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Sechstes Kapitel.

Haneys zweite Reise nach Frankreich hatte das einzige Ergebnis, daß alle die Beweise, die er gegen Lonny de Roget gesammelt hatte, sich als wertlos erwiesen. Darüber aber war er nicht nur nicht enttäuscht, sondern sogar zufrieden, denn seiner Ueberzeugung nach war der junge Mensch an der Ermordung Seminows nicht beteiligt gewesen.

Die Besitzerin des Ladens, in dem das Messer gekauft worden war, erwies sich als außerordentlich intelligente Person. Sie hatte nach dem ersten Besuche des Inspektors aus eigenem Antriebe an ihn geschrieben und ihn dadurch bewogen, sie nochmals aufzusuchen. Da sie sehr gut Englisch sprach, war bei der Unterredung zwischen den beiden nicht einmal ein Dolmetscher nötig.

Das kleine Geschäft, das in der Nähe des Hafens in einer einsamen Straße lag, erfreute sich einer ausgedehnten Kundschaft, denn Madame Dupont führte alle jene Dinge, die von Seeleuten gebraucht werden, und die Räume glichen fast einem Raritätenkabinett.

In ihrem Briefe hatte sie Haney mitgeteilt, daß ihr an dem Manne, der seinerzeit das Messer gekauft habe, noch verschiedenes aufgefallen sei, und nun berichtete sie ihm, daß sie sich besonders deswegen genau an das Messer erinnere, weil es das letzte derartige im Laden gewesen sei. Sie habe lange danach suchen müssen und es zu ermäßigtem Preise verkauft, schon deshalb, weil, wie auch der Käufer bemerkte, sich an dem Griffe ein kleiner Fehler befunden habe.

Haney hatte diesmal eine Photographie Lonny de Rogets bei sich und zeigte sie der Frau. Doch nachdem diese das Bild eingehend betrachtet hatte, erklärte sie:

»Nein, Monsieur, das ist nicht der Mann, der das Messer kaufte. Er ist viel jünger als jener.«

Nun hat freilich eine solche Feststellung einer Person nach einem Bilde niemals einen großen Wert, gleichviel, ob sie positiv oder negativ ausfällt, und so besagte die Ueberzeugung der Madame Dupont dem Inspektor nicht viel.

Mehr wert als das war etwas anderes, was ihr jetzt auch noch einfiel.

Sie sagte, der Käufer des Messers habe am linken Zeigefinger eine bös aussehende Verletzung gehabt und gesagt, er habe sie sich durch einen Nagel zugezogen und nicht sofort Zeit gehabt, sie zu verbinden. Dadurch habe sie sich so verschlimmert. Da habe sie sich erboten, ihm einen saubern Verband anzulegen, und es auch getan. Es sei ganz ausgeschlossen, daß die Wunde in der Zwischenzeit vollkommen habe heilen können. Deshalb müsse der Mann sofort an ihr kenntlich sein.

Des weiteren erinnerte sie sich noch, daß der Mann sie nach einem Kostümverleih gefragt habe, unter dem Vorgeben, er sei Zirkuskünstler und brauche verschiedenes für seine Garderobe.

Gegen Zahlung einer angemessenen Vergütung erklärte Madame Dupont sich bereit, mit nach England zu fahren und den Laden inzwischen ihrer Tochter zu übergeben.

Gleich nach der Ankunft drüben, wurde ihr Lonny de Roget vorgestellt, und zwar, um sie zu prüfen, gleichzeitig mit anderen Männern, aber sie fand ihn sofort heraus und sagte:

»Das ist der junge Mensch, dessen Photographie Sie mir zeigten, Monsieur, aber er hat mir das Messer nicht abgekauft.«

Ein Blick überzeugte sowohl sie als auch den Inspektor überdies, daß Lonny de Roget auch nicht die geringste Verletzung am linken Zeigefinger aufwies, ebensowenig eine von einer solchen herrührende Narbe.

Haney sah sich infolgedessen genötigt, den Mann aus der Haft zu entlassen.

Auch eine genaue Besichtigung des übrigen Zirkuspersonals durch die Französin führte zu keinem Ergebnis. Madame Dupont, der die Rolle, die sie spielte, offenbar viel Vergnügen bereitete, ließ sich die Leute einen nach dem anderen vorführen, behauptete aber, der Käufer des Messers sei nicht darunter.

