Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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V.

Wyraburg ist em kleines Städtchen von knapp zweitausend Einwohnern. Alles lebt dort von Weberei und Spinnerei. Früher gab es in Wyraburg nur Handbetrieb, jetzt ragen drei Fabrikessen, als Wahrzeichen der neuen Zeit, aus dem Gewimmel altmodischer Dächer empor, blicken keck über den kleinen Marktplatz und das eigensinnige Kreuz-und-Quer winkeliger Gassen und Gäßchen, weit hinaus, höher als der Kirchturm, höher selbst als die Flaggenstange auf der verfallenen Burg, nach der das Städtchen seinen Namen hat.

Und um Wyraburg herum, die niedrig breiten Hügelketten ganz bedeckend, dehnt sich herrlicher alter Laubwald: die herzoglichen Jagdgründe, um des lieben Wildes willen unantastbar und aus demselben Grunde auch vor der Spekulation des Holzhändlers bewahrt.

Am Waldrande, nach Norden und Westen vor Unwetter geschützt, liegt eine kleine Kolonie: ein Bauerngut, eine Gärtnerei und der Gasthof. Der Gärtner zieht in ausgesuchter Südlage Gemüse und Obst, der Bauer liefert Milch, Butter und Eier für die kleine Stadt da unten, und das Wirtshaus zur »Grünen Buche« ist Sonntags der beliebteste Ausflugsort der Wyraburger.

Hierher führte Leo Wernberg seine Frau. Er kannte die »Grüne Buche« recht gut, denn er hatte hier vor Jahren schon mal gewohnt, »als ich noch die Passion auf den Rehbock hatte,« wie er sagte. Die Wirtin erkannte ihn sofort wieder, als er kam.

Der Vorsicht halber war Karl vorausgeschickt worden als Quartiermacher. Er hatte die beiden besten Zimmer des Gasthofs mit Beschlag belegt, und so gut es gehen wollte, wohnlich hergestellt für seine Herrschaft.

68 Frau Thekla jubelte laut, als sie am ersten Morgen – sie waren bei Dunkelheit angekommen – das Schlafzimmerfenster öffnete, und vor ihr breitete sich die deutsche Landschaft aus, in ihrer schlichten innigen Schönheit. In der Thalsenke das Städtchen, aus dessen Essen der Rauch wirbelte; dahinter am Hange braune und gelbe Streifen und Vierecke: Felder, die schon abgeerntet waren; denn man stand im Spätsommer. Darüber waldgekrönte Hügelketten, Thäler, die man mehr ahnte als sah. Ein blauer Berg am Horizont. Dort blitzte ein Wasserspiegel. Hie und da menschliche Anwesen, das blinkende Kreuz einer Kirchturmspitze, Strohfeimen, einzelne Pappelgruppen, an der Flußkrümme Weiden und Erlen, und die Berglehne hinan der Obstbaum im Felde. Über dieses Bild voll Heiterkeit, Abwechselung und Fruchtbarkeit ausgespannt der wolkenlose Augusthimmel.

»Komm Leo, sieh das!« rief sie ihrem Manne zu, der noch beim Ankleiden war.

»Ja, ja, ganz nett!« meinte er. »Aber ich bin ein wenig verwöhnt jetzt durch meine Reise. Das hier ist mir viel zu bäuerisch. Da solltest du Süd-England sehen! Alles ein großer Park.«

Thekla schwieg. ›Reist man, um solche Weisheit mit nach Haus zu bringen?‹ dachte sie bei sich. –

Sie fand alles wunderschön hier: die Landschaft, die würzige Luft, den herrlichen Wald, die stillen, einfachen Leute, die nichts von einem wollten. Die Wirtin der grünen Buche war die einzige Person, welche anfangs den Versuch wagte, Unterhaltung zu machen. »Als der Herr Baron von Wernberg damals hier wohnte« . . . . . fing sie an; aber Leo wußte ihr das schnell abzugewöhnen.

Die Mahlzeiten waren eine Quelle steter Belustigung für die beiden. Was that die gute Frau nicht alles an 69 die Suppen und an den Braten, zu Ehren ihrer vornehmen Gäste. Alle Gewürze des Orients streute sie verschwenderisch aus. Über jeder Sauce lagerte eine fingerdicke Fettschicht, ja sogar im Kompott fand man Zimmetstengel und Nelken. Glücklicherweise ließ sich an Eiern, Butter, Milch und Brot, kein Gewürz anbringen.

