Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Die Zeit stob dahin wie ein Rennfahrer; es geht auf Leben und Tod. Aufdenmatten war wieder einmal zur Ernte gerüstet, nicht nur, weil das Gras an den Halden in diesem Jahre besonders früh schnittreif wurde, sondern weil die ganze Bewohnerschaft auf ein neues Anschwellen des Fremdenbesuches hoffte. Endlich sollte wieder einmal jeder, der vom Fremdenverkehr Verdienst hatte, sich etwas für den langen Winter beiseitelegen können. Die Gasthäuser taten weit und hungrig Fenster und Türen auf. Jeder Händler und Handwerker blickte hinter den eintreffenden Gästen her und taxierte sie auf die Möglichkeit, daß gerade er von ihnen Vorteil haben könnte. Die Magazine füllten sich mit neuer Ware. Am Halteplatz der Fuhrwerke vor dem größten Gasthaus am Ort, dem Hotel Ewigschneehorn, sammelten sich Einspänner und Saumtiere. Überall lungerten und saßen die Bergführer, auf Kunden wartend, herum.

Auch Gallus Stettler folgte dem Rate seines Schwiegervaters und einstigen Kollegen und suchte sich mit den Hotelbesitzern gut zu stellen, um von ihnen als verläßlicher Führer vorgeschlagen zu werden. Aber die Herren Wirte machten bedenkliche Mienen und klagten, ihnen fehlten die Gäste überhaupt, nicht nur die Bergsteiger. Der Wirt und Großrat Allmendinger, ein zweistöckiger, rauher, breitschultriger Mensch, ein rechter Aufdenmattener, der am Ort infolge seines persönlichen Reichtums, seines großen Betriebes und seiner eigenen Bodenständigkeit eines herrgotthaften Ansehens genoß, machte ein verdrossenes und besorgtes Gesicht und murrte: »Wenn uns auch dieser Sommer noch schief geht, dann werden nicht viele von uns im Winter mehr eigene Ziegel auf dem Dach haben.«

