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Drittes Buch.
Die Nordwand


Sechzehntes Kapitel

Dreimal muß eines Mannes Herz gebrochen werden, bevor es im Takte mit der Schöpfung schlägt: von seinem Vater, von seinem Weib, von seinem Sohn. Dieses sind die drei Mächte, die er passieren muß, ehe sein wahrer Herzschlag da ist, zur Mitternacht, zur Mittagsstunde. Das wäre vielleicht die Formel gewesen, die Formel für die Gelassenheit, mit der Xaver Ragaz vor der Hütte saß und sein leises Gepfeife pfiff, während er auf das Abendessen wartete und in einem vergilbten Heftchen herumstöberte. Im Huflattichgestrüpp hinter der Hütte hatte er dieses vergilbte Heftchen gefunden. Der Teufel wußte, warum er's aufgehoben hatte! Er träumte drin herum, ohne daß sein Geist aufnahm, was die Augen lasen.

Drei gefährliche Mächte! Denn man trug sie mit sich, in sich drin, auch wenn das Herz bereits in andern Himmelsstrichen schlug. Denn man konnte sich nicht von ihnen trennen, auch wenn man endlich soweit war.

Wie weit?

Himmelherrgottsakrament, was war denn das für ein Schmarren, den er da herunterlas, Zeile um Zeile verschluckend wie einen Kinderbrei? Er beguckte die Titelseite. »Der evangelische Heidenbote, Monatsblatt der Missionsgesellschaft Basel.« Nichts dagegen zu sagen, habe die Ehre, habe die Ehre. Von Touristen weggeworfen, vor vielen Wochen schon, dem Datum nach. Das Papier war verregnet und ausgebleicht, aber noch sehr gut leserlich. Er las und pfiff und pfiff und las, das Abendessen schien noch lange nicht fertig zu sein, den Geräuschen nach, die aus der Hütte drangen.

Der Vater, der Sohn, das Weib. Der Ort des Vaters war eines Mannes eigenes Gehirn, was nutzte da Empörung oder Vatermord! Der Vater, dessen Vater, die Sitte seines Landes, seines Staates, seiner Zeit: in seiner Großhirnrinde war das alles aufgestapelt, das Erbe, das gefährliche Erbe, das sich nicht bannen ließ. Ja, die Vergangenheit, der große Wust, aus dem man kam, und die Erinnerung daran – hindurch, hindurch, das Herz daran gebrochen, doch hindurch!

Indessen lasen seine willigen Augen: »Nun ist in Indien zu unserem Malabargebiet auch Südkanara und Südmahratta in aller Form an Basel zurückgegeben worden. Riesengroß steht jetzt unsere Missionsaufgabe vor uns. Es wird eine weitere jährliche Ausgabe fordern, an deren Deckung wir zu schreiten haben.« Kein Wort dagegen zu sagen, vollkommen in Ordnung.

Der Ort des Sohnes war der eigene Wille. Ja, eines Mannes Sohn, das war sein Wahn von dem, was er im kommenden Geschlecht verkörpern wollte. Jedoch das kommende Geschlecht, o jemine, o Ideal, o Zukunftstraum, o Zukunftswille! Nichts anderes, als Platz gemacht zu kriegen, und daß die Alten in die Grube stiegen zur rechten Zeit, war dieses kommenden Geschlechtes Forderung. Es war ja doch nur immer wie in einem dichten Wald, drin nichts, als daß die Väterbäume stürzten, die grünen Sprößlinge begehrten, mit Recht, mit Recht, denn nur den Samen und den Moder konnten sie gebrauchen, das andere nahm nur Licht und Platz. Drum weg damit, weg mit der Sorge um die Söhne und um ihre Zukunft, das Herz zum zweitenmal gebrochen, doch hinweg damit – es war kein andrer Weg zur eigenen Gegenwart, als daß man alles Spätere sich selber überließ.

