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Erstes Buch.
Die Apokalypse


Erstes Kapitel

»Da steh ich im hellen Mittag und bin müde. Ausgetrunken ist das heilige Euter, leer. Und die lichten Bilder rings? Meine Augen streiken, blicken hin und nehmen's nicht mehr auf.«

Das wäre vielleicht die Formel gewesen, die Formel für den kleinen Seufzer, den unser Mann seufzte, als er neben dem hölzernen Ruhbrunnen haltmachte. Er selbst dachte nicht daran, aus einem kleinen Seufzer große Worte zu machen. Er dachte überhaupt nichts, als er jetzt den Rucksack vom Buckel wälzte, um sich niederzusetzen, auf die Steinplatte neben dem rauschenden Trog.

Zwar dämmerte es unter seiner gedankenlosen Verschwitztheit als etwas Seltsames, daß sein Schritt langsamer und langsamer geworden war, so kurz vorm Ziel. Und warum hatte er den Rucksack, der mit den Apparaten und mit den Seilen einen guten halben Zentner wog, noch einmal abgelegt, drei Minuten vor dem Haus, das da unten lag? Das ging gegen die alpine Ökonomie eines Meisters im Fels und im Eis. Das ging auch gegen die Sitte eines Ehegatten und Vaters, welcher siegreich heimkehrte. Jedoch das dämmerte nur so in ihm. Kein Grund, gleich die ganze Lebensfahrt mit dem Kompaß der Worte festzulegen.

Ein gewöhnlicher kleiner Seufzer, den er selbst ganz überhört hatte, nichts weiter. Es war Juli, Juli im Ladiz, Ladiz im Karwendelgebirg. Ferner war es zu der Zeit, da unser Jahrhundert sich anschickte, aus seinem ersten Drittel in sein zweites Drittel hinüberzuwallen, zu einer Zeit also, von der wie noch nicht wissen, wie eine spätere Legende sie verkünden wird, ob als trüben Abend oder tiefe Nacht der Menschenkinder, ob als fahles neues Morgengrauen. Da hockte unser Mann, Xaver Ragaz war sein Name.

Er hatte eine schwere Tour hinter sich. Heute war's nur der Weg vom Gipfelbiwak bis hierher, aber gestern und vorgestern, das lag in den Knochen. Die Ladizer Nordwand war schon in der Moderoute, in der Durchkletterung seitlich von der Gipfellinie, ein Prunkstück der Karwendelkletterei; aber diese neue Route, der Aufstieg im reinen Fall des Gipfels, war schon fast nicht mehr von dieser Welt.

Ein paar Erinnerungsbilder schwirrten durch seinen Kopf und schoben sich in schwerem Kontrast über die Bilder, die vor seinen Augen lagen, das sanft gebuckelte Tal, die waldig und moosig gesprenkelten Gründe, weiter draußen die frommen Sommerwiesen. Ganz anders in der vorweltlichen Mauer. Eine freche Menschenkatze traversierte über ein griffloses Band; ein gehetzter Menschengorilla stemmte sich an einem überhängenden Block empor; und dieser, ein Säulenheiliger, einsam, auf dem engen Standplatz mit der zierlichen Steinbrechblüte, erreicht in der letzten Sekunde, mit der letzten Muskelkraft.

Er fluchte einen lauten Fluch vor sich hin, während diese Bilder in seinem Schädel durcheinanderrutschten wie in dem Schädel eines Betrunkenen. Einen schweren, gemeinen Fluch, wenn Männer sich selber bewundern, fangen sie ja meistens zu fluchen an. Darin mag neben der Selbstbewunderung ein kleiner Ersatz für den verlorengegangenen Verkehr mit den Göttern liegen, Opfer und Dankgebet. Jedoch dieser Fluch klang nicht nach männlicher Eitelkeit und nicht nach Dankgebet-Ersatz, darin lag ein andrer Ton. Wie in jenem Seufzer klang es auch hier: ausgetrunken ist das große heilige Euter, leer.

