Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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II.

Frau Thekla fand zu Hause vieles verändert vor. Gerd war stark gewachsen, außerdem hatte man ihm zu Beginn des Sommers die langen Locken abgeschnitten; er sah infolge dessen viel erwachsener und knabenhafter aus, zeigte nicht mehr sein weißes goldumrahmtes Kindergesichtchen. Von dem Fräulein, das ihn jetzt in Dressur hatte, war ihm die Babysprache abgewöhnt worden; er redete neuerdings in wohlgebauten Sätzen, betonte jede Silbe, seine Gouvernante nachahmend, mit einem gewissen pedantischen Bewußtsein; Fortschritte, an die sich das Mutterherz doch nur langsam gewöhnen konnte.

Auf dem Grabe der kleinen Agathe, das die Mutter am Tage nach der Rückkehr aufsuchte, blühte ein reicher Blumenflor. Der Epheu versuchte, den ganzen kleinen Hügel zu umranken. Wie schnell das ging! Ähnlich, wie in ihrer Seele der große Kummer auch schon von neuen Gefühlen und Bedürfnissen überwuchert wurde.

Ihren Mann fand Frau Thekla in aufgeräumtester Stimmung.

»Das war ein böser Winter der letzte!« sagte er noch am Abende ihrer Ankunft. »Einen zweiten von der Art möchte ich nicht durchmachen. Meine und deine Nerven waren eben zu sehr herunter. Wir müssen uns 134 zusammennehmen, Thekla! Gerd wird größer; man darf ihm einen solchen Anblick nicht bieten. Übrigens ist es auch für uns sehr viel netter, wenn wir uns vertragen. Mit meinem Minister geht's mir ähnlich. Erst konnten wir uns garnicht in einander schicken; immer nahe am Krawall war's! Und jetzt leben wir in der besten Ehe, ja wir sind geradezu zärtlich mit einander: Excellenz Meinecke und ich.«

Thekla sah, daß ihm offenbar daran gelegen war, ihr davon zu erzählen; sie fragte ihn, wie sich denn das gemacht habe.

»Siehst du, mein Kind, es wird überall mit Wasser gekocht. Du liest ja keine Zeitungen, sonst würdest du wissen, daß der plebejerfreundliche Wind, der kürzlich von Berlin her wehte, bereits stark abgeflaut hat. Wenn die Wetterzeichen nicht ganz täuschen, schlägt er eines Tages nochmal völlig um. Bei uns ahnt man bereits, daß wir in der ersten Begeisterung doch zu weit gegangen sind. Man laviert, wartet auf ein neues Kommandowort, eventuell auf den Befehl: Kontredampf. Ich will nicht den Propheten spielen, aber paß mal auf, es giebt eine großartige Retraite. Wohl dem, der sich da nicht allzusehr festgelegt hat. Und das gerade hat unser guter Minister gethan! Ich hielt den Mann erst für viel gefährlicher, als er ist. Bei näherer Betrachtung gewinnt er als Mensch, verliert aber als Politiker. Er ist ein harmloses Rauhbein voll Enthusiasmus. Übrigens wird er's nicht lange treiben. Oben ist er bereits unangenehm aufgefallen, weil er den Mund im gegebenen Momente nicht zu halten versteht. Solche Leute wie Meinecke sind gut, um eine Lücke auszufüllen. Eine günstigere Folie als ihn kann man sich ja garnicht denken, wenn mal ein Systemwechsel eintreten sollte. Er hat es ein wenig zu eilig gehabt mit seinen Reformen, der Brave. Hoffnungen sind erweckt, die er 135 nicht erfüllen kann. Es geht nämlich heiter zu jetzt bei uns. Die greisen Räte mußten sich auf ihre alten Tage auf einmal völlig umkrempeln in ihren Anschauungen und Gewohnheiten. Ich könnte dir lustige Geschichten erzählen. Es ist wie in einem Nudeltopf in unserem Ressort. Die Leute rennen mit den Köpfen an einander. Das hat Meinecke in dreivierteljähriger Amtsthätigkeit glücklich zu Wege gebracht.«