Dabei war sie offenbar von dem regen Wunsche beseelt, dem Inspektor zu helfen, und dieser hatte keinen Anlaß, ihre Wahrheitsliebe anzuzweifeln. Sie war eine redliche Frau, für deren Wahrheitsliebe ihr Seelsorger und die Nachbarn zeugten, und die der heimischen Polizei schon verschiedentlich gute Dienste geleistet hatte, da sie eine scharfe Beobachtungsgabe besaß, die sie im Laufe der Jahre noch besonders entwickelt hatte.

Wichtiger für den Inspektor war die Entdeckung betreffs des Tees, die Frank Yardley zufällig gemacht hatte. Auch Sir Edwin hatte auf Befragen bekannt, daß sein Tee seit einiger Zeit anders schmecke als vordem, hatte dies freilich auf seinen schlechten Gesundheitszustand zurückgeführt.

Frank Yardley hatte inzwischen den Inhalt der Teekanne analysiert, und feststellen müssen, daß außer Teeblättern noch verschiedene ihm völlig unbekannte Zusätze darin enthalten waren. Er glaubte nur, daß eine kleine Menge Belladonna darunter sei, sowie möglicherweise etwas von einer Pflanze der Sumpfporstfamilie, vielleicht von Helleborus nivalis, der Christwurz.

Ein Chemiker, dem er eine Probe des Getränkes übergeben hatte, war ebenfalls zu keinem positiven Ergebnis gekommen, hatte aber der Ansicht Yardleys beipflichten müssen, und jedenfalls litten die Dunkan und der Diener unter dem Verdachte, durch den bei allen Hausbewohnern eine arge Verstimmung erzeugt worden war. Dabei verteidigte Helen ihre Jungfer ebenso wie Sir Edwin den alten Thomson und verbürgten sich für deren Zuverlässigkeit.

Die kleine Cissie war wieder genesen und ihrem Pflegevater zurückgegeben worden, den Haney nun nicht mehr an der Abreise hindern konnte. Er wollte ihn aber noch befragen, ob er etwas von dem Vorhandensein des Males an dem Arme des Mädchens wisse und vielleicht sagen könne, woher es rühre.

Als er auf dem Wege nach dem Zirkus war, wurde er jedoch von einem Untergärtner eingeholt, der ihm atemlos meldete, soeben sei Sally Dormey, das eine der Hausmädchen, plötzlich gestorben, nachdem es eine Tasse Tee getrunken habe.

Diese Nachricht verblüffte den Inspektor vollkommen, denn es war anscheinend eine zweite Mordtat, und zugleich bereitete dieses Vorkommnis dem Verdacht gegen die Dunkan und gegen Thomson ein jähes Ende, besonders deswegen, weil beide nicht im Hause gewesen waren, als die Dormey starb.

Die Untersuchung ergab, daß Sally Dormey sich selbst den verhängnisvollen Trank bereitet zu haben schien, und es war leicht, festzustellen, daß dieser im Geschmack dem Tee ähnelte, der Frank Yardleys Verdacht erregt hatte. Die fremden Beimischungen waren indessen darin stärker als in der untersuchten ersten Probe. Vielleicht war besonders viel Belladonna darin gewesen, und dieses Gift hatte den sofortigen Tod des Mädchens herbeigeführt. Da nun, wie sich herausstellte, das arme Ding an einer unglücklichen Liebe litt, so kamen die Geschworenen bei der Leichenschau zu dem Schlusse, daß offenbar Selbstmord vorlag, welchem Urteil Doktor Garvice sich ohne weiteres anschloß.

Damit war für den Detektiv-Inspektor die Frage noch nicht gelöst, ob zwischen dem Ende Sallys, der versuchten Vergiftung Kathleens und Sir Edwins, sowie zwischen dem Morde an Seminow irgendwelcher Zusammenhang bestand. Es schien sogar nicht ausgeschlossen, daß Sally das Gift an den beiden hatte erproben wollen, ehe sie selbst es zu sich nahm.

Nach der Aussage der Köchin, die Sallys Vertrauen besessen hatte, hatte diese am Tage ihres Todes an ihren Liebsten geschrieben und ihn gebeten, sich mit ihr am nächsten Sonntage zu treffen, »um alles zu besprechen«. Da war keinesfalls anzunehmen, daß sie sich mit Selbstmordgedanken getragen hatte. Zumindestens würde sie die geplante Tat bis nach der Besprechung aufgeschoben haben.

