehmen wir?«

»Wenn möglich den Obersänger, sonst aber …«

»Wird er singen?«

»– – Daß du vom Baume fällst!«

»Ich werde ihm den Rüssel zuschnüren!«

»Wenn er ihn streckt, was er auf der Flucht tut, sonst wirfst du auf einen Stoßzahn oder um ein Bein, aber berechne gut, sonst ist alles – – – horch! Siehst du nichts!«

»Nein – – doch! – Jetzt! – – Dort, ein Licht, ganz in der Ferne – zwei – und dort wieder eins – Hurra, Harrar! Haladiho! Beim Schnurrbarte meiner Großmutter und juhu bei allen Warzen ihrer Schönheit – Harrar! So wahr ihre Zöpfe mit Pferdeschwanzhaaren vermischt sind: dort kommen unsere Buben mit dem – – – ah! Gott Schöpfer gebe unserm lieben Vater noch hundert Jahre und meiner unvergeßlichen Großmutter – –«

»Bist du wahnsinnig? Still, oder ich lasse meine Schleuder spielen – augenblicklich!«

»Harrar! – – Nur ein Wort! – Ein einziges!«

»Was denn? – schnell!«

»Harrar! Ich will nicht in den Jagdhimmel!«

»Warum nicht, du Nashorn?«

»Weil ich lieber hier oben bleibe!«

»Gut! So bleib' nur – aber beim nächsten Worte surrt's!«

Harrar hat in der Rechten die geladene Schleuder, in der Linken die Wurfstange, und den armdicken Speer leicht neben sich in die Erde gesteckt. Was will er mit der Schleuder? Etwa den Bergkoloß von einem Mammut töten? – Ausgeschlossen! Ihn damit reizen oder ablenken wird er schon, Harrars Schleuderstein durchschlägt auch die daumendicke Haut eines Mammuts und bleibt stecken, wenn er nicht auf den Knochen schlägt. – Jetzt hat er einen Schuß geladen von der Währung eines Kinderkopfes!

Wie lauschend hält er seinen Kopf vorgestreckt. Die Lichter kommen merklich näher, verschwinden und tauchen wieder auf. Schon hört er aus der Ferne den dumpfen Ton eines Urhorns. Er legt sich nieder, drückt das Ohr an die Erde und springt sofort wieder auf. – Sie kommen!

»Harrar! – Harrar!«

»Der Satan striegle dich – noch ein Wort! – Dort! – Achtung!«

Der Boden scheint zu zittern – wie ein unterirdisches Rollen kommt etwas näher – Ah! Dort scheint ein dunkler Wald in Bewegung zu sein. – – Harrar kann die Kolosse unterscheiden: voran plumpt ein Riese von geradezu erdrückender Gewalt und Kraft. – Mit hochgeschwungenem Rüssel stößt er über die dunklen Büsche dahin. Plötzlich machen alle wie auf Kommando halt, links um, und »rüsseln« nach den verdächtigen Lichtern hin – man hört ihr warnendes Schnaufen. – Ein Hornstoß. – Ein Johlen und Heulen der Verfolger. – Bums! – Rrrumm! – Sie wenden und nehmen scharfen Trott – auf die lauernden Jäger zu – Harrar möchte jubeln: der Fürst der Herde spreizt seine Säulen auf die Birke zu, wo Ruwo mit der Schlinge lauert; schneeweiß glänzen die gewaltig aufgeschwungenen Stoßzähne, sein Rüffel stößt wie ein halbgefallener Baumstrunk in die Nacht hinaus. – Da jubelt ein anderer:

»Teufel, ist das ein Schoßkind! – Ich glaube, er hat noch andere Mammute verschluckt –«

Da stutzt der Gewaltige und schnauft mit seinem Rüffel gegen die Birke hinauf wie ein Bube nach einem Vogelnest. Er ist an Harrar vorbei – zwanzig Mannslängen hinter dem gewaltigen Führer stocken die andern Tiere – Harrar springt auf und brüllt wie ein angeschossener Bison. – Der Fleischkoloß macht einen überraschten Seitensprung und – rast kaum sechs Mannslängen von der Birke entfernt gegen – jetzt – muß – die Schlinge – – Harrar atmet nicht – Jetzt! –

»Sßscht!« – sie ist gefallen! – Da, ein Ton, daß die Luft der Steppe erzittert – die Birke neigt sich! – Ein Krach! – Sie schnellt zurück – Harrar sieht vom Geäste aus einen Körper durch die Luft wirbeln – der Riesenelefant reißt einen halben Baum nach – dies scheint ihn zu behindern, der Baum gerät oft unter seine Füße – Harrar fliegt dem fliehenden Tiere wie ein Pfeil nach – er wird es nie erreichen – knirschend faßt er – da brüllt der Koloß auf wie eine stürzende Lawine – Tujohs Schleuderstein muß ihn getroffen haben – und zwar gut; der Rasende springt seitwärts – Harrar sieht keine zwei Mannslängen vor dem Untier eine Gestalt fliehen – Tujoh! – Da gilt kein Zaudern! – – Die Schleuder los:

»Schrrr – pätsch!«

Das Mammut taumelt zurück – der Stein muß die Ohrgegend getroffen haben – ein Wutgestöhn wie der Lößsturm über einen Gletscherschrund. – Jetzt muß Harrar um sein Leben rennen – er weiß es – das rasende Tier hat den neuen Feind entdeckt und nimmt ihn mit stöhnender Wut an. – Fort! – Auf die Grube zu! – Die Herde ist ausgebrochen, die Feuerjäger brüllen heran – Harrar fühlt und hört nichts mehr – hinter ihm pustet ein Ungeheuer – dort die Grube – noch fünf Mannslängen – – hinter sich ein naßwarmer Atem – Morast fletscht ihm an den Rücken – ein Angstruf – – – jetzt ein scharfer Bogen – die Grube!! – Ein Fall wie der Fall einer tausendjährigen Eiche – Harrar ist gerettet. – Wie lungenlahm fällt er nieder und laut geht sein stöhnender Atem. Rings um ihn ist ein Heulen und Schnauben, ein Rufen und Brüllen und Jubeln, als ob alle Dämonen der Unterwelt rasend geworden wären. Ueber seine Augen legt sich ein Nebel und in seinen Ohren saust der Lößsturm; der Lärm tönt ferner und ferner – da erhält er wie mit einer Rute einen Schlag ins Gesicht – er schreckt wie im Traume auf. – Vor ihm scheint ein Ungeheuer dem Erdinnern entsteigen zu wollen, ein Ungeheuer mit hochaufgeschwungenen Riesenzähnen und einem über mannsdicken Rüssel, und an diesem Rüssel baumelt – ein Ast wie ein halber Baum! – Ah – ein Mammut!