Nun war er auf der letzten Seite seines Heftchens angelangt, bei den Personalnachrichten. Die Verlobten und Getrauten, die Neugeborenen der Missionsgesellschaft Basel. Und das Abendbrot kam noch immer nicht? Manche auch hatten ihre Adressen gewechselt, zum Beispiel der Reverend Paul Klieber, der gute Mann. Der wohnte jetzt in Besongabang, Post Mamfese, via Calabar, Post Harcourt, British Cameroons, West-Africa, dort waltete er seines schweren Amtes. Alle Hochachtung, Herr Nachbar! Sehr erbaut, Sie kennenzulernen! Komme ich nach Besongabang, Post Mamfese, so werde ich gewiß nicht versäumen, Ihre Erbauungsstunde zu besuchen. Dann helfe ich Ihnen, die armen Heidenkinder zu erbauen. Und wer sich nicht erbaut, der wird verhaut.

Indessen, die gefährliche Macht, die dritte, von welcher eines Mannes Herz gebrochen werden mußte, das war sein Weib. Sein eigenes Weib, die Mutter seiner Kinder, wenn's geglückt war, die heilige Familie zu begründen; und wehe, alle Weiber dieser Erde, alle miteinander, wenn man allein geblieben war und ledig. Ja, immer wieder, ach, verriet ihn sein Geschlecht an den Urfeind, aus dessen Schoß er kam, zu dessen Schoß es immer wieder lockte.

Jetzt war der Heidenbote ausgelesen. Jetzt hörte man auch schon, daß in der Hütte das Abendessen auf das Servierbrett gerichtet wurde. Jetzt brach er sein Gepfeife ab und warf das Heftchen über das Verandageländer in den Huflattich zurück. Dreimal mußte eines Mannes Herz gebrochen werden, vom Vater, vom Sohn, vom Weib, nicht vom Freund! Der lebte in der gleichen Zeit wie er. Der lebte in dem gleichen Takt wie er.

Ganz anders als die Väter und die Weiber und die Söhne belebte der die gleiche Gegenwart wie er: wenn es geglückt war, wenn es soweit war, wenn die Entdeckung, die gewaltige, der Gegenwart, gelungen war, wenn die zwei Symplegadischen Felsen, die zermalmenden, Vergangenheit und Zukunft, stillestanden durch einer Freundschaft bannenden Gesang, wenn eines Mannes Herz zu eines zweiten Mannes Herz, dreimal gebrochen dies und jenes, im wahren Takte mit der Schöpfung schlug, zur Mitternacht, zur Mittagsstunde. Er musterte das Brett, auf dem nun Philipp Glenn das Essen auftrug. Natürlich hatte er sofort die bauchige Flasche zwischen dem Geschirr entdeckt. »Ausgeschlossen, daß wir heute den Burgunder trinken! Sind Sie wahnsinnig? Tun Sie das Zeug nur gleich wieder weg!«

Glenn meckerte ein kleines Lachen und deckte den Tisch, ohne sich um die Kritik, die sein Arrangement fand, zu kümmern. Die Suppe war bereits in die zwei tiefen Teller aus blauer Emaille eingefüllt. Sie mußte sofort gegessen werden. Sonst wurde der zweite Gang kalt, die weich gekochten Eier, welche, in eine Serviette gehüllt, gleich mitgebracht worden waren. Der dritte bis siebente Gang wurde auf frisch gepflückten Huflattichblättern serviert: Butter, Kresse und Radieschen, Wurst und Käse. Aber das Brot mußte man sich selber schneiden, der dicke Laib ruhte inmitten aller Dinge auf dem blanken Tisch.

»Sehr schön«, sagte Xaver und setzte sich mit Appetit zurecht, »aber der Wein ist ein Skandal. Ausgeschlossen!« Glenn war dabei, die Flasche zu entkorken. Es war ein eifersüchtiger alter Pfropfen, doch es gelang, er kam heil heraus. Da aber keine Gläser da waren, mußte der Trunk in zwei emaillierte Kaffeebecher gegossen werden.

»Das auch noch«, rief Xaver, »pfui Teufel! Ich rühr das Zeug nicht an. Was soll denn das? Sie wissen doch, daß das eine ausgesprochene Sabotage unsrer morgigen Tour bedeutet?«