Auf die Meldung des alten Arztes, daß hier unbedingt ein Selbstmord vorliege, gaben weder Haney noch Frank Yardley etwas. Letzterer war im Gegenteil überzeugt, daß Sally den Wunsch gehegt hatte, noch recht lange und – recht gut zu leben, und daß sie somit weit von jedem Gedanken an Selbstmord entfernt gewesen sein mußte.

Um diese Zeit wurde Helen sich klar, daß ihre Jungfer Dunkan irgendein Geheimnis mit sich herumtrug, denn sie wurde zusehends älter, schlich scheu und gedrückt umher und spähte oft ängstlich um sich, als sei ein unsichtbarer Verfolger hinter ihr. Jedenfalls vermehrte diese Entdeckung die Sorgen Helens.

Eines Nachmittags – etwa acht Tage nach dem Tode Sally Dormeys – erreichten diese quälenden Sorgen ihren Höhepunkt.

Inspektor Haney hatte sich zwar im Gasthause einquartiert, weilte aber die meiste Zeit im Herrenhause, und Helen war sich bewußt, daß sie diesen Mann haßte. Sie wäre gern fortgefahren, blieb jedoch aus Rücksicht auf ihren Bruder, trotzdem sie merkte, daß sie mit ihren Nerven immer weiter herunterkam. Sie ertrug die Dunkelheit nicht mehr und sorgte dafür, daß immer so zeitig, wie nur möglich, Licht angebrannt wurde.

Als sie nun eines Nachmittags in die Bibliothek trat, war ihr, als husche im gleichen Augenblick durch die entgegengesetzte Tür eine dunkle Gestalt hinaus, und ehe sie noch wußte, was sie davon halten sollte, grellte im Kamin eine blendend gelb und grüne Flamme empor, so daß sie unwillkürlich laut aufschrie.

Zwar eilte daraufhin Inspektor Haney sofort zu ihr, aber das beruhigte sie nicht, sondern erregte sie im Gegenteil erst recht.

Immerhin erzählte sie ihm von der merkwürdigen Erscheinung, die durch die Tür gehuscht sei, und von der Flamme, aber als Haney daraufhin den Gang betrat, fand er niemand dort. Er suchte Helen einzureden, daß sie sich getäuscht habe und die Flamme von Gas erzeugt worden sei, das manchmal in den Kohlen stäke.

Um sie von ihren marternden Gedanken abzulenken, sagte er:

»Ich habe die Sachen Seminows noch einmal durchgesehen. Sie wissen natürlich, daß er einen unvollendeten Brief hinterlassen hat?«

Helen konnte nur nicken. Sie hatte den eben erlittenen Schrecken noch nicht überwunden, und nun kam schon eine neue Aufregung, die schlimmste von allen.

»Mister Yardley sprach davon«, sagte sie endlich leise.

»Aber Sie haben diesen Brief noch nicht gesehen?« fragte Haney, der das Blatt ständig bei sich trug, seit er es auf dem Schreibtisch im Mordzimmer gefunden hatte.

»Ich nicht«, erwiderte Helen matt. »Doch Mister Yardley hat ihn gelesen.«

»Möchten nicht auch Sie das tun?«

Haney zog den Brief hervor und hielt ihn ihr hin.

Helen nahm ihn, obwohl sie sich eben noch hatte weigern wollen, aber die Hand, mit der sie ihn hielt, bebte so stark, daß sie das Blatt auf den Tisch legen mußte, und ihr Herz hämmerte zum Erschrecken, als sie nun die Zeilen las.

»Wie widerwärtig das ist!« entrang es sich ihr.

»Das stimmt zwar«, gab der Inspektor zu. »Immerhin wäre es von hohem Werte, wenn man den Schlüssel zu diesen Zeilen fände, die an eine weibliche Person in diesem Hause gerichtet zu sein scheinen.«

»Wie kommen Sie zu dieser Annahme?« fragte Helen.

Da nahm Haney den Brief und las daraus vor:

»Heute nachmittag bat ich sie um eine Gunst, und Sie schienen nicht geneigt, mir sie zu gewähren.«

»Das genügt meiner Ansicht nach«, setzte er hinzu.

»Das kann ich nicht einsehen«, versetzte Helen mit einem schwachen Versuche, zu lächeln.

»Mister Yardley meinte, der Brief sei an eine Dame gerichtet, die Seminow seit langem gekannt habe.

Ich aber glaube, daß er für Sie bestimmt war!« sagte der Inspektor mit größter Entschiedenheit.

