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Fünftes Kapitel.

Am Montag verlief die Gerichtsverhandlung in dem zu kleinen Saal des Gasthofes rasch und unbefriedigend. Inspektor Haney beantragte zwecks weiterer Ermittlungen einen achttägigen Aufschub, der ohne weiteres bewilligt wurde.

Aber das rätselhafte Ende des »reichsten Mannes der Welt« erregte derartiges Aufsehen, daß Larke Minnis über Nacht berühmt wurde. Das stille, kleine Dorf wimmelte von Journalisten und Photographen, besonders aber von Polizisten. Der Zirkus wurde geradezu in Quarantäne erklärt, und Ben Bullett entdeckte das erste weiße Haar in seinem öligen, schwarzen Schopf.

Im Herrenhause wurden Haneys Nachforschungen durch alle möglichen Hindernisse erschwert. Sir Edwin und seine Schwester waren bettlägerig, und der Hausarzt Doktor Garvice erklärte, sie wären beide nicht vernehmungsfähig. Fräulein Givens war völlig durch die Pflege des kleinen Zirkusmädchens in Anspruch genommen, der Chinese aber ging gelassen umher und machte sich überall nützlich.

Aber was Haney am meisten zu denken gab – obwohl es dem Anschein nach nichts mit Seminows Ermordung zu tun haben konnte – das war ein heftiger, zu völliger Entfremdung führender Streit zwischen Kathleen und dem hübschen, jungen David Mackenzie. Wenn dieser Bruch nicht so offenkundig gewesen wäre, hätte der Inspektor dem Umstand, da sie doch ineinander verliebt waren, gar keine besondere Bedeutung beigemessen; aber nun begann er, sich über die beiden Gedanken zu machen.

Haney fing an, sich über das junge Mädchen zu wundern. Anfangs hatte es ihn nur dadurch gereizt, daß es ihn mit allerlei Fragen behelligte oder mit heiterer, kindlicher Unverfrorenheit seine Ansichten zum besten gab. Aber damit war es jetzt aus. Es war still und bedrückt, sah aus wie ein Schatten und war offenbar tief unglücklich.

Weshalb? fragte der Inspektor sich immer wieder.

Er dachte gerade wieder über sie nach, als er ans Telephon gerufen wurde.

»Die Herkunft des Messers haben wir aufgespürt!« meldete eine Stimme aus Scotland Yard. »Mittwoch vor acht Tagen hat ein großer, blonder, junger Mann vom Bullettschen Zirkus es in Le Havre gekauft.«

Haney ließ Lonny de Roget unverzüglich verhaften, fuhr abends selbst nach Le Havre hinüber und blieb zwei Tage fort. Inzwischen war von Fachleuten festgestellt worden, daß Seminow zweifellos mittels des Messers getötet worden war, das Haney dicht neben dem toten Schimpansen im Gehölz gefunden hatte.

Die Untersuchung wurde wieder verschoben; aber Seminows Leiche war in aller Stille fortgeschafft und auf Anordnung des Kronrichters beerdigt worden. Das Testament des Verstorbenen erregte ungeheures Aufsehen. Dieser steinreiche Mann hatte einen Sohn hinterlassen, dem er seine gesamten Besitzungen vermacht hatte, und den er mit dem Namen »Prinz Tao Yekel, gemeinhin unter dem Namen Wung Lu bekannt«, bezeichnete. Demnach war Wung Lu nur zur Hälfte Chinese.

Das gab er mit größter Würde zu. Seine Mutter, Fürstin Yekel, lebte mit seiner Gattin und seinen Kindern zusammen in jenem tibetanischen Palast. Das war der Grund gewesen, weshalb er es so eilig gehabt hatte, gleich nach Seminows Tode abzureisen. Er wollte seiner Mutter die frohe Botschaft überbringen und wünschte heiß, zu seiner Frau und den Kindern heimzukehren.

Und das Mal in seiner Hand?

Er sah es an, als Haney danach fragte, und zuckte die Achseln.