Aber das ist ja scheußlich, was wir hier treiben, meine lieben Leute, scheußlich und lächerlich. Kaum daß unser Mann von einer dunklen Tat zurückkommt und in unsern Blickpunkt gerät, beobachten wir seine Seufzer und Flüche, um ihn mit unsern literarischen Kniffen festzunageln, weiß der Teufel auf was für ein morsches Brett unsrer morschen Gedankenwelt. Es fehlt nur noch, daß wir ihn auf der Stelle psychoanalysieren und seine außerordentliche alpine Tour auf einen außerordentlichen sexuellen Knacks zurückführen oder auf sonst was Ordinäres. So lauern die Kobolde im Gebüsch, die Zwerge und Pygmäen dieser sonnenbestrahlten Erdkugel, so lauern sie geduckt im Zwielicht abseits der Straße, wenn der letzte Reiter auf dem letzten Pferd vorüberreitet. »Ach, der arme Tropf, der letzte Reiter«, flüstern sie, »er seufzt schon, er flucht schon, irgend etwas stinkt in dieser stolzen Seele. Bald wird er stürzen, der holde Kerl«, kichern sie, »und sich das Genick brechen, wir aber werden unser Leben noch leben und unsre Geschäftchen noch machen, wenn seine arroganten Knochen längst vermodert sein werden.« Nein, Leute, laßt uns keine literarischen Kobolde mehr sein, keine Psychologen mehr im Zwielicht abseits der Straße, keine Photographen und Reporter mehr im dürren Gebüsch! Singe uns, Göttin, das Lied von Xaver Ragaz, dem Manne, welcher vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, viele Mauern durchklettert und Gletscher durchquert hat, und von dem Haus, dem lärchenen, das er gebaut hat, hier im Ladiz, dem sanft gebuckelten Hochtal, er und sein Weib Terese, geborene Hornbogen, und von dem andern Manne auch Philipp Glenn war sein Name, und von dem Zorn, dem verderblichen, der diese zwei befiel, sage davon auch uns ein weniges, Tochter Kronions – allen Ernstes, Freunde, so laßt uns tun! Wir sind müde unsres ganz und gar aufgehellten Gehirns, müde seiner sämtlichen Machenschaften, müde seiner Tyrannei. Müde auch des ewigen Protestes gegen diesen Wasserkopf, den wir nun einmal auf unsern Schultern tragen. Wir riechen auf tausend Schritt, wir alle miteinander, jeden neuen Bluff der alten Worte, jede neue Chemie in der alten Retorte, wir wollen nichts tun, als ein Lied singen, wenn es Abend wird. Und wir wollen auf unsern Mann blicken, wie jener Adler auf ihn blickt, der alte Steinadler von Ladiz, der weithin kreisende. Der hatte die Gestalt am Luhbrunnen längst gesichtet: den Menschen, das gefährliche Wundertier, purpurn halb, halb grau.

In dem Gehöft hatte man ihn noch nicht gesichtet. Man erwartete ihn erst zum Abend. Jetzt war Mittagessenzeit, alle Welt im Haus. Nur der Kater war draußen, auf dem Holzstoß, und wärmte sich den Pelz. Und die Hühner gackerten in die Stille des Ladizer Pan ihr Gegacker hinein, dem lautlosen Adler zum Trotz, die fleißigen Idioten.

Xaver Ragaz war ein Mann von zweiundvierzig Jahren. Acht Jahre wohnte er nun schon im Ladiz, seit seiner Verheiratung. Vorher war er in der großen Welt gewesen, als Geolog und Geograph, als Spezialist im Eis und im Fels. Ein Mensch der Expeditionen, kurz, ehe die letzten Winkel des Planeten abgegrast waren. Die Berufung zu einer Tian-Schan-Expedition, die Berufung zu einer Labrador-Expedition, das waren die Höhepunkte seiner Laufbahn gewesen.