Glenn, ohne zu antworten, holte sich aus der Hütte einen Hocker, nahm an dem freien Tischende Platz, vis-à-vis von dem Freund, mit dem Rücken gegen die Landschaft, und trank sogleich seine Tasse mit einem gierigen Schlürfer leer. Er war eine geschlagene Stunde lang am Herd gestanden, nur für diese Suppe. Dafür war es aber auch ein Kunstwerk geworden. Das trübe Zeug, das Xaver kochte, war Jauche im Vergleich mit dieser Suppe. Eine Ochsenfleischbrühe von Gottes Gnaden, mit Schnittlauch und Rosmarin, Thymiankraut und Petersilie, Zwiebeln und Pilzen. »Schimpfen Sie nicht«, sagte er, »schmecken Sie erst mal, wie das schmeckt.« Er löffelte los, während der andere noch auskühlen ließ. »Wunderbar! Das muß gefeiert werden! Alles andre wird sich historisch entwickeln, aber so eine Suppe gibt's nur einmal in jedem Menschenleben.«

Doch Xaver gab nicht nach. Er rührte zornig in seinem Teller herum und machte ein böses Gesicht. »Mit einem Wort«, sagte er, als der andere sich den zweiten Becher voll Wein goß, »Sie wollen nicht?«

»Natürlich will ich«, sagte Glenn und trank.

»Gut, trinken wir Burgunder, feiern wir die großartige Suppe, begraben wir die Nordwand – morgen wird gefaulenzt.«

Glenn schlürfte erst an dem Becher, dann an dem Suppenlöffel.

»Und übermorgen wird auch gefaulenzt! Zwei Tage sind kaputt durch diesen Alkohol – schlürfen Sie nicht so gemein!«

»Ich schlürfe«, sagte Glenn.

»Sie haben noch immer keinen Dunst vom Fels, mein Lieber! Talent haben Sie, trainiert sind Sie, aber deswegen brauchen Sie noch nicht frech zu werden. Die Nordwand ist etwas anderes als der Zinkengrat, das müssen Sie mir glauben, wenn ich Sie wirklich hinaufschleppen soll. Das gäb ja eine nette Blamage, mit diesem schweren Wein im Bauch! Selbstmord! Ausgeschlossen! Die morgige Tour fällt aus, Schluß! Zwei Tage ohne Alkohol, bevor wir's anpacken, das ist das mindeste.«

Er war richtig verärgert. Er hatte bereits alle Vorbereitungen getroffen – für die »königliche Tour«, mit der diese »verzauberten Wochen« abgeschlossen werden sollten. Es war echt Glenn, mit einer Weinlaune die ganze alpine Ökonomie umzustoßen. Sie hatten nur noch wenige Tage Zeit. Und sie hatten sich nun einmal in den Kopf gesetzt, mit der Nordwand abzuschließen. Glenn war ein sehr gelehriger Schüler im Fels gewesen, aber die Nordwand ging selbstverständlich über seine Kraft. Er hatte offenbar noch immer nicht begriffen, daß er dort an vielen Stellen nachgeseilt werden mußte wie ein Sack, wie der Rucksack mit den Photographenapparaten. Nur daß er dreimal soviel wog als der Rucksack, der das letztemal durch diese Wand geseilt worden war, und daß die Verantwortung für ihn größer war als für die Apparate und Filme. Sollte der Wein bedeuten, daß die »königliche Tour« ausfiel? War's ein Wink, den Plan aufzugeben?

Glenn schien es zu erraten. »Ich hab keine Angst«, sagte er. »Das heißt, ich hab natürlich Angst«, verbesserte er sich freimütig, »warum soll ich Ihnen etwas vormachen? Außerdem ist's ein aufgelegter Blödsinn. Aber gemacht wird's doch! Ich will mit Ihnen drinstecken, in der Wand, die Ihnen von allen Wänden am nächsten liegt. Ich will mich von Ihnen hinaufzerren lassen, und wenn Sie Blut schwitzen müssen. Wir wollen das Luder aus Kalk schon zusammen bespringen und singen machen. Und wenn's wirklich wahr ist, daß diese Tour Ihr großes Adieu an die Wandkletterei werden soll, weil der Alterskomplex Sie zwickt – so will ich erst recht dabei sein.«

Er brach ab und ärgerte sich über seine Sentimentalität und über den ganzen Nordwandplan. Was ging ihn Xavers fixe Idee an? Daß die alpinen Kräfte bei einem Mann von dreiundvierzig Jahren zu Ende gingen, daß man rechtzeitig Schluß machen müßte, daß dieser Schluß jedoch eine Krönung sein müßte, ein Fest, das den Fels zum Singen bringen müßte, und ein Alleingänger brächte nichts zum Singen, aber zwei Freunde vermöchten es – ein sentimentaler Spleen war's. Blödsinn, drauf einzugehen.