»An mich? Wie töricht!« stieß Helen hervor.

»Anfangs dachte ich das auch, aber seither hat meine Ansicht sich geändert. Ich fand nämlich heute nachmittag in einem Behälter, der dem Ermordeten gehört hat, einen glatten Goldring, der mir schon einmal in die Hände geraten war, den ich aber nun erst genau betrachtete. Es ist ein Trauring und weist auf der Innenseite die gravierte Inschrift auf: Frederic an Helen. 5. Februar 1904.

Nicht wahr, an diesem Tage fand Ihre Hochzeit statt, Madame?«

Die unglückliche Frau war vollkommen erblaßt, aber sie nickte, als könne sie nicht anders.

Haney schien eine Weile nachzudenken, bis er endlich weiterfragte:

»Wie gelangte dieser Trauring in den Besitz Seminows?«

Vergebens suchte Helen nach einer Lüge, die als genügende Erklärung dienen könnte.

»Ich – – wie soll ich das wissen?« murmelte sie. »Ich habe ihn vor Jahren auf einer Eisenbahnfahrt verloren.«

»Und damals befand Seminow sich mit im Zuge?«

»Wenigstens in seinem Salonwagen, den er hatte anhängen lassen. Er fuhr nur bis Marseille, ich aber reiste nach Cannes.«

»Aber Sie kannten ihn schon damals?«

Helen erblaßte und errötete abwechselnd bei diesem Verhör.

»Ich traf ihn damals zum ersten Male«, bekannte sie. »Wir kamen im Speisewagen in ein Gespräch, und er lud mich ein, den Kaffee in seinem Wagen zu nehmen. Das tat ich und verließ ihn wieder, aber am nächsten Morgen vermißte ich den Ring. Ich vermutete wohl, daß ich ihn in dem Sonderwagen verloren hätte, konnte Seminow aber nicht fragen, da er in Marseille zurückgeblieben war.«

»Vergessen Sie nicht, daß ich den Brief gelesen habe, Madame«, sagte Haney. »Ich glaube allerdings nicht, daß Sie mehr darüber zu sagen brauchen, auf welche Weise der Ring Ihnen abhanden kam. Nur eine Frage noch: Wußten Sie, als Sie ihn in seinem Wagen besuchten, schon, wer dieser Seminow war?«

»Nein. Ich kannte seinen Namen ebensowenig wie er den meinen. Ich gebe zu, daß ich mich unvorsichtig benommen habe, habe aber auch schwer dafür gebüßt. Ich habe ihn nie wiedergesehen, bis er als Gast meines Bruders hierherkam, und ich hoffte sehr, er hätte mich nicht erkannt. Weder Sir Edwin noch Mister Yardley ahnen, daß ich früher einmal mit Seminow zusammengetroffen bin. Sie werden ohne weiteres begreifen, Inspektor, daß sie nichts davon erfahren dürfen, ganz besonders nicht der letztere. Es handelt sich um ein höchst unangenehmes Erlebnis, das ich gern vergessen möchte.«

»Ich verstehe vollkommen, Madame«, erwiderte Haney, aber seine Stimme klang nicht diesen Worten entsprechend, sondern hart. Er war nunmehr überzeugt, daß es in diesem Hause mehrere Menschen gab, die ihm bei der Lösung seiner schweren Aufgabe recht gute Dienste hätten leisten können, die das aber nicht wollten.

»Wollen Sie mir nicht sagen, was für eine Gunst Herr Seminow von Ihnen erbat, die Sie ihm aber nicht gewähren konnten?« fragte er.

»Und ebenso, was er damit meinte, daß jemand den Besitz des ›Symbols‹ zu schätzen wissen würde? Vermutlich meint er damit Ihren Ring?«

Helen zögerte. Es war ihr peinlich, Kathleen in diese Sache hineinzerren zu sollen; aber sie merkte, ihr blieb keine Wahl.

