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Drittes Kapitel.

Bis auf David waren sämtliche Gäste in der Bibliothek versammelt. Seminow hatte auf dem großen Tisch, eine blaugoldene Mappe aufgeschlagen, der er nacheinander große farbige Photographien entnahm, die er herumzeigte.

Kathleen saß auf dem Rande des Tisches. Fräulein Givens blickte ihr über die Schulter. Edwin stand neben Seminow.

»Mutter, sieh dir doch diese Bilder vom Palaste Mister Seminows in Tibet an!« rief Kathleen ihrer Mutter zu, als diese eintrat. »Noch nie hast du etwas so Herrliches gesehen!«

»In der Tat, sehr hübsch«, erwiderte Helen kühl. Dabei fingen ihre Augen einen raschen, forschenden Blick aus denen Miß Givens auf.

»Du liebe Zeit, wir müssen rasch hinauf und uns umziehen!« rief diese Kathleen zu, worauf Seminow sich übertrieben tief verneigte und fast demütig sagte:

»Wollen Sie mich gütigst entschuldigen! Ich habe noch Briefe zu schreiben. Vielleicht darf ich Sie bitten, das Dinner eine Viertelstunde hinauszuschieben?«

»Das wird sich ohne weiteres tun lassen«, entgegnete Helen und rief, während die andern das Zimmer verließen, durch die Klingel Thomson, dem sie die nötigen Weisungen gab.

Nachdem sie das getan hatte, fragte sie ihren Bruder, was für eine seltsame Geschichte das mit dem Affen sei, den man in den alten Schuppen gebracht habe.

»Ja, das ist eine ärgerliche Geschichte«, bekannte er. »Die Zirkusleute hatten schon vor acht Tagen die leerstehende Garage Mister Marbles gemietet. Da ich sie aber für Seminows Auto brauchte, überredete ich den Mann, sie mir zu lassen, und so war es selbstverständlich, daß ich zum Ausgleiche den Leuten den Schuppen zur Verfügung stellte.«

»Mir aber will das gar nicht gefallen«, versetzte Helen. »Ich habe schon während der vergangenen Nacht kein Auge zutun können wegen der Katze – wenn es eine war! – und so wird es wohl ratsam sein, ich lege mich heute abend überhaupt nicht erst nieder.«

»Aber, liebste Helen –!«

Er konnte nicht vollenden, denn Frank Yardley trat ein. Er war nach seiner Gewohnheit ohne Hut und ohne Mantel gelaufen und sah nun mit seinem vom Winde zerzausten Haar und der etwas verschobenen Krawatte fast drollig aus, so daß Helen über ihn lachen mußte.

»Betrachte dich doch einmal im Spiegel, Frank!« rief sie ihm zu.

Er tat es, strich sich das Haar zurecht und sagte:

»Ich hatte es eilig, denn es sollte doch um acht gegessen werden. Willst du mir nicht die Krawatte ordentlich binden, Helen? Wie geht's, alter Knabe?

Wißt ihr denn schon, daß der Zirkus hier im Dorfe eine Vorstellung geben wird? Der Besitzer, ein Mister Bullett, ist ein großartiger Kerl. In der ganzen Welt herumgekommen! Er zeigte mir seinen großen Schimpansen, der aber nicht viel von mir wissen wollte. Er hockte in einer dunklen Ecke und kam nicht hervor. Ich denke, ich werde der Vorstellung beiwohnen.

Können wir nicht etwas früher essen, als bestimmt war?«

»Leider nicht! Unser geehrter Gast wünscht im Gegenteil, daß das Dinner um eine Viertelstunde hinausgeschoben wird«, erwiderte Helen.

Frank warf einen fragenden Blick auf den Hausherrn und zuckte die Achseln.

»Na ja, so geht es, wenn man sich einen Nabob einlädt«, sagte er.

Bald darauf erschien David mit Kathleen und Miß Givens, worauf Sir Edwin sich entfernte, um die Cocktails zu mischen, was er immer selber besorgte.

Es war zehn Minuten nach acht, wie Frank feststellte, der sich nach dem Zirkus sehnte.

Bald darauf erschien Sir Edwin wieder mit den Cocktails, die er durch Thomson herumbieten ließ.

Helen war so nervös erregt, daß sie zwei trank, in der stillen Hoffnung, sie würden ihr zu Kopf steigen und ihr zum Schlafe verhelfen.