Plötzlich fühlt sich Harrar zurückgerissen: »Fort – er erschlägt dich!«

Allmählich wird ihm klar: in der Grube liegt das Mammut, vor dem er geflohen ist! – Seine Ohnmacht scheint zu weichen – jener gewaltige Ast, den der Riese wie eine Mistel zusammenschlägt, war an einer – Birke angewachsen. Wie ein Lichtschein geht das Erlebte an seinem Geiste vorüber – um ihn stehen tätowierte, muskulöse Gestalten mit brennenden Fackeln.

»Bist du verletzt?« fragt der Aelteste.

»Nein! – Wo ist Ruwo?«

»Ruwo? – Er war bei dir! Ja, wo ist er? – Wo ist Ruwo?«

Alle Müdigkeit ist von Harrar gewichen! Wo ist Ruwo? Ihm kommt ein Gedanke: er entreißt dem Nächsten die Fackel:

»Folgt mir!« ruft er hastig, geht ihnen voran auf die Birke zu und beleuchtet den Boden – Nichts! Er leuchtet in die Krone hinauf: der eine Hauptast ist weggerissen und – Ruwo ist weg!

»Ruwo! – Ruwo!« ruft er in die Nacht hinaus:

Horch! Etwa sieben Mannslängen vom Baume entfernt antwortet ein Stöhnen.

»Dort im Gebüsche war's!«

Harrar leuchtet hinein: da liegt Ruwo wie ein schluckender Fisch auf dem Trockenen; aus Mund und Nase dringt Blut.

»Wie ist dir?« fragt sein Bruder.

Er schluckt und schluckt – kann nicht antworten. Sein Gesicht läuft bläulich an. Der Alte reißt ihn empor und pocht ihm wie mit einem Hammer zwischen die Schulterblätter. Dies scheint eine gute Wirkung zu haben; der Kleine holt tief Atem, droht aber gleich wieder einzusinken. Vater Ahar untersucht ihn mit fester Hand; er ist ein tüchtiger Arzt; kein zarter, aber erfahrener.

»Gebrochen ist nichts – wenn nicht eine innere Blutung – – –«

»Mir ist – besser – Wawasser!« lallt der Patient. Man reicht ihm zu trinken. Er erholt sich sichtlich.

»Hast du innerlich Schmerz?«

»Nein – im – Genick und im – Becken!«

Der Alte murmelt von Verstreckungen und Quetschungen. – »Auch die Zunge hat er sich angebissen und den Unterkiefer ausgerenkt – so!« Ein Knack – ein Schrei und – Ahar hat ihm die Kinnlade wieder eingerenkt.

Ueber Harrars schönes Gesicht huscht trotz der ernsten Situation ein kaum zu verbeißendes Lächeln.

»Das dort – die Zunge und die Kinnlade werden schon wieder gut werden, wenn's nichts anderes ist!« tröstet er seinen Bruder.

»Bettet ihn weich!« befiehlt der Alte. – »Wir können ihn nachher näher untersuchen. Lebensgefährliche Verletzungen sind nicht vorhanden. – Wie kam nur das?«

»Ich kann es nicht genau sagen« – entgegnet Harrar – »wir müssen ihn selber sprechen lassen.«

»Dann los! Speere hoch! – Aufgepaßt!«

Das Mammut macht immer noch rasende Anstrengungen, um sich aus seiner Stellung zu befreien; es scheint in eine Schlinge geraten zu sein und zugleich etwas gebrochen zu haben, was bei seinem Kolossalgewicht leicht zu befürchten, d. h. zu hoffen war! Mit dem Rüssel schlägt es den Boden zu einer Tenne, schnaubt, stöhnt und brüllt, daß ihm der Schaum wie milchweiße Flaumwölklein vom Maule fliegt.

»Wer hat den ersten Schuß?« fragt Ahar.

»Harrar!« ruft Tujoh.

Harrar legt den Speer auf die Wurfstange und nimmt fünf Schritte Abstand – ein Lanzenstoß wäre des zwei Mann langen Rüffels wegen lebensgefährlich. – – Harrar wirft – ein Schwirren – ein stöhnendes Aufbrüllen – der ganze Körper bäumt sich vor Schmerz auf. – Ein Lanzenschuß, von Harrars Arm geschleudert, geht noch nicht ins Leben. Das getroffene Tier bricht mit dem Rüssel den steckenden Lanzenschaft weg wie einen Halm; die Spitze bleibt im Fleische stecken. Andere treten an und versuchen ihre Kunst; mit dem gleichen Erfolge! Da fällen sie ein fünf Mann langes Lärchenstämmchen und fügen in sein dünneres Ende eine Spitze aus Elfenbein. Vier Mann treten an und bohren den Baum dem Tier im Anlauf hinter dem rechten Schulterblatt in die Seite; es krümmt sich vor Schmerz und bricht den Schaft weg, die Spitze sitzt in der Lunge. Sein Schaum wird rot, seine Atemstöße stockender, sein Stöhnen weher und tiefer, und nach etwa drei Stunden tastet der gewaltige Rüssel zuckend und hilflos auf der Bodenfläche herum, als suche er einen letzten Halt. Gegen Morgen liegt er still wie eine getretene Raupe. Die ganze Nacht brauchen die Jäger, um den Koloß zu töten!