»Aber, ist denn das nicht sehr peinlich für dich?«

»O, ich verliere den Kopf so leicht nicht! Da müßte ein anderer kommen, als Herr Meinecke. Er hat inzwischen übrigens längst eingesehen, wer ich bin und was er an mir hat.«

»Das ist ja wundervoll, Leo!«

»Weißt du, Thekla, es ist doch eine schöne Sache um die Erziehung! Das sieht man hier wiedermal recht! Der Minister hat manche gute Seite, er ist unterrichtet, voll Eifer und gutem Willen, aber es fehlt ihm an Takt. Das kann der größte Fleiß und der schönste Eifer nicht ersetzen. Er ahnt natürlich dieses Manko, und es macht ihn unsicher; besonders in Gesellschaft fühlt er sich nicht fest im Sattel. Sein Orakel in gesellschaftlichen Dingen bin ich.«

»Er fragt dich um Rat?«

»Soweit sind wir bereits! Es sind ihm nämlich ein paar reizende kleine Fauxpas begegnet. Nur einen davon: Die Herzogin gab im Juni ein kleines Gartenfest, als sie draußen im Sommerschlößchen residierte, ganz zwanglos à l'impromptu; wer ihr gerade in den Wurf kam, den ließ sie einladen. Du weißt ja, wie sie sowas manchmal macht, ziemlich wahllos! Also, sie läßt auch unseren Meinecke auffordern. Der gerät natürlich in alle Zustände! »Gartenfest« bei Ihrer Hoheit! – Sowas ist 136 ihm noch nicht vorgekommen. Vor allem die Toilettenfrage macht ihm Kopfzerbrechen; was soll man dazu anziehen? – Das Unglück will, daß er dem alten Wächtelhaus begegnet. Dem vertraut er sich an. Wächtelhaus aber, der Gauner, erteilt ihm mit dem ernstesten Gesichte der Welt seinen Rat. – Wir waren nur ganz wenige von den Intimsten bei der Herzogin, die Herren im Überrock und grauen Cylinder; und nun rate mal, wie der Unglücksmensch auftritt? Frack, dazu helles Beinkleid, in der Hand den Chapeau claque, zum Halse, unter der weißen Kravatte, hing ihm irgend etwas heraus. So hatte ihn Wächtelhaus angezogen! Du kannst dir das Gesicht der Herzogin denken! Sie hielt es für einen schlechten Witz Meineckes und war wütend. Ihm standen die Schweißtropfen auf der Stirn. Er that mir leid. Ich habe mich auf seine Seite geschlagen, aus esprit de corps gewissermaßen.«

»Das war recht von dir, Leo!«

»Seitdem sind wir gute Freunde. Ich wollte ihn immer schon mal mit seinen Damen zu Tisch einladen; habe nur auf dich gewartet, damit.«

»Wie ist denn die Frau?«

»Brav, sehr brav! Die richtige Madame aus dem deutschen Mittelstande. Sie legt Wert auf die rechte Sofaecke, was du im Auge behalten mußt, Thekla! Ihr Steckenpferd sind die Lebensmittelpreise und die Dienstboten. Wenn du um eine Unterhaltung mit ihr verlegen bist, kannst du eines dieser beiden Register immer ziehen. Übrigens möchte sie mit Gewalt fein werden, seit sie Excellenz ist. Aber du wirst sie ja kennen lernen, sie und ihre Töchter! Die sind den Eltern entsprechend. Ich will dir die Überraschung nicht verderben.«

Thekla war immer wieder von neuem erstaunt über die leichte Art, in der Leo von den höchsten 137 Würdenträgern des Staates sprach. Welch erhabenes Bild hatte sie sich ehedem von dem Herzog, dem Hof und der Staatsregierung gemacht, bis Leo ihr diesen Nimbus zerstörte. Es kam ihr unbegreiflich vor, wie man Einrichtungen und Personen als Autoritäten bezeichnen konnte, an denen zu rütteln verbrecherisch sei, und sie gleicherzeit scheinbar gar nicht ernst zu nehmen. Sie liebte es nicht, dieses Doppelgesicht an ihrem Manne zu sehen.