Dann warteten sie wieder, und die Kaminuhr hatte bereits das dritte Viertel der neunten Stunde geschlagen, als plötzlich Thomson wieder eintrat und sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Eben sind zwei Leute gekommen, die Sie zu sprechen wünschen. Ich aber habe es eilig, denn ich muß die Türen schließen – die Herrschaften werden also entschuldigen –«

Er lief hinaus, und nun kamen zwei merkwürdige Gestalten herein – ein kleiner, stämmiger Mann in großkariertem Anzug und ein sicher kaum fünfzehnjähriges Mädchen in Rosatrikot und Tüll – beschmutzte Tanzschuhe an den Füßen und einen Rosenkranz auf dem Haar, sich anscheinend ängstlich an den einen Arm des Mannes klammernd.

»Was? Das ist ja Mister Bullett!« rief Frank Yardley überrascht.

»Jawohl, Sir, ich bin es. Ich kam nur, um dem Diener zu sagen, er möge rasch das Haus zuschließen. Sam, unser Affe, ist ausgebrochen, als der Wärter ihn einige Minuten allein ließ, um ihm das Futter für den Abend zu holen.«

Das blasse, aber hübsche, dunkeläugige Zirkusmädchen brach in Tränen aus, und Bullett streichelte das magere Händchen, das sich wie verzweifelt an seinen Aermel klammerte.

»Rege dich doch nicht auf, Cissie«, sagte er. »Sam wird schon weder dir noch sonst jemand etwas tun –!«

»Er – – er wird Lonny umbringen!« jammerte das Mädchen.

»Ach wo! Er denkt nicht daran! Lonny ist ja der einzige, der mit ihm umzugehen versteht«, beschwichtigte Bullett und wendete sich dann wieder an den Hausherrn.

»Ich hielt es für nötig, Ihnen Bescheid zu sagen, Sir Edwin. Ich muß wieder fort. Lassen Sie die Ställe verschließen, und verbieten Sie, daß jemand hinausgeht. Sobald wir das Tier wiederhaben, sende ich Ihnen Bescheid.

Komm, Cissie!«

Und beschämt erklärte er:

»Ich lasse sie nicht von meiner Seite, weil da der Affe mir nichts tun wird.«

Die beiden gingen. Die Zurückbleibenden aber schauten einander ratlos an. Ueberall im Hause wurden Türen und Läden zugeschlagen. Verängstigt liefen die Dienstboten auf den Gängen hin und her.

»Man müßte auch Mister Seminow warnen«, sagte Miß Givens.

In diesem Augenblick kam Thomson aufgeregt und erhitzt herein und meldete:

»Mister Seminow hört nicht! Der Chinese und ich haben minutenlang an die Tür seines Zimmers geklopft und gehämmert, ohne daß wir eine Antwort erhielten. Dabei hat er Licht brennen, denn der Schein dringt unter der Tür auf den Gang. Vielleicht hat er sich hingelegt und ist eingeschlafen?«

Die Zimmer, die Seminow für sich gewählt hatte, bestanden aus drei Räumen, mit drei hohen, nach Westen führenden Fenstern. Ein viertes Fenster zeigte nach Süden. Der erste Besitzer von Madder Grange hatte die Räume für seine Braut eingerichtet, später aber hatte man aus ihnen eine Studierstube, ein Schlafzimmer und ein Bad geschaffen. Vom Flure aus führte eine einzige Tür hinein, und zwar ins Studierzimmer. Die Einrichtung bestand aus wertvollen, aber schwerfälligen Möbeln im Empire-Stil.

Kathleen, die bei ihrer Jugend großen Hunger verspürte, ließ sich durch die Meldung des Dieners nicht beirren und rief:

»Ich schlage vor, wir bewaffnen uns mit Schüreisen und gehen dann zu Tische. Da werden wir es mit Sam aufnehmen können, wenn er durch eins der Fenster einbricht. Es hat doch keinen Zweck, auf Mister Seminow zu warten.«

David faßte ihre Worte buchstäblich auf und ergriff ein riesiges, schweres, altes Schüreisen, das am Kamin lehnte, und sagte:

»Auch ich habe Hunger. Was brauchen wir uns denn auch um den Schimpansen zu kümmern! Ich vermute, er ist drüben im Gehölz auf einen Baum geklettert. Man scheint dort ein Treiben nach ihm anzustellen.«

Er deutete durch die Fenster, und tatsächlich schimmerten zwischen den Bäumen Lichter, erklangen laute Rufe von dorther.

Thomson aber, der noch immer an der Tür stand, wiederholte eigensinnig:

»Mister Seminow hört nicht!«

»So werden wir selber hinaufgehen«, erklärte Helen und lief den anderen voran.

Draußen sah sie ihre Jungfer in einer Ecke des Flures kauern, den Chinesen Wung Lu aber lächelnd mit verschränkten Armen an der Wand lehnen.