Der alte Ahar zieht eine scharfe Steinklinge und macht unter dem Ohre des Toten einen handlangen Schnitt, nimmt seinen Speer und sucht die Schlagader … auf einmal spritzt ihm ein schwarzer Blutstrom ins Gesicht. – Die Jäger jubeln, tanzen wie toll und trinken mit dem Blute des gefallenen Riesen dessen Kraft und langes Leben. Mit den Fackeln haben sie ein gewaltiges Bratfeuer hochgeschürt, und nun steigt oder besser gesagt, schlüpft einer in das rotschäumende Maul. Er verschwindet darin so, wie wenn das Renntier einen Lemming verschluckt. (Merkwürdigerweise vertilgt das Ren diese Mausart.) Man hört ein Aechzen und tiefes Schmatzen, und nach einiger Zeit stößt der »Jonas« die Zunge des Mammuts wie einen gewaltigen Wulst aus. Diese wird zerschnitten und an grünen Gabelästen gebraten. Dem »Kleinen« wird ein kaninchengroßes Stück gebracht und er verlangt noch mehr. Man schmaust bis gegen Mittag. Dann geht's an die Loslösung der Haut und der Stoßzähne! Bis am Abend ist einer dieser Riesenhauer losgemacht, und etwa ein Viertel der Haut ist vom Fleische abgetrennt. Nun werden Stücke herausgeschnitten und in Räucherstellung gebracht; die frühherbstliche Tageshitze würde einen Transport von Frischfleisch nicht gestatten. Die besten Teile werden losgelöst; und von der Haut wird man nur jenen Teil erhalten, der an der Oberfläche liegt. Den Hauptanteil an der Beute erhalten die kläffenden Räuber der Nacht – – die Hyänen!

Ums nächtliche Lagerfeuer schmausen die wildbemalten Gestalten.

Ruwo, der »Kleine« ist herbeigeschleppt worden und er vertilgt Stücke wie ein junger Höhlenbär. Längst sind die Jäger gespannt auf die Erklärung seines jetzigen Zustandes. Endlich fragt der Vater:

»Ruwo, wie ist dir?«

»Ziemlich gut – nur das rechte Bein ist lahm.«

»Wie kam das? – Hat sich beim Wurfe die Schlinge in den Ast verfangen, daß er losgetrennt wurde?«

»Ja – sie hat sich – verfangen!«

Da fragt Harrar erstaunt:

»Wie kommt es, daß der Laufriemen jetzt noch am losgerissenen Aste befestigt ist? Ich hatte ihn doch um den Stamm dicht über den Boden gelegt!«

»Er muß – hinaufgerutscht sein!«

»Dann müßte nicht nur der eine Ast mitgegangen sein! Das ist mir ein Rätsel!«

»Mir – auch!«

»Soll ich's lösen, Ruwo?«

»Ich bin gespannt!« höhnt der Kleine.

»Die Lösung des Rätsels besteht in einer – ›Lösung‹!«

»Stimmt auffallend –«

»Spotte nur, Kleiner! Du hast die Schlinge vom Stamme gelöst!«

»Warum nicht gar!«

»Und um den Ast geschlungen!«

»Ausgezeichnet!«

»Das fliehende Mammut hat den Baum an dem gestrafften Drehriemen erst niedergezogen – –«

»Famos – –!«

»Der Ast krachte los –!«

»Wunderbar!«

»– – Der Baum schnellt zurück!«

»Herrlich – –!«

»– – Du erhältst eins an die Kinnlade!«

»Ah – –?«

»In dem Momente, als deine Zunge – –«

»– – meine? – –?«

»– – Zunge, ja! eine Weisheit ausstoßen oder die Oberlippe lecken wollte –!«

»– – hört! hört!«

»Du gondelst durch die Luft!«

»Unvergleichlich!«

»Gewiß! – und in jenem Busche hast du um Herberge angefragt, als es dir ›droben‹ zu windig vorkam!«

»Harrar, ich muß dir etwas sagen!«

»Nun?«

»Du bist der findigste Jäger der Tundra und Steppe!«

»Ruwo?« fragt der Alte mit nachdrücklicher Stimme – »ist es nicht so, wie Harrar erklärt?«

»Hm, wenn er meint, daß – – –«

»Ja oder nein?«

»Ja, Vater!«

»Weißt du, daß du durch dein Meisterstück das Leben der andern in Gefahr gebracht hast?«

»Ja, Vater!« kommt es kleinlaut von des Kleinen Lippen.

»Du kannst froh sein, daß mir der Ast eine Arbeit erspart hat – was deine Kinnlade betrifft! Was die andere Gegend betrifft – warum sitzest du so schief?«

»Es tut mir weh, Vater!«

»Das soll dir andeuten, wo du deinen Verstand gehabt hast – nimm es dir zu – – Herzen!«

Der »Kleine« ist noch »kleiner« geworden!

»Tröste dich, Ruwo!« läßt sich der gute Harrar vernehmen. – »Dein Geniestreich hat mir zweifellos das Leben gerettet!«

»Jetzt kommst du auch noch!«

»Im Ernste! Das Mammut hätte mich sicher erreicht, wenn es nicht auf den Ast getreten und so behindert worden wäre!«

»Was die Weisheit der Alten in einem Jahre nicht fertig bringt, erreicht oft die Dummheit eines Jungen über Nacht!« brummt der Alte in seinen Bart.

»Kannst du gehen?« erkundigt sich Harrar teilnahmsvoll.

»Warte einmal – nein, es geht nicht!«

»Wir werden ihn heimtragen müssen!« knurrt Ahar. – – »Eigentlich sollten wir ihn den Weg auf einem Beine zurückhopsen lassen!«

»Ich mache ihm eine Krücke!« erklärt Harrar.

»Gut! Damit kann er in Hador seinen feierlichen Einzug halten. – Ich werde ihm die Festrede halten!«

»Da kommt mir ein anderer Gedanke, Vater!« meint Harrar.

»Du meinst?«

»Wäre es nicht näher nach Arah? Ich würde mit ihm gehen und mich nach Owinar und dessen Erlebnissen erkundigen können.«

»Wie du meinst, Harrar. – Nach Arah ist's von hier aus nur halb so weit wie nach Hador!«

»Ja, gehen wir nach Arah!« ruft der »Kleine« entzückt.

»Ah!« höhnt der Alte mit Humor. – »Du möchtest dort ›ihr‹ deine Heldentaten vorsingen?«

»Wem, Vater?«

»Frag' nicht so dumm. – Ich hätte das Einrenken der Kinnlade auch später besorgen können! – Wann wollt ihr gehen, Harrar?«

»Wenn du nichts dagegen hast, gleich jetzt!«

»Gut! Wir bleiben drei Tage hier, wenn du wieder zu uns stoßen willst. Mache dem Kleinen seinen Hinkebaum – nimm ihm vorher mit einer Weidenrute das Maß!«

Die Gabelkrücke ist bald fertig. Ruwo probiert sie; es geht, wenn auch erst mit einigen verbissenen Grimassen.