Eines Abends schlenderte Gallus, der wieder einen Tag umsonst auf Beschäftigung gewartet, allein die Straße entlang. Er kam zum Friedhof, setzte sich dort auf ein niederes Mauerstück, nahm seine Pfeife und seinen Beutel, machte Miene, jene zu stopfen, und steckte dann doch alles wieder in die Taschen zurück. Spare, Gallus, sagte er zu sich selbst, aber bei aller Sorge vermochte er nicht mißvergnügt zu sein. Ganz Aufdenmatten war jetzt eine einzige Erwartung. Warum sollte er es besser haben? Geld hatte niemand mehr. Alle, vom großen Hotelwirt bis zum kleinsten Kegelbub, warteten auf den Segen, den die Fremden bringen sollten. So galt es auch für ihn, zu warten. Er war den Winter über wahrlich nicht müßig gewesen. Beim Wildheuen, beim Holzschlagen, beim Kohleeinkellern, ja selbst den Wirten beim Weinabziehen und den Bauern beim Misttragen hatte er geholfen. Aber das alles war nicht sein Beruf. Darum mußte er jetzt warten! Auf die Paßwege, an die Felsen und Gletscher zu steigen, ihnen den Auf- und Durchgang abzuluchsen, mit ihren Stürmen zu ringen und ihren tückischen Nebeln, ihrem bissigen Frost zu trotzen, das war das Leben! Das war keine Taglohnarbeit! Der ganze Mensch vom Wirbel zur Zehe war nötig. Der Körper, aber auch die Seele mußten gleichsam in Feuer auflodern! Ansturm, ewig und immer neu! Denn jedesmal waren Berg und Wetter anders, und jedesmal fielen sie einen mit neuen Waffen an! Gerade weil sie ihm noch verschlossen waren, liebte er heute die Berge mehr denn je. Todfeinde waren sie manchmal. Aber gerade darum war es ein Rausch ohnegleichen, als Sieger auf ihren Gipfeln zu stehen und sie mit allen Herrlichkeiten Gottes für alle Mühe zahlen zu lassen. Wenn doch erst der Kampf wieder beginnen könnte! Es riß an ihm und zerrte ihm die Brust auseinander. Wenn doch morgen – übermorgen sich endlich wieder Arbeit zeigte! – Plötzlich fiel ihm Anschi, seine Frau, ein. Und es wurde ihm heiß und kalt. Bald nach Neujahr hatte er sie geheiratet. Die Vereinbarungen mit Zurbriggen hatten sich verwirklicht. Gallus hatte seine Kammer bei den Loretzen aufgegeben, seine paar Habseligkeiten herübergeräumt. Das Aufgebot war erfolgt. Ohne Fest, ohne Wesen hatte der Pfarrer sie zusammengegeben. Seither war alles glatt und schön dahingegangen, so glatt und schön, daß kaum etwas zu wünschen übriggeblieben! Sein Verdienst aus Taglohn war so reichlich gewesen, daß sie sich sogar ein weniges hatten auf die Seite legen können. Der alte Zurbriggen hatte nicht einen lästigen Esser an der Schüssel gehabt. Übrigens – recht war er gegen ihn gewesen, der Schwiegervater, ein stiller, verständiger Mann und wie ein Kamerad, wenn es um Dinge des gemeinsamen Berufs gegangen war! Doch erst die Anschi! Gott, was für eine Frau! Er kannte sie ja nun schon lange, hatte lange gewußt, daß sie wie ein kühler, von Wachsen und Blühen erfüllter Frühlingstag war. Aber so eigentlich ins Staunen über sie war er doch erst geraten, seit er mit ihr Stube und Bett teilte. Wenn sie ihn am Morgen zur Arbeit entließ, trug er die Erinnerung an ihr Lächeln und ihre Fürsorge mit sich, aber mehr, den ganzen Tag konnte er das schöne Gesicht, das Strahlen ihrer Augen und das helle, scheinige Haar nicht vergessen. Sie pflegte ihm nachzuschauen, bis ein Haus oder Fels ihn außer Sicht brachte. Nicht die Erinnerung an ihr Äußeres allein ging aber mit ihm, sondern ein seltsames, nicht zu erklärendes Wesen, ein Gefühl: die Frau dort, in der Pracht ihrer jungen Glieder und blauen Augen und blonden Zöpfe, sinnt und lacht und glüht hinter dir her! Sie gehört so mit Leib und Seele dir, daß ihr Eigentliches und Innerstes gleichsam hinter dir hersprüht, wenn du von ihr weggehst. Ähnlich erging es ihm bei der Rückkehr. Schon von weitem zog etwas ihn an wie ein Magnet. Und er erreichte das Haus nie, ehe Anschi, als hätte sie seine Annäherung gespürt, plötzlich in der Tür erschienen war, ihn erwartete und sich ihm in die Arme warf. Seit sie getraut waren, hatte sie alle frühere Zurückhaltung abgelegt. Sie sprühte so sehr von Lebensfreude, daß sie ihn, den Bedächtigen und mit seinen Gedanken in einer engen Welt Lebenden, gleichsam aus seinem Mittelmaß aufriß und er wie ein helles Feuer wurde, das mit ihr in eine Flamme zusammenloderte. Sie teilten sich in alle Arbeit. Wenn er Holz spaltete, sammelte sie die Scheite in den Korb, und wenn sie Wasche aufhängen wollte, spannte er das Seil und reichte ihr die Klammern und das Linnen. Er trug ihr den Korb vom Einkaufsgang heim, und sie brachte ihm das Vesperbrot zur Arbeitsstelle. Ein jedes suchte dem andern, was es nur konnte, zuliebe zu tun. Oft überfiel beide ein kindischer Übermut. Dann jagten sie einander wie Schulkinder im Hause herum, neckten einander oder spielten einander lose Streiche. Im Handumdrehen aber besprachen sie als ernste und kluge Kameraden miteinander lebenswichtige Dinge, gingen zu einem Lehrvortrag irgendeines Wanderredners und unterhielten sich nachher ernsthaft über das Gehörte, handelten auch häufig von den Ereignissen und Wirrnissen der bösen Zeit miteinander.