»Nehmen Sie sich zusammen, Dunkan!« mahnte Helen streng die Zofe, und fragte dann den Chinesen:

»Wissen Sie, ob Ihr Herr in seinem Zimmer ist?«

»Ich glaube.«

»Haben Sie hineinzukommen versucht?«

»Gewiß, Madame, aber die Tür ist verschlossen. Anscheinend schläft Mylord.«

Nun begaben sich alle nach oben, wo ihnen ein heftiger Luftzug entgegenschlug, obwohl sämtliche Türen und Fenster geschlossen waren.

Alle drängten sich vor die Tür zu Seminows Zimmern, und Mackenzie, sowie Frank Yardley hämmerten mit den Fäusten gegen das Holz.

»Mutti, es wird doch nichts Schlimmes vorgefallen sein?« fragte Kathleen ängstlich flüsternd.

Die Männer berieten sich ebenfalls leise und kamen zu dem Ergebnis, es sei das Beste, die Tür aufzubrechen.

Da erschien der unerschütterliche Wung Lu, verbeugte sich und sagte, draußen vor dem Fenster des Studierzimmers stehe eine Ulme. Er wolle den Baum ersteigen. Vielleicht könne er dann in den Raum hineinblicken.

»Das ist ein guter Einfall!« lobte David. »Wir werden jedoch eine Leiter dazu nötig haben.«

»Es ist eine im Hause«, bemerkte Thomson.

»Wird denn das nicht gefährlich sein?« fragte flüsternd Miß Givens. »Jener Mann warnte uns doch, hinauszugehen.«

»Still! Was war das?« rief sie dann erschrocken.

Im Zimmer hatte es plötzlich einen Krach gegeben, als sei eine der großen Porzellanvasen herabgestürzt.

»O, Mutti, gewiß ist der Schimpanse drin!« stöhnte Kathleen auf. »Ich habe solche Angst!«

Auch den anderen hämmerte das Herz, und Sir Edwin schlug abermals, noch heftiger als vorher, gegen die Tür.

Drinnen aber blieb alles totenstill.

»Ich werde auf den Baum klettern!« sagte Wung Lu.

»Das wird das Beste sein«, stimmte Frank bei. »Edwin, hast du einen Revolver?«

Sir Edwin bejahte und befahl Thomson, die Waffe zu holen.

Am Fuße der Treppe hatten die Dienstboten sich ängstlich zusammengedrängt. Die Köchin hockte mit gerötetem Gesicht auf einem Stuhl, um sie her standen die Hausmädchen und der zweite Diener.

Helen aber bemerkte sofort, daß Sally Dormer, das eine Hausmädchen, fehlte, und fragte, wo sie sei.

Niemand wußte es. Nur die Dunkan schien etwas sagen zu wollen, kniff jedoch dann die Lippen zusammen und schwieg.

»Wissen Sie, wo Sally ist?« fragte Helen, der das nicht entgangen war.

»Ich? Nein, Madame –!« stammelte die Dunkan. »Wenn – wenn sie nicht ausgegangen ist – – –!«

»Ausgegangen? Wann denn?«

»Ich weiß es nicht!«

Nun schickte Helen den Diener nach oben. Er solle nachsehen, ob Sally im Mädchenzimmer sei.

Wie gehetzt rannte der junge Mensch die Treppe hinauf und war im Nu wieder da. Atemlos meldete er, sie sei nicht da.

Inzwischen hatte Thomson mit Franks Hilfe die Leiter aus dem Keller geholt. Wung Lu warf sein blauseidenes Obergewand ab und befestigte die weiten Beinkleider mit Hilfe der von Jim gelieferten Radfahrklammern an den Knöcheln.

Staunend sahen alle, daß die muskulösen Arme des Chinesen mit einem wirren Durcheinander von eintätowierten Schlangen bedeckt waren, die nun, als er die Arme bewegte, zum Leben erwachen und sich mit gestrafften Köpfen an ihnen emporzuwinden schienen.

»Hat man je so etwas gesehen?« stammelte die Köchin.

Die Mädchen lachten hysterisch.

»Thomson, Sie bleiben am besten hier!« befahl nunmehr Frank Yardley. »Jim mag uns die Leiter tragen helfen.

Gib mir deinen Revolver, Edwin!

Sorge dich nicht, Helen! Seminow wird wohl ohnmächtig oder sonstwie unwohl geworden sein. Der Affe kann nicht zu ihm, und überdies wird er wohl schon Welt von hier sein.«

Helen lächelte tapfer, fuhr jedoch erschrocken zusammen, als irgend etwas unten gegen die Haustür prallte, gegen die dann heftig geklopft und gehämmert wurde.