Man führte ein zwangloses Leben, wie die Vögel unter dem Himmel. Früh, gleich nach dem Frühstück, ging's hinaus in den Wald. Wernberg im hellen Flanellanzuge, mit Hängematte, Feldstuhl und Plaid. Thekla neben ihm in leichter im Winde flatternder Bluse, einen breiten Sommerhut auf dem einfach frisierten Haar, Bücher und Zeitung tragend. Dann suchte man sich ein schattiges Fleckchen aus, wo die Hängematte zwischen zwei Bäumen angebracht werden konnte, wechselte ab mit plaudern, ruhen und lesen.

Leo Wernberg hatte sich eine Anzahl französischer Romane kommen lassen. Er zog die französische Litteratur jeder anderen vor. Von den deutschen Autoren, besonders von den modernen, wollte er nichts wissen.

»Das ist mir viel zu grob, plump und ordinär!« pflegte er zu sagen. »Diese ewige Arme-Leute-Atmosphäre ist unausstehlich. Wer kann sich für Bettelvolk, Bauern, Proletariat und dergleichen interessieren! In der Kunst will ich das Schöne! Das Leben ist häßlich genug. Außerdem ist die Gesinnung dieser Neueren zweifelhaft. Politisch sind sie meist radikal und von der guten Gesellschaft verstehen sie nichts. Was ich von der sozialen Frage zu halten habe, weiß ich selbst; das werd ich mir nicht von untergeordneten Skribenten sagen lassen. Die Kunst soll erfreuen!«

Er wachte streng darüber, daß Thekla nicht die Werke der Modernen in die Hand bekam. »Die passen nicht für 70 Damen, und würden dir die Ideale zerstören, mein Herzchen! Diese Menschen, denen nichts heilig ist, die den Staat, die Kirche, die Familie fortgesetzt besudeln, müßten bestraft und ihre Bücher konfisziert werden!«

Thekla wußte nur soviel, daß ihr die französischen Sachen, die Leo mit solchem Wohlgefallen las, auch nicht behagten. Immer nur das Verhältnis der Geschlechter und das in gesucht übertriebener, widernatürlicher Weise ausgebeutet! – Sie las von diesen Büchern meist nur einige Seiten, um sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wegzulegen.

Zu seiner Entschuldigung gewissermaßen erklärte Leo dann: die Franzosen wären ja ziemlich frei, das lasse sich nicht leugnen; aber bei ihnen sei das etwas ganz anderes, weil sie Charme besäßen und Chick. Sie verstünden es, selbst das Unanständige graziös zu sagen, und es dadurch annehmbar zu machen.

So hatte Frau Thekla also nichts zu lesen; das machte sie weiter nicht unglücklich. Sie überließ Leo die Hängematte, in der er stundenlang lag, eine Cigarre an der anderen anzündend, in seinen gelbgehefteten Band vertieft. Sie selbst ging in den Wald, meist ohne Weg und Ziel, wohin sie gerade Zufall und Laune führten.

Man konnte gehen, wo man wollte, es war überall schön. Die Forstkultur hatte aus diesem Walde noch nicht eine Musterschule gemacht, wo die Bäume stramm ausgerichtet stehen, wie die Soldaten. Hier war noch der unberührte Pflanzgarten Gottes. Uralte Buchen erhoben sich mit kerzengradem grauem Schaft, oben mit ausgebreiteten Armen einen breiten Schirm hellgrün losen Blätterwerks tragend. In ihrem Schatten aber wucherte in dem braunroten Bett verwesenden Laubes das strebsame Geschlecht der Farren, Moose, Kletterpflanzen und Stauden. 71 Hier war Licht und Raum für viele. Die Großen neideten den Kleinen nicht den Platz. Wo aber doch eine von den vornehmen Buchen morsch geworden war, vom Specht gezeichnet, als dem Tode geweiht, vor Altersschwäche dahinsiechte, oder vom Sturme ohne viel Federlesens geköpft war, da erhob sich das schnellwüchsig kecke Geschlecht der Fichten, Tannen und Lärchen in dichten undurchdringlichen Trupps, den Platz ausfüllend.

