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Elftes Kapitel.

Es war bereits ganz dunkel, als Sir Edwin sich von Bullett Fräulein Givens Adresse verschafft hatte und an der Tür des bescheidenen, hellerleuchteten Häuschens schellte. Er erkundigte sich nach Fräulein Givens und erhielt die Antwort, sie sei bereits zu Bett gegangen.

»Aber möchten Sie vielleicht Fräulein Givens Mutter sprechen?« schlug die freundliche, alte Frau vor.

Edwin nickte. Er begriff viel rascher, als Yardley es ihm zugetraut hätte.

Die alte Frau machte nicht viele Umstände. Sie öffnete eine Tür und rief hinein: »Hier ist ein Herr, der Sie sprechen möchte, Madame!« Darauf verschwand sie in einem engen Flur und überließ Edwin seinem Schicksal.

Er blieb ergriffen stehen, als er das Zimmer betrat. Einen Augenblick zweifelte er, ob die grau gekleidete Frau, die sich von ihrem Stuhle erhob und eine Handarbeit beiseitelegte, wirklich Dora Givens sei. Das glatte, schlicht gescheitelte Haar, das offenbar selbst angefertigte Kleid, die weißen Rüschen an Hals und Aermeln verliehen ihr einen madonnenhaften Ausdruck. Neben ihr auf dem Tisch standen eine bescheidene weiße Lampe und ein Glas mit Blumen.

»Ich mußte kommen, Dora«, sagte Edwin ernst. »Sie müssen es mir verzeihen. Ich mußte ganz einfach! Ich weiß alles – wir brauchen also nicht darüber zu sprechen.«

Dora sank totenblaß auf den Sessel zurück. »Nun denn –!« sagte sie und faltete die Hände.

»Ich schrieb an Sie, bekam den Brief aber als unbestellbar zurück. Heute nachmittag erfuhr ich dann durch Zufall, daß Sie hier sind, und kam deshalb gleich herüber. Herr Bullett war so freundlich, mir anzugeben, wo Sie wohnen. Dora, ich weiß, wer mein Nebenbuhler ist, und ich möchte Ihnen sagen, daß mein Herz groß genug für Sie beide ist. Cissie ist ja nur ein so kleines Ding. Sie wird nicht viel Platz fortnehmen.«

Doras Lippen öffneten sich. Aus ihren Augen sprach tiefe und stumme Qual –

»Sie sind sehr gütig«, preßte sie mühsam hervor, »der gütigste, beste und mildeste Mensch auf der ganzen Welt. O, Edwin, Gott weiß, wie nötig ich Sie habe!«

»Dann –«

Sie hob abwehrend die Hand. »In den letzten Tagen ist so viel geschehen – ein Trauerspiel für mich! Cissie ist nicht wohl. Gestern fuhr ich mit ihr nach London, um sie von einem Spezialisten untersuchen zu lassen, und der sagte, sie müsse sofort nach Davos – das sei das einzige, was sie am Leben erhalten könne. Herr Bullett wird mir Geld verschaffen. Er ist ebenso besorgt wie ich, aber mitreisen kann er nicht. Wir fahren nächste Woche. Manche Menschen würden sagen, es wäre besser, sie sterben zu lassen.«

»Das müssen sehr hartherzige Menschen sein«, flüsterte Sir Edwin sanft. »Wir wollen zusammen für ihr Leben kämpfen. Du wirst mich sofort heiraten, Dora, und dann fahre ich mit Dir nach Davos. Wir werden von Calais ab einen Salonwagen nehmen, und ich werde sofort eine gute Pflegeschwester für das Kind besorgen.«

Doras Kopf sank auf die Tischplatte nieder; Edwin beugte sich über sie und streichelte ihr dunkles Haar.

»Du kannst dich jetzt nicht mehr weigern, mich zu heiraten. Siehst du ein, wie groß meine Liebe ist? Ich liebe dich – und begreife alles. Weshalb hast du es mir nicht schon neulich gesagt, statt uns beiden das Herz schwer zu machen?«

Sie streckte ihre Hand aus. Er hielt sie fest in der seinen und küßte sie zärtlich.

»Wenn du mich wirklich haben willst, Edwin –«

»Ich glaube, du mußt fühlen, wie nötig ich dich habe«, entgegnete er. »Aber sage mir ein gutes Wort, Dora!«

Da sprang sie auf, und ihre schönen Augen leuchteten.

»Wie lieb ich dich habe, habe ich doch dadurch bewiesen, daß ich fortlief!« rief sie aus.

