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Drittes Kapitel

Im Pürschhaus gab es an diesem Mittag zwei Sensationen, durch welche die Aufmerksamkeit von dem Flirt Quendel-Glenn abgelenkt wurde. Erstens war der Hund von Frau Waag, ein Foxterrier und allgemeiner Liebling namens Clownchen, von dem Hund des Doktor Ragaz halb tot gebissen worden. Er lag, als man sich zum Mittagessen auf der Veranda versammelte, auf einem Kissen in der Ecke unter dem Gong, winselnd und zitternd. Die Schale mit Milch, die daneben stand, rührte er nicht an. Die Gäste des Herrn Fergus standen um ihn herum und sagten in den verschiedensten Tonarten: »Clownchen!« Und als kurz darauf Herr Fergus erschien, wie immer als letzter, und die Vorspeise aufgetragen werden konnte, bekam man die zweite Sensation zu hören, welche ebenfalls mit Doktor Ragaz zusammenhing. Der war, während sein Köter das Unheil mit Clownchen angestellt hatte, beim Onkel Fergus gewesen – ein ganz offizieller Besuch in dem kleinen Büro im ersten Stock, wo die Ferienkorrespondenz mit der Reederei diktiert wurde – und hatte Einspruch erhoben gegen die Ausgrabungen in den Gruben des Alten Mannes. Und zwar in einer ebenso unberechtigten wie flegelhaften Weise. Sein Köter hatte noch ein gewisses Recht auf seiner Seite gehabt, da er von dem tapferen Clownchen, der die Rasse der Schäferhunde haßte, zuerst angegriffen worden war. Aber seine eigene Attacke gegen das friedliche Pürschhaus war vollkommen sinnlos. Und die Art, wie er als Vorbesitzer der alten Gruben und als Diktator von ganz Ladiz aufgetreten war, war einfach unverschämt gewesen.

Es gab gebackenes Kalbshirn mit Toast, Forellen blau, panierte Schnitzel mit grünen Erbsen, rote Grütze. Es waren da: Herr Fergus und sein jüngster Sohn Herald, Herr und Frau Waag, Professor Stettenheimer, Nora Pleß, die Ouendel und der Glenn. Frau Fergus aß mit ihrer Krankenschwester auf ihrem Zimmer. Sie litt seit vielen Jahren an rheumatischen Lähmungen, die sie wie ein Engel ertrug. Man hörte das Radiokonzert, welches sie zum Mittagessen angestellt bekam, vom ersten Stock herunterklingen.

Während man auf der Veranda gute Ratschläge an Frau Waag erteilte – Herr Fergus wollte sofort dem Tierarzt telephonieren, aber Professor Stettenheimer behauptete, bei einem Tier ginge nichts über das eigene Ausschlecken der Wunden – und während man die Drohungen des Doktor Ragaz juristisch festnagelte und lächerlich machte, tönten aus dem Krankenzimmer aufgeregte Orchesterklänge herab. Und eine Stimme aus dem Jenseits berichtete, daß die schöne Witterung von Bestand bliebe, weil über Island noch immer weiß der Teufel was los wäre.

Es lag ein furchtbarer Haß in der Stimme dieses meteorologischen Berichterstatters, wie in allen Radiostimmen. Sein tiefster Wunsch war, wie der aller Radiomenschen, seine Zuhörer mit seinen elektrischen Wellen zu ermorden, damit die Entleerung der Erdkugel schneller vor sich ginge. Es ging ihm zu langsam, er fürchtete das große Ende nicht mehr mitzuerleben, das war es, was seiner Stimme diesen mörderischen Klang verlieh – aber das war nur Philipp Glenns Eindruck. Die andern Gäste merkten nichts davon und aßen harmlos und vergnügt ihren Lunch zu Ende.

Sie waren alle auf einer weiten Reise. Sie glaubten, sie säßen als die Gäste des lieben alten Fergus im sonnenbestrahlten Tal von Ladiz, zur Erholung von den Geschäften wie Herr Waag, zu wissenschaftlichen Arbeiten wie Professor Stettenheimer, zum Flirt wie Nora Pleß, auf der Suche nach dem Tristan wie die Quendel, aus Pietät gegen die Mama und um Geld aus dem Papa herauszuholen wie der junge Herald, aber das war nicht wahr. In Wirklichkeit waren sie auf einer viel weiteren Reise, als sie selber ahnten. Man sah es ihnen deutlich an, ihnen allen. Sie waren unruhig und rastlos, sie alle. Sie hatten ihre Bündel gepackt, ihre Siebensachen, fest verpackt und verschnürt. Ein bißchen kleines Gepäck hatten sie bei der Hand, aber ihr großes Gepäck war so fest abgeschlossen, daß es ihnen selber nicht mehr zugänglich war. Wie es eben nur bei Leuten der Fall ist, die sich auf einer ganz großen Reise befinden.

