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Sechstes Kapitel

Unter der eiskalten Schere fielen Olgas Locken. Die andern Mädchen nahmen sie, kaum daß sie zur Erde gesunken waren, spielten damit, warfen sie in schwarzen Blitzen aus den vergitterten Fenstern hinaus in den Wind.

Kühlend lag die Schneidemaschine an Olgas brennendem Haupte.

»Warum küßt du mir die Hand? Was soll das bedeuten? Es ist alles gut!«

»Aber ins Dunkelarrest muß sie doch!« zischten die andern.

»Laß sie nur lachen, einmal muß es sein, und du triffst es gerade recht, es regnet draußen, in der Zelle ist es gut warm!«

Fürchterliche Angst erschütterte Olga. Ihr Mund, seit langem in Schweigen verkrampft, öffnete sich zu flehender Bitte:

»Nur nicht allein!«

»Sei kein Narr! Du hast schon mehr überstanden. Was ist daran? Ich gebe dir eine schöne, schwere Decke! ...«

»Nur nicht allein!«

»Aber es darf ja nicht sein! Mir wird es befohlen, was kann ich tun, ich muß dich führen. Da lege dich hin, da hat schon manch eine vor dir geschlafen und hat mich böse angesehen, wenn ich gekommen bin, sie wieder zu wecken. Sieh her, da ist Wasser zum Waschen und da ist Wasser zum Trinken und da ist auch das Brot. Aber hier das, das ist von mir!«

»Nur nicht allein!«

»Das Betteln kann dir nichts nützen, nimm es nicht so ernst, lache doch! Hier das ist guter Kaffee, warte eine kleine Weile, trinke ihn nicht sogleich, dann hast du gleich etwas zum Freuen, zum Lachen!«

Olga warf sich der Wärterin zu Füßen, umfaßte ihre Beine. Die Alte strich ihr über den glatten, schwarzen Kopf: »Nur keine Angst, nur kein Beben! Beten! Beten ist gut, denken Sie an den lieben Gott, dann denkt er auch an Sie. Nun, so geh', du kleine Olga mit deinem kurzen Haar!«

Olga trieb ruhelos in der dunklen Zelle umher, es bäumten sich ihr unter den Füßen Bretter entgegen, von einer verfilzten Decke überbreitet, sie tastete mit der Hand vor sich hin, die geballte Hand war plump, immer noch wuchsen die Nägel nach innen, Schmerz erweckend und Geschwüre.

Sie legte eine Faust vor das Auge; ließ sie fallen, dunkel war es, dunkel blieb es.

Totenstille. Totenfinsternis.

Sie kroch an der Stirnwand der Zelle empor, wie gut war das Knistern der Decke unter ihren Füßen, der erste lebendige Laut. Sie suchte das Fenster, die lebendige Luft, für einen Kreuzer Licht! Sie begann zu schreien, es blähte sich ihr Gesicht, zitternd stieß sie die Luft durch die Lippen, ein scharfes Zischen schnitt durch die Stille: Licht zeigte sich!

Von der Tür her kam eine Messerschneide Licht. Freudebebend hielt sie die Hand hin, die Brüste, die harten, vereisten, verkümmerten Blüten, die schmalen Knie, die Füße, die lichten. Sie breitete die Finger aus, es glänzten matt ihre Wunden: Das bin ich!

Langhin fuhren ihre Lippen über den Arm, erwärmend in süßer Erregung: Das bin ich.

Es regte sich ihre Zunge im Munde, sie begann die Wunden zu liebkosen, leise klirrend streiften ihre Zähne das harte Hörn ihrer Nägel.

Sie raffte, sich selbst zur Wärme und zu schützendem Dache, das kahle Haupt über die magere Schulter, streichelnd tastete ihr Kinn an die Brüste.

Durch Stunden ruhte Olga, in Tierfrieden selig, mit Tieraugen saugte sie das spärliche Licht auf.

Gesättigt, genährt an fremden Düften, sich selbst näher, alle Glieder näher an sich heranschlingend, alles zusammenpressend in stillstarker Umarmung, so schlummerte sie ein.


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