Geboren war er nicht weit von hier, im Tal der Riß, als der Sohn eines altbayrischen Karwendelführers. Studiert hatte er aus der Trinkgelderkassa des Vaters. Dreißig Saisons Trinkgelder des alten Matthias Ragaz, das hatte gerade bis zum Doktor des Sohnes und bis zur Begründung seines alpinen und wissenschaftlichen Rufs gereicht.

Die Tian-Schan-Expedition hatten die Eltern noch erlebt, die war noch vor die Kriegszeit gefallen, während seiner Infanteristenzeit im Feld waren dann die beiden Eltern gestorben, rasch hintereinander, wie's sich für selige Bergleute ziemte. Seinen letzten Erfolg hatten sie nicht mehr erlebt, die Ernennung zum doctor of science an der Michigan-Universität. Das war nach der Labrador-Expedition gewesen, für die man ihn während der ersten Friedensjahre gekauft hatte.

Schade, daß sie das nicht mehr erlebt hatten. Das hätte sie noch gefreut. Aber daß er sich danach wieder ins Karwendel zurückgezogen hatte, das hätte sie nicht mehr gefreut. Natürlich, die gute Verheiratung, das stabile Gehöft, der weite Grund, das hätte noch ein paar von den kleinen Prahlereien abgegeben, aus denen nun einmal die Abendfreuden der Eltern bestanden. Nicht aber dieses Zurück auf den alten Stand der Ragazer Männer, wie er's seit einigen Jahren betrieb.

Denn das war ein Zurück, sein Leben hier, kein Zweifel. Noch acht solche Jahre, und er war wieder, was sein Vater gewesen war, ein altbayrischer Karwendelführer, ein Knecht Gottes und der Saisongäste. Wenn auch in modernen Maßen, selbstverständlich. Seine Frau war kein lederhäutiges Bauernweib, sondern ein zartes und kostbares Ding von friesischem Adel. Seine Touren waren anders als die väterlichen Touren, reine Hexereien im Vergleich zu jenen Sonntagnachmittagspromenaden. Seine Photos und Berichte waren gesucht, gut zu placieren in den inländischen und ausländischen Zeitschriften und Tageszeitungen, gut honoriert und voller Schwung. Engagieren ließ er sich nur noch zu ganz besonderen Klettereien, von ein paar befreundeten Snobs mit großem Geldsack. Und für den Notfall war er durch die Erbschaft seiner Frau sichergestellt. Aber was hieß das viel? In den Augen der Eltern wäre er ein Karwendelführer gewesen, so wie er hier lebte, also ein Nichts, da sie selber das gleiche Leben geführt hatten. Ein Glück, wenn die Eltern rechtzeitig starben, in einer Zeit, da die Kinder anfingen, allen Fortschritt zu verfluchen, und kein besseres Ziel und keinen größeren Luxus mehr kannten als das Zurück auf den armen alten Stand.

Doch umsonst, es gab kein Zurück. Er war kein Karwendelmann vom alten Schlag mehr, Unsinn, Gerede, Schwindel. Anders war der Steinadler dort droben über Matthias Ragaz gekreist, wenn er an diesem Brunnen Rast gehalten hatte, anders kreiste er über Xaver Ragaz. Damals war zwischen dem Mann am Brunnen hier und jenen Dingen von da draußen kein Bannkreis gelegen, der diese Welt von jener Welt getrennt hätte. Eins war gewesen – ein unzerspaltenes einziges Leben – jene helle Talwelt und diese dunkle Männerwelt. Heute lag da ein magischer Ring, ein Zauberkreis, eine schwere Grenze vor dem einsamen Wundertier, und trennte schmerzlich sein eigenes Leben von jenem allgemeinen Leben, einem Banne gleich. Und schon als der Kater auf dem Holzstoß jetzt erwachte, blinzelnd zuerst, dann träge witternd, dann gespannt glotzend, um schließlich den Mann zu erkennen und zu ihm heraufpromeniert zu kommen, der erste Gesandte aus jenem andern Reich: für den Kunden in den Lüften war es da bereits geschehn. Der Bann war gebrochen, welcher um die Gestalt, purpurn halb, halb grau, gelegen war. Das Geheimnis war dahin. Einer von der großen Blase war's, irgendeiner aus dem wohlbekannten Geschlecht der zusammengedrängten Wichtigtuer und Quatschköpfe. Die Grenze des Mannes war überschritten, das kreisende Tier schwenkte ab und zog weiter, verschwand und wurde nicht mehr gesehn.