Alles das ging Gallus jetzt durch den Kopf. Dann gewann, wie schon oft, neben der lachenden Genugtuung über das Glück, das ihm da über den Kopf geregnet war, etwas Geheimnisvolles und nicht minder Mächtiges in ihm Geltung. Er scheute sich, auch das zu ergründen. Es war wie ein Fieber und mahnte ihn an jene stillsten Stunden in der Kammer, in denen er Anschi in ihrer starken, naturhaften, manchmal einem Sturm vergleichbaren Art erst recht erfahren hatte, die doch immer ihre Lauterkeit behielt und von der sie einmal gesagt hatte: »Es ist wie ein Wunder, was Gott in uns Menschen an Glück zum Schenken und zum Empfangen gelegt hat.«

Vor acht Tagen aber hatte er Anschi bei der Heimkehr untätig auf einem Stuhl sitzend gefunden, und als er, verwundert über ihre Versunkenheit, gefragt hatte, was ihr sei, hatte sie ihn groß angeschaut und geantwortet: »Ich glaube, Mann, du wirst bald ein Vater sein.«

Gallus schluckte. Es kam ihm etwas in die Kehle und würgte ihn. Mitten in aller Freude! Und eine mächtige Freude war doch Anschis Geständnis! Die konnte selbst der Gedanke nicht beeinträchtigen, daß sie beide in Zukunft nicht mehr nur für sich selbst zu sorgen, also noch eine Last mehr haben würden. Aber da war etwas anderes: Eine seltsame Furcht schlich ihn an. Anschi hatte nie geklagt, wenn er auf Bergfahrt gewesen war. Aber, wie ungern sie ihn gehen sah und wie sie litt, wenn er fort war, das hatte er nach der Hochzeit viel besser noch als vorher gefühlt. Wenn nun aber das Kind kam! Er spürte, wie ihre schon jetzt mühsam verhehlte, sonderbar vorahnende Angst steigen würde! Und er selbst! Fiel nicht auf ihn eine Verantwortlichkeit, der er sich bisher entschlagen, mit doppeltem Gewicht? Neben der Frau auch das Kind! Er, der Versorger und Erhalter! Zwei Pflichten würden ihn hin und her zerren, die, möglichst viel zu verdienen, und die andere, die Gefahr, die sein Beruf ihm brachte, zu meiden! Wie sollte er beide vereinigen?

Gallus rutschte auf seiner Mauer und rutschte hinunter auf seine Füße. Es litt ihn nicht mehr. Unruhe peitschte ihn wie mit Nadeln. Er machte sich auf den Heimweg, als müsse er gleich mit Anschi von allem reden. Dann schalt er sich: Bist du nicht Manns genug? Sind das nicht Dinge, mit denen du allein fertig werden mußt? Zuletzt keimte die Freude an Anschi neu in ihm auf und daneben auch, wenn auch gedämpfter, die Freude auf das Kind.

Bald sah er von weitem den Schwiegervater vor seinem Hause sitzen: neben ihm stand Anschi, die ein Bügelbrett über zwei Stühle gelegt hatte und im Freien ihre Wäsche plättete. Der Anblick riß ihn aus seinen Grübeleien. Er beschleunigte seine Schritte. »Tag beieinander!« grüßte er, und zu Zurbriggen sich wendend berichtete er: »Noch immer nichts mit fremden Touristen. Sogar Allmendinger macht ein Gesicht, als gingen ihm die Batzen aus.«

»Ich möchte nicht in seinen Schuhen stecken«, meinte der Alte und erinnerte an die großen Opfer, die Allmendinger habe bringen müssen, um seine Gasthöfe zu modernisieren, in ihnen Zentralheizung und fließendes Wasser einzurichten.

Gallus hatte sich inzwischen Anschi zugewendet. Er drückte ihr die Hand. Dabei fragten seine Augen nach dem, was erst ein Vielleicht war.

»Es ist«, flüsterte Anschi ihm zu, und im Gegendruck ihrer Finger lag der Jubel ihres Herzens.

Aber Gallus konnte sich nicht so freuen, wie er wollte. Es war ihm, als läge irgend etwas in der Luft. Verlegen trat er an Anschi vorbei ins Haus.

Es war aber noch nicht die Stunde, die alle drei bei Tisch wieder beisammen gesehen hätte, als ein Bote Allmendingers Gallus ins Hotel Ewigschneehorn zurückbeschied. Er traf ihn in der Küche, wo er für die am Herde beschäftigte Anschi Späne machte. Sie hatten von dem zu erwartenden Kinde gehandelt, und auch Gallus hatte sich in eine leichtere Stimmung hineingeplaudert. Nun streifte er Anschi mit einem fragenden Blick, und ihre Augen fragten zurück: Was mag man von dir wollen?