Wie man in den Hallen dieses Domes frei atmen konnte! Wie die Gedanken natürlicher, einfacher und schöner waren, als in dem engen Bezirk der Straßen und Häuser! Frau Thekla konnte einmal ganz in sich hineinschauen, und bei diesem Insichblicken wieder hinausschauen in die Welt, wie durch ein Fenster von erhöhter Warte aus.

In solch begnadeten Augenblicken halten wir den Atem an, lauschen dem eigenen Herzen und hören darin den Pulsschlag der ganzen Welt. Das ist die Meeresstille des Gemütes, in der wir uns selbst und unsere Umgebung in Vergangenheit und Gegenwart spiegeln. Dieses erhabene Glück kommt über den Menschen nur, wenn er allein ist.

Nicht einmal nach ihrem Kinde hatte Frau Thekla Sehnsucht. Allein sein, nur allein sein! In der Einsamkeit erst recht umgeben von allem, was sie besaß und was sie jemals ihr eigen genannt hatte. Die Menschen, die sie liebte – und zu denen gehörten auch die Toten – standen ihr dann näher, sie sah sie in einer Art Verklärung, von allem Zufälligen gereinigt, in dem echten Werte ihres Wesens. Einen viel innigeren, tieferen Verkehr konnte sie mit ihnen pflegen, ungestört durch all die Unzulänglichkeiten körperlichen Zusammenseins.

So milde, gerecht und klar vermochte sie jetzt auch an Leo zu denken.

Sie wußte daß er Fehler hatte, aber diese Fehler 72 brachten sie nicht mehr an den Rand der Verzweiflung. Seine Schwächen waren unzertrennlich von seiner Natur, sicherlich litt er, ohne es vielleicht zu wissen, am meisten unter ihnen. Er war ein Mann, begabt mit allen Vorzügen, und behaftet mit allen Mängeln der Mannheit.

Es gab ja keinen größeren Unterschied als diesen! Nicht Lebensalter, nicht Rasse, nicht Stand begründete einen solchen Gegensatz, wie das Geschlecht. Ein anderer Leib, eine andere Seele, eine andere Sittlichkeit! Was dem einen Teile Glück bedeutete, verursachte dem anderen Schmerz, was dem einen Bedürfnis war, galt dem andren als das gleichgiltigste Ding der Welt. Man sah verschieden, man dachte verschieden, man fühlte verschieden.

Und nur eines gab es, was diese Kluft überbrücken konnte: Liebe! Eine Liebe, die duldsam war und weitherzig, die verwandt war mit Mitleid und mit Gerechtigkeit, die den anderen nahm, wie er war. Man konnte nicht einen Teil lieben und einen anderen nicht, einen Menschen nur stückweise gelten lassen. Überströmen mußte solche Liebe den ganzen Menschen, daß alles, was widerstreben wollte, gleichsam ertränkt wurde in der allgewaltigen Flut.

Der Gegensatz der Geschlechter, die Feindschaft zwischen Mann und Weib, das Fremde an ihrem Manne, das sie oftmals verletzt und beängstigt hatte, verlor in diesem Lichte gesehen seine Schrecken. Der Gegensatz wurde zum Bindeglied, die Feindschaft zur Versöhnung.

Des Mannes Liebe war wie eine jäh auflodernde Flamme, die leicht in sich zusammensank, wenn sie nicht Nahrung fand in der dauernden Glut weiblicher Treue. Wie ein Bergstrom stürzte männliche Leidenschaft dahin, der sich irgendwo begraben will, seiner Wildheit zu genesen. Ihn nimmt die Tiefe auf und besänftigt den Ungezügelten, daß er sich ausbreitet in stiller abgeklärter Fläche.

73 Wie lange sie dazu gebraucht hatte, um das zu finden! Und nun war es einfach und selbstverständlich, wie ein Kapitel aus der Bibel. – Wie sie gesucht und sich abgeängstigt hatte, schon als Braut, wo sie sich nicht darein zu finden vermochte, daß ihr Auserwählter eine Vergangenheit besaß, in der sie keine Rolle spielte, an der nichts mehr zu ändern war. Und dann die erste Zeit ihrer jungen Ehe, so reich an Beglückung und noch viel reicher an Enttäuschung! Unter welchen Qualen der Seele hatte sie sich von ihrem Mädchentum getrennt. Wie ein Feind war er ihr da vorgekommen, grausam und roh in seinem Verlangen. Und wie lange noch hatte sich ihre Jungfrauen-Sprödigkeit aufgelehnt gegen die unerhörte, unverständliche Zumutung, die er sein Recht nannte! Bis sie endlich die Wonne des Hingebens empfinden lernte; ein Hingeben, das kein Aufgeben zu sein braucht, wenn es ein Widerfinden im anderen sein kann.