»Oeffnen Sie nicht! Großer Gott – es könnte – – nicht aufmachen!« kreischte Miß Givens.

»Unsinn!« wehrte David ab, ging rasch hin und schloß auf. Eine weibliche Gestalt taumelte ihm an die Brust.

»Das – das ist ja Sally!« murmelte er. »Vorsicht! Sie ist ohnmächtig!«

Es war tatsächlich die arme Sally, die aber bald wieder zu sich kam und erklärte, sie sei zur alten Frau Whipple gegangen und habe erst auf dem Heimwege gehört, daß der Affe entflohen sei. Da habe die Angst sie gepackt. Sie sei wie toll gelaufen und habe zuerst versucht, durch die Hintertüre hereinzukommen. Als ihr das nicht gelungen sei, habe sie sich nach dem Haupteingange gewendet und sei, schon ganz dumm im Kopfe, dort angekommen. – – –

Sobald die Männer das Haus verlassen hatten, bekannten sie ganz offen, daß die Sachlage durchaus nicht behaglich sei. Sie wußten, wie gefährlich solche große Affen in ihrer Wut werden können, und David erinnerte an die grausige Geschichte in der Rue Morgue, in welcher der Schriftsteller Poe erzählt, wie ein Affe einen Doppelmord verübt hatte. Auch Frank war diese Geschichte bekannt. Doch ärgerlich sagte er:

»Schweigen Sie davon!«

Die ganze Gegend schwamm im Mondschein; aber die Bäume um das Haus her warfen tiefe Schatten.

David hatte sein Schüreisen mitgenommen, Sir Edwin seinen Revolver Frank überlassen und sich dafür mit einer Golfkeule bewaffnet.

Von jenseits der Wiese glitzerten die Lichter der Zirkuswagen und Zelte herüber, und unwillkürlich fragten sich die Männer, ob der Affe wohl wieder eingefangen sei.

Wung Lu aber schritt stolz und würdevoll voran. So kamen sie um den Westflügel herum und blickten zu den Fenstern empor. Sie sahen, daß im Studierzimmer Licht brannte und die Gardinen nicht vorgezogen waren.

Im Nu erkletterte der Chinese den Baum und kroch, während er sich an einem anderen festhielt, auf einem Aste entlang, wobei er eine affenartige Behendigkeit entwickelte.

Frank Pardley war so erregt, daß er sich immer wieder den Schweiß von der Stirn wischen mußte. Sir Edwin aber hüstelte nervös.

»Können Sie in das Zimmer sehen?« fragte David den Chinesen.

»Ja – ich sehe!« erwiderte dieser nach kurzem Zögern.

»Ich sehe Mylord! Er sitzt in einem Sessel am Kamin.«

Er brach einen kleinen Zweig ab, mit dem er an das Fenster klopfte, an das er von seinem Aste aus nicht gelangen konnte.

»Mylord sitzt mit dem Rücken nach dem Fenster und rührt sich nicht!« meldete er nach einer Weile weiter.

Die Männer unten warteten gespannt.

Wung Lu aber schlug abermals mit dem Zweige an das Fenster, bis eine der Scheiben klirrend zersprang.

»Eine Blutlache steht auf dem Boden!« rief er und brach ganz unvermittelt in ein seltsam gackerndes Gelächter aus.

»Mein Gott, was fällt dem unheimlichen Menschen nur ein!« murmelte Frank.

»Meine Herren, ich fürchte, Mylord ist tot!« erklärte Wung Lu da, nachdem er seinen merkwürdigen Lachanfall überwunden hatte.

Leicht und gewandt wie eine Katze sprang er von dem Baume herab, fast mitten zwischen die Herren.

»Hole dich der Teufel, Kerl!« rief Frank Yardley, den er dabei streifte.

Der Chinese beachtete es nicht, sondern sagte:

»Da Mylord zu seinen Vätern versammelt ist, werde ich dieses Haus so bald wie möglich verlassen. Ich habe viele und wichtige Geschäfte –«

»Das wird keinesfalls geschehen!« fiel Frank ihm jedoch scharf ins Wort, indem er ihn an einem der muskelstarken Arme packte. »Sie werden gehen, wenn es Ihnen gestattet wird! Nicht eine Minute eher!«

Wung Lu zuckte die Achseln.

»Wie Ihnen beliebt!« sagte er.

Die Herren drangen mit Fragen in ihn, aber er wußte weiter nichts zu sagen, als daß Mylord tot sei und eine Blutlache auf dem Boden des Zimmers stehe.