Wohin? Wohin? Wer hatte sie abberufen? Wer zwang sie, ihr großes Gepäck unberührt zu lassen und nur von dem kleinen Gepäck zu leben? Von der Hand in den Mund, von heute auf morgen, ständig marschbereit und ruhelos? Bis sie schließlich ihr großes Gepäck selber ganz und gar vergessen hatten? Aber auch dies war nur wieder Philipp Glenns spleeniger Eindruck, sie selbst waren im Ladiz und nirgends sonst, sie wußten nichts von einer andern Reise. Und als der Kaffee aufgetragen wurde, die Kerze mit den Zigarren und den Zigaretten, war die Unterhaltung so prächtig im Schwung, wie man nur wünschen konnte.

Joseph Fergus gehörte zur Rasse der Hansa. Seine Ahnen waren an der Nordsee aus dem Sattel gestiegen, um unter dem windgeblähten Segel eine bessere Heimat zu finden als in den barbarischen Steppen und Urwäldern, die sie bisher durchritten hatten. Noch der Großvater hatte Segelboote laufen lassen. Noch der Vater hatte die Reederei als alleiniger Herr von seinem drehbaren Kontorstuhl aus geleitet. Doch Fergus selbst war nichts anderes mehr wie Generaldirektor, Aktionär, ehrbarer Kaufmann. Im übrigen war er vierundsechzig Jahre alt, ein glücklicher Vater und Ehegatte, gesund und rotbäckig, ohne Bauch, doch ziemlich klein von Statur. Seine Weltanschauung war die des guten Organisators, sie deckte sich mit der Religion der andern erfolgreichen Männer jener Zeit. Es ließ sich alles organisieren, die Reederei und der Haushalt, der Stuhlgang und der liebe Gott, nur immer ruhig Blut. Ein entzückender Gastwirt, vom weiß bereiften Scheitel bis zur Kreppgummisohle.

Herr und Frau Waag waren Geschäftsfreunde von ihm, im gleichen Alter, von der gleichen Rasse. Nur daß sie mit Chilesalpeter handelten und kinderlos waren. Frau Waag war durch diese Kinderlosigkeit etwas weniger angenehm als Frau Fergus, der Engel. Sie bemutterte ihre ganze Umgebung in einer ziemlich infamen Weise, und es entstand durch ihr dauerndes Mitgefühl viel Klatsch. Außerdem hatte sie ein ganz persönliches Verhältnis zum Himmel und zum Leben nach dem Tode, welches sie besonders der jungen Generation aufzudrängen versuchte, ohne sich selber klar darüber zu sein.

Ganz anders Professor Stettenheimer, der alte Arzt und Familienfreund der Fergus. Der war sich über den Himmel und das Leben nach dem Tode vollkommen klar, aber der verstand es, sein schwarzes Geheimnis zu hüten. Er war Ende der Fünfzig und Jude. Auch er hatte sich von dem Glauben seiner Väter abgewandt. Doch während die Fergusschen Ahnen vom Sattel ins Segelboot gestiegen waren, vom Segelboot auf den drehbaren Kontorstuhl, von dort in die Telephonzelle und in die Generalversammlung, waren die Stettenheimerschen Väter zu Fuß durch die Wüste gezogen, in dunkelfarbigen Lumpenkleidern durch das bunte Spanien, durch das süße Frankreich, durch das domebauende Deutschland, nach Rußland und über den Ozean, immer im verschabten schwarzen Trauerkleid, dem Kleid der Wüste. Dreitausend Jahre lang hatten sie an dieser pessimistischen Mode festgehalten, und jetzt hatte die Zeit ihnen recht gegeben. Jetzt war die Wüste über die ganze Welt gekommen. Jetzt waren sie keine Außenseiter mehr. Jetzt hatte sich der Unterschied der Rassen verwischt, in Chikago und in Moskau, in Schanghai und selbst in Bremen. Professor Stettenheimer hatte keinen Grund mehr, aus seiner uralten Abstammung eine Besonderheit zu machen, eine Besonderheit der Schläue oder der Melancholie. Es war zu Ende damit, zu Ende mit Leid und Lust seiner Väter. Im übrigen war er ein wunderbarer Arzt, der die ganze moderne Wissenschaft beherrschte, ohne sich seinen natürlichen Instinkt von ihr verschütten zu lassen. In den Ferien arbeitete er an den medizinischen und geschichtlichen Liebhabereien, zu denen ihn seine große hausärztliche Praxis nicht kommen ließ. Zur Zeit war es ein Buch über den Wandel der menschlichen Ernährung, ein Thema von hohem Rang. In weiten Gegenden Rußlands gab es keine Tuberkulose, weil man dort sehr viel Hirse aß; die römischen Legionen waren während ihrer besten Zeit fast nur mit Grünkernbrei ernährt worden; in England war das gebackene Brot viele Jahrhunderte lang unbekannt geblieben; es gab überall die besten Gegenbeispiele für unsere falsche Verfressenheit und unsre vergifteten Dickdärme.