»Auf diese Weise zeichnete Mylord seine Sklaven«, sagte er. »Wir nennen es das Zeichen Yekels. Alle tragen es – auch meine Mutter und meine Kinder. Mylord war ein mächtiger Herr. Er tat, was ihm beliebte. Zuletzt lebte er schon seit Jahren in Europa, und ich war sein Diener. Er hatte Vertrauen zu mir, obgleich er wußte, daß ich ihn haßte. Zuweilen fürchtete er mich. Ich haßte ihn, weil er meine Mutter schlecht behandelte. Sie ist auch aus königlichem Geblüt. Sie war eine Prinzessin Cheng, als mein Vater sie entführte, und von dem Tage an hat sie ihre Verwandten nie wiedergesehen. Sie kann nie zu ihnen zurückkehren. Diese würden sie töten – weil mein Vater sie entführt hat. Ein Lama traute sie, aber nach den Religionsgesetzen meiner Mutter war das ungültig.«

Dieses Gespräch mit dem Chinesen interessierte Haney aufs lebhafteste. Der Mann war merkwürdig offenherzig. Seine Befriedigung über Seminows Tod verhehlte er keineswegs; aber die Tatsache, daß er ein ungeheures Vermögen erbte, ließ ihn vollkommen kalt.

Er war erst sechsundzwanzig Jahre alt, hatte eine sehr sorgfältige Erziehung genossen, zum Teil in einem buddhistischen Kloster. In Europa erkannte Seminow ihn nicht als seinen Sohn an, weil sein chinesisches Blut unverkennbar war.

»Der Fürst von Yekel haßte die Chinesen«, sagte er. »Aber die Engländer haßte er auch.«

»Weshalb kam er dann hierher?« fragte Haney.

Wung Lu schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Mein Herr sagte mir niemals, weshalb etwas geschah. Er vollführte viele sonderbare Dinge. Aber eins will ich Ihnen sagen: er ist schon einmal hiergewesen. Es war nicht das erstemal!«

Der Inspektor spitzte die Ohren. »Wann denn?« fragte er lebhaft.

»Vor ungefähr sechs Jahren. Wir kamen im Auto her und ließen es vor dem Parktor stehen, wo uns ein alter Herr erwartete. Ich wartete im Auto. Mylord blieb eine halbe Stunde fort, und als er zurückkehrte, war er sehr zornig über irgend etwas.«

»Kam der alte Herr mit ihm zurück?« fragte der Inspektor.

»Nein, Mylord war allein, hatte einen roten Kopf und knurrte ärgerlich in sich hinein. Er war furchtbar in seinem Zorn. Eine Beleidigung vergaß oder verzieh er niemals.«

Hier galt es vielerlei zusammenzuflicken. Es kam Haney vor, als ob er sich mit einem Geduldspiel abquälte. Aber immerhin paßten die einzelnen Teile zusammen – wenigstens einige von ihnen. Alphonse de Roget und das von ihm entdeckte Heliogon, der tote Schimpanse, das von Alphonse in Le Havre erstandene Messer, Seminows Ermordung, der unbeendete Brief des Toten, verstaubte im Geheimschrank aufgefundene Papiere, neu angebrachte Fensterriegel, das Zeichen Yekels am Arm des kleinen Zirkusmädchens, ein blaugrüner Flitter und virginische Zigarettenasche – lauter einzelne Stücke, die sich mit Geduld zusammenfügen lassen mußten!

Haney hatte auch eine Unterredung mit Dora Givens, und während Lonny de Roget sich gänzlich verneinend verhielt, gab sie einige bejahende Antworten. Sie leugnete durchaus nicht, daß sie kurz vor dem Tode Seminows in seinem Zimmer gewesen war, und war so offenherzig, daß er gar nicht wußte, was er davon halten sollte.

»Ja, Herr Inspektor, ich suchte ihn dort auf, weil ich etwas mit ihm besprechen wollte – eine Privatangelegenheit. Er saß am Schreibtisch, aber als ich hineinkam, stand er sofort auf, und wir setzten uns am Kamin nieder. Herr Seminow wählte den Sessel, auf dem er nachher tot aufgefunden wurde. Ich nahm eine Zigarette, und er steckte sich eine Zigarre an.«

»Wie lange saßen Sie dort zusammen?« fragte Haney.