In diesem Augenblicke kam einer der Zirkusleute gelaufen, eine Laterne mit brennendem Lichte in der Hand, und fragte:

»Haben Sie ihn lebendig gefangen?«

Dann erst erkannte er, wen er vor sich hatte, und fuhr fort:

»Ach so, Sie sind es! Gehen Sie lieber ins Haus, meine Herren! Wenn Sam so viele Menschen sieht, wird er ärgerlich werden und in Wut geraten.«

Gleich darauf ertönte von den Ställen her das wütende Gebell der Hunde.

In weiten Sätzen stürmte eine plumpe, unförmige Gestalt über den Rasen und verschwand in der Richtung nach dem Gemüsegarten.

Gellend pfiff der Wächter auf seiner Pfeife.

Die Herren aber huschten, so schnell, wie sie konnten, ins Haus zurück. Nur Wung Lu verlor seine würdevolle Haltung nicht einen Augenblick und folgte ihnen langsam.

Drinnen wurden sie von den vor Aufregung bebenden Frauen empfangen.

Nur Helen hatte einen Rest von Ruhe bewahrt.

»Nun?« fragte sie.

Da ergriff Frank ihre Hände, die er sanft streichelte.

»Ich fürchte, es ist etwas Schlimmes geschehen, Helen«, sagte er. »Wung Lu behauptet, sein Herr sei tot.«

»Tot?« stieß Miß Givens hervor. »Tot? Dann – – dann – –«

Sie sank in einen Sessel und verbarg das Gesicht hinter den Händen.

»Wir müssen die Polizei benachrichtigen!« sagte David.

Sir Edwin zuckte zusammen.

»Ist das nötig?« fragte er.

»Wir können vielleicht erst die Tür erbrechen und uns überzeugen«, erwiderte Frank. »Es kann sich ja auch um einen Blutsturz handeln. Auf alle Fälle muß ein Arzt gerufen werden.«

»Ich werde telephonieren«, erklärte Sir Edwin. »Hoffentlich haben die Leute inzwischen den Schimpansen wieder eingefangen.«

»Die Hunde bellen nicht mehr, Sir!« bemerkte Jim schüchtern.

»Thomson, besorgen Sie, bitte, ein Stemmeisen und eine kleine Säge!« befahl Frank. »Es ist sicher rätlich, daß wir das Schloß nicht verletzen.«

Das Gewünschte war bald zur Stelle, und nun begaben die Männer sich nach oben. Helen aber winkte ihrem Bruder und trat mit ihm in die Bibliothek.

»Edwin, verstehst du das alles?« fragte sie ihn dort.

»Keineswegs«, antwortete er. »Ich weiß nicht mehr, als der Chinese sagte.«

Darauf warteten sie fast eine Viertelstunde in steigender Spannung, bis endlich Kathleen hereinstürmte und rief:

»Mister Seminow ist tot! Mr. Yardley sagt, du müßtest die Polizei anrufen, Onkel Edwin. Das Beste sei, du würdest dich gleich mit Scotland Yard in Verbindung setzen, weil die Beamten hier auf dem Lande der Sache doch gewiß nicht gewachsen seien. Bitte doch, daß sie sofort einen Inspektor herschicken.

O, Mutti, ist das nicht fürchterlich? David und Mister Yardley sind sehr vorsichtig. Sie lassen niemand in das Zimmer hinein.«

Sir Edwin begab sich ans Telephon, Helen aber eilte in die Halle hinaus, wo Wung Lu störrisch mit einem großen blauen Leinwandsack neben sich saß und herausfordernd auf Frank Yardley blickte, der ihm einen Revolver entgegenhielt.

»Helen, rufe doch, bitte, Thomson, und sage ihm, er solle einen Strick bringen!« rief Frank ihr zu. »Ich ertappte diesen Menschen gerade noch, als er sich aus dem Staube machen wollte.«

»Ich habe viele Geschäfte zu besorgen«, sagte Wung Lu trotzig. »Mylord Yekel ist tot. Was soll ich also noch hier?«

Thomson, der überall zugleich zu sein schien, kam sofort; aber als er mit dem Stricke in der Hand auf Wung Lu zutrat, riß dieser ein Messer hervor und schlitzte ihm den Rock von unten bis oben auf.

Im ersten Augenblick hielt der Diener sich für verwundet und schrie:

»Gott im Himmel, es ist aus mit mir!«

Doch Wung Lu lachte und steckte das Messer wieder ein. Dann erhob er sich und sagte würdevoll:

»Von den Händen eines Knechtes lasse ich mich nicht berühren.«

Dann wendete er sich Frank Yardley zu und fuhr fort:

»Sie dürfen mich binden, wenn Sie es für nötig halten. Ich bin ein Sohn des Hauses Yekel, aber Sie erkenne ich als meinesgleichen an. Ich gebe Ihnen indessen mein Wort, hierzubleiben, solange es Ihnen belieben wird.«

Da verzichtete Frank Yardley darauf, ihn zu binden.