Nora Pleß aber war nichts weiter wie eine süße kleine Maus, die auf dem Tennisplatz herumpiepste und mit Herald Fergus flirtete. Der war Student in Berlin und hielt sich für einen großen Revolutionär, weil er die entgegengesetzten Zeitungen und Zeitschriften las wie seine Eltern und Verwandten. Er war um einen guten Kopf größer als sein Vater. Seine schmalen Gelenke und sein Langschädel waren ganz aus der Art geschlagen und verliehen ihm etwas kindlich Greisenhaftes. Außerdem war er Paneuropäer und Pazifist. Aber er scheute auch nicht vor kommunistischen Handgranaten zurück, wenn er mit Frau Waag über die Zukunft der Menschheit debattierte, wobei er der guten alten Dame ihren Himmel und ihr Vaterland, vor allem aber ihre Geburtsstadt zu verekeln versuchte.

Der Kaffee war getrunken, und das Radio war abgestellt, man wollte gerade auseinander gehen, zu einem kleinen Verdauungsschlaf, zu einem kleinen Verdauungsbummel, Stettenheimer und Glenn zu einer kleinen Partie Schach, da kam einer der Tagelöhner von der Grube des Alten Mannes angelaufen und brachte eine neue Sensation.

Fergus sah ihn zuerst und rief ihn sofort auf die Veranda herauf. Er glaubte bestimmt, es handelte sich um eine glückliche Botschaft. Gewiß war der Spaten auf den Alten Mann gestoßen? Entweder auf sein Gebein oder auf seine bronzenen Truhen und sonstigen Hinterlassenschaften? Jedoch es war etwas anderes.

Doktor Ragaz war bei den Arbeitern gewesen und hatte ihnen gesagt, sie müßten sofort die Arbeit einstellen. »Ihr macht Schluß und geht heim, oder der Teufel ist los«, hatte er gesagt. Die Tagelöhner hatten lange hin und her beraten, dann waren sie zu der Ansicht gekommen, daß man Herrn Fergus davon Mitteilung machen müßte.

Herr Fergus war außer sich. Das war tatsächlich eine Frechheit ersten Ranges. Daß dieser Doktor Ragaz nicht eine Spur Recht zu diesen Pöbeleien hatte, war klar. Aber daß es jetzt zum Krach zwischen dem Pürschhaus und dem Ragazer Hof kommen mußte, war äußerst unangenehm. Ein Krach im dichten Gewimmel der Stadt war für einen guten Organisator ein Genuß, aber in diesem abgelegenen Winkel mußte um jeden Preis gute Nachbarschaft gehalten werden. Was war da zu tun? Nachgeben war ausgeschlossen. Aber eine große Fehde heraufziehen zu lassen, ohne den Versuch eines gütlichen Vergleichs, war auch nicht richtig.

Es setzte sofort eine Beratung ein, an der sich alle beteiligten außer Glenn. Der war ganz in den Anblick des Tagelöhners versunken. Es war einer von den Handwerksburschen, über die er vorhin geschimpft hatte. Jetzt lag auf einmal etwas anderes in diesem Mann.

Es war der große von den beiden Kerlen. Der mit dem roten Teint und der schweren Narbe am rechten Auge, das offenbar ein Glasauge war. Ein Faulenzer mit hängenden Armen. So hartgegerbt vom Wind der Straße, daß man nicht sagen konnte, ob er fünfundzwanzig oder vierzig Jahre alt war.