»Es wird irgendeine Taglohnarbeit geben«, tröstete er Anschi, aber die Neugier brannte in ihm, und schon flammte dahinter die frohe Unruhe auf: Würde sich vielleicht doch endlich wieder eine Führung finden? Sie wagte sich nicht hervor. Er fühlte, daß Anschi fürchtete, was er hoffte. Endlich drückte er sich linkisch und mit einem kleinlauten »Bis nachher« durch die Tür.

Anschi, als er gegangen war, preßte die Hände zusammen und versuchte, den gehemmten Atem tief aus der Brust heraufzuholen. Sie zürnte sich selbst. Sie konnte Gallus doch nicht für sich allein behalten wollen, durfte nicht aus dem freien Bergführer einen armseligen Tagelöhner machen. Sie sah doch auch ein, wie er nun, da die Familie wachsen wollte, erst recht auf höheren Verdienst bedacht sein mußte! Und doch! Mußte nicht doch auch er sich dessen bewußt werden, daß er nun zweien pflichtig sei, und sich nicht in Gefahr begeben? Die Gedrücktheit, mit der er vorhin sich entfernt hatte, wies wohl darauf hin, daß er das alles nicht leicht nahm. Wiederum aber waren die Berge sein Leben, war er selber ein Stück Berg! Mein Gott, wo war der Ausweg?

Ein armer, kleiner Seufzer entrang sich Anschi. Ohne mehr recht zu wissen, was sie tat, beendigte sie die Vorbereitungen für die Mahlzeit und deckte in der Stube den Tisch. Sie saß schon mit dem Vater bei der Suppe, als Gallus wiederkam. Zurbriggen löffelte eifrig. Sie aber hatte eben erst gekostet und nicht weiter essen können. Mit allen Sinnen hatte sie Gallus entgegengelauscht.

Gallus hängte seinen Hut an die Wand und ließ sich mit einem sonderbaren »So« am Tische nieder. Dann begann auch er zu essen, als gebe es eigentlich nichts zu berichten. Aber alles geschah nur, um Zeit zu gewinnen und die rechten Worte zu suchen und mit sich selber ins klare zu kommen. Zwischen dem ersten und zweiten Löffel Suppe erzählte er: »Heute abend sind nun doch noch zwei Touristen gekommen.«

Zurbriggen maunzte unterm schlürfenden Essen: »Nun, ganz ausgestorben werden sie wohl nicht sein.«

Anschi schluckte die Nachricht hinunter, ganz still, ganz willig.

Gallus erzählte weiter: »Zehn Tage lang wollen sie steigen. Alles, was schön und schwer ist, wollen sie machen. Der alte Simmen und ich sollen mit. Sie zahlen Übertaxen. Es sind Engländer. Sie waren im Kaukasus: es stand damals in allen Zeitungen.«

»Ein guter Anfang für dich«, lobte Zurbriggen. Dann fügte er einschränkend hinzu: »Sie werden freilich hier Kunststücke machen wollen.«

Den Gallus durchrieselte es. Das war gerade, was er auch dachte. Mit Alltäglichem gaben solche Leute sich nicht ab! Sie würden neue Wege suchen! So gab es auch für ihn neue Aufgaben. Die würden von ihren Führern das Äußerste verlangen! Seine Sehnen spannten sich. Ein Drang lief wie ein Reißen durch seinen Körper. Er konnte es kaum erwarten, bis er Seil und Pickel bereitlegen konnte. Aber plötzlich duckte er sich. Sein Blick war auf Anschis Gesicht gefallen, das, wenn auch die Augen ihn tapfer und freundlich anschauten, ohne alle Farbe war.

»Ich habe mir Bedenkzeit ausgebeten«, gestand er dann zögernd.

Zurbriggen wußte, weshalb das geschah. Auch er sah Anschi an. Dann, nicht gewohnt, Rücksichten zu nehmen, platzte er heraus: »Entweder ist man ein Führer, oder man ist keiner.«

Anschi stand auf und ging hinaus. Sie wollte die heißen Augen nicht zeigen, nicht, daß ihr der Wille nicht gehorchte und daß diese Angst und dieser Trotz in ihr waren.