Jetzt wußte sie längst, daß die Ehe etwas Gutes ist, die Ehe, die ihr das Kostbarste geschenkt hatte, was sie besaß: ihr Kind. Die Ehe war »gottgeordnet«; für sie war das keine Redensart. Alles was daran rütteln wollte, fürchtete und haßte sie vom Grund der Seele. Nichts war ihr schmerzlicher, als wenn Leo leicht davon sprach, etwa gar die eheliche Treue bewitzelte. Darüber, daß seine Schwester sich hatte scheiden lassen, kam Thekla nicht hinweg. Wie konnte eine Frau so etwas übers Herz bringen? Alles mußte eine Frau erdulden, ehe sie sich dazu bringen ließ, dieses Band zu zerreißen!

Wenn sie als Mädchen an das Verheiratetsein gedacht hatte, dann hatte sie wohl in der Schrankenlosigkeit der Jugend vermeint, daß der Mann, der ihr nicht alles sein könne, ihr nichts sein würde. – Auch das wußte sie jetzt anders. Menschen konnten einander viel sein, aber niemals alles.

74 Es gab so wenig Dinge, in denen Leo Rat oder gar Hilfe gebraucht hätte! Er war so sicher und überlegen, für ihn schien es Zweifel und Bedenken kaum jemals zu geben. Worin hätte sie ihm überhaupt helfen können? Denn selbst auf dem eigensten Gebiete der Frau, im Hauswesen, entschied er. Und so war es in allem.

Ganz für sich hatte sie eigentlich nur die Kinderstube. Wie lange würde sie das haben? So lange als Gerd ein Muttersöhnchen war! –

Und nun gar erst das äußere Leben: Geselligkeit, Beruf; da herrschte Leo unbedingt. Sie war froh darüber, sie wünschte es gar nicht anders. In der Gesellschaft wollte sie weiter nichts sein als die Gattin ihres Mannes. Und seinen Beruf hatte er erst recht für sich. Was er in den Stunden, die er auf dem Bureau zubrachte, treibe, ahnte sie nicht. Sicherlich verwendete er auf seine Arbeit den größten Teil seiner Kraft und seines Nachdenkens. Er sprach zwar nicht viel davon, weil er »das Fachsimpeln« haßte, aber daß er mit innerstem Interesse an diesen Dingen beteiligt war, merkte sie an vielen kleinen Zügen.

Er wünschte ja gar nicht, daß sie sich um die Staatsgeschäfte kümmere; »denn,« sagte er, »Frauen haben keinen Instinkt dafür!« Darum belästigte sie ihn auch niemals mit Fragen darüber.

Aber war es nicht doch unnatürlich, daß sie an einem so wichtigen Teile seines Lebens keinen Anteil hatte? Wie konnte sie ihm gerecht werden, wenn sie sein stärkstes Interesse nicht zu würdigen verstand? Die tüchtigsten Seiten seiner Natur kamen sicherlich hier zur Geltung, und die sah sie niemals in Thätigkeit.

Durch ein Erlebnis wurde Thekla diese Lücke ihres Zusammenlebens recht zu Gemüte geführt. Man hatte um einer notwendigen Besorgung willen das Städtchen 75 Wyraburg aufgesucht; dabei kam man an der größten, von den drei Fabriken des Ortes vorbei. Die Thür zum Kesselhaus stand offen, rot glühte die Heizung, an der der Feuermann eben mit langer Eisenstange krückte, im Maschinenhause sauste das mächtige Schwungrad, in den drei aufeinandergetürmten Etagen des Fabrikgebäudes sah man durch unzählige Glasfenster die Webstühle treiben.

Thekla machte unwillkürlich Halt. Staunend maß ihr Blick diesen ausgedehnten Mechanismus, der ihr wie ein großes, unheimliches Lebewesen vorkam.

»Möchtest du mal die Fabrik besichtigen?« fragte Wernberg.