»Aber das Messer müssen Sie mir geben!« befahl er streng.

Sofort reichte Wung Lu ihm die Waffe mit dem Griffe voraus. Es war ein Messer aus feinstem Stahl mit goldenem Griff und stak in einer wunderbar ziselierten Scheide und sah, da es nur etwa sechs Zoll lang war, fast wie ein Spielzeug aus, obwohl es so leicht den Tod bringen konnte.

Nun begann sich die Halle allmählich mit Menschen zu füllen. Nur David war obengeblieben, um das Mordzimmer zu bewachen.

Wung Lu blickte gleichgültig, die Arme stolz verschränkt, in die Luft, während sein Messer untersucht wurde.

»Die Klinge ist blutig«, erklärte Frank Yardley. »Woher rühren die Flecken, die noch ganz frisch sind?«

»Jawohl, das sind sie«, bestätigte der Chinese ohne weiteres. »Ich tötete mit diesem Messer die Katze, die in der vergangenen Nacht so schrie. Diese Nacht wird sie die Dame nicht mehr stören.«

Helen schauderte.

Wung Lu aber merkte es und sagte:

»Wenn Madame zweifeln, hier ist der Kadaver – ein Beweis, daß ich die Wahrheit gesprochen habe.«

»Wo denn?« rief Kathleen und sah sich furchtsam um.

Da bückte Wung Lu sich und öffnete seinen Sack, der hauptsächlich mit Kleidungsstücken gefüllt war, wühlte einen langen Blechkasten aus diesen hervor, nahm den Deckel ab und hielt ihn Frank Yardley hin.

»Eine Katze aus dem Walde – eine Wildkatze«, erklärte Wung Lu. »Ich fing sie heute morgen in einer Schlinge, die ich gelegt hatte. Das Fell ist sehr schön. Ich werde eine Mütze für meinen kleinen Sohn daraus machen lassen.«

»Es ist eine Katze«, murmelte Kathleen, die scheu in den Kasten hineingeblickt hatte.

So weit das tote Tier in Betracht kam, hatte Wung Lu die Wahrheit gesprochen. Es war eine Katze, der man die Kehle durchgeschnitten hatte.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll«, murmelte Frank, indem er den Kasten zumachte und samt dem Messer auf den Tisch legte.

In diesem Augenblick schlug es zehn, und plötzlich fragte Helen: »Wo ist eigentlich Fräulein Givens? Hast du sie gesehen, Kathleen?«

Als diese verneinte, blickte Helen erst in die Bibliothek hinein und begab sich, als sie dort niemand sah, nach dem Eßzimmer. Dort saß Dora Givens vollkommen gefaßt, mit geordnetem Haar und frischgepudertem Gesicht und labte sich an einer der erkalteten Enten, die ihr mit Salat und einem Glas Champagner gut zu schmecken schien.

»O, hier sind Sie?« rief Helen, starr vor Staunen über diese Kaltblütigkeit.

»Ich war so hungrig«, sagte Fräulein Givens mit erzwungenem Lächeln. »Sind Sie es nicht, Frau Cornish?« Sie blickte Helen fast bittend an. Ihr Gesicht sah mit einem Male weicher und jünger aus als je zuvor.

»Ich glaube wirklich, daß ich auch hungrig bin«, gestand Helen ein, und gleich darauf erschien Kathleen und gesellte sich zu ihnen.

»Doktor Garvice ist schon da; aber sie warten noch auf die Polizei. Der arme Onkel Edwin sieht aus wie ein Gespenst! Was ich nicht begreifen kann, ist, wie irgend jemand aus dem Zimmer herauskommen konnte. Es war doch verschlossen, und der Schlüssel lag drinnen auf dem Boden!«

Was war nun geschehen? Ein Mord?

Helen wurde plötzlich ganz elend zumute, und sie zog sich in das Bibliothekszimmer zurück, um sich durch eine Zigarette zu stärken. Ganz wie vor wenigen Stunden! Ihre Nerven waren so erschüttert, daß es sie nicht überrascht haben würde, wenn Seminow plötzlich erschienen wäre. Aber nein – er war tot – konnte sie nicht mehr bedrohen!

Statt dessen kam Frank nach einer Weile herein und fragte besorgt nach ihrem Befinden.