»Ich träume bereits von dieser Affenwand«, schrie er Xaver an, ohne sich zu genieren, daß seine Stimme in die Fistel kippte. »Zum Kotzen, eine fixe Idee, nichts weiter. Ich will Wein trinken heute abend, ich lasse mir nichts verbieten.«

»Trinken Sie Wein, soviel Sie wollen, Sie Idiot«, sagte Xaver. »Ich verbiete Ihnen nichts. Ich sag nur, daß die Tour ausfällt.«

»Dann werden wir uns halt ein paar Tage später den Hals an Ihrer fixen Idee brechen! Und der Fels wird genau so stumm sein wie zuvor, ob wir's morgen oder übermorgen tun.«

»Gut, Schluß«, sagte Xaver, »es ist vorbei mit der Nordwand, ich verzichte. Vielleicht schleppt Sie der Herr Ploner hinauf, wenn Sie's nicht aufgeben wollen.« Er machte sich über die Suppe her. »Was ist denn da drin? Lauter ganz geheimnisvolle Kräuter? Wirklich gut.« Aber es klang ein wenig heiser.

Sie aßen schweigend, bis auf dem Grund des blauen Emailles die wohlbekannten Bilder auftauchten, bei Xaver eine Ruine, bei Glenn eine Lokomotive. Dann aßen sie ohne Lust die Eier. Dann trug Glenn die zwei Suppenteller in die Hütte und brachte zwei Holzteller für den nächsten Gang.

Er ärgerte sich selber. Ob's ein Spleen war oder nicht, es war die größte Freude, die er seinem Freund und Führer bereiten konnte. Und trotzdem er ein wenig bange war, er würde selber große Freude dran haben, Freude in der Wand, Freude in der Erinnerung daran, wenn sie sich gleich danach, wie geplant war, trennen würden, um wieder ihre eigenen Wege zu gehn.

»Der Wein sollte wirklich keine Absage an die Nordwand bedeuten«, brummelte er, während er die Kresse und die Radieschen schnitt. »Es war wirklich nicht, um's zu sabotieren oder aufzuschieben.«

»Aufgeschoben ist's zum mindesten durch diese Sauferei«, sagte Xaver eigensinnig. »Das hätten Sie sich selber denken können, so weit sollten Sie als Alpinist schon sein.«

»Schieben wir's halt zwei Tage auf, wenn Sie tatsächlich glauben, das bißchen Alkohol schmeißt uns um. Ich bleib so lange hier, bis es geschafft ist, das schwör ich Ihnen, darüber will ich kein Wort mehr hören.«

Ragaz präparierte sein Kressebrot, ohne zu antworten.

»Wir machen es, wir machen es! Wenn das Wetter schlecht wird, bleibe ich noch sechs Wochen hier, bis es soweit ist. Aber wenn uns grade heute die wahre Suppe gelungen ist und der Wein gut schmeckt, du alter Schulmeister? Die Nordwand läuft uns nicht davon, aber dieser Abend läuft uns davon – halb ist er uns schon davongelaufen, merkst du's nicht?«

»Richtig«, sagte Xaver, » allright.« Der andere hatte in einem Ton gesprochen, gegen den nichts zu machen war. Die Nordwand war tatsächlich nur ein Spleen und die alpine Ökonomie nur eine Schulmeisterei im Vergleich mit diesem Ton. » Allright, wirklich wahr, ganz egal.« Er begann Wein zu trinken. »Die Suppe war toll, besten Dank, Sie sind die geborene Herrschaftsköchin.«

Sie gaben sich einen Handschlag über den Tisch hinüber, und der Streit war aus der Welt geschafft. Sie tranken, aßen sich voll, schimpften über die Weiber, lachend, und hielten die Dämmerung, die jetzt über die Alpen heraufkam, mit beiden Händen fest.