Vor Morgengrauen brechen die zwei auf – gegen Arah!

Die Fahrt ist beschwerlich und für den »Kleinen« nicht ohne empfindliche Schmerzen, die er in Anbetracht ihres Ursprunges heldenhaft verbeißt. Oft muß Harrar ihn stützen und führen. Die Bewegung bekommt dem Patienten gut; am Nachmittag schreitet er allein und gegen Abend sind die beiden an der Höhle von Arah.

Diese liegt gegen Süden über einem Arme des Biberflusses. Die zwei müssen erst durch den Fluß, um zur Höhle emporsteigen zu können. Am jenseitigen Ufer sitzt ein älterer Mann auf einem übermoosten Granitstein und starrt düster in die Flut: Howe, der Vater Owinars, der Todfeind Rahus.

»Die Gottheit des Lebens leite Howe auf die Pfade des Glückes!« grüßt Harrar. – »Ist der Fremdling von Hador willkommen?«

»Von Hador kommt nur Segen und Glück – hier herrschen die Gottheit des Todes und die Geister der Nacht! Du sollst willkommen sein!«

»Mein Vater Ahar sendet dir seine Freundschaft – doch, Vater Howe, aus deinen Augen leuchtet nicht das Licht des Tages und deine Stirne gleicht der düstern Tundra; darf der Sohn Ahars nach deinem Schmerze fragen?«

»Harrar frage; Howe wird antworten!«

»Wo ist Owinar?«

»Harrar hat meine Wunde gefunden! – Owinar ist fort!«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht!«

»Wann kehrt er wieder?«

»Nie!«

»Howe! Du sagst ein dunkles Wort! Warum hat er euch verlassen?«

»Er hat uns nicht verlassen; ich habe ihn – fortgejagt!«

»Howe, Owinar ist keiner Missetat fähig!«

»Das hätte ich wissen sollen, ich, sein Vater!«

»Du hast es nicht geglaubt?«

»Immer hab' ich's geglaubt, immer – nur nicht, als ich ihn ins Gesicht schlug und aus meiner Familie verfluchte!«

»Weshalb, Howe? Da muß ein furchtbarer Irrtum gewaltet haben!«

»Nein, kein Irrtum! – Eine hündische Verleumdung, eine giftige Lüge! Du hast mein zweites Weib gekannt, die – – sage du ihren Namen!«

»Wionah! – Wo ist sie, daß ich sie begrüße?«

»Grüße diesen Fluß; er führt ihre Leiche!«

»Ertrunken?«

»Nein; sie trägt den Dolch in der Brust!«

»Getötet! – Wer ist ihr Mörder?«

»Howe von Arah!«

»Du – du – Howe! Furchtbares muß sich ereignet haben – erzähle mir!«

»Das ist kurz: mein Weib entbrannte für Owinar; er verachtete sie. Aus Rache dafür erzählte sie mir, daß Owinar nach ihrer Ehre trachte. Ich verfluchte meinen Sohn und am folgenden Tag kam die Wahrheit an den Tag. Das Weib kann nicht schweigen! Wionah hatte sich ihrer Freundin anvertraut, und diese – konnte auch nicht schweigen. Da ist mein Weib unter meiner Hand zusammengesunken!«

»Wann war das?«

»Heute sind es sechs – nein, sieben Tage!«

»Sieben Tage! – Ah, nun begreife ich!«

»Was begreift Harrar?«

»Den geheimen Schmerz Owinars!«

Der Alte schnellt empor: »Du hast ihn getroffen!«

»Im Felsen von Chohor!«

»– – von Chohor! – Bei meinem Todfeinde!«

»Er kam dorthin, weil Ahour in jener Nacht jagte. Am folgenden Tage ging er wieder, um nie mehr dorthin zurückzukehren!«

»Harrar, erzähle mir!«

Harrar erzählt, sagt aber nichts von seiner Liebe zu Raha.

»Sagt Harrar die Wahrheit?« keucht der Alte.

»Hier ist sein Dolch, den er mir beim Abschied schenkte!«

»Zeig her! Ja, das ist Owinars Waffe! Du mußt ihm teuer sein, Harrar; diesen Dolch würde er kaum seinem Vater geschenkt haben!« erklärt er mit einem halb mißtrauischen Blicke.

Harrar bemerkt diesen Blick nicht.

»Um so höher halte ich sein Andenken in Ehren!«

»Dieser Dolch – dieser Dolch! Seine Seele hing daran; drei Wintermonate hat er daran geschnitzt. – Wo mag – er jetzt sein?«

»Ich weiß es nicht – wenn er nur –«

»Harrar! Was willst du sagen?« schreit der Alte auf.

»Ich fürchte, daß Rahu und sein Sohn – – nicht nur wegen der Biberfallen fort sind!«

»Wenn sie ihm ein Auge berührt haben, die Hunde, so will ich nicht sterben, bis ihre Kerben auf meinem Griffe stehen. Das schwöre ich beim Grabe der Blume von Ulianti!«

»Howe, ich gehe nach Chohor! Von Raha und den andern hoffe ich zu erfahren, was mit Owinar geschehen ist. Verpflege meinen Bruder, der auf der Mammutjagd zu – kühn gewesen ist!«

»Meine Jüngste, Howelin, soll ihn pflegen! Kommt, nehmt einen Imbiß und schlaft einmal über eure Strapazen!«

»Essen und trinken werde ich«, entgegnet Harrar und schreitet auf die Höhle zu – »schlafen werde ich erst in Chohor!«

Stumm drückt Howe dem tapferen Jäger von Hador die Hand.

»Das ist die Sprache von Hador! Harrar wird mir Kunde bringen – kommt!«

Ein junges Mädchen zieht mit stillem Gruß den schweren Fellvorhang zur Seite. Harrar lächelt ihr wohlwollend zu. Weiß er doch genau, daß sie schon lange zwischen den Lücken herausgeguckt hat. Ruwo, der »Kleine« ist ein flotter Bursche. – Er ist Harrars mädchenhaftes Ebenbild!