»Herr Seminow wurde plötzlich von einer törichten Leidenschaft für meine Tochter überfallen«, erklärte sie mit kühler Ruhe, um den Beamten zu täuschen. »Ich stellte ihm vor, wie lächerlich das sei, da sie einander erst seit vierundzwanzig Stunden kannten und meine Tochter mit David Mackenzie verlobt sei. Ich sagte ihm ferner, ich würde nie zugeben, daß er sich um Kathleen bewürbe. Daraufhin scheint er diesen Brief geschrieben zu haben, der eine Drohung bedeutet. Er wußte von der alten Neigung zwischen mir und Mister Yardley und scheint die Absicht gehabt zu haben, diesem jenen peinlichen Reisezwischenfall zu erzählen, falls ich bei meiner Weigerung bliebe.«

Das war eine unerwartete Neuigkeit für den Inspektor. Er hatte anfangs vermutet, daß Kathleen Cornish einen Anlaß zu Seminows Ermordung gebildet haben könnte, und infolge von Helens Beichte wurde diese Vermutung erst recht wahrscheinlich. Im ganzen Hause war, abgesehen vielleicht von den Dienstboten, Kathleen die einzige, die keinen Grund hatte, sich nach Seminows Tode glücklicher zu fühlen, als sie vorher gewesen war.

Selbst für Sir Edwin mußte dieser eine Erleichterung bedeuten, denn er hatte dem Inspektor anvertraut, daß der Tote in der Lage gewesen sei, die Firma Mathers, Mackenzie u. Co. durch Kündigung gewisser Hypotheken zugrunde zu richten. Seminow hatte sich in Madder Grange angemeldet, indem er vorgab, die Sache in privater Weise freundschaftlich zu regeln, woran indessen Sir Edwin nicht geglaubt hatte.

Auf Grund der bisher erlangten Geständnisse war es für Haney ein Leichtes, alles zu erfahren, was Helen wußte: daß Seminow ihrer Tochter einen kostbaren Rubin geschenkt hatte, und daß es deswegen zwischen dieser und Mackenzie zum Bruch gekommen war. Was Helen nicht wußte – daß Kathleen dieses Geschenk angenommen hatte –, konnte sie ihm natürlich auch nicht erzählen.

Für alle, die in diese Sache verwickelt waren, wie für Sir Edwin, Frau Cornish, Fräulein Givens, für Mackenzie und Wung Lu lagen hinreichende Beweggründe vor, Seminow weit fortzuwünschen oder gar, ihn zu beseitigen. Aber die Erinnerung an das Messer hinderte den Inspektor, gar zu viele Energie nach dieser Richtung hin zu verschwenden.

Immerhin war nicht ausgeschlossen, daß der Mörder Seminows nicht auch derselbe war, der das Messer erworben hatte.

Haney wendete seine Gedanken wieder dem Zirkus zu, der jetzt in Maidstone Winterquartier bezogen hatte. Er konnte sich der Vermutung nicht entschlagen, daß dieser nicht ohne Grund zur Zeit des Mordes in Larke Minnis aufgetaucht sei. Auch das geheimnisvolle Zeichen an Cissies Arm sprach da mit. Der Inspektor hatte nur noch keine Zeit gehabt, sich mit Bullett darüber auszusprechen.

Aber schon machte sich ein Einwand in ihm selber geltend!

War es denn möglich, daß Seminow sich selber den Ort gewählt hatte, wo er ermordet werden sollte? Irgendwelche Geheimnisse lagen alledem zugrunde, und Haney wußte, wieviel Geld vermag, ebenso freilich auch, daß es manchmal doch machtlos ist, weil der betreffende Mensch durch Haß oder durch Liebe oder sonst eine seelische Hemmung unzugänglich für jede Lockung geworden ist. Seminows unbegrenzter Reichtum konnte die Bühne für jenes geheime und todbringende Spiel vorbereitet haben. Nachdem dies aber geschehen war und als er alle Karten des Spieles gut gemischt zu haben glaubte, hatte er erkennen müssen, daß eine ihm fehlte – die ausschlaggebende – und so war er getötet worden – von einem Menschen, dessen er sicher sein zu können glaubte, der ihn aber tödlich gehaßt hatte und auf den deswegen das Gold keinen Reiz auszuüben vermocht hatte.

Vielleicht war Seminow im Begriffe gewesen, neuen Schätzen nachzujagen – vielleicht einer Frau – vielleicht nur einer Idee – als sein Ende ihn erreichte, aber eine große Sache, eine ganz große, mußte er geplant haben. Das stand fest für Haney.

Er erinnerte sich, daß Miß Givens diesen Mann als den Geist alles Uebels bezeichnet hatte, als den Fürsten der Finsternis.

Der Inspektor gehörte nicht zu jenen Männern, die in ihrem Dünkel jedes weibliche Ahnungsvermögen weit von sich weisen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dieses zu beachten. Jedenfalls war gut, daß die Erde von diesem rätselhaften und schlechten Menschen befreit war.