Es war Juli, Juli im Ladiz, die alte Ladizer Alm war ihr Quartier. Seit drei Wochen hausten sie hier. Nach dem Tod der Fanny Purgasser – Glenn hatte den Leichnam nach Windbach gebracht und war von dort aus nach Berlin zurückgekehrt – Xaver war im Ladiz geblieben und hatte an seinem Buch über »Erdvereisungen« gearbeitet –, seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehn. Hie und da hatten sie sich ein paar nichtssagende Zeilen geschrieben, über ihre Arbeiten, über ihre Geldverhältnisse, über das Wetter, das war alles gewesen in diesen vier Monaten. Dann hatten sie sich mittels zweier Postkarten geeinigt, im Juli zusammen zu sein.

Sie standen beide vor einem schweren Wechsel ihrer äußeren Lebensbedingungen. Glenn hatte mit seinen neuen Bildern Erfolg gehabt und ein paar Aufträge angenommen, die ihn für mehrere Jahre banden und zu einem Kunstbeamten machten. Xaver, nachdem er mit seiner letzten wissenschaftlichen Arbeit habilitiert worden war, hatte Aussicht, einen Lehrstuhl für Geologie zu erhalten. Ja, es war bei ihnen beiden zu Ende mit der freien Herumstreunerei. »Ich werde mich jetzt«, so drückte Glenn es aus, »nachdem ich lang genug hin und her gerutscht bin, mit beiden Hinterbacken auf den Thron des Lebens setzen und malen und malen und malen.« Und Xaver mußte Fels und Eis aufgeben, wenn er kein alternder Sportsbubi werden wollte. Zwei schöne Angebote dieses Frühlings – einen alpinen Film, eine deutsch-englische Himalaja-Expedition – hatte er ohne Besinnen zurückgewiesen, weil sich's um eine rein sportliche Tätigkeit gehandelt hätte. Nein, es war höchste Zeit, dem Sport adieu zu sagen. Die alten Herrchen, die auf den Tennisplätzen Linienrichter machten, die Starter bei den Langläufen, die Punktrichter auf den Sprungschanzen, die klapperigen Habitués auf den Rennplätzen und in den Engadiner Hotelkästen, die mit zweiundzwanzig Jahren abgebauten Boxer, die mit fünfundvierzig Jahren abgebauten Kletterer – die ganze Welt war voll von diesen warnenden Gestalten, den kummervoll alternden Boys, die aufs falsche Pferd des Lebens gesetzt hatten, auf die ewige Jungenshaftigkeit. Wenn's ihm gelang, einen Lehrstuhl in München zu erhalten, konnte er das lärchene Haus im Ladiz beibehalten, indem er zu seinen Vorlesungen, zwei, drei Male in der Woche, mit einem kleinen Auto in die Stadt rutschte. Und wenn man ihn weit hinaus ins Tiefland berief, dann mußte es auch sein, dann blieb Terese mit den Kindern allein zurück. Dann kam er nur noch in den Ferien zu ihnen – herzlicher willkommen, als wenn er ihnen immerzu auf der Pelle hockte mit seiner überschüssigen Kraft.

Hatten sie also resigniert, die zwei streunenden Freunde? Im Gegenteil! Erst durch ihre Freundschaft waren sie soweit gekommen, ihre nihilistische Streunerei aufzugeben und den großen Hader mit der Welt zu begraben. Sie waren nicht mehr einsam, sie wußten sich zu zweit, ob sie zusammen hausten oder ganze Erdteile sie trennten, also hatten sie der Menschheit endlich Amnestie geben können. Ja, die große Amnestie war gegeben worden, die gegeben werden mußte, was für eine Menschheit es auch war, in der man steckte. Denn Könige, die einen Thron erobert hatten, nicht anders konnten sie beginnen mit der Herrschaft, als mit einer großen Amnestie.

Aber vor diesem einschneidenden Wechsel, vor dem Hinüberwallen in die zweite Hälfte ihres Lebens, hatten sie sich noch diese gemeinsamen Almwochen gegönnt. Es war ein gegenseitiges Geschenk, verschieden in der Art, doch gleich im Wert, und ohne eine Spur von dem gefährlichen Prestige- oder Revanchegift, das sonst an menschlichen Geschenken haftete.