Fräulein Givens überlegte gewissenhaft.

»Ungefähr zehn Minuten – sicherlich nicht länger.«

»Sie kannten Herrn Seminow bereits, ehe Sie hierher kamen, nicht wahr?« fuhr der Inspektor fort und erwartete, daß sie das ableugnen würde, wie sie es Kathleen gegenüber getan hatte. Aber das tat sie nicht.

Ihre ernsten gramvollen Augen blickten ihn flehend an, als ob sie ihn bewegen wollten, nicht zu erbarmungslos in sie zu dringen.

»Ja, ich kannte ihn«, sagte sie leise.

»Er war Ihr Freund?«

»Er hat mein Leben vernichtet«, erwiderte sie. »Wenn jemals ein Mann den Tod verdient hat, so war es Fürst Yekel.«

Ah! Sie kannten ihn unter diesem Namen?«

»Ja. Sehen Sie her!« Sie schob plötzlich ihre tief ausgeschnittene Bluse von einer Schulter, und da wer es wieder, scharf ausgeprägt, jenes kleine rote Mal, an Dora Givens weißer Schulter.

»Nach dem Tode meines Vaters stand ich dem Kampf mit dem Leben ganz allein gegenüber, Herr Inspektor. Wie schwer das für ein junges Mädchen ist, werden Sie selbst sagen können. In einer Zeitung wurde eine Erzieherin gesucht, und zwar für eine vornehme Familie in Indien. Das reizte meine Abenteuerlust. Ich meldete mich und erhielt Antwort. Unser Pfarrer zog Erkundigungen ein. Er brachte in Erfahrung – oder glaubte es zu tun – daß der betreffende Herr ein russischer Edelmann sei, der wissenschaftlicher Studien wegen mit seiner Familie in Tibet wohne. Da alles in Ordnung zu sein schien, einigten wir uns schnell, und ich reiste hin. – Es war Seminows Palast, den ich erreichte. Fast tausend Meilen jenseits der Zivilisation! Wenn Sie Wung Lu versichern, daß ich ihn dazu bevollmächtigt habe, wird er Ihnen erzählen, was dort aus mir geworden ist.«

Ihr schönes Antlitz nahm einen entsetzlichen Ausdruck an. Haney fühlte, daß er sie um jeden Preis am Weitersprechen verhindern mußte.

»Ich wurde fast wahnsinnig –« flüsterte sie tonlos und mit fliegendem Atem.

Je länger der Inspektor sich mit diesem Fall abmühte, um so mehr bedauerte er diese amtliche Notwendigkeit. Irgend jemand mußte für diesen Mord gehenkt werden, selbst wenn es nicht Lonny de Roget war. Aber je mehr Dora Givens Vergangenheit sich vor ihm auftat, um so mehr wünschte er auch, daß man nicht gerade ihn beauftragt hätte, den Mörder zu finden.

Er räusperte sich.

»Wonach haben Sie ihn an jenem Abend gefragt? Sie sagten, es sei eine Privatangelegenheit gewesen.«

Eine Sekunde lang preßte sie beide Hände gegen ihre Augen. Dann fielen sie auf ihren Schoß nieder. »Ich wollte nicht, daß Frau Cornish und ihre Tochter – etwas über mich erfahren sollten«, flüsterte sie.

»Und Sir Edwin –?«

»Auch der nicht! Aber jetzt weiß er es. Ich selbst habe es ihm gesagt.«

Haney sann einen Augenblick nach. »Würden Sie mir verübeln, wenn ich Sie fragte, ob Sie Sir Edwin zufällig kennengelernt haben?«