»Sie sieht es nicht gern«, sagte Gallus still, als sie die Tür hinter sich zugemacht hatte.

»So sind die Weiber«, murrte Zurbriggen.

Dann saßen sie mit in die Teller gebohrten Blicken.

Nach einer Weile ging Gallus Anschi nach. Er fand sie oben in ihrer gemeinsamen Kammer, wie sie mit im Schoß gefalteten Händen am Fenster saß und nach dem Himmel staunte. Kleinlaut, wie auch schon, blieb er auf der Schwelle stehen und fragte: »Soll ich nicht gehen, Frau?«

Der lautere, gesunde, wildmutige Mensch war nicht schwer zu erraten. Anschi fühlte, wie er vor ihrer Antwort bang war. Und man konnte doch ein Grattier nicht in einen Käfig sperren, dachte sie. Aber sie fühlte auch das Seltsame, Neue in ihrem Innern, als ob das Kind schon Leben hätte, das eben erst Wesen geworden. Und es war wie ein schwerer Stein in ihr. Endlich sagte sie ohne Wehleidigkeit: »Es ist so, wie der Vater gesagt hat: Entweder ist einer ein Führer, oder er ist keiner.«

Gallus streckte sich. Es war ihm, als nehme ihm einer Ketten ab. Und von einer noch nicht recht wachen Hoffnung gestoßen, erwiderte er: »Wegen mir brauchst du nicht Angst zu haben.«

»Wegen dir nicht«, erwiderte sie, den Blick an den Bergen, »aber wegen denen dort. Die sind noch immer stärker als ihr.«

»Ich bin doch nicht mehr so grün«, fuhr er fort. »Und das Leben ist weiß Gott zu schön, als daß man es leichtsinnig aufs Spiel setzte.« Bei diesen Worten zog er sie stürmisch an sich. Er bebte von Freude an ihr und dem Leben und seinem Berufe.

Sie fühlte es und war stolz auf ihn. Sie dachte, daß es Männer wie ihn kaum mehr gebe und spannte die Arme enger und enger um ihn. »Du guter Gallus, du!« sagte sie und preßte alle Sorge und Unruhe in das Unterste ihres Herzens hinab.

Die Männer glaubten nachher, sie habe alle Furcht überwunden; denn sie legte heiter und emsig alles zurecht, was Gallus am andern Morgen brauchte. Heimlich steckte sie ihm ein Päcklein Tabak in den Rucksack und ihr Bild dazu, sich ausmalend, wie es ihn freuen müsse, wenn er beides finden werde.

Gallus machte mit Allmendinger am Telephon alles richtig und erzählte dann, ein so gutes Weggeld hätten die Führer in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr bekommen.

Da scherzte Anschi: »Schweizermannen wie du sind überhaupt nicht zu bezahlen.«

Aber in der Nacht schlief sie nicht. Das Kammerfenster stand offen. Die blaue Sternnacht sah herein. Gallus hatte noch in seiner Karte herumstudiert und, in Gedanken schon halb auf dem Wege, wenig mehr gesprochen. Gewöhnt, den erquickenden Schlaf zu zwingen, war er, kaum daß er sich niedergelegt, eingeschlafen. Anschi hielt den Arm unter ihren blonden Kopf gelegt und lauschte seinen ruhigen, lauten Atemzügen. Es zog und zog sie, sich ihm anzuschmiegen. Sie liebte ihn mit dem Innersten ihres Wesens, und es schien ihr, daß sie ein ganz, ganz großes Los gezogen, daß es keinen von Gallus gleichen mehr gebe. Irgendwo aber über der Hütte oder der Kammer oder ihr selbst hing es wie ein dunkler, riesiger Stein. Ein paar schwache, krachende Wurzeln hielten ihn. Er mußte stürzen, jetzt oder später! Und dann würde Gallus Stettler nicht mehr sein! Sie war wie von einer großen Weisheit befallen und zuckte nicht und klagte nicht mehr: Du rennst in dein Schicksal, Gallus! Nur am ganz frühen Morgen, als ihres Mannes Wecker rasselte, fuhr sie aus einem Halbschlummer auf, in den sie zuletzt gefallen, und als sie sich klargemacht, daß es Zeit zum Abschied sei, ächzte sie einmal auf, als sei sie am Ersticken.