Mit einer grandiosen Verachtung schaute sein gesundes linkes Auge auf die vornehme Konferenz und auf den beladenen Tisch. Er glich dem behaarten Knappen im Grubengrund. Keine Spur von Neid war in seiner Haltung. Den Männern hob er die Schädeldecke ab und schaute in ihre Gehirnmaschine und spuckte hinein. Den Weibern hob er nicht einmal mehr die Röcke hoch, der stolze Lumpenhund. Es gab nur zwei Dinge, zu denen er einen reizte, wie er da stand und grinste. Entweder man gab ihm sofort einen Tritt, daß er die Verandatreppe hinunterflog und außer Sicht kam. Oder man ging ganz öffentlich zu ihm hin, nahm ihn beim Arm und sagte: »Weißt du was, wir tippeln sofort los, wir zwei? Weit fort von hier? Nach Mexiko erst mal?«

Natürlich tat Glenn weder das eine noch das andere. Er blamierte sich nur, indem er, der Anstifter dieser Graberei, nicht an der Beratung teilnahm. Erst nachdem der Tagelöhner von Herrn Fergus mit einer Handvoll Zigarren wieder an die Arbeit geschickt worden war, griff er ein.

Er erbot sich, am Nachmittag zu Doktor Ragaz zu gehn und zu vermitteln. Für Herrn Fergus war dieser Gang nach der Besprechung am Vormittag eine Unmöglichkeit, Glenn konnte es ohne weiteres tun. Er konnte sich als der Entdecker der Gruben ausgeben und das Ganze auf sich nehmen. Wenn es dann doch zum Krach kam, war es eine persönliche Sache zwischen ihm und diesem freundlichen Herrn mit dem bissigen Köter und brauchte nicht gleich als Fehde zwischen den zwei einzigen Gehöften von Ladiz gelten.

Gut, einverstanden, Vollmacht, so oder so. Und wenn das Mißverständnis unter vier Augen beigelegt werden konnte, war's für alle Teile das beste.

Aber mit diesem Friedensschluß unter vier Augen war es bereits vorbei. Außer den Fergusleuten wußten um diese Stunde auch schon andere Leute, daß im stillen Ladiz ein Krieg ausgebrochen war. Das waren die drei Holzknechte, welche in dem staatlichen Blockhaus untergebracht waren, fünf Minuten talwärts vom Ragazer Hof. Bei denen war Xaver Ragaz gewesen, als er von seinem Gang zu den Gruben zurückgekehrt war. Er war befreundet mit ihnen. Sie sollten wissen, was los war.

Sie hielten gerade Mittagspause und kochten ihr Essen. Es gab Brennsuppe, bereitet aus Mehl und Butter und Zwiebeln und Lorbeerblättern, Tee mit einem Schuß Enzian, Wasserschmarrn im Tiegel. Es war der alte Hies Kaser, der entfernt mit Xaver Ragaz verwandt war, mütterlicherseits von beiden Seiten; der verwitwete Balthasar, ein gebürtiger Südtiroler; und als Jüngster der dritte Sohn vom Schwarzenböckhof in der Riß, der im Frühjahr geheiratet hatte, eine Stallmagd mit einem ledigen Kind, Schlichtmann Leonhard, genannt Schwarzenböck-Hartl oder Hardolino.

Xaver Ragaz wollte keine Hilfe von ihnen haben. Es hatte keinen Sinn, diese Leute in seinen Krach zu verwickeln. Sie unterstanden dem Forstamt und hatten weder mit Herrn Fergus noch mit ihm selbst irgend etwas zu schaffen. Sie fällten ihre Bäume und schälten ihnen die Rinde ab, danach stapelten sie sie, für den Abtransport mit den Schlitten im nächsten Winter. An den Samstagen trabten sie zu ihren Weibern ins Dorf hinunter, an den Montagen kamen sie wieder zusammen. Ein kleiner Indianerstamm – nur daß ihre Axt das Fleisch der Bäume traf statt das Fleisch der Feinde, nur daß ihr Kriegsgeschrei nach besserem Lohn ging statt nach dem Blitz und Donner des verborgenen Gottes. Und ihr Haarschmuck und ihre Nasenringe? Ihre Zaubermedaillons und Reliquien, ihre Mascotte und Talismane? Ach, die bestanden nur noch aus den Krankenkasseheftchen und den Invalidenmarken, ein magerer Ersatz.