»Nein«, erwiderte sie tonlos. »Seminow wollte, daß ich ihn kennenlernte. Es – es gab etwas, was ich hier tun sollte. Was es war, wollte er mir erst sagen, wenn es Zeit dazu war. Ich hatte Sir Edwin sehr gern und habe mich ein ganzes Jahr lang dagegen gewehrt, weil ich wußte, daß es etwas Schlimmes sein mußte, wenn Yekel es wünschte. Mich hatte er seit Jahren satt, hielt mich aber in anderer Beziehung für nützlich. Nachdem mir gelungen war, vor Jahren nach Europa zu entfliehen, meinte ich, auf immer von ihm losgekommen zu sein. Aber darin irrte ich mich. Er besaß eine unheimliche Macht über Menschen. Es war geradezu unmöglich, ihm Widerstand zu leisten, und diese Empfindung blieb auch bestehen, wenn er fort war. Erklären kann ich das nicht. Aber daran lag es auch, daß er zu so unerhört viel Geld kam. Es gab jedoch besonders veranlagte Menschen, die ihm heftigen Widerstand leisteten. Er behauptete, das beruhe auf chemischer Grundlage. Was er damit meinte, habe ich nie begriffen. Herr Inspektor – meiner Ansicht nach war Peter Seminow der Fürst der Finsternis. Ich glaube das ganz fest.«

»Hat er Ihnen gegenüber jemals einen Mann namens de Roget erwähnt?« fragte Haney.

Nach einiger Ueberlegung verneinte Fräulein Givens.

»Den Namen habe ich nie von ihm gehört«, setzte sie gewissenhaft hinzu. »Aber ich erinnere mich, daß einmal in Paris irgendein Franzose versuchte, ihn zu töten, und es kann sein, daß jener Mann de Roget hieß.«

Der Inspektor erfuhr dann noch, daß Fräulein Givens Sir Edwin durch Zufall auf einer Ueberfahrt nach Kalkutta kennengelernt und ihn dann nach Jahren ebenso zufällig in London auf der Straße getroffen hatte. Aber an solche Zufälle glaubte der Detektiv-Inspektor nicht. Im wirklichen Leben gab es seiner Ansicht nach keine. Er war jetzt bereits fest davon überzeugt, daß die Anwesenheit des Bullettschen Zirkus und das sehr gelegen kommende Entwischen des Schimpansen durchaus nicht auf Zufall beruhten, ebensowenig das Mal an Cissies Arm und Lonny de Rogets Anwesenheit.

Er fragte Fräulein Givens nicht, ob sie das Mal an Cissies Arm bemerkt habe. Der Umstand aber, daß sie nicht davon sprach, erschien ihm bedeutungsvoll.

*

Nachdem Frau Cornish ihren Nervenanfall überwunden hatte und als sie die Entfremdung zwischen David und Kathleen bemerkte, wurde sie von der grauenhaften Ahnung befallen, daß Tote noch immer einen starken Einfluß auf Lebende ausüben können.

Kathleen hatte seit einigen Tagen angefangen, ihr erstes Frühstück im Bett zu sich zu nehmen, aber die Dunkan berichtete, daß sie fast nichts genösse.

»Und ich glaube, daß es hier im Hause spukt und Fräulein Kathleen von Gespenstern besessen ist«, setzte sie hinzu. »Nicht nur sie, sondern das ganze Haus.«

Das glaubte Helen nun zwar nicht, aber daß Kathleen und Sir Edwins Nerven überreizt waren, war unverkennbar. Beide waren äußerst nervös und litten unter Anfällen von Schwindel und Erschöpfung, mit denen Doktor Garvice nicht fertig werden konnte. Obwohl kein Anzeichen von Gelbsucht vorlag, nahm Kathleens zarte Haut eine gelbliche Farbe an, und der brave, altmodische Arzt wußte nicht aus und ein. Als David Mackenzie aber gar von einer etwaigen Vergiftung sprach, geriet er in heftigen Zorn.

Vor sechs Jahren hatte der alte Herr sich schon beinahe mit Frank Yardley überworfen, als dieser die Vermutung aussprach, daß Sir Harry keines natürlichen Todes gestorben sei.

»So was kommt hier bei uns nicht vor«, eiferte er auch jetzt wieder.

»Mir kommt es aber doch so vor«, entgegnete Frank. »Und wir wissen noch immer nicht, wer Seminow umgebracht hat.«

»O doch! Jener junge Mensch aus dem Zirkus natürlich«, sagte der brave Doktor, der seinen Aerger nur mühsam beherrschte. »Sie haben ihn ja auch schon verhaftet.«

Frank zuckte die Achseln.