Trotz allem mußte sein gewaltsamer Tod gerächt werden. Das war seine Aufgabe nach dem Gesetz. Er mußte den Mörder entdecken. Noch immer galt der Satz: Leben um Leben! Auch für das Leben des Fürsten der Finsternis!

»Ruhe! Ruhe!« mahnte der Inspektor sich selber. »Ich darf keine Minute lang den Kopf verlieren!«

Daß er den Fall abgeben und in andere Hände legen könnte, kam ihm nicht eine Minute lang in den Sinn. Dazu war er viel zu ehrgeizig und eifrig. Er befaßte sich nun schon vier Wochen mit dieser Sache und begann erst jetzt einzusehen, in welchem Verhältnis die Mitglieder dieses Hauses zueinander standen und zu dem Toten gestanden hatten.

Immerhin arbeitete er an dieser Sache nicht wie an einem mathematischen Problem, wie Frank Yardley es tat, aber er wußte, daß er in diesem einen eifrigen Konkurrenten hatte.

Dabei stellte sich heraus, daß Yardley alle auf den Tod Seminows bezüglichen Geheimnisse gelöst, bis auf eins, und auch diesem glaubte er auf der Spur zu sein. Seiner Ansicht nach hatte der unvollendet gebliebene Brief gar nichts mit dem Morde zu tun. Zufolge Helens geschickter Andeutung nahm er an, dieses Schreiben sei an eine Dame in London gerichtet, mit der Seminow am gleichen Nachmittag noch telephonisch gesprochen hatte. Von Helens unangenehmem Reiseerlebnis wußte er nichts und sollte es auch nie erfahren.

Anderseits schien Haney den im Geheimschrank gefundenen Papieren keinerlei Wert für die Untersuchung beizumessen. Thomson hatte seinem Herrn allerlei Interessantes darüber mitgeteilt und dieser sie Yardley übergeben. Seitdem wußte er, daß Sir Harry seinem treuen Diener allerlei über diese Papiere erzählt hatte, so, daß sie Besitztitel über ungeheure Landstrecken seien, die er vorzeiten erstanden habe in dem Glauben, Schätze dort heben zu können. Allerdings habe es sich nicht um Gold gehandelt, sondern um ein noch unbekanntes, äußerst wertvolles Metall, und er habe nie gewußt, ob die Ausbeutung sich lohnen würde. Das sei eine Gewissensfrage, hatte er zu Thomson gesagt, was diesem unverständlich geblieben war.

Jedenfalls schien der alte Herr unter einer eingebildeten Verantwortung gelitten und gefürchtet zu haben, jemand könne sich dieser Besitztitel bemächtigen wollen. Infolgedessen war er immer nervöser geworden, hatte die Fenster durch neue Riegel sichern lassen, das besondere Schloß an der Tür anbringen und den Geheimschrank einbauen lassen.

In der fortwährenden Angst um diese Papiere, die seine Gesundheit mehr und mehr untergrub, hatte er sie in einem anderen Versteck untergebracht, sie eines Tages in einen Blechkasten gepackt und diesen von Thomson auf dem Dache jenes alten Schuppens verstecken lassen, ihm aber gleichzeitig aufgetragen, sie, falls seinem Herrn etwas zustoßen sollte, wieder versiegelt in dem Geheimschranke zu verwahren und zehn Jahre hindurch jedem Menschen gegenüber unverbrüchlich zu schweigen. Erst nach Ablauf dieser langen Zeit solle er den derzeitigen Besitzer von Madder Grange davon verständigen. Falls er aber vorher seinen Tod nahen fühle, die Papiere bei einem Rechtsanwalt hinterlegen, nebst einer genauen Anweisung, die natürlich versiegelt sein sollte.

Der Alte hatte diese Befehle seines Herrn genau ausgeführt, freilich aber nicht ahnen können, daß die Papiere vorzeitig ans Tageslicht kommen könnten. Infolgedessen hatte er sich genötigt gesehen, Sir Edwin alles zu erzählen, ohne daß dieser auf den Gedanken verfallen wäre, daß irgendein Zusammenhang zwischen Seminows Tode und den Bestimmungen seines Onkels bestehen könnte. Dazu war seine Denkweise viel zu schlicht, und zudem dachte er gegenwärtig an nichts, als an seine Liebe zu – Dora Givens!


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