Wer es war, der Leo in dem gefährlichen Hange bestärkte, sich über alles lustig zu machen, wußte Thekla ja nur zu gut. Das höhnisch blasierte pietätlose Wesen, das er manchmal annahm, war ja nur ein Echo von Lillys Verhalten.

Lilly Ziegrist war seit einem Vierteljahre verreist. Die alte Frau von Wernberg hatte noch ihre Abreise erlebt und sie im stillen freudig begrüßt, als vorteilhaft für die Ruhe des Hauses. Lilly hielt sich in Nordfrankreich auf bei Freunden. Auch Thekla war über ihre Abwesenheit nicht unglücklich. Lilly würde schon noch zeitig genug wiederkehren. Aber Frau Thekla war nicht gesonnen, ihr diesmal die abendliche Plauderstunde unbestritten zu überlassen, wie im Winter zuvor.

An schönen Tagen, die in diesem Jahre auch der Spätherbst noch brachte, ging Frau Thekla gern mit Gerd aus. Sie fand, daß sie eigentlich nicht genug von dem Kinde habe. Des Morgens und Abends und die ganze Nacht durch hatte die Kinderfrau den Jungen, von seiner Tageszeit aber nahm das Fräulein, welches ihn unterrichtete, jetzt einen großen Teil in Anspruch. Bei den Mahlzeiten durfte Gerd noch nicht erscheinen, weil der Hausherr das nicht liebte. Kinder seien wie kleine Tiere, behauptete er, und bei Tisch wenigstens wolle er in menschlicher Gesellschaft sein.

138 Gerd war ein sehr lebhaftes Kind und machte von dem Rechte der Kinder, nach allem zu fragen, reichlich Gebrauch. Die Mutter freute sich an seiner Wißbegier, obgleich es manchmal das Fortkommen erschwerte, wenn der Junge an jedem Ladenfenster stehen blieb und wissen wollte: wie das da heiße, ob man es essen könne, ob der Mann es auch hergeben würde, und warum die Mama es nicht kaufen wolle? –

Auch noch andere Schwierigkeiten waren bei solchen Gängen in die Stadt zu überwinden. Jeder Bekannte, den man traf, fühlte sich veranlaßt, stehen zu bleiben und das Kind anzustaunen. Die Augen, die Bäckchen, das Mäulchen, alles war »süß und goldig«. Am schlimmsten waren darin die Damen. Während die Herren sich doch meist mit einem patronisierenden Tätscheln oder einem Kniff in die Wange begnügten, ließen es sich die Freundinnen nicht nehmen, Theklas Jungen abzuküssen. Offenbar glaubte man, der Mutter damit seine Liebe darzuthun; für die Zärtlichkeiten, die auf das Kind verwendet wurden, sollte sie sich am Ende gar noch verpflichtet fühlen? – Das war wirklich zu viel verlangt!

Frau Thekla zog es vor, nachdem sie derartige Erfahrung zur Genüge durchgekostet hatte, mit Gerd an stillere Plätze zu gehen, wo man vor seinen Bekannten sicher war. Da gab es vor allem in den städtischen Anlagen ein kleines Gehölz, welches sie gern aufsuchte. Hier sprengte höchstens mal ein Reiter vorbei, und an den sonnigen Stellen fanden sich die Wärterinnen mit den Kinderwagen zusammen zur Unterhaltung.