»Das Messer wurde nicht bei ihm gefunden«, erwiderte er. »Ebensogut könnte man den Schimpansen für den Mörder halten. Das weiß Haney sehr gut. Der ist nicht dumm.«

Doktor Garvice bekam einen roten Kopf, steckte beide Hände in die Taschen und stelzte würdevoll hinaus, während Frank, vergnügt vor sich hinpfeifend, auf die Terrasse hinaustrat, wo Kathleen, bequem in Kissen gebettet, auf einem Liegestuhl lag.

»Wie geht's denn heute?« fragte er besorgt, indem er einen Stuhl heranzog.

»O, ganz gut, danke«, erwiderte sie mit abgewendetem Kopf.

»Kommt David heute abend herüber?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, sagte Kathleen ärgerlich. »Hoffentlich nicht! Finden Sie es etwa nicht greulich von ihm, daß er immer wieder herkommt, obwohl er doch weiß, daß ich ihn hasse?«

»Er denkt wohl, daß Sie nervös und verstimmt sind«, suchte Frank sie zu begütigen. »Diese sonderbare Abneigung wird schon wieder vergehen.«

»Sonderbar? Wieso sonderbar? Und vergehen wird sie nie!«

Frank wagte nicht, nach dem Grunde dieses Zwistes zu fragen, und ging zu einem anderen Thema über.

»Garvice ist ein guter, alter Kerl, aber als Arzt nicht gerade eine Leuchte«, bemerkte er. »Ich glaube, daß er keinen Schimmer davon hat, was Ihnen und Edwin fehlt. Und Sie möchten doch wohl gesund werden, Kind?«

»Nicht besonders. Wozu denn?«

»Aber das ist doch merkwürdig! Sie sind ja noch so jung. Und denken Sie denn gar nicht an Ihre Mutter?«

»O – die hat ja Sie!« lautete die bittere Antwort.

»Haben Sie etwas dagegen, daß Ihre Mutter mich heiratet?« fragte er verletzt und vorwurfsvoll. Sie ahnte ja nicht, wie lange er auf dieses Glück gewartet hatte!

»Wie sollte ich wohl«, erwiderte sie. »Ich bin froh, wenn Mutti glücklich ist, und sie hat Sie sehr lieb. Aber ich möchte lieber tot als weiter so unglücklich sein, und das Schlimmste dabei ist, daß ich nie darüber fortkommen werde.«

»Könnten Sie sich nicht entschließen, mir den Grund anzuvertrauen?« fragte er weich.

Das junge Ding warf ihm einen Blick voll Jammer zu. Es tat ihm in der Seele weh, sie so verändert und krank zu sehen. Wie mußte ihre Mutter darunter leiden!

»Ich würde es tun – wenn Sie es Mutti nicht sagen«, erwiderte Kathleen.

»Ist es denn so schrecklich, daß sie es nicht wissen darf?« fragte er in sanft scherzendem Ton.

»Mutti würde es so finden – ebenso, wie David es getan hat«, seufzte sie.

»Und Sie legen ihrer Ansicht keinen Wert bei?«

Kathleen schüttelte den Kopf, und ihre Augen wurden naß. »In dieser Beziehung nicht. Er sagte mir, ich möchte ihn immer bei mir tragen, um mich seiner erinnern zu können, falls wir uns nie wiedersehen sollten. Und wir haben uns nicht wiedergesehen. Er ist tot – alle Welt hält ihn für tot – aber für mich ist er lebendig geblieben. Wie soll ich es nur erklären? Ich träume jede Nacht von ihm. Er ist jetzt bei mir – hier, verstehen Sie?«

Großer Gott! Sie sprach von Seminow! War sie denn toll?

»Was war es denn, was Sie behalten sollten?« fragte er mit mühsam bewahrter Gelassenheit.

Sie zog an einer Kette ein wildledernes Beutelchen aus dem Busen und zeigte ihm einen prachtvollen, in mattes Metall gefaßten Rubin – dasselbe Schmuckstück, das David neulich morgens beim Golf so in Wut versetzt hatte.