Einmal kochte Xaver, einmal kochte Glenn. Die Kasse war gemeinsam. Der Führer im Fels war selbstverständlich Xaver, der geistige Führer war Glenn. Der Schimpfer auf den Touren war Xaver, der Schimpfer im Haus war Glenn. An Xaver war bedrohlich seine massive körperliche Überlegenheit: dafür gab er in allen Dingen willig nach, demütig oft. An Glenn war manchmal noch die übertriebene Sucht nach Wahrheit zu verspüren, mit welcher die Pygmäen und die Zwerge, die Analytiker und Literaten, des Lebens runden Sinn zersetzend, sich und die Freunde quälen: dafür verfügte er zuweilen über einen melancholischen Scharm des Lächelns, der bezauberte, und über eine rührende Geste, welche jeden Widerstand besiegte, und über ein paar kleine Worte, durch die er die zersetzten Welten wieder reparierte, so daß sie auferstanden, lebendiger als zuvor, aufschwebend in den Äther wie ein grüner Luftballon.

Die alte Ladizer Alm war schon seit Jahren außer Betrieb, seit dem Bau der neuen Almhütte. Die lag zweihundert Meter talwärts von hier. Dort war der Senn und das Vieh der drei Plonerbauern untergebracht. Von dort auch holten sie Milch, Butter, Käse sowie die Suppenkräuter aus dem wuchernden Almgarten. Die alte Alm hier gehörte ebenfalls den Plonerbauern, Xaver hatte sie um billiges Geld für ein paar Wochen gemietet. Der Stall war zerfallen, aber das Haus war noch fest. Das Parterre bestand aus einer geschwärzten Wohnküche. Daneben war eine Kammer, in der Glenn schlief. Droben, auf dem Heustock, hinter einem luftigen Verschlag, war ein zweites Zimmer eingebaut, dicht unterm Schindeldach, dort schlief Xaver.

Drüben, gleich bei der neuen Ladizer Alm, lag die Mulde, die Mulde der Fanny Purgasser. Sie sprachen nicht mehr davon, es war vorbei. In einer andern Mulde, zwischen den zwei Almen, war ein kleiner Teich, entstanden durch eine künstliche Stauung des Baches, da konnten sie baden. Der Zugang war sehr schlammig, so daß man schmutziger herauskam, als man hineingetapst war; aber in der Mitte des Beckens war felsiger Grund und klares hartes Wasser.

Hie und da badeten auch Touristen dort und zerjohlten die mittägliche Stille. Das kam, weil der Weg zum Unterkunftshaus des Alpenvereins an dem Teich vorüberzog. Das Unterkunftshaus selbst lag zwanzig Minuten bergwärts, hinter einer schroffigen Rippe, man konnte es nicht sehn von hier. Dort war der Almboden zu Ende, es kamen die Trümmerfelder, die Kare. Und dahinter stiegen die Wände hoch, die kahlen, zu denen sie an jenem Abend herübergeblickt hatten, vom Joch aus. Jetzt aber kletterten sie drin herum, auf vielen Routen, um den Fels zum Singen zu bringen.

Der Burgunder war eine Spende von Papa Fergus. Der war einen Nachmittag lang ihr Gast gewesen. Er hatte sich Terese und den Kindern angeschlossen, welche mit dem Knecht, der den Proviant brachte, einen kleinen Einguck auf der Alm gehalten hatten. Terese war sehr froh über den Betrieb in der »Räuberhöhle«, wie Papa Fergus es nannte. Sie fühlte, daß die große Amnestie, mit der diese Freundschaft begründet worden war, auch ihr und den Kindern zugute kam. Sie war beglückt, ein paar Sommerwochen lang allein im lärchenen Haus zu sein. Manchmal ging sie ins Pürschhaus, denn mit Papa Fergus hatte sie einen kleinen Alten-Herren-Flirt, der sehr nett und beruhigend war. In der nächsten Woche kam Franki auf einige Wochen zu Besuch. Sie wünschte, es möchte recht lange Zeit so bleiben. Und während der paar Stunden, die sie auf der Alm verbracht hatte, war sie bewirtet worden wie die Prinzessin bei den sieben Zwergen hinter den Bergen. Aber als man nun schon bei der dritten Flasche Burgunder angelangt war, ein wenig betrunken, und bereits ganz fürchterlich über die Weiber geschimpft hatte, über die Weiber der ganzen Welt, die heroischen und die schwülen, die lyrischen und die sachlichen, die blonden, die dunklen, die kastanienroten, die heißen, die kühlen, die temperierten, die feuchten und die trockenen, die mütterlichen und die frechen, die Köchinnen und die Amazonen, da sagte Glenn: »Wollen wir mal hinüberschaun? Zu den zwei Hürchen?«

»Meinetwegen«, sagte Xaver, lachte ziemlich blöd und stand sofort auf.