Sie nickte. »Ich habe noch nie so etwas gesehen!«

»Den Spaß sollst du haben! Ich werde mein Inkognito brechen. Da wir bald abreisen, schadet's ja am Ende nichts!«

Er suchte nach Visitkarten und fand auch glücklich eine im Notizbuche. Dann hielt er den nächsten Arbeiter an, er wünsche zum Direktor geführt zu werden. Dem Direktor überreichte er seine Visitenkarte und fragte, ob die Besichtigung gestattet sei.

Der Mann las den »Regierungsrat« und den »Kammerherrn«. Natürlich war er bereit, alles zu zeigen, was man zu sehen verlangen würde. Im stillen freilich wunderte er sich, daß ein Herr mit solchen Titeln im Flanellanzug, losen Hemd und gelben Schuhen einhergehe. Aber der sicher selbstbewußte Ton, in welchem Wernberg nunmehr erklärte, was er von der Anlage zu sehen wünsche, versicherte den Beamten, daß er es hier wirklich mit einem großen Herrn zu thun habe.

Man fing im Maschinenhause an, durchschritt die Websäle, den Appreturraum, die Zwirnerei, die Lagerräume.

76 Der Direktor führte, die Erklärungen aber gab Wernberg; der Beamte konnte nur zustimmen.

»Leo, woher weißt du denn das alles?« fragte Thekla.

»Es wäre schlimm, mein Kind, wenn ich nicht mit allen Erwerbszweigen unseres Landes vertraut wäre! Dazu ist man Verwaltungsmann, um solche Dinge zu kennen!«

Der Direktor hatte inzwischen zu den Besitzern der Fabrik, zwei Brüdern, geschickt, die im Hause gegenüber wohnten, und sie wissen lassen, wer da sei. Die Herren kamen eiligst, um die Honneurs ihrer Anlage selbst zu machen.

Man beschloß den Rundgang in dem zu ebener Erde des Wohngebäudes gelegenen Büreau. Hier legten die Brüder einen Plan zur Erweiterung der Fabrik vor: Anlage einer Färberei und einer elektrischen Bleiche.

Wernberg ließ sich in ein längeres Gespräch mit den Fabrikanten ein, über Arbeiterverhältnisse, Löhne, Verdienst und Konjunktur. Die Brüder schienen rührige, intelligente Leute zu sein. Durch Wernbergs Interesse für ihre Unternehmung ermutigt, rückten sie mit immer neuen Plänen heraus.

»Wird es dir nicht zu viel werden, Thekla?« fragte Leo. »Das kann dich doch unmöglich interessieren!«

Aber Thekla bat inständig, er möge sich nicht abhalten lassen durch sie. Sie war ja so stolz auf ihren Mann! Wie hingen diese Leute an seinen Lippen! Wie huldigten sie seiner Überlegenheit! Endlich einmal bekam sie etwas zu sehen von seinem Können.

Schließlich legten die Brüder sogar die Akten eines Prozesses vor, in den sie wegen Wasserverunreinigung verwickelt worden waren, und baten den Herrn Regierungsrat um seinen Rat.

77 Wernberg vertiefte sich in das Aktenstück. Sehr bald war er im Bilde. Er erklärte ihnen, daß sie das Ding ganz anders als bisher anfassen müßten, wenn sie zum Ziele gelangen wollten. Der Rechtsanwalt, dem sie ihre Sache übergeben hätten, scheine nichts zu taugen. Wernberg gab ihnen an, welchen Weg sie beschreiten, welche Punkte sie hervorheben, auf welche Gründe sie sich stützen müßten, welche Forderungen sie fallen lassen könnten. Schließlich setzte er in Kürze ein Gutachten auf, um ihnen einen Anhalt zu geben.

Die Brüder verbeugten sich immer und immer wieder, als das Ehepaar schließlich aufbrach, und verfolgten den Herrn Regierungsrat mit ihren Dankesbezeugungen bis auf die Straße hinaus.

»Leo, das war schön!« flüsterte Thekla, noch ganz erregt von dem Erlebten, und drückte ihm den Arm.

»Hat dir's gefallen?«

»O, herrlich! Ich habe gar nicht gewußt, was für ein großartiger Mensch du bist!«

Ihr Lob that ihm ersichtlich wohl.