Als Frau Thekla hier eines Tages mit Gerdchen schritt, glaubte sie zu bemerken, daß ihr jemand folge; dem Schritte nach war es ein Mann. Sie fühlte sich mit dem Jungen an der Hand vor Belästigungen einigermaßen sicher; ganz 139 langsam ging sie, um den Betreffenden zu veranlassen, an ihr vorbei zu gehen.

Es war ein Herr, seiner Kleidung nach, nicht ein Bummler, wie sie erwartet hatte. Nachdem er ein paar Schritte über sie hinausgegangen, wendete sich der Fremde und blieb stehen. Sie sah in ein abgezehrtes blasses Gesicht mit ein Paar dunklen stechenden Augen. Gabriel Bartusch stand vor ihr und lüftete den Hut.

Frau Thekla erschrak, doch verlor sie die Fassung nicht. So plötzlich dies kam, so war sie doch nicht völlig unvorbereitet darauf. Von gewissen Dingen wissen wir, daß sie einmal kommen müssen. Gabriel war das für sie, was ein unbezahlter Gläubiger für den Schuldner ist; man denkt nicht gern an ihn, aber man weiß, daß er sich irgendwo und irgendwann einmal melden wird. Frau Thekla hatte diese Begegnung sogar mehr als einmal schon geträumt; doch war der Traum viel schrecklicher gewesen, als jetzt die Wirklichkeit.

Von Ella hatte sie gehört, daß Gabriel seine Strafzeit abgebüßt habe. Er lebte jetzt mit der Mutter zusammen, in einem weltentlegenen Winkel. Es ging ihnen nicht zum besten. Der alte Bartusch hatte wenig hinterlassen, und Gabriel fand keine Beschäftigung. Das Odium, gesessen zu haben, war ihm in seinem Berufe hinderlich, lief ihm überallhin nach. Zudem kränkelte er; die Haft hatte einen zerstörenden Einfluß gehabt auf seine an sich schon zarte Gesundheit.

Was würde Frau Thekla darum gegeben haben, diesem Unglücklichen zu helfen, ohne daß er hätte merken dürfen, von welcher Seite die Hilfe komme.

Sie streckte ihm, sobald sie ihn erkannt hatte, die Hand entgegen. Zögernd, als habe er sich solchen Grußes nicht versehen, schlug er ein. Dann ging man Seite an Seite.

140 »Wir haben uns lange Zeit nicht gesehen, gnädige Frau!«

»Ja, wir haben uns lange nicht gesehen, Herr Bartusch!«

»Ist das Ihr Kind?«

»Mein Junge, ja! – Gerd, reiche dem Herrn die Hand!«

Gerd blickte scheu auf den bärtigen Mann mit dem blassen Gesicht. Er schmiegte sich an die Mutter.

»Was fällt dir ein, Gerd! Begrüße den Herrn!«

»Drängen Sie ihn nicht!« meinte Gabriel und zog seine Hand zurück. »Es heißt, daß Kinder einen feinen Instinkt besitzen.«

Man ging weiter. Thekla war auf's peinlichste berührt durch Gerds Verhalten. Sie sah kein Mittel, die Kränkung gut zu machen.

»Der Knabe sieht Ihnen wenig ähnlich!«

»Er gleicht meinem Manne; wenigstens wird mir das immer versichert.«

»Darüber habe ich kein Urteil, da ich nicht die Ehre habe, Ihren Herrn Gemahl zu kennen.«

Nach einer Weile sagte Thekla, der das Schweigen unerträglich wurde: »Wir haben eine gemeinsame Nichte, Herr Bartusch. Haben Sie die kleine Gertrud kürzlich gesehen?«

»Nein, niemals! Ich verkehre nicht im Hause meiner Schwester!«

»Das höre ich, und kann es nicht begreifen!« rief Thekla. Sofort aber bereute sie, was sie gesagt hatte, denn sie sah seine Miene sich verdüstern. In kaltem, schneidendem Tone, der Thekla mehr als alles Bisherige an Vergangenes erinnerte, erwiderte er: »Das will ich meiner Schwester doch nicht anthun, und vor allem nicht 141 Ihrem Herrn Bruder! Er ist Staatsbeamter. Sie erlassen mir wohl die Erklärung!«