»O, sehr heiter ist mir natürlich nicht zumute. Erzähle mir doch, was wirklich geschehen ist, Frank! Dieser grauenhafte Chinese fiel mir so auf die Nerven, daß ich alles noch gar nicht recht erfaßt habe.«

»Ich fürchte, daß es eine sehr unangenehme Sache werden wird«, erwiderte Frank. »Scotland Yard schickt einen Detektiv-Inspektor namens Haney her. Er soll ein ziemlich großes Tier sein. Ich habe ihn einmal in meinem Klub kennengelernt.«

»Aber bist du sicher, daß Seminow wirklich ermordet worden ist? Daß kein Selbstmord vorliegt?«

Yardley lächelte grimmig.

»Er hat drei Messerstiche in der Brust, und von einer Waffe war nirgends etwas zu sehen. Er ist erstochen worden, während er in dem Sessel saß. Schon nach dem ersten Stich kann er nicht mehr bewegungsfähig gewesen sein. Helen, er hat sogar eine halb aufgerauchte Zigarette in der Hand, und die Asche sitzt noch daran.«

Helen schauderte. »Es klingt entsetzlich! In Onkel Harrys Stube! Habt ihr im Schlaf- und Badezimmer nachgesehen?«

»Selbstverständlich. Es führt ja nur eine Tür zu den drei Zimmern hinein, wie du doch weißt. Vor ihr stand Mackenzie Wache, während Thomson und ich jeden Fußbreit untersuchten. Dem armen alten Edwin wurde es zu viel. Dem Augenschein nach kommt einem das Ganze unglaublich vor! Alle drei Fenster waren geschlossen und wohl verwahrt, und an der Tür hat Edwin kürzlich ein besonderes Schloß anbringen lassen. Es gab auch nur einen Schlüssel dazu – er war im Schloß umgedreht worden und lag auf dem Fußboden –«

»Drinnen im Zimmer?«

»Ja, und überdies war der Riegel vorgeschoben – auch innen natürlich.«

»Aber das klingt doch unglaublich, Frank! Wie ist es denn mit dem Schornstein?«

»Edwin hat einen starken schrägen Rost hineinfügen lassen. Da könnte nicht einmal ein Kaninchen durch. Wie der Mensch – falls es ein Mensch war – hineingelangt ist, ist trotzdem nicht unerklärlich. Er kann sich dort versteckt haben, während Seminow unten war, oder einfach durch die unverschlossene Tür eingetreten, oder gar von Seminow selbst eingelassen worden sein. Es war noch ein zweiter Stuhl an den Kamin herangerückt worden, woraus ich für meine Person schließe, daß Seminow seinen Mörder kannte und mit ihm dasaß und sprach. Aber wie er hinausgelangt ist, geht über meine Begriffe. Er hat es jedenfalls fertiggebracht. Also muß es eine Lösung für das Rätsel geben. Und mich würde nicht wundern, wenn es eine sehr einfache Lösung wäre; denn viel Zeit für umständliche Methoden hat der Kerl nicht gehabt.«

Helen sann eine Weile nach und sagte dann plötzlich: »Aber der Mörder muß doch im Zimmer gewesen sein, als ihr die Tür bearbeitetet! Erinnerst du dich nicht an den Krach?«

»O, das war nur eine Vase, die vom Kaminsims heruntergefallen ist – sicherlich infolge der Erschütterung durch unsere heftigen Schläge an der Tür. Ist dir eigentlich klar, daß irgend jemand hier im Hause wahrscheinlich der Mörder ist?«

»Natürlich«, erwiderte sie, »und über die Person bin ich nicht im Zweifel: es ist der Chinese. Ein unheimliches Geschöpf! Durch verschlossene und verriegelte Türen und Fenster hindurchzugelangen, ist für den sicherlich reines Kinderspiel. Er behauptete, die Wildkatze mit dem Messer getötet zu haben. Nun, wir werden ja sehen, was die Untersuchung der Blutspuren ergibt.«

Frank Yardley wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich hoffe, daß er gestehen wird. Uebrigens – noch eins! Ich fand einen halbfertigen Brief auf Seminows Schreibtisch – er muß wohl beim Schreiben unterbrochen worden sein. Er ist an eine Frau gerichtet, die er »Grausame, aber hochgeehrte Dame« anredet, und handelt von einer »entzückenden Reisegefährtin, die er auf einer Eisenbahnfahrt zu bewirten die Ehre hatte«. Er erwähnt auch »ein Andenken«, das sie ihm geschenkt hat. Ein ganz gemeiner Drohbrief!«

Helen Cornish saß ganz still da. Sie lauschte ihren Herzschlägen.