* * *

Man war von dem Ausfluge nach Wyraburg schon seit einigen Wochen zur Stadt zurückgekehrt. Leo Wernberg ging wieder täglich in's Ministerium. Gerd setzte seine Sprechübungen fort, zerbrach Spielzeug und zerriß Bilderbücher. Die Kinderfrau bedrohte ihn dafür mit Strafen, die aber von ihm nicht ernst genommen wurden. Hedwig kümmerte sich um die Garderobe der gnädigen Frau, und Karl sorgte für den gnädigen Herrn. Alles 78 wollte in die alten Gleise zurückkehren. Die Bekannten trafen wieder an, die Hofgesellschaft war ziemlich versammelt. Kleine Diners eröffneten, wie ein Geplänkel, die Geselligkeit. Man mußte auch schon wieder an die Schneiderin denken, um für die kommende Winterkampagne gerüstet zu sein. So schien denn alles so ziemlich wie im Jahre zuvor um dieselbe Zeit. Nur für Frau Thekla waren die Dinge von Grund aus gewandelt; sie fühlte sich Mutter.

Sie behielt das Geheimnis für sich, von einer Art abergläubischen Scheu befallen, ihr verschämtes Hoffen könne zu Schanden werden, wenn sie laut davon spreche. Sie wollte ihre Freude so lange wie möglich für sich haben; es war für sie ein Glück ohne gleichen.

Wernberg begann von Besuchen zu sprechen, die man machen müsse, ja, er drohte mit einem Diner, das er geben wolle.

Nun mußte Thekla also doch sprechen. Wie sie im stillen gefürchtet hatte, war es: er freute sich nicht über die Nachricht. Sich und ihr machte er Vorwürfe, sprach von »Unvorsichtigkeit«, ja von »Dummheiten«, die so alten Leuten, wie sie seien, nicht mehr passieren sollten. Während der nächsten Tage blieb seine Laune schlecht.

Thekla hatte stillschweigend angenommen, daß durch ihr Bekenntnis die Frage des Ausgehens für diesen Winter entschieden sei. Aber sehr bald sollte sie erfahren, daß Leo darüber anderer Ansicht sei.

»Die Santas wird heute kommen!« sagte er eines Morgens beim Kaffee. »Ich habe sie bestellt deiner Toiletten wegen. Mache aber, bitte, mit ihr noch nichts Definitives ab; ich will meine Ansicht dazu sagen. Die Sache wird ja diesmal besonders kompliziert!«

»Die Santas!« rief Thekla. »Was soll ich denn mit der?«

79 »Kind, sei doch nicht so schwer von Begriffen! Änderungen sind nötig. So lange es geht, wünsche ich, daß du ausgehst! Kein Mensch kann darin etwas Anstößiges finden. Die Landesmutter geht dir darin mit gutem Beispiele voran. Vierzehn Tage vor Prinz Arndts Geburt hat man sie noch auf dem Hofball gesehen. Und wegen der Schädlichkeit? Ich habe Doktor Rink gefragt. Der sagt: neuerdings sei man darin gar nicht mehr so ängstlich. Ich verlange nicht, daß du tanzt, aber im übrigen habe ich nicht Lust, mich in meinem Programm irgendwie stören zu lassen.«

Thekla sah ihn groß an. Langsam stieg ihr eine Röte vom Halse aufwärts, bedeckte ihr das Gesicht, bis unter die Haare. Es arbeitete etwas in ihr, sie schluckte daran; es wollte und mußte heraus.

»Leo, ich sage dir folgendes: ich gehe in diesem Winter in keine Gesellschaft, auch in die kleinste nicht! Der Santas laß lieber sagen, daß sie nicht kommen soll; ich müßte sie sonst abweisen. Und deinem Doktor Rink kannst du ausrichten . . . . . . Nein, ich will nicht ungerecht werden! Er ist eben ein Mann, und euch scheint alles gesunde Gefühl abzugehen.«

Wernberg musterte sie erstaunt. Das war doch nicht seine sanfte Thekla! Woher diese Gereiztheit? Was war denn mit ihr vorgegangen?

Dann entsann er sich, ähnliches im ersten Jahre ihrer Ehe an ihr erlebt zu haben. War es wirklich so, wie manche behaupteten, daß die Frauen nicht ganz zurechnungsfähig seien in diesem Zustande? –

Aber es war keine bloße Laune bei Thekla, wie er angenommen hatte. Sie ließ die Santas gar nicht erst vor. Was wollte er machen! Mit Doktor Rink durfte er ihr gar nicht mehr kommen. Und zwingen? – Nein, zwingen konnte er sie nicht!