Wieder eine lange Pause. Darauf sagte Gabriel mit ganz veränderter Stimme, beinahe weich: »Es ist nicht jedermann so hochherzig wie Sie, daß Sie einem Menschen, wie mir, die Hand reichen!«

Thekla erschrak. So sollte er auf keinen Fall weiter zu ihr sprechen. Sie fragte ihn etwas hastig: wie er sich befinde; er sehe recht angegriffen aus.

»Angegriffen!« rief er bitter. »Welcher Euphemismus! Sagen Sie doch ruhig, was Sie denken: ich bin eine Ruine.«

Thekla sah ihn unwillkürlich an. Er war gealtert, das spärliche Haar angegraut, die Haut gelb und gespannt, die ganze Haltung die eines alten Mannes.

»Ja, das Gefängnis ist keine Sommerfrische, und fünf Jahre davon ist etwas viel! Immerhin schlafe ich jetzt des Nachts zwei, drei Stunden, wenn ich gerade meinen guten Tag habe.«

»Das ist schrecklich! Läßt sich denn nichts thun?«

»Sprechen wir nicht davon! Man gewöhnt sich selbst an Schlaflosigkeit. – Ich wollte Sie fragen, wie es Ihnen geht. Nur darum habe ich mir erlaubt, Sie anzureden.«

»O mir!« rief Thekla und errötete: »Mir geht es gut!«

»Ja ja, man sieht es! Über Ihnen hat stets ein guter Stern gestanden!«

»Sie leben mit Ihrer Mutter zusammen?«

»Seitdem der Vater tot ist. Wir sind weggezogen von hier. Selten komme ich mal zur Stadt.«

»Wie geht es Ihrer Frau Mutter?«

»Es geht ihr, wie es eben einer alten Frau, die soviel Schweres durchgemacht hat, gehen kann.« –

142 »Ich finde es schön von Ihnen gehandelt, Herr Bartusch, daß Sie mit der alten Dame leben, und ihr eine Stütze sind. Wollen Sie Ihre Frau Mutter von mir grüßen; sie ist früher freundlich zu mir gewesen.«

»Ich werd's ausrichten. Und ich glaube, sagen zu können: es wird meine Mutter freuen, daß Sie ihrer so gedacht haben. Das passiert uns beiden nicht oft!«

Ermutigt durch seine letzten Worte, wagte es Frau Thekla, das auszusprechen, was sie die ganze Zeit über auf der Zunge gehabt hatte. Mit aller Herzlichkeit, die sie in Blick und Stimme zu legen vermochte, sagte sie zu ihm: »Herr Bartusch; lange schon habe ich mir gewünscht, Ihnen das zu sagen: kann ich denn nichts für Sie thun? Ich höre, daß Sie Sorgen haben; Sie selbst sagen, daß es Ihnen nicht gut geht . . . . . . . .«

Er unterbrach sie. »Nein!« rief er mit heftig abwehrender Bewegung. »Die Zeiten sind ein für allemal vorbei, wo Sie hätten etwas für mich thun können! Im übrigen will ich Sie nicht belästigen, gnädige Frau! Und dieser junge Herr hier soll nicht wieder in die Lage kommen, mir die Hand zu verweigern!«

Damit verneigte er sich und ging. Thekla hätte ihm gern nachgerufen, etwas Liebes, Versöhnendes. Aber, was konnte, was durfte sie ihm noch sagen? –

»Mama, das war aber ein garstiger Mensch!« mit diesen Worten scheuchte Gerd die Mutter aus tiefem Nachdenken auf.