Wie töricht war sie gewesen, als sie geglaubt hatte, daß Peter Seminow ihr, nachdem er nun tot war, nichts mehr antun könne! Sie spürte einen wahnsinnigen Drang, sich jenes Briefes zu bemächtigen und ihn zu vernichten, bevor Inspektor Haney kam. Aber selbst wenn sie das tat – Frank wußte ja doch um ihn! Vorläufig ahnte er nicht, an wen der Brief gerichtet war. Wie aber, wenn man versuchte, das festzustellen?

»Vor einer halben Stunde kann Haney nicht hier sein«, sagte Frank, indem er einen Blick auf die Uhr warf. »Bis dahin – Holla, was ist das?«

Donnernde Schläge gegen die Haustür veranlaßten beide, in die Halle hinauszugehen. Thomson war bereits da und öffnete.

Wung Lu saß unbeweglich neben seinem blauen Sack, während Sir Edwin offenbar mit seiner Pfeife auf den Treppenstufen gesessen hatte. Frank ging rasch auf die Haustür zu.

»Wie? – Herr Bullett? Was ist denn geschehen?«

»Darf ich hereinkommen, Sir? Ich glaube, sie ist ohnmächtig. Jemand sagte mir, daß ein Arzt hier wäre, weil jemand verletzt ist. Deshalb habe ich sie hergebracht.«

Er stolperte mühsam mit dem blassen kleinen Zirkusmädchen auf den Armen herein und sah selbst ebenso erschöpft aus wie seine leichte, schlaffe kleine Last.

»Wir haben Sam noch nicht wieder eingefangen«, fuhr er fort. »Das Gehölz ist sehr dicht, und wir besitzen keine Hunde. Cissie ist ganz fertig, und ich habe Angst davor, sie draußen im Zelt schlafen zu lassen. Ich dachte, vielleicht würden –«

»Bringen Sie das Kind hierherein!« sagte Helen ruhig und öffnete die Tür zum Bibliothekszimmer.

»Vielen Dank, gnädige Frau!«

»Legen Sie die Kleine dort auf die Chaiselongue. Der Arzt muß erst einen anderen Kranken besuchen, wird aber bald wiederkommen. Das arme kleine Ding! Wie elend es aussieht! Ist es Ihre Tochter, Herr Bullett?«

»Nein«, sagte der Mann und trocknete sich die Stirn mit einem großen bunten Taschentuch. »Meine Frau und ich haben sie adoptiert. Dann starb meine Frau, und wenn Cissie etwas zustoßen sollte – ich weiß bei Gott nicht, was ich täte; ich hab' ja keine anderen Kinder. Entschuldigen Sie nur, gnädige Frau, daß ich Ihnen Mühe mache. Hat Sam den Herrn schlimm verletzt?«

Es ergab sich, daß man ihm erzählt hatte, sein entlaufener Schimpanse habe irgend jemand aus dem Herrenhause verwundet, als man ihn im Küchengarten einzukreisen versuchte.

»Mein Bruder und Herr Yardley werden Ihnen alles erklären«, sagte Helen.

Für sie war es eine wahre Erleichterung, irgend etwas zu tun zu haben. Die Wangen und Augen des kleinen Zirkusmädchens brannten vor Fieber, und es phantasierte erregt.

»Mir wird Sam nichts tun, Väterchen. Laß mich nach ihm suchen. Ich kenne ihn doch, seit er ein herziges kleines Affenbaby war. Er wird mir nichts tun. Sam – Sam – komm doch her! – Wo bist du, Sam?«

Helen schickte Kathleen fort, um ein Kopfkissen und eine Daunendecke zu holen, und beugte sich tröstend über die Kleine.

»Es ist alles gut, Kindchen. Sie werden Sam schon finden. Liege nur ein Weilchen recht still.«

Und dann fuhr Helen jäh zurück. War ihr Verstand verwirrt? Taumelnd wich sie beiseite und sah, daß Fräulein Givens in der Tür stand. Im Nu hatte sie diese am Handgelenk gepackt und zerrte sie zu der Chaiselongue.

»Sehen Sie etwas? Oder bilde ich mir's ein?«

Die mageren, bis zur Schulter entblößten Arme des Kindes hingen schlaff herab. Helen hob den einen empor.

»Fräulein Givens – sehen Sie – sagen Sie mir –«

Dora Givens befeuchtete ihre Lippen, bevor sie antwortete. Dann sagte sie:

»Es sieht wie ein Muttermal aus. Sie meinen doch den kleinen roten Kreis an ihrer Schulter?«

Da wußte Helen, daß sie bei gesundem Verstande war. Sie konnte es sich nicht eingebildet haben, da Fräulein Givens es auch sah.

Es war dasselbe Mal, das der Chinese auf der Handfläche, und das Frank Yardley an Onkel Harrys Stirn bemerkt hatte, als dieser tot aufgefunden wurde.


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