*

Frank Yardley erfuhr alles durch einen sehr charakteristischen »Edwinschen« Brief, der lautete:

 

»Alter Junge, meine Sache ist gut im Gange. Da ihre Tochter – leider sehr ernstlich – erkrankt ist, haben Fräulein Givens und ich beschlossen, rasch zu heiraten. Sie muß mit dem Kinde nach Davos, und ich kann sie natürlich nicht allein reisen lassen. Es ist schlimm für sie, daß die Heirat so überstürzt werden muß; aber hoffentlich wird es für Cissie ein Glück sein.

Willst Du es Helen mitteilen? Ich habe furchtbar viel zu tun. Wir fahren morgen, und Du mußt dieses eilige Gekritzel entschuldigen. Sage Helen, ich würde ihr schreiben, sobald es mir möglich ist.

Einliegend ein Scheck – Dein Hochzeitsgeschenk. Und verzeih' mir, daß ich Dich Haney ohne meinen Beistand überlassen muß. Grüße ihn von mir, falls er schon wieder da ist. Er wird wohl auch ohne ausdrückliche Einladung nach Bedarf in Madder Grange ein und aus gehen.

Hast Du ihm schon mitgeteilt, wie gescheit Du bist? Oder weiß er es schon?

Dein Ed.«

Der Brief hatte trotz seines ernsten Inhalts einen heiteren Unterton. Yardley war tief bewegt. »Frau« Givens! Wie schlicht hatte er Dora durch dieses eine Wort gerechtfertigt – und das nicht um seiner selbst willen!

Frank wußte genau, wie Edwin Mathers sein Leben gestalten würde. Auf etwaige Fragen würde er ganz ruhig antworten, daß Dora in erster Ehe einen Kolonialbeamten geheiratet habe, bevor sie Witwe und dann Lady Mathers wurde.

Seltsam! Unter einer dicken Kruste von Ehrbarkeit lag eigentlich bei allen Mathers eine abenteuerliche Ader verborgen! Der gelassene, vernünftige Onkel Harry zum Beispiel hatte in späten Jahren jenen Ausflug nach Indien unternommen, der wahrscheinlich seinen geheimnisvollen Tod in Larke Minnis zur Folge gehabt hatte.

Und ein zweites Beispiel war Helen!

Yardley seufzte leise. Wenn dieser sonderbare Zug ihr doch gefehlt hätte! Aber er war vorhanden! Ganz plötzlich war sie dem Zauber jenes Frederic Cornish erlegen und hatte ihn vom Flecke weg geheiratet. Unglück war die Folge gewesen – aber das hatte sie geschickt zu verbergen gewußt.

Und nun, in der jüngsten Generation, war auch Kathleen ums Haar in ihr Verderben gerannt!

Yardley zündete seine Pfeife an und lehnte sich in den Sessel zurück. Seine Gedanken beschäftigten sich noch immer mit jenem seltsamen Charakterzug der Familie Mathers, bis er schließlich einschlummerte und die Pfeife ihm entsank. Er träumte von Helen; er verteidigte sie gegen eine unheimliche Macht, die sich in Peter Seminow verkörperte. Er rang verzweifelt mit diesem und war ihm schon fast erlegen, als Helen mit einem Male selbst eingriff, ein Messer zückte und –

Verstört fuhr Yardley aus dem Schlaf empor – Vor ihm stand Helen Cornish und fragte lachend:

»Träumtest du, Frank? Du atmetest so schwer, und dein Mund stand weit offen!«

»Hu, das muß ja ein hübscher Anblick gewesen sein!« erwiderte er schaudernd. »Ja, ein böser Traum. Woher kommst du denn, mein Schatz?«

»Wir sind eben aus London zurückgekehrt«, sagte sie und setzte sich. »Kathleen, David und ich. Ich bin hier ausgestiegen, weil ich dich sprechen wollte, bevor ich Edwin wiedersehe.«

Frank Yardley schwieg betreten.

»Warum so schweigsam?« fragte Helen. »Was gibt's denn Neues? Ist unser vielgeliebter Inspektor Haney schon von seinen geheimnisvollen Reisen zurückgekehrt? Und wie steht's mit Frau Whipple? Hoffentlich –«

»Sie ist tot«, sagte Yardley trocken.

»Ach, das arme Geschöpf! Aber vielleicht war es für sie ein Segen, Frank. Sie war so alt und wäre sicherlich ins Gefängnis gekommen. Aber nun sage mir: Hast du Nachricht von Haney?«

»Kein Wort.«

»Wie lange ist er denn schon fort?«

»Vierzehn Tage.«

»Du bist ja so verdrießlich, Frank! Freust du dich gar nicht, daß ich wieder hier bin?«

»Ob ich mich freue – o, mein Schatz! Aber – es ist etwas geschehen, und ich weiß nicht recht, wie ich es dir beibringen soll. Vor allem möchte ich betonen, daß ich – nicht deines Bruders Hüter bin.«

Helens Augen weiteten sich. »O, Frank, hat er die Person geheiratet?« rief sie aus.