Erst kam der Kater, dann bellte ein Hund, dann probierte ein kleines Kind einen Juchizerschrei, dann rief eine helle Frauenstimme. Und dann war plötzlich die ganze Familie Ragaz da, freudig versammelt um den lieben Papa am Kuhbrunnen.

Die Frau überließ den ersten Ansturm dem Kleinzeug. Während der Kater sich an der verdreckten Manchesterhose herumrieb, versuchte der Hund, ein kindischer Wolf, das Gesicht seines Herrn zu lecken, um dann, liebevoll zurückgeboxt, ein Gebelle loszulassen wie vor einem gestellten Rehkitz. Und die Kinder kugelten mit Geküsse und Gefrage über den Mann her, der siebenjährige Aloys, genannt Lois, und die vierjährige Barbara, genannt Barbi.

»Bist du schon da? Was hast du uns mitgebracht? Hast du den kleinen Mann von Ladiz gesehn? Was hat er gesagt? Warum bist du voll Blut an der Stirn? Hat's weh getan?«

Nein, er war noch nicht da, er kam erst in zehn Minuten. Mitgebracht hatte er einen winzigen seltenen Steinbrech. Und den kleinen Mann selber, da im Rucksack steckte er drin, der kleine Mann von Ladiz. Der Riß in der Stirn kam vom Steinschlag. Der kleine Mann hatte einen Stein auf ihn geschmissen, aber weh getan hatte es gar nicht. Er steckte nicht mehr im Rucksack? Ja, dann war er ihm doch wieder entwischt, der Lump.

Die Frau stand still daneben. Sie war eine Scheue, eine Hellblonde und Scheue. Er war ein untersetzter dunkler bayrischer Typ, und sie war eine schlanke helle Nordländische. Das kam erst zusammen, wenn Nacht war, der Triumph des Tages gehörte den Kindern.

Sie hatte nicht gewußt, wo er in den letzten drei Tagen gesteckt war. Er verriet ihr niemals sein Ziel, wenn er loszog. Im Gegenteil, er log ihr meistens etwas vor, so daß sie niemals wußte, ob er auf irgendeiner Hütte saß und faulenzte, ob er in irgendeiner mörderischen Wand steckte. Das war seine Methode, um ihr die Angst der Bergfrau zu ersparen. Aber das war eine zweischneidige Methode. Hinterher erfuhr sie doch, was los gewesen war. Und die Folge war, daß sie dauernd unter einem gewissen Druck stand und oft von den dümmsten Gespenstern beschlichen wurde, wenn gar kein Anlaß da war.

Daß er heute aus einem schlimmen Bereich kam, hatte sie auf den ersten Blick gesehn. Aber davon war die Rede erst, nachdem er mit Juhu ins Haus transportiert war, nachdem das aufgewärmte Suppenfleisch auf dem Tisch stand, die Karotten, der Rotwein, der Käse, und nachdem Lois und Barbi abmarschiert waren. Vorher hatte Lois natürlich erst noch seine letzte Glanznummer vorführen müssen, den Handstand an der Tür mit freiem Überschlag in die Brücke, während Barbi ihr letztes Gedicht rezitiert hatte, das Sonett auf einen in der Schlacht gefallenen Helden, auch zum Abzählen gut zu gebrauchen:

Ene Bene Suplatene
Diwi Dawi Domine
Engelsbrot
Sonder Not
Emse Bremse puffi tot …

»Wo war's?« fragte Terese, während sie am Eßtisch den Meerrettich durch die Reibe schabte.