Nein, es waren keine Indianer. Und es war weder Hilfe noch Verständnis von ihnen zu erwarten. Aber vielleicht ging doch noch ein urmäßiger Hauch von ihnen aus? Etwas, was einem den Rücken steifen konnte in dieser rechtlosen und zwecklosen Streiterei? Und wenn nicht, wenn sie für Herrn Fergus stimmten, dann war's auch gut. Dann wurde erst recht nicht klein beigegeben.

»Da kannst du nichts machen«, sagte der alte Hies Kaser, »verkauft ist verkauft. Laß sie nur graben. Es kommt doch nichts heraus wie ein paar Stück alte Rehböller. Sonst gibt's noch einen Prozeß. Und in einem Prozeß halten alle Städtischen gegen dich zusammen. Das hat man erst wieder bei dem Prozeß vom Hahnwirt gesehn.« Er erzählte eine Prozeßgeschichte, aus der zu ersehen war, daß der Kampf gegen die Lumperei der Welt hoffnungslos war. Das Urmäßige in ihm hatte längst die Waffen gestreckt und klebte Invalidenmarken.

Der Balthasar aus Südtirol drückte sich mit schlechten Witzen um die Stellungnahme. Er galt als landfremd, obwohl er schon als Bub ins Tal gekommen war und schon dreißig Jahre lang Bäume fällte, wobei ihm schon zweimal das Schienbein zerschmettert worden war. Er half sich stets über seine Unsicherheit und Gedrücktheit mit seinen Späßen hinweg. Oft lachten Xaver und Terese herzhaft über seine Sprüche, seine Kritiken an den vorüberziehenden Touristen waren klassisch, aber heute ging sein Witz auf die Nerven. Es war klar, daß kein Verlaß auf ihn war.

Nur der jungverheiratete Hardolino schien zu merken, worauf es ankam. Er pfiff auf die Prozeßangst des alten Kaser und lachte nicht über Balthasars Imitation der Fergusleute. »Ich mach mit, Doktor«, sagte er stramm, »ich scher mich um nichts, wenn's gegen diese Gauner geht. Da wären wir ja die Dummen, wenn wirklich was gefunden wird? Unser Anrecht auf alles, was gefunden wird, wollen wir haben, notarisch! Oder es wird kein Spatenstich weitergegraben! Was der alte Irgel mit seinen Karfreitagsknochenbuben und seinen zugereisten Saupreußen in acht Tagen aushebt, das schütten wir in einer Nacht wieder zu – ist's nicht wahr, Herr Doktor?«

Nein, es war nicht wahr. Auf den schneidigen Hardolino war am allerwenigsten Verlaß. Er sah aus wie ein Held und glotzte einem in die Augen wie ein Falke und war doch nichts wert. Keine einzige von den vielen Wehen, die seine Mutter bei seiner Geburt erlitten hatte, war er wert. Seinen Beteuerungen fehlte ganz und gar jener kleine mitternächtliche Klang, an dem der Mann den andern Mann erkennt. Laß dich von den Saisongästen photographieren, Held Hardolino, aber mach Xaver Ragaz nichts vor! Der Kaser und der Balthasar in ihrer Brüchigkeit und Kneiferei, die waren noch bessere Kameraden als dieser gebräunte Bubi, samt seiner verwegenen Urhahnfeder am Hut.

Also auf Wiedersehn! Es war Blödsinn gewesen. Er ging verärgert heimwärts. Knecht blieb Knecht in Ewigkeit. Wer das mit zweiundvierzig Jahren noch nicht begriffen hatte, dem passierten solche Blamagen mit gutem Recht. Und wer seine große Einsamkeit nicht auf sich nehmen wollte, dem mußte sie immer wieder auf solch krumme Weise bestätigt werden.

Und doch war's gut, daß er an dem Blockhaus nicht vorbeigegangen war. Das Versagen dieser eingeborenen Knechtsseelen war ein Zeichen, daß er seinen Willen nun gerade durchsetzen mußte. Es wäre bedenklich, wenn er das Recht des Staates und die Zustimmung der Knechte auf seiner Seite hätte. Ohne das große Trotzdem, das Trotzdem mit dem übermenschlich großen T, ohne das gab es überhaupt nichts Lebenswertes auf der Welt.