Ruwo läßt sich auf den fellbedeckten Boden nieder; er ist blaß. Die Reise hat ihn mitgenommen.

»Howelin!« ruft der Alte. – »Hole den Gästen von deinem Besten!«

»Ja, Vater!«

Bald kommt sie auf unhörbaren Sohlen und bietet Harrar auf einer Elenschaufel sauberes Wildfleisch. Sie wendet sich zum Patienten und kniet bescheiden vor ihm nieder; ihre Augen sind so still und sanft wie die Sterne der verwundeten Antilope. Sie bedient den »Kleinen«, ohne ein Wort zu sagen und der Schwerenöter ißt langsam und mit leidendem Gesicht, um die Teilnahme des schönen Mädchens zu wecken. Dies scheint dem Schlingel auch gelungen zu sein; als er gegessen hat, fragt sie mit der Unschuld eines lieben Kindes:

»Du bist verunglückt?«

»Ein wenig – auf der Mammutjagd!«

»Du warst wohl zu kühn?«

»Pah« – macht er gleichgültig – »ein Jäger, der den Tod fürchtet, soll seine Großmutter spazieren führen! – Ich habe die Hauptschlinge geworfen, und da hat mich der alte Koloß ein bißchen geschüttelt, – aber nicht lange!«

»Hast du etwas gebrochen?«

»Hm, – mehr ausgerenkt, verstreckt, gequetscht, vielleicht etwas gebrochen – pah! Was liegt daran!«

»Das könnte böse Folgen haben, Ruwo; wo ist's? Ich will mal nachsehen!« Der »kleine« Dickmacher wird rot wie eine Vogelbeere und verlegen wie ein Eisfuchs, der ohne Lemming heimkehrt.

»Es ist – pah – nicht der Rede wert, Howelin! Mach dir keine Mühe!«

»Es ist sicher nicht so harmlos, Ruwo; ich hab's dir angesehen, wie du kamst; du warst ganz blaß! Es ist ja schön, wenn ein Jäger des Schmerzes nicht achtet, aber ihn verheimlichen und nicht beachten, kann fürs Leben verhängnisvoll werden!«

»Wegen einer kleinen Verrenkung stirbt man nicht!«

»Du hast mit dem rechten Fuße gehinkt, Ruwo; hast du das Knie verletzt?«

»Nein, Howelin, nur den – den Fuß verstaucht – bis morgen werde ich nichts mehr spüren!« lügt der Kleine.

Die pflichteifrige Samariterin schnürt dem Jäger die Dickhautsohle von Nashornleder ab und faßt das Fußgelenk mit Kennerblick an. Ruwo zuckt mit keiner Wimper; Harrar hätte sich beinahe an einem Bissen Lende überschluckt. Die Aerztin blickt betroffen auf den Fuß:

»Keine Geschwulst – keine Rötung – kein unterlaufenes Blut und – wie's scheint, kein Schmerz!«

Es fällt dem »Verunglückten« ein, daß er vergessen hat, beim Griffe Howelins zu zucken oder wenigstens mannhaft den Schmerz zu verbeißen!

»Es ist nicht der Rede wert, Howelin! Mach dir keine Mühe!«

»Warum warst du denn so leidend, als du kamst? – Vielleicht eine innere Verletzung?« Harrar löst den Knoten:

»– – – mehr eine hintere Verletzung, Howelin! Sein Sitzbein ist etwas angestrengt!« Die hübsche Tochter des Urjägers aus dem Zeitalter des Magdaleniens fällt keineswegs in Ohnmacht:

»Ruhige Erholung und fleißige Gelenkbewegung!« verordnet sie ohne die geringste Verlegenheit.

Harrar hat eine Stunde geruht, nun steht er wieder auf.

»Willst du nicht warten und ruhen bis morgen?« fragt Howe.

»Bis mir das Schicksal meines Freundes bekannt ist, wird meine Seele nicht zur Ruhe kommen!«

»Wirst du die ›Zunge des bösen Weibes‹ umgehen?«

»Nein! Die Lichter des Himmels werden mir leuchten!«

»Dann mit Glück und Erfolg, Harrar! Ich zähle die Pulse meines Herzens, bis du wieder kommst. Ich würde dich begleiten; aber in Chohor würde Blut fließen und – Harrar allein erreicht mehr, besonders wenn er verschweigt, daß er mir einen Dienst erweist!«

»Sei unbesorgt. – Wartest du auf mich, Ruwo?«

»Unbedingt!«

»Dann lebe wohl!«

»Heil deinem Wege, Harrar!«

In die Nacht hinein, allein und – im Gebiete des jagenden Ahour, des Unheimlichen!

Der Urjäger von Hador denkt nicht an die Schrecken der Nacht – für die Fährnisse des Weges hat er seine Falkenaugen und den Satan der Steppe würden seine fein ausgebildeten Sinne irgendwie fühlen.

Rüstig wie am Tage schreitet er voran.

Vor Morgen erreicht er die Eisberge der »Zunge des bösen Weibes«. Wie die Felstrümmer geborstener Berge starren ihn die wilden Wände an, weiß, grün, oft mit Schutt bedeckt und durchsetzt.

Unter der aufgehenden Sonne erstrahlt ein herrliches Bild: leuchtende Riesen, dunkle Nischen und Schründe, grüne, lockende Gänge. Bald wird der Gletscher zusammenhängender, endlich steht Harrar auf der Höhe der Wölbung – die weitaus gefährlichste Stelle; über eine steile Eiswand geht's, wo jedes Ausgleiten den sichern Tod bedeutet; oft muß er mit einem mitgebrachten Trümmerkiesel die wieder ausgeschmolzenen Stufen erneuern; unter ihm liegen die gewaltigen Schründe wie gähnende Ungeheuer – hier hat sich der Gletscher über einen Grundfelsen gebrochen. Wo früher Granitblöcke auf der Oberfläche des Gletschers lagen, haben diese das darunterliegende Eis geschützt, indem sie die warmen Regengüsse und Sonnenstrahlen abhielten. Während das Eis ringsum schmolz, blieb unter dem Steine eine Säule weiterbestehen und trägt nun aus Dankbarkeit ihren Beschützer, den Gletschertisch!