»Ladizer Nordwand, direkt in der Gipfellinie.« Er lachte ein trockenes anarchistisches Lachen, als sie ihn erschrocken anstarrte. »Die neue Xaver-Ragaz-Route! Mal sehn, wer der zweite sein wird?«

»Ach du!«

Sie hatte zwar auf etwas Schlimmes geraten, auf eine neue Route in der Drei-Zinken-Wand oder etwas Ähnliches, aber nicht auf diese Wahnsinnstour. Eine Sekunde lang haßte sie ihn, mit dem jäh auftauchenden Geschlechterhaß, welcher auch in der Seele der Penelope schlummert. Dort drunten, tief im Grund, da ist das Weib ein nüchternes Menschentier, der Mann ein trunkenes.

Ganz geht das nie zusammen. Wenn ihn die Ehe nüchtern macht, haßt sie ihn, weil er sein Manntum verloren hat. Und wenn er sich behauptet, sich und seinen männlichen Blödsinn, haßt sie ihn auch, da drunten, tief im Grund, den Trunkenbold, den ewigen Bedroher ihrer Ordnung. Aber davon wollen weder die Männer noch die Frauen etwas wissen.

»Ich gratuliere«, sagte sie sanft. »Schwer?«

»O nein, ganz leicht«, sagte er hochmütig, »drei Mark fünfundsiebzig, im Inventurausverkauf.«

Die Zeit zum Erzählen kam erst später. Jetzt war das Suppenfleisch an der Reihe, der Rotwein, der Käse. Dann kam die Post dran, lauter Humbug natürlich, Rechnungen, Redaktionsfragen, irgendwelche Zudringlichkeiten von Staat und Gemeinde, wie die menschliche Post eben war. Dann kam das Rasieren und das Bad, wobei schon wieder Lois und Barbi erschienen. Die pumperten so lange an die Badezimmertür, bis sie eingelassen wurden. Aus der Einseiferei und Abkratzerei und Duscherei und Frottiererei mußte eine Art Clownnummer gemacht werden, da half kein Widerstand.

Der große Familientee in der Kinderstube. Die letzten Berichte vom kleinen Mann. Der gemeinsame Bummel durch das Königreich, Stall und Tenne, Ententeich und Garten. Ein kleines Geschwätz in der Dämmerung, mit der Magd, mit dem Jungknecht, mit den drei befreundeten Holzknechten, welche in der Blockhütte, fünf Minuten talwärts vom Ragazer Hof, hausten. Das Abendessen, gemeinschaftlich, da heute nun schon einmal Feiertag ausgerufen war. Und die große Schlußrolzerei beim Zubettgehn der Kinder, ein paar letzte väterliche Clownnummern an den Kinderbettstätten. Jetzt erst war Tereses Zeit.

Sie hatte sich umgezogen. Am Nachmittag war sie in hellblauen Leinenhosen gewesen, ein Enzian, nun war sie eine rotseidene städtische Rose. Xaver fühlte sich in dem schneeweißen Hemd und den weichen schottischen Hosen nach den drei Schmutztagen wie ein gepflegter Bubi in einer Hotelhalle: Fred Weißbein, der Liebling der Götter und Frauen. Ohne Hochmut und ohne anarchistisches Lachen erzählte er von der unerbittlichen Wand, dem harten Feind aus der Eiszeit, dem bezwungenen Schuft aus Kalk.

Sie gingen zu Bett. Er kam in ihr Zimmer, leise, und lag bei ihr. Arme Weiber, arme Soldatenfrauen! Fred Weißbein, der Liebling der Götter und Frauen, der gehört euch ganz, der gibt sich euch ganz hin, aber auf dessen Liebe pfeift ihr, ihr alle miteinander. Und ist es ein Soldat, wenn auch ein Soldat ohne Gott und König und Vaterland, ohne Kompanie und Kameradschaft, ohne irgendeinen Feind sogar, aber doch in seiner Seele ein Soldat, dann ist er und bleibt er weit weg von euch, weit weg, wie leidenschaftlich nah ihr ihn auch zu haben scheint.