»Das ist es also, worüber Sie sich mit David entzweit haben?« fragte Frank gepreßt.

»Ja, das auch. Aber ich mache mir überhaupt nicht so viel aus David, wie ich gedacht hatte. Wenn Herr Seminow am Leben geblieben wäre – er wollte ja, ich sollte ihn heiraten.«

»Ja, aber er hatte schon eine Frau.«

»O, diese Geschichte glaube ich nicht«, sagte Kathleen.

»Darf ich mir das Juwel einmal ansehen? Weshalb tragen Sie es in diesem kleinen Beutel bei sich?«

Kathleen errötete, als sie den Hänger loshakte und in seine Hand legte.

»Seminow sagte, ich sollte es tun. Die goldene Fassung ist magnetisiert, und er sagte, sie würde meinen Hals verbrennen, wenn sie ihn berührt.«

»Dann würde ich das Schmuckstück an Ihrer Stelle nicht tragen«, erklärte Frank energisch.

Da griff sie hastig zu und riß es wieder an sich, als ob sie ihm mißtraute.

Franks Hand brannte an der Stelle, wo das Kleinod einen Augenblick gelegen hatte.

Er war ernstlich besorgt. Obwohl er Kathleen nicht versprochen hatte, die Sache vor ihrer Mutter geheimzuhalten, meinte er doch zum Schweigen verpflichtet zu sein – aber er hatte das ›Gefühl‹, als ob Kathleens Leben davon abhängen könnte, daß er sprach oder nicht.

»Hören Sie, Kind«, sagte er streng. »Sie spielen mit dem Feuer! Die Fassung dieses Steins, die Sie für Gold halten, besteht aus einem noch unerforschten Metall, dessen Eigenschaften nur wenige Menschen kennen. Es ist eine Sache, die sozusagen, ›in der Hand losgehen‹ kann. Ich bitte Sie herzlich, seien Sie vernünftig, und legen Sie den Rubin ab oder lassen Sie ihn anders fassen, wenn Sie ihn durchaus behalten wollen. Wenn an Seminows Behauptung, das Kleinod sei mit seinem Fluidum geladen, auch nur ein Schatten von Wahrheit ist, so ist das ein Grund mehr dafür, es nicht zu tragen. Der Mann war ein durch und durch schlechter Mensch. Glauben Sie mir, hinter seinem Tode steckt mehr, als wir uns träumen lassen. Ich bitte Sie um Ihrer selbst willen: seien Sie vernünftig!«

Ein hochmütiges Lächeln zuckte um Kathleens Mund, und ihre einzige Antwort bestand darin, daß sie den Rubin wieder in dem wildledernen Beutel verwahrte und diesen an ihrem Busen verschwinden ließ.

In diesem Augenblick kam die Dunkan und brachte Kathleens Tee.

Helen war mit ihrem Bruder, Fräulein Givens und der wieder ein wenig hergestellten Cissie nach Ashford gefahren, um einige Besorgungen für den Haushalt zu machen, so daß Kathleen allein zu Hause war.

»Bringen Sie doch, bitte, auch Herrn Yardley, eine Tasse«, sagte Kathleen, und die Dunkan beeilte sich, es zu tun.

»Es hat keinen Sinn, mir böse zu sein, Herr Yardley«, erklärte Kathleen als sie den Tee einschenkte. »Ich weiß, daß ich noch jung bin; aber mein Entschluß steht fest. Ich werde den Stein immer bei mir tragen und auf diese Weise auch immer Peter Seminow behalten – –

Aber, was ist Ihnen denn?« unterbrach sie sich erstaunt.

Frank Yardley hatte seine Tasse hingestellt und starrte sie mit erschrockener Miene an.

»Ich weiß nichts weiter, als daß dies kein Tee ist«, sagte er. »Es ist noch etwas anderes drin.«

»Mir hat er auch schon seit einiger Zeit sonderbar geschmeckt«, erwiderte Kathleen, »aber ich dachte, es läge daran, daß ich nicht wohl bin.«

Die beiden blickten einander schweigend an. Für den Augenblick war Peter Seminow samt seinem unheimlichen Geschenk vergessen.