Als er an der Vordertür seines Hauses die Stiefel auszog, um in die wollenen Schlapper, die dort auf ihn warteten, zu schlüpfen, ging ihm einen Augenblick lang die Frage durch den Kopf, ob er vielleicht verrückt geworden war oder im Begriff stand, es zu werden. Er hatte eine der größten Touren in der Geschichte des modernen Alpinismus hinter sich, alle Welt wartete auf den Bericht, aber statt an die Arbeit zu gehen, vertrödelte er den Tag mit dieser blödsinnigen Fergus-Bande und ihrer Grubengraberei, die ihn tatsächlich nicht das geringste anging. Anstatt sich des wiedergewonnenen Lebens zu freun, schwoll ein unerklärlicher Zorn in ihm. War ihm die Strapaze der Nordwand in den Kopf gestiegen? Hatte der Steinschlag des kleinen Mannes von Ladiz ihn wahnsinnig gemacht? Hier stand sein lärchenes Haus und wartete auf niemand als auf ihn, was fehlte ihm zu seinem Glück? War er nicht glücklich von A bis Z?

»Herzzerbrechend glücklich«, sagte er laut, während das Glockenspiel an der Haustür zu Ende tönte und er in die Stube trat, wo Terese bereits am Eßtisch saß und auf ihn wartete.

»Was ist?« fragte sie und klingelte dem Mädchen, um das Essen auftragen zu lassen.

»Großartig«, sagte er zerstreut, gab ihr einen Kuß und setzte sich ihr gegenüber an seinen Platz.

Es gab klare Fleischbrühe in Tassen, Rühreier mit hausgemachtem Schinken auf Holztellern, Salat mit den sieben Salatkräutern aus dem Garten, Tiroler Spezial.

Die Expedition zu den Gruben wurde nur kurz erwähnt. Man sprach von den Kindern.

Lois war mit dem Jungknecht im Dorf gewesen und hatte ein paar furchtbar dumme Fragen über die Fortpflanzung der Menschen mitgebracht. Jede Berührung mit der Außenwelt brachte Unannehmlichkeiten und sonst nichts. Aber auch abgesehen von den dummen Redensarten, die der Junge im Dorf aufgeschnappt hatte: das Problem war unlösbar, wie man in dieser gottlosen Welt die Neugier der Kinder nach Geburt und Tod auf die unschädlichste Weise stillen sollte.

Barbi mußte in den nächsten Tagen zum Zahnarzt expediert werden, eine weite Fahrt. Und auch dies ein Problem, da der Fuchs seit seinem Sturz im April noch nicht sicher an den Nieren war. Und der Braune, der schwere Zieher, trabte nicht und würde eine Ewigkeit brauchen. Terese sollte nach dem Essen eine Stunde ruhn und Zeitungen lesen. Xaver mußte sich endlich daran machen, die Photos zu entwickeln.

Er hatte einen glücklichen Tag bei diesen Aufnahmen gehabt, das zeigte sich gleich bei dem ersten Bild. Das war das Bild von dem Einstieg in die Wand. Wenn das hellgraue Karwendellicht bei allen andern sechsunddreißig Bildern so günstig herauskam wie bei diesem – oft hatte er sich selbst mit dem Selbstauslöser aufgenommen und den Apparat mittels eines eigenen Patents nachgeseilt –, dann gab es bald ein herrliches neues Buch: »Die Ragaz-Route in der Ladizer Nordwand, Text und Bilder von Xaver Ragaz«. Meine Damen und Herren! Nein, er war nicht verrückt. Er liebte das Leben. Nur wer das Leben liebte, stieg in diese vorweltliche Wand und stieg durch sie hindurch.

Hier war das Bild von seinem Biwakplatz mit der kleinen Steinbrechblüte. Auf dem Photo war sie noch zu sehn, in Wirklichkeit lag sie bereits in Lois' und Barbis Herbarium eingepreßt. Zuerst hatte man sie im Garten anpflanzen wollen, aber die Wurzel war zu stark beschädigt gewesen, sie wäre nicht mehr angewachsen. Jetzt wurde ihr kleiner Leichnam zur Freude der Kinder gedörrt und als kleine Königsmumie aufbewahrt. Ein hellgrünes Hungerblümchen, welches das Leben geliebt hatte.

Inzwischen ging Philipp Glenn im Schlenkerschritt zum Ragazer Hof hinauf und überlegte sich, wie er dem bösartigen Patron kommen sollte, der die Fergusschen Ferienfreuden störte. Fergus hatte ihm beim Weggehen noch einmal gesagt, welch großen Wert er auf eine gütliche Beilegung dieser Streitsache legte. Also mußte man versuchen, Scharm zu entwickeln. Das verstaubte Büchschen mit der altfränkischen Liebenswürdigkeit mußte aus dem Schrank geholt werden, jedes aufreizende Wort mußte vermieden werden. So oder so, es war langweilig.


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