Frank nickte. »Und ist mit ihr nach der Schweiz gereist. Hier! Lies diesen Brief. Ich habe ihn soeben erhalten.«

Sie las ihn und blickte dann auf. »Ich verstehe«, sagte sie. »Dora Givens ist Witwe, und Cissie ist ihre Tochter. Eine romantische Geschichte! Vielleicht werden wir sie später erfahren. Nun, wenn sie Edwin glücklich macht, hab' ich nichts dagegen. Ob sie wohl zu Kathleens Hochzeit zurück sein werden? David hat es schrecklich eilig. Nach Weihnachten kann er sechs Wochen Urlaub bekommen, und die wollen sie in Biarritz verbringen. Ueber Kathleen wirst du staunen, Frank. Sie ist sanft wie ein Lamm geworden!«

So tapfer nahm Helen die unwillkommene Nachricht hin. Ja, die Mathers hielten fest zusammen.

»Du bist eine großartige Frau, Helen!« sagte Frank.

»Du meinst, wegen Edwin? Ach, möchte er doch recht glücklich werden! Er hat ein so gutes Herz.«

»Das kann man wohl sagen«, stimmte Frank ihr bei. »Uns hat er fünfhundert Pfund geschenkt, Helen, für unsere Hochzeitsreise.«

»Wie lieb von ihm! Aber, Frank, es würde dir doch das Herz brechen, wenn du Haney das Schlachtfeld überlassen müßtest.«

»O, wenn er der Sache in vierzehn Tagen noch nicht auf den Grund gekommen ist, heirate ich und überlasse ihn seinem Schicksal. Ich glaube, ich weiß, was seine Rückkehr erschwert. Ganz einfach der verwünschte Bürokratismus! Der steht nirgends so in Blüte wie in Frankreich. Wenn er darin nicht erstickt, hat er Glück!«

Aber das schien Haney zu haben, denn gerade in diesem Augenblick schellte es, und gleich darauf trat der Detektiv-Inspektor ins Zimmer.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige, Herr Yardley, aber – O, ich bitte sehr um Verzeihung! Guten Tag, gnädige Frau!«

»Guten Tag, Inspektor. Eben sprachen wir von Ihnen.«

»Und vom französischen Bürokratismus!« lachte Frank. »Mit dem werden Sie Ihre liebe Not gehabt haben! Ich nehme an, daß Sie in Antierres waren. Wie weit sind Sie mit der Untersuchung?«

»Ich will nicht länger stören«, warf Helen ein. »Wir erwarten dich natürlich zu Tisch, Frank! Wie immer um acht Uhr. Guten Abend, Inspektor!«

Yardley begleitete sie hinaus und kehrte rasch zurück. »Na, wie steht's denn, Inspektor?« fragte er lebhaft.

»Nun, ich bin jetzt fest davon überzeugt, daß Alphonse de Roget der Täter ist«, sagte Haney, »aber meine Beweise reichen noch nicht ganz hin, um die französische Polizei zu bewegen, ihn auszuliefern. Nicht einmal eine Unterredung mit ihm hat man mir bewilligt. Der stellvertretende Gefängnisdirektor von Antierres ist eigensinnig wie ein Maulesel.«

»Hm! So werden wohl wirklich Bestechung und Korruption vorliegen«, meinte Frank. »Seminows Geld wird Alphonse die Gefängnistore geöffnet haben. Er war auf jene Metallminen versessen, und da er nicht sicher war, ob er an die Pläne und Besitztitel von Sir Harry Mathers herankonnte, war Roget der einzige Mensch, der imstande war, ihm zu helfen. Er war überzeugt, daß Roget sich ihm mit Leib und Seele ergeben werde, wenn er ihm aus dem Gefängnis half. Aber Rogets Strafzeit war ja ohnehin fast zu Ende. Dann wird er wieder sein eigener Herr sein, und inzwischen dürfte sein Haß auf Seminow nicht abgenommen haben.«

»Hm«, meinte Haney sinnend, »das klingt einleuchtend. Und Seminow wird Sir Edwin nicht geglaubt haben, als dieser ihm versicherte, daß er nichts von irgendwelchen derartigen Besitzungen seines Onkels wisse.«

»Natürlich! Deshalb bestand Seminow darauf, in Sir Harrys Zimmern zu wohnen. Vielleicht hat er auch veranlaßt, daß der Schimpanse in jenem Schuppen untergebracht wurde«, fuhr Yardley fort.

»Aber den Schuppen bot Sir Edwin dem Zirkusbesitzer doch selbst an!« wandte Haney ein.