»Das war es ja, was ich Garvice gegenüber anzudeuten versuchte!« rief Frank aus. »Irgend jemand hier im Hause versucht offenbar, Sie zu vergiften – und Sir Edwin auch!«

Kathleen stieß einen Schreckensschrei aus. Sie hatte zwar soeben erklärt, daß ihr nichts mehr am Leben läge; aber solche Ueberzeugungen halten selten stand, wenn die Gefahr droht, beim Wort genommen zu werden.

»Das ist ja entsetzlich!« rief sie aus. »Wer kann denn so etwas tun – und aus welchem Grunde?«

»Wer tötete Seminow, und warum?« versetzte Frank. »Ich wollte, Haney wäre hier, statt in Frankreich unsicheren Spuren nachzugehen.«

Er schellte nach der Dunkan und fragte, wer den Tee zubereitet habe.

Die Jungfer war höchst erstaunt. Thomson hatte den Tee gemacht. Der Diener wurde herbeigerufen, kostete den Tee und gab bestürzt zu, daß er nicht richtig schmeckte. Nun trank denn auch die Dunkan einen Schluck.

»Tee ist dran –«, erklärte sie.

»O ja, es ist welcher dran«, bestätigte Frank. »Wo verwahren Sie die Teedose, Thomson?« fragte er, worauf die Dunkan in Tränen ausbrach und der alte Diener mit zitternder Stimme erwiderte:

»Auf einem Wandbrett im Anrichtezimmer.«

Frank Yardley ging ins Haus, um diese Stelle in Augenschein zu nehmen. Ueber einer Spiritusflamme kochte Wasser für den Fall, daß mehr Tee verlangt würde. Yardley tat etwas Tee aus der Dose in eine andere Kanne, nahm eine reine Tasse mit und kehrte auf die Terrasse zurück, wo die Dunkan und Thomson noch waren.

Nun kostete Frank seinen Tee, der sich als ganz rein und unverfälscht erwies. Der Fall lag also ganz klar. Entweder war der alte Thomson der Schuldige, der den Tee bereitet, oder die Jungfrau, die ihn gebracht hatte.

»Nun, wer von Ihnen ist es gewesen?« fragte Yardley ungeduldig. »Heraus mit der Sprache!«

»Ich habe nichts zu sagen, Sir«, antwortete Thomson nach einer längeren, peinlichen Pause.

»Und ich auch nichts, Sir!« erklärte die Dunkan gekränkt. »Ich habe für Fräulein Kathleen gesorgt, seit sie zur Welt kam, ganz als ob sie mein eigenes Kind wäre! Wie sollte ich dazu kommen, ihr etwas Böses anzutun?«

»Wahrscheinlich ist das allerdings nicht«, gab Frank zu. »Aber ich denke. Sie werden beide einsehen, wie unangenehm die Sache ist, und mir helfen, sie aufzuklären.«

»Ich werde hier im Hause ganz gewiß nichts Eß- oder Trinkbares mehr anrühren«, sagte die Dunkan. »Und es war ja gar nicht meine Arbeit. Ich wollte Thomson helfen, weil er mit dem Besuch so viel zu tun hat. Aber daß man mir nachsagt, ich wollte Fräulein Kathleen vergiften, ist mir denn doch zu viel!«

»Mir scheint, Sie nehmen sich die Freiheit, ein wenig ungezogen zu sein, Dunkan«, versetzte Yardley streng, worauf die Jungfer wieder zum Taschentuch griff.

Frank Yardley nahm die verdächtige Teekanne an sich und forderte Kathleen auf, ihn nach seinem Hause zu begleiten; denn er wolle sie nicht unbehütet in Madder Grange lassen. Sie machte zunächst Einwände, gab aber nach, als er energisch darauf bestand. Innerlich überlegte er, ob wohl möglich sei, daß sie selber etwas in den Tee getan habe; aber es schien undenkbar, daß sie das fertiggebracht hatte, ohne daß er es bemerkte.

Sie hatten das Parktor noch nicht erreicht, als das Auto von Ashford zurückkehrte und Kathleen sich ihrer Mutter anschloß, Sir Edwin aber Yardley begleitete.


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