80 Es war das erste Mal, daß Leo Wernberg sich dem Willen seiner Frau fügen mußte. Schwer genug kam es ihm an. ›Gut denn! Der Vernünftige giebt nach!‹ suchte er sich zu trösten. ›Aber wenigstens soll sie merken, wie langweilig das Alleinsein ist. Vielleicht bereut sie dann ihre Verrücktheit!‹

Er ging allein aus. An den Abenden, wo er keine Gesellschaft hatte, besuchte er den Club, der ihn, seit er verheiratet war, nur selten zu sehen bekommen hatte. Er hoffte, Thekla auf diese Weise »auszuhungern«.

Bei Thekla nahm die Mutter von vorn herein Besitz von allen Kräften, Gedanken und Fähigkeiten. Sie wußte es selbst nicht, aber sie war eine andere Frau geworden. Wie im Traume, in einer Art Dämmerung, lebte sie. Nicht zerstreut, matt, oder gleichgiltig war sie; tiefere Abziehung hatte sie. Sie war beschäftigt, nach Innen zu lauschen, wo etwas viel, viel Wichtigeres vor sich ging, als all das Treiben um sie her. Stundenlang konnte sie sitzen, mit leichter Handarbeit, die nur die Finger mechanisch beschäftigte, und lächeln. Aber kaum wußte sie, wem dieses Lächeln galt; es hätten ebensogut Thränen sein können. Wie Aprilschauer ging es über sie hin. Einem Schleier gleich lag es über den Dingen. Alles war im Entstehen, im Werden. Die Gegenwart schien so gleichgiltig und grau; aber wie eine Sonne, fernste Wolkenränder mit hoffnungsvollem Schimmer verbrämend, stand die Zukunft dahinter.

Sie war viel allein, fühlte sich aber niemals einsam. Selbst die nächsten Menschen: Leo, Gerd, Hedwig, erschienen ihr manchmal wie Fremde. Die Ereignisse kamen, zerflossen, machten kaum Eindruck. Es war ja alles so garnichts im Vergleich zu dem, was sie allein wußte. Es gab keine Bitterkeit, keine Sorge, keine Hast. Fromme Dankbarkeit erfüllte sie gegen alle Menschen und gegen alle Dinge.

81 Leo erzählte ihr dies und jenes aus der Gesellschaft: wie die Herzogin aussehe, was der Herzog gesagt habe, was für Toiletten die Damen trügen, welche Verlobungen man erwarte. –

Thekla hörte ihm lächelnd zu. Namen schlugen an ihr Ohr; sie besann sich, ihm zu gefallen, auf die Einzelnen. Wie Wandelbilder zog es an ihr vorbei, aber tieferen Anteil hatte sie nicht daran.

Eines Morgens, als sie zum Frühstück in's Eßzimmer trat – des Abends störte er sie jetzt nicht mehr mit Besuchen – rief Leo ihr entgegen: »Weißt du das Neueste? Lilly Ziegrists Fürstin ist gestorben. Lilly quittiert den Dienst als Hofdame, kommt hierher. Ihre Fürstin hat sie im Testament bedacht. Freust du dich nicht für sie? Ihr seid doch Freundinnen!«

Thekla mußte erst überlegen. Lilly Ziegrist! Waren sie Freundinnen? Ach ja, man konnte es vielleicht so nennen. Lilly! Wie lange war das her? Wie war auch diese Gestalt in ihrer Erinnerung verblaßt.

»Ich freue mich, daß sie kommt,« fuhr Wernberg fort. »Lilly ist ein belebendes Element in der Gesellschaft.«

»Und ich freue mich, daß sie nun in gesicherter Lage ist,« sagte Thekla. »Das wird sie ruhiger machen und zufriedener.«

»Sie wird heiraten, paß mal auf! Aber der Epouseur muß Haare auf den Zähnen haben!« Damit schloß Wernberg dieses Gespräch.

Übrigens erschien Lilly sehr bald in eigener Person. Thekla hatte sie seit einigen Jahren nicht gesehen. Lilly war stärker geworden, was eigentlich nicht gut zu ihr paßte. Sie trauerte um ihre Fürstin. Ihre Kleidung war einfacher, als man es von früher her an ihr gewohnt war.