»Gerd, das war ein sehr, sehr unglücklicher Mann!« erwiderte sie ihm mit ernstem Gesicht.

Der Kleine wurde nachdenklich. »Mama, wenn der Mann so ein armer Mann ist, warum hast du ihm denn dann nicht etwas geschenkt?«

Wie diese Frage aus Kindermund sie traf! Das war 143 ja gerade die Tragik ihres Verhältnisses zu Gabriel Bartusch, daß sie ihm das Einzige, was er je von ihr gewollt, nicht hatte gewähren können. Sie war sein Unglück geworden, ohne es zu wollen. Und was sie ihm jetzt noch mitleiderfüllten Herzens bieten konnte, verwandelte sich in seinen Augen zu bitterer Kränkung.

Ihre ganze Jugend lebte mit einem Male wieder vor ihr auf. Bedeutete nicht dieser bettelarme Mann, der eben von ihr gegangen war, eine der wichtigsten Personen ihres Lebens? Hatten ihm nicht die ersten Gefühle ihres erwachenden Mädchenherzens gegolten, das wohl der Freundschaft aber noch nicht der Liebe fähig gewesen war? Gabriel aber hatte der großen Liebe bedurft, sie bei ihr gesucht. Wie manche Thräne hatte sie um seinetwillen geweint, in jener aus Sentimentalität und Sprödigkeit gemischten Jungfrauenlaune, wo man um ein Nichts weinen und über eine große Sache lachen kann. Sie war ein Kind gewesen, und ein Vorübergehender hatte ihr einen kostbaren Schatz in die Hand gelegt; sie hatte damit gespielt nach Kinderart, ohne zu wissen, daß eines Menschen Herz ihren achtlosen Fingern entgleite. Wie Schuld und Unschuld, Bestimmung und Eigenwille wunderlich verquickt erschienen in dieser traurigen Geschichte! Ja, Gabriel war ein Teil ihrer Entwickelung, unmöglich zu löschen aus dem Gedächtnis des Herzens, das unendlich viel gewissenhafter ist, als das des Kopfes.

Ob sie ihrem Manne von dieser Begegnung sprechen sollte? Es widerstand ihr. Die wenigen Male, wo sie ihm gegenüber Gabriels Namen erwähnt hatte, war sie durch die Witzeleien verletzt worden, in denen sich Leo über die Thatsache ergangen hatte, daß sie einen nachmaligen Verbrecher zum Jugendfreund gehabt. Von dem, was Gabriel ihr in Wahrheit gewesen, ahnte er nichts. Sie 144 wußte nur zu gut, daß Leo, selbst wenn sie es ihm hätte erklären wollen, soetwas zu verstehen nicht im stande sein würde. Hier fand sein sonst so scharfes Begriffsvermögen seine Grenze. Sofort würde er an das Grobsinnlichste denken, Beziehungen gegenüber, die fein waren wie Spinnenwebe.

Aber die Begegnung mit Gabriel wollte sie ihm nicht verschweigen; Gerd würde bei irgend einer Gelegenheit doch davon sprechen. Ehe sie riskierte, wie eine Ertappte vor ihrem Manne dazustehen, wollte sie noch lieber die Bespottung, welche von seiner Seite ja nicht ausbleiben würde, in Kauf nehmen.

Was Thekla vorausgesehen hatte, geschah. Leo war sehr ungehalten. Es wäre traurig genug, daß man durch Arthurs Frau in entfernter Verbindung stehe zu einem derartigen Menschen; wenn sie solche Beziehungen aber noch besonders pflege, so sei das unerhört! Er verbot es seiner Frau ein für allemal, sich mit Gabriel einzulassen. Dann erkundigte er sich genau, ob irgend jemand sie in Gesellschaft dieses »Verbrechers« gesehen habe. Und erst, als Thekla ihm versicherte, daß niemand Bekanntes ihnen begegnet sei, beruhigte er sich einigermaßen.

 


 


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