Mit beklommenem Herzen blickt Harrar nach den furchtbaren Schründen: wie manches Geheimnis bergen sie! Wenn sie erzählen könnten – – –

Auf einmal zuckt der Jäger zusammen! – Von jener Gletscherspalte ist eine Hyäne aufgesprungen und davongejagt!

Hat sie – Aas gerochen?

Harrar stutzt einen Augenblick! Die Spalte ist unerreichbar und bergtief. Wer dort unten liegt …

Der Jäger schreitet mit krampfhafter Hast weiter; wenn er jetzt ausglitte, würde er dort hinuntergleiten. – Er muß an jene Lößsturmnacht denken – – –!

»Owinar!« ruft er laut über die Abgründe hin, wie von ahnungsvollem Schmerze überwältigt. Ein dumpfes Echo antwortet ihm, in den dunklen Abgründen hohl verklingend.

Wie er den jenseitigen Gletscherrand erreicht, atmet er auf wie vom Banne eines dämonischen Wesens befreit. Im Jagdfluge fegt er über den schmalen Tundragürtel, der mählich anhebenden Steppe zu.

Von weitem sieht er am Felsen von Chohor eine Gestalt; den Ellenbogen auf eine Steinnase gestützt, schaut sie regungslos in die Ferne, wo der Gletscher glüht. Wie sie seiner ansichtig wird, beschattet sie ihre Augen und – – sinkt in die vorige Stellung zurück.

Ueber Harrar kommt ein schmerzlich-grimmiges Weh: sie hat nicht nach ihm ausgeschaut! Er überwindet sich mit aller Energie, um leidenschaftlos und gleichmütig erscheinen zu können:

»Heil von Hador! – Ist Rahu, der große Jäger, daheim?«

»Sie sind eben von der Jagd gekommen!« erwidert sie, ohne ihren Blick von einem fernen Ziele abzuwenden.

»Erwartet ihr Gäste?«

»Nein! – Warum fragt Harrar?«

»Ich glaube nicht, daß Raha nach den Krähen ausschaut!«

»Ich suche den Falken, der nach der Gletscherzunge hin verschwand. – Hat Harrar ihn nicht gesehen?«

»Einen Falken – –?«

»Den Falken von Arah, der über Chohor schwebte!«

»Raha! – War er nicht hier, seit jener Nacht, der Künstler von Arah?«

»Nein! – Er kommt nicht mehr!«

»Warum nicht, Raha?«

»Rahu weiß es! Frage ihn; er ist drinnen!«

»Ich werde ihn fragen!«

Harrar tritt ein. Wie er sich umblickt, sieht er, daß Raha ihm folgt. Sie setzt sich wortlos nieder und starrt wie träumend auf das weidende Renntier ihres Lassogriffes.

Von seinem Steine erhebt sich Rahu.

»Harrar von Hador, was willst du?«

»Gruß dem großen Jäger von Chohor! – Ich suche Owinar, den Künstler von Arah. – Er ist nicht heimgekehrt! – Wo ist er?«

Heimlich drückt sich das Auge Rahus zusammen:

»Wie soll – ich das wissen? Er folgte – dir und nicht mir!«

»Rahu hat keine Nachricht von ihm?«

»Nein!«

»Hat ihn Rahu nicht gesehen oder – getroffen, als er seinen Sohn Tarahu suchte?«

Rahu scheint etwas einzuknicken.

Zur höchsten Ueberraschung antwortet er:

»Ich habe keinen von beiden gesehen!«

»Wann ist Tarahu zurückgekehrt?«

Gebrochen kommt es aus bebendem Munde:

»Er ist nicht zurückgekehrt!«

Harrar traut seinen Ohren nicht.

»Nicht zurückgekehrt? – Tarahu?«

»Ich – glaube – – – oh, Harrar – –!«

Der Alte spricht wie in Todesröcheln.

»Was glaubt Rahu?«

»Ahour – o Harrar – der Satan der Steppe hat ihn zerrissen!«

»Warum glaubt Rahu das?«

»Weil Tarahu vom Siege über Ahour geträumt hat! Seine Kühnheit hat ihn verleitet, der Fährte Ahours zu folgen!«

»Wurde er gesehen?«

»Der Wanderfalke und die Hyäne haben es gesehen, wie mein kleiner Held in den Tod sank!«

Wahrhaftig, der alte Höhlenbär weint!

Wie muß er ihn geliebt haben, seinen Sohn, den tollverwegenen Tarahu. Mit einem halbgenagten Knochen reibt er sein Auge aus, und wie ihn Harrar betrachtet, scheint er ihm gedrückter und knochiger geworden zu sein.

»Vielleicht lebt er noch!« versucht Harrar zu trösten.

Raha hebt ihren Lockenkopf:

»Er ist vielleicht nach Ulianti gegangen, zu jener Hexe, welche ihn eingefangen hat!«

»Nein! Ich hab' es ihm verboten, jenes Nest der Eulen aufzusuchen!«

»Deshalb ist er heimlich gegangen und ohne Abschied!«

»Prügel bekommt er, der Lausbub, wenn er heimkommt! Mit einem – – –, aber nein, er ist tot! Er wollte ja – etwas – anderes …, tot ist er, gefallen in dunkler Nacht, allein und ohne Hilfe, mein Herzblut, mein Auge, die Freude meiner Seele! Tot ist er! Er muß tot sein; er wollte ja …«

»Die Biberfallen holen, nicht …?«

»Ja – ja, die Biberfallen holen! – Sie sind noch dort, jetzt noch!«

»Dann ist er nach Ulianti!« erklärt Raha.

»Tot ist er, sag' ich!«

»Nach Ulianti!«

»Ich glaube, du würdest ihm noch helfen?«

»Zweifle nicht!«

»Daß dich die Ratten fressen, giftige Harpune! Ich werde deine Widerhaken noch gerade biegen. – Harrar, bleibe ledig! Wenn du alt geworden bist, so siehst du ein, daß deine Rangen das Heiraten nicht wert waren. – Erst machen dich die Weiber verrückt und dann die Jungen!«

»Vater, manchmal ist's umgekehrt!«

»Noch ein Wort! – Hole dem Gaste und mir – etwas zu essen! Was muß Harrar von der Gastfreundschaft derer von Chohor denken!«

»Recht! – Daran hab' ich nicht gedacht – verzeih', Harrar! Ich habe zuviel an – an – meinen Bruder gedacht!«

»Oder an den Schnitzkünstler von Arah!« knurrt der Alte höhnisch! »Ich weiß nicht, ob der dein Bild noch schnitzen wird!«

Wie sie auffährt!