82 Lilly bemerkte sofort Theklas Befremden und rief, noch ehe sie sich gesetzt hatte: »Ach, Kind, in unseren Jahren muß man anfangen, seriös zu werden. Du siehst, ich bin auf dem Wege zur alten Schachtel. Im übrigen gräme ich mich aber gar nicht, daß der Kelch des Eheglücks an mir vorübergegangen ist. Denn deinen Zustand, Thekla, das muß ich dir sagen, finde ich impossible, ja, ich finde ihn dégoûtant! Mir fehlen einfach die Worte dafür! Bitte entschuldige dich nicht! Ich schäme mich in deiner Seele.«

Glücklicherweise verließ Lilly dieses Thema. Sie sprach von der Geselligkeit, an der sie ihrer Trauer wegen nicht teilnehmen durfte; trotzdem war sie über alle Vorkommnisse auf das genaueste unterrichtet. Lilly beklagte Thekla, daß sie zusehen müsse, wie ihr Mann als lustiger Strohwitwer jeden Abend ausfliege, sie der Langeweile überlassend. Thekla meinte: das sei nicht so schlimm, sie habe sich noch keinen Augenblick gelangweilt.

»Weißt du, daß du ein gewagtes Spiel spielst, mein Kind?« meinte Lilly. »Man sollte einen Mann nie zu lange allein lassen. Und nun gar ein Courmacher von Profession, wie Leo Wernberg! Er könnte Gefallen daran finden, seine Garçon-Angewohnheiten wieder aufnehmen.«

Frau Thekla lachte. Lilly möge sich darum nur ja keine Sorge machen. Leo habe auch jetzt noch ein leicht bewegliches Herz, aber er sei immer selbst der erste, ihr zu berichten, ob ihm eine Dame gefalle.

»Daran erkenne ich meinen Wernberg!« rief Lilly. »Seine Schläue hat mir immer am besten gefallen an ihm! Natürlich, er weiß ganz gut, daß man einer Sache die Spitze abbricht, wenn man davon spricht. Aber, daß er dir von seiner neuesten Schwärmerei berichtet haben sollte, 83 bezweifle ich doch! Er will diesmal etwas hoch hinaus, der gute Leo!«

»Meinst du die Herzogin?«

»Ja, ich meine die Herzogin. Sagt er dir das auch?«

»Er hat sie immer reizend gefunden.«

»Natürlich! Sie ist ja unsere allverehrte Landesmutter, und es ist gewissermaßen Pflicht für den Patrioten, sie zu lieben. Folglich wäre die Sache ganz in Ordnung.«

»Lilly, wenn ich nicht wüßte, daß du Blödsinn redest, ich könnte . . . .«

»Nun was denn?«

»Ich könnte finden, daß du skandalsüchtig bist.«

»Das ist eine Beleidigung! Nun erzähle ich dir auch zur Strafe die Geschichte nicht, die ich weiß.«

Thekla war durchaus nicht neugierig, Lillys Geschichte zu hören. Nicht soviel gab sie auf das ganze Gerede.

Diese angebliche Freundin kam fortan öfters, um Frau Thekla in ihrer Einsamkeit Gesellschaft zu leisten. Lilly urteilte nach sich selbst, wenn sie annahm, daß man sich tödlich langweilen müsse, wenn man allein war.

Sie wollte sich eine Einrichtung anschaffen und für sich ziehen. Denn sie halte es auf die Dauer nicht aus, mit ihren Eltern zusammen zu leben; die plagten sie zu sehr mit Heiratsvorschlägen.

Für ihre Einrichtung wollte Lilly von Thekla allerhand Ratschläge haben. Schließlich nahm sich Leo der Sache an. Das schlug ja in sein Fach. Außerdem sei er das einer »alten Flamme« schuldig, sagte er, ihr beim Aussuchen der Ausstattung zu helfen.

Frau Thekla war im Grunde froh, daß sie Lilly auf diese Weise los wurde; instinktiv lehnte sie alles 84 Unerfreuliche ab in dieser Zeit der Vorbereitung, alles, was ihre nach Innen gerichtete Andacht störte. Lillys Art aber störte sie.

 


 


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