Gallus war schon außer Bett. Er fuhr herum und fragte: »Was hast du?«

Aber das Gesicht ihm voll zugewendet, antwortete sie: »Nichts! Ich habe mich nur verschluckt.«

Dann, ebenfalls aufstehend und ans Fenster tretend, rühmte sie, es werde ein herrlicher Morgen werden, es stehe keine Wolke am Himmel. –

Die Bergsteiger gedachten heute nur eine der höchstgelegenen Klubhütten zu erreichen. Mit den eigentlichen Besteigungen sollte erst an den folgenden Tagen begonnen werden.

»Paß auf!« mahnte Gallus ernsthaft die Anschi. »Heute abend, wenn die Sonne niedergeht, will ich von der Lopperalp herab eins jodeln. Dann weißt du, daß ich an dich denke.«

Sie schwieg einen Augenblick und starrte ihn an, als brauche sie Zeit, sich klarzumachen, was er meine. Dann nickte sie hastig: »Ich werde es nicht vergessen.« Und dann, schmerzlich, fügte sie hinzu: » Meine Stimme wird dich freilich nicht mehr erreichen.«

Von da an bis zum Abschied vermieden sie es, von diesem zu sprechen. Anschi plauderte beim Frühstück lauter Dinge, die ihn freuen sollten. Sie wolle ein großes Reinemachen veranstalten, während er fort sei. Männer könne man dabei nicht brauchen. Den Vater schicke sie tagsüber ins Wirtshaus. Sie fühle sich mächtig wohl und stark wie ein Kranzturner.

Ihr hielt Gallus entgegen, in der Zeitung stehe ein Wetterbericht, der eine Woche lang eitel blauen Himmel verspreche.

Als aber Anschi einen Augenblick aus der Stube ging, meinte Zurbriggen von ihr: »Wacker ist sie! So müssen die alten Schweizerinnen gewesen sein, die ihren Männern lachend: Hau's brav! gesagt haben, wenn sie in die Schlacht gingen.«

Gallus fühlte mehr denn je, was er an Anschi hatte. Und wenn ihm das Verlangen nach dem Gebirg in den strammen Beinen und dem sorglosen Herzen saß, so dämpfte dieses immer wieder eine weiche Regung, die ihm den Abschied hart machte.

Minuten später fiel sein Blick durch die offene Haustür auf die Straße hinaus. Blau dämmerte der Tag. Da zog es ihn fort.

Zurbriggen und Anschi traten mit ihm vors Haus hinaus. Es war noch nachtkalt. Aber im Osten gewann der Himmel einen Goldschein, in dem ein paar hilflose letzte Sterne erloschen. An den hohen Gipfeln im Westen, der gewaltigen vielzackigen Mauer, spann schon das geheimnisvolle Licht, das dem morgendlichen Glühen vorangeht.

Gallus trug das Gletscherseil um den Oberkörper gewunden. Seine Linke hielt das Beil. Jung und heiter und ein wenig wild stand er in den schweren genagelten Schuhen.

»B'hüt Gott, Vater!« sagte er und drückte Zurbriggens Hand.

Zu Anschi sprach er nicht. Er legte nur noch einmal den Arm um sie, küßte sie lang und zog ihr dann das Kreuzlein aus dem Busen, ein Geschenk ihrer Firmpatin, das sie immer trug. Mit dem berührte er in einem frommen Aberglauben die eigene Stirn. Dann schritt er hinweg, ohne sich noch einmal umzusehen. Es dauerte nicht lange, bis er ganz in Weg und Aufgabe versank.

Auch die Zurückbleibenden machten kein Wesen mehr. Das war nicht Sitte. Sie traten ins Haus zurück. Zurbriggen setzte sich in eine Stubenecke und machte in Gedanken den Weg zur Lopperhütte mit, den er einst Dutzende Male gegangen.

Anschi stieg in den oberen Stock hinauf, um die Kammern in Ordnung zu bringen. Am Abend! dachte sie. Und zählte die Stunden, bis sie des Gallus Stimme hören würde.

Den ganzen Tag aber hing der Stein über ihr und Gallus. Irgendwo. Und ihr Atem ging schwer.


 << zurück weiter >>