Sie holten ihre Jacken und Mützen und marschierten zum Unterkunftshaus hinüber, ohne ihre Behausung abzuschließen.

Die »zwei Hürchen« waren zwei Touristinnen, die am Nachmittag in ihrem Teich gebadet hatten. Sie hatten sie noch nicht aus der Nähe gesehn. Den Figuren nach waren es zwei frische junge Frauen oder Mädchen. Es war sehr nett gewesen, daß sie den Platz zum Anziehn ihrer schwarzen Trikots mit großer Keuschheit gesucht hatten, nachdem sie die Männer vor der Alm entdeckt hatten. Einen schlimmen Weg über spitze Steine hatten sie mit bloßen Füßchen gehn müssen, nur weil am Rand des Teiches kein Felsen oder Strauch zu finden gewesen war, der sie beim Kleiderwechsel genügend verbarg. Und am Teich hatten sie lustig gekreischt zuerst, weil das Wasser kalt war, und lustig gejauchzt sodann, ein ehrliches Jauchzen, nachdem sie drinnen waren. Sicherlich waren sie danach zum Unterkunftshaus gegangen, um zu übernachten? Sollte man sie dort versauern lassen? Zwischen den älteren Damen mit den Heidenboten und den Sportbubis? Oder einsam und allein, wenn das übliche Publikum nicht da war? Warum sollte man sie nicht mal aus der Nähe begucken, nachdem man zweiundeinhalb Flaschen Burgunder getrunken und das weibliche Geschlecht bereits abgetan hatte, gründlich ermordet, so daß man gefeit war? Und die morgige Tour war nun doch schon einmal abgeblasen.

Es war ein schöner Weg, um diese Stunde, zum Haus hinüber. Der Mond, drei Viertel voll, war schon gekommen, doch auch vom Licht der Sonne war noch etwas da. Das gab ein Zwielicht, wie man's träumt, wenn man genug hat von den wirren Bildern eines langen Halbschlafes und endlich in den tieferen Schlaf hinüberwallt und landet auf dem Nordpol eines anderen wärmeren Planeten. So war's, um diese Stunde, Zwielicht, Orpheus in den Alpen, der Karwendel-Orpheus, der Ladizer Orpheus –

oder auch, des Oäger Sohn, der thrazische Orpheus,
welcher die Felsen und Eichen bezaubert, das strömende Wasser,
samt dem weidenden Vieh, samt dem wirbelnden Schnee;
oft auch saß er im Wald und besang seinen Freund,
denn das Leben war nichts ohne männliche Freundschaft.
Aber die thrazischen Weiber erschlugen den thrazischen Orpheus,
weil er zuerst den thrazischen Männern gezeigt hat,
daß eine reine männliche Freundschaft mehr ist
als der weiblichen Liebe Genuß und Getu;
drum verschworen sie sich, umringten ihn, schnitten ihm mit den Küchenmessern das Haupt ab,
nagelten mit verrosteten Nägeln das herrliche Haupt
an seine thrazische Geige, das Instrument seiner Lieder,
und versenkten die Fracht ins thrazische Meer.
Doch was geschah? Der Schwall der schwärzlichen Wogen
trug die genagelte Fracht verzaubert dahin,
und die Saiten der Geige tönten und wiesen den Weg,
nordwärts, an ein Gestade mit anderen Männern;
die begruben das orphische Haupt und die orphische Geige,
ihnen gehört seitdem das orphische Lied.
Aber die thrazischen Männer, als sie dahinterkamen,
was die thrazischen Weiber dem Freund getan?
Ja, sie brüllten vor Weh, sie rächten den Freund,
sie tätowierten die Weiber mit scheußlichen Zeichen,
sie behingen die Weiber mit schundigem Plunder,
noch als Matronen mußten die Weiber es tragen,
Sühne für Orpheus, ehrlos bemalt und behängt.
Also zeichnen auch heute die Weiber sich noch,
Sühne für Orpheus, mit allerlei Schminke und Plunder,
guckt sie nur an! Nur der uralte Grund ist vergessen.
Aber die thrazische Geige tönt aus dem Grab wie zuvor.


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