»Wer weiß, ob Seminow ihn nicht irgendwie dazu veranlaßt hat! Es gibt bei diesem Fall allerlei Dinge, wo man sich mit Vermutungen helfen muß. Auch der Tod Harry Mathers wird wohl wahrscheinlich nie ganz aufgeklärt werden.

Wung Lu hat ausgesagt, daß sein Herr um die Zeit, als Sir Harry starb, hier einen kurzen Besuch abgestattet hat, und meiner festen Ueberzeugung nach hat er damals eine vorher verabredete Besprechung mit dem alten Herrn gehabt, die dessen Tod herbeiführte. Ich glaube, daß sie zusammen jenen Schuppen aufgesucht haben, wo Thomson die Papiere auf Befehl seines Herrn versteckt hatte, und daß im letzten Augenblick irgend etwas vorgefallen ist, was Sir Harry veranlaßte, seine Absicht zu ändern. Dabei ist es wahrscheinlich zu einem Streit gekommen, der den Tod des herzkranken Herrn herbeiführte.«

»Das klingt wahrscheinlich«, gab Haney zu. »Aber wie steht es mit dem Mal an seiner Stirn? Was kann Seminow veranlaßt haben, den alten Mann so zu zeichnen?«

Frank Yardley zuckte die Achseln. »Wer weiß. Vielleicht Eitelkeit und Dünkel. Es kann auch sein, daß Sir Harry ihn gereizt hat. Wung Lu sagt ja, Seminow sei wütend gewesen, als er zu seinem Auto zurückkehrte. Man muß bedenken, daß sein Plan mißlungen war.«

»Sonderbar, daß er fünf bis sechs Jahre gewartet hat, bis er diesen Versuch wiederholte!« bemerkte der Inspektor nachdenklich.

»Wer weiß, ob das der Fall ist«, wandte Yardley ein. »Die Leute hier behaupten doch schon seit mehreren Jahren, daß es in Madder Grange spuke. Dahinter können leicht Sendlinge Seminows stecken, die die Papiere aufzufinden versuchten. Und vergessen Sie nicht, wie eilig Seminow es hatte, eingeladen zu werden, sobald Sir Edwin hier eingezogen war. Wenn er die Papiere nicht selbst finden konnte, wollte er es ohne Zweifel mit Fräulein Givens Hilfe versuchen.

Der Mann war nicht auf Geld aus, Haney, sondern auf Macht! Heliogon ist eine gefährliche Sache. Gott weiß, was gewissenlose Menschen damit bewirken können. Dafür haben wir ja Beweise genug.«

»Alphonse de Roget müßte schon deshalb gehenkt werden, weil er davon weiß. Ich persönlich würde ihm gönnen, daß er mit dem Leben davonkäme, aber sein unvollständiges Wissen ist gefährlich. Die Menschheit wird nicht glücklicher werden, falls jenes Metall ausgebeutet wird. Roget aber wird nichts weiter darin sehen, als Reichtum für sich selbst und eine Wohltat für die Menschheit.«

»Peter Seminow entdeckte noch andere Eigenschaften an dem Metall. Er benutzte es nicht nur, um seine Opfer zu brandmarken, sondern auch, um von ihren Seelen Besitz zu ergreifen. Er war im Besitze eines Geheimnisses, das zwanzig Rogets wert war, doch das hat er Gott sei Dank mit ins Grab genommen! Aber Sie haben Roget, Inspektor – oder werden ihn haben, sobald sie das eine fehlende Glied finden!«

Haney nickte bedrückt. »Ganz recht! Und dieses fehlende Glied in der Beweiskette ist Sam, der Schimpanse! Wie in aller Welt soll ich es nur fertig bringen, irgend jemand dazu zu bewegen, an die Schimpansen-Geschichte zu glauben? Ich glaube ja eigentlich selbst nicht daran! Und nie wird es mir gelingen, aus Rogets jungem Bruder ein Geständnis herauszuholen. Sehen Sie, wir wissen ja eine ganze Menge, aber wenn wir's nicht beweisen können, ist unser Wissen keinen Heller wert. Eine gleich nach seiner Verhaftung aufgenommene Photographie von Alphonse de Roget habe ich mir zwar verschafft, aber sie ist schon alt, und damals trug er noch einen Bart. Madame Dupont war nicht imstande, sie als das Bild jenes Mannes wiederzuerkennen, der ihr das Messer abgekauft hat.«

»Ich glaube«, begann Yardley zögernd, »ich glaube, daß ich die Sache mit dem Affen aufklären könnte. Soll ich es versuchen?«

Haney seufzte. Sein Berufsstolz hatte erheblich abgenommen.

»Ich würde mich freuen, wenn Sie es täten, Sir«, sagte er.


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