»Warum, Vater?«

»Ich glaube, Ahour hat an einem Opfer nicht genug gehabt! – Das von Ulianti ist nichts, Harrar!«

Der Jäger steht sinnend da. Es ist ihm unmöglich, die Ereignisse jener Nacht zusammenzureimen! Ob der alte Rahu nicht mehr weiß? Und Raha? Die nicht; Owinar hat sie verzaubert, und der andere ist ja ihr Bruder!

Sie kommt mit einer geräucherten Bisonzunge. Die Kinnladen des Alten arbeiten, als ob er seine Zähne wetzen wollte. Raha will zuerst dem Alten vorlegen; dieser packt die Zunge mit seiner gewaltigen Pratze und fährt damit zum Munde, als ob er darauf eins aufspielen wollte.

»Bringe dem Harrar auch etwas!« fletzt er zwischen den Zähnen hervor.

Raha geht und holt für den Gast einen Rehschenkel. Wie sie ihm denselben vorlegt, zieht Harrar seinen Dolch, das Andenken Owinars. Raha wirft einen Blick darauf.

Der herrliche Dolch Owinars!

Sie blickt erst verständnislos auf das Schmuckstück aus Mammutelfenbein, dann starrt sie hin. Harrar sieht nicht die Kalkblässe ihres Gesichtes, das Wogen ihrer Brust, das Zucken ihrer Lippen. Sie muß sich fassen, muß lange auf die Zähne beißen, um ruhig fragen zu können:

»Harrar, was ist das für ein Dolch?«

»Ich habe ihn von Owinar!« erklärt er.

»Von – Owinar?«

Unter dem Tone dieser Stimme blickt Harrar auf. Er schaut in zwei Augen des Grauens. So müssen Ahours Lichter glühen – vor dem Sprunge. Er weiß sich diesen Blick nicht zu deuten, aber eines fühlt er in diesem Augenblicke: in diesen Augen liegt mehr als Sehnsucht und Liebesgram!

»Ich erhielt den Dolch als Andenken!«

»Wann?«

»Am Tage vor der letzten Lößsturmnacht!«

»Als ihr hier waret?«

»Ja, er holte mich ein!«

»Ein solches Stück verschenkt man nicht! Du mußt ihm einen großen Dienst erwiesen haben!«

»Nein, im Gegenteil – er hat mir einen Dienst erwiesen!«

»Er dir – einen Dienst? Und für den Dienst, den er dir erwiesen hat, schenkt er dir den berühmten Dolch? Harrar, das scheint mir sehr – sehr zweifelhaft zu sein!«

Harrar wird verlegen. Sollte er ihr die ganze Situation erklären? Sollte er ihr erzählen, wie er unglücklich war, wie Owinar seinen Verzicht auf Raha aussprach? Er bringt es nicht über seine Lippen; er schweigt! – – – Hätte er gesprochen! Das Grauen des schleichenden Todes, der Schrecken eines langen – Sterbens wäre ihm erspart geblieben – – –!

Raha wartet auf Antwort. Sie hat seine Verlegenheit bemerkt und – deutet sie nach ihrer Weise! Langsam geht sie zur Seite und setzt sich nieder; lange stiert sie vor sich hin, die Fäuste an die Wangen gepreßt. Heiß zuckt ihr Blut nach den Schläfen hin, ihr mächtiges Haar fällt wild über ihre Stirne:

Owinars Dolch!

Wie kam er in seine Hände?

Blaß vor Eifersucht hatte damals der Jäger von Hador dagesessen, bebend vor Wut ging er fort, Owinar verschwand in jener Nacht und – – Harrar besitzt seinen Dolch! – Das ist kein Andenken! – Das ist ein – – – – Beutestück! Wie entgeistert starrt sie auf das Bild des Höhlenlöwen an der Wand: Kopf, Hals und Vorderbeine sind fertig – wie wuchtig, gierend – man hat das Gefühl, als ob das Tier weiterschleichen wollte, aus der Wand heraus, doch – – – nie, nie wird das Bild vollendet werden; der Mann, der es mit zeugender Hand in den Felsen gerissen, ist tot, und dort sitzt – sein Mörder!

Sie schließt die Augen, schaut im Geiste seine Augen und in diesen Augen sich selbst; er wird ihr Bild in Mammutelfenbein schneiden; sie beugt sich über seine Schulter, ihre Wange legt sich an die seinige, so warm wie Blut, nein – – – so kalt wie eine Leiche, in seinen Augen ist ihr Bild erloschen – der Künstler von Arah ist tot – – – – – »Owinar!« kommt es bebend, sehnend von ihren Lippen. Sie schreckt auf; sie hat wirklich gerufen!

»Harrar! Zeig' mir den herrlichen Dolch!«

Harrar blickt auf; sein feines Jägerohr hat ihre Stimme leise beben gehört.

»Wozu, Raha?«

»Ich habe ihn nie aus der Nähe betrachtet!«

»Hier!«

Raha nimmt ihn mit zuckenden Fingern, der Jäger von Hador läßt das Andenken Owinars nicht aus den Augen; er würde ums Leben für ihn kämpfen. Raha gibt den Dolch zurück; sie kann ihre Absicht nicht ausführen!

»Glaubst du, daß er tot sei?« fragt sie so ruhig, als ob sie sich nach dem Wetter erkundigte.

»Ja, ich bin überzeugt davon!« antwortet Harrar, denn er hat das glühende Auge Rahus gesehen!

»Sein Mörder soll enden wie der Kindsmörder von Anthor, der von seinem eigenen Fleische fraß!« keucht Raha bebend hervor und ihre Augen blitzen sengend nach dem Dolche hin.

Nach einer dumpfen Pause verläßt Raha die Höhle. Unter dem Eingang dreht sie sich um:

»Vater!«

»Ja?«

»Ich habe dir etwas zu sagen!«

Widerwillig verläßt Rahu die Höhle.

Seine Tochter geht ihm voran bis an einen Felsvorsprung; dort läßt sie sich nieder.

»Was willst du von mir?« fragt der Alte ungeduldig.

»Vater, Owinar ist tot!«

»Was kümmert uns das?«

»Er wurde ermordet!«

»Was geht das dich an?«

»Ich kenne seinen Mörder!« Der alte Grauling zuckt zusammen; sein Auge drückt sich lauernd ein.

»Du kennst ihn, Täubchen? Wer – wer? – – Bist du seine Richterin?«

»Ja, Vater, ich werde ihn richten!«

»Ich bin neugierig, wie du das angreifen wirst.«

»Du wirst mir helfen, Vater!«

»Ich – ich – – – dir helfen? Ja, hm – – Raha! Wer ist denn der – sein – Mörder?«

»In der Höhle sitzt er: Harrar von Hador!«

»Aaah!« Mehr bringt der Alte nicht hervor; mit offenem Munde steht er da.

»Hast du nicht bemerkt, damals, wie er vor Eifersucht bebte und mit gesenktem Haupte fortging?«

»Ja ja, Raha! Beim Ahour! Du hast scharfe Augen!«

»Hast du gesehen, Vater, daß er seinen Dolch besitzt?«

»Bei den Knochen meiner Ahnen!«

Raha steht auf:

»Vater! Damals wolltest du ihn niederschlagen; er hat dich besiegt! Du brachst zusammen wie eine Himbeerstaude!«

»Ausgeglitten bin ich!«

»Meinetwegen! Ich bin überzeugt, daß du ihn fürchtest!«

»Ich? – Nimm das Wort zurück oder ich erwürge dich!«

»Mich? Ich habe dich nicht niedergeworfen, sondern – er! Du fürchtest ihn nicht, Vater?«

»Daß dich der Blitz zusammenschmettere, Viper!«

»Vater! Wenn du die Wahrheit deiner Worte beweisest, so werde ich nie mehr an deinen Worten zweifeln: wirf ihm die Schlinge um den Hals und ich werde ihm meinen Pfriemendolch ins Herz schlagen!«

»Hast du Mohnsaft getrunken? – Ich werde mich hüten! Er hat mir einen großen Dienst erwiesen! Brüderschaft essen werde ich mit ihm!«

»Vater! Hast du die Blume von Ulianti geliebt?«

»Ha –! Wie der Höhlenbär das Knochenmark!«

»Würdest du für sie gekämpft haben?«

»Mit sämtlichen Büffeln der Steppe hätte ich es aufgenommen!«

»Würdest du sie – gerächt haben?«

»Mein ganzes Leben heißt Rache!«

»Vater! Du weißt es: ich habe Owinar geliebt – geliebt wie die Glockenblume den Morgentau – wie die Steppe den Frühling! Vater! Du kannst es erfassen; du hast so geliebt, und ich bin dein Fleisch und Blut!«

Finster blickt der Knochenriese in die Ferne.

»Raha«, sagt er endlich schmeichelnd – »Harrar hat uns nach dem Gesetze der Steppe nichts getan, was die Rache erlaubt; im Gegenteil, er war mein Arm! Howe, der Schuft, mag seinen Sohn rächen! Wenn wir es tun, so gibt es blutigen Vernichtungskrieg zwischen Hador und Chohor! Zudem: du kannst ihm nichts beweisen, nur die Nacht hat es gesehen!«

»Vater, ist das dein letztes Wort?«

»Ja, Kind! Für Howe, den Schuft, nehme ich keine Blutrache auf meinen Stamm. Er soll seinen Sohn selbst rächen!«

»Er soll seinen Sohn rächen!« wiederholt Raha wie abwesend.

»Raha, ich hatte gehofft, daß Harrar mein Sohn würde!«

»Erdolchen würd' ich ihn am Hochzeitstage – die Ader würd' ich ihm öffnen mit meinen Zähnen! Ah! Wenn das möglich wäre!«

»Komm', Vater, wir müssen zu unserem teuren Gaste, sonst schöpft er Verdacht, wenn wir solange bleiben! Ich will dein Herz nicht mit seinem Blute beflecken, Vater – – komm'! Dein Wunsch ist mein Befehl. Die schönsten Blumen der Steppe sollen unsern Einzug schmücken! – Ich will sein Weib werden, um ihn mit meinen eigenen …«

»Er wird dich bändigen! Bald wirst du ihn vor Liebe fressen! Ich kenne die Weiber: kratzen können sie wie die Bergkatzen, wenn man sie küssen will; wenn man's nicht tut, heulen sie im geheimen!«

Raha setzt sich wie die reuige Sünderin neben Harrar. Lange sagt keines ein Wort. Sie hat einen furchtbaren Plan.

»Harrar, bist du noch zornig?«

»Warum, Raha?«

»Weil ich dich – das letztemal – ein bißchen eifersüchtig machen wollte. – Ich war töricht, gelt?«

»Ich – weiß nicht!«

»Bist du so böse?«

»Nein! Ich bin nicht böse!«

»Nicht einmal den Abschied gesagt! – Ich habe den ganzen Tag geweint! – Das war nicht schön von mir, gelt, Harrar?«

»Nein, Raha, das war nicht schön! Ein Krieger ist kein Pferd, dem man erst die Schlinge wirft und dann die Haut abzieht!«

Raha zuckt mit den Mundwinkeln.

»Was tun wir törichte Mädchen nicht alles, um unser Ziel zu erreichen! Du verzeihst mir, Harrar?«

»Ja, gerne, Raha!«

»Es bleibt – wie früher, nicht, Harrar?«

»Ja, wie – vor zwanzig Jahren!«

Raha beißt auf die Zähne; ihre Händchen ballen sich.

»Wie meinst du das, Harrar?«

»Ein Jäger von Hador nimmt kein Weib, das ein anderer verschmähte.«

Raha steht auf und wankt dem Ausgange zu. Blaß und weltverloren starrt sie nach dem fernen Gletscher hin.

Ein zweiter Dolch sitzt in ihrem Herzen.

Nach einer Weile ruft der Alte:

»Raha – hol' mir – – – Raha! – Wo ist sie?«

Raha ist fort!


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