»Was ich ganz vergaß, dir zu sagen«, plapperte die Frau in frommer Faulheit vor sich hin, als man bei einer flackerigen Kerze noch eine kleine Weile nebeneinander lag. Das freche elektrische Licht war ausgedreht, die Fenster waren weit geöffnet, die Grashüpfer von Ladiz zirpten herein. Der Mann war aufgestanden und hatte eine Unmasse Wasser getrunken, mit dem Mund unterm Leitungshahn, obwohl ein Glas daneben stand. Es kam erst allmählich heraus, wie ausgedörrt er war. »In den Gruben am Pürschhaus fangen sie jetzt wirklich zu graben an«, plapperte sie, nachdem er mit nassen Lefzen zurückgekommen war und wieder bei ihr lag. »Die graben jetzt tatsächlich unsre alten Gruben um. Sechs oder sieben Taglöhner haben sie eingestellt.«

»Was?« sagte er gähnend. »Diese blöden Hunde! Meinetwegen! Wenn sie Geld genug haben und nichts Besseres damit anfangen können, mir kann's recht sein.«

Es handelte sich um die Gruben in dem Waldstück, das er vor einigen Wochen an Herrn Fergus verkauft hatte. Herr Fergus war seit dem Krieg der Besitzer der Ladizer Jagd, ein reicher Industriemensch aus Norddeutschland. Ihm gehörte das Pürschhaus, eine Viertelstunde talwärts von hier. Dort hockte er mit seinen Gästen in den Sommermonaten und hielt Hof. Das kleine Waldstück mit den drei, vier verwachsenen Gruben hatte er von Xaver Ragaz bekommen, weil es ein schlechtes unterholziges Stück Mischwald war, ohne viel Wert für den Ragazer Hof, der Lage nach eher zu Herrn Fergus' Bereich passend als zum Ragazer Hof. Und außer dem guten Preis in Bargeld war noch ein anderes Stück Grund eingetauscht worden, eine Mooswiese mit einer Kiesgrube, auf welche die Ragazer Leute schon lange Jahre scharf gewesen waren.

Das Hochtal von Ladiz gehörte drei Herren: dem Staat, vertreten durch das Forstamt und die Holzknechte, dem Herrn Fergus aus Norddeutschland, dem Doktor der Geologie Xaver Ragaz. Aber Xaver fühlte sich als der wahre Herr des Tales. Und er hatte das auch nicht vergessen, als er den Kaufvertrag mit Herrn Fergus aufgesetzt hatte. Man mußte bei jedem Handel in diesem Tal, dessen Macht und Schönheit in seiner Abgeschlossenheit beruhte, auf der Hut vor einem Hotel oder sonstigen Spekulationen sein. Auch in dem Verkaufs- und Tauschvertrag mit dem Herrn Fergus stand die Klausel, daß der Waldgrund mit den Gruben nicht weiterverkauft und nicht bebaut werden dürfte. Und Herr Fergus war ohne Besinnen auf diese Klausel eingegangen.

Jetzt ging auf einmal bei den Holzknechten das Gerücht, seit einigen Wochen schon, daß Herr Fergus die Gruben für ein Bergwerk aus uralten Zeiten hielte und hier irgend etwas entdecken wollte. Diese Idioten! Seit Menschengedenken hatte kein Floh diese alten Gruben beachtet. Jetzt sollten sie auf einmal Dinge vom »Alten Mann« in sich bergen? Irgendwelche geschichtlichen oder vorgeschichtlichen Funde?

»Meinetwegen«, sagte er mit riesigem Gähnen. Er war nah am Einschlafen, es war eine warme, wohlige Nacht.

»Diese verrückten Affen! Kaum haben sie gehört, daß es überhaupt so etwas wie einen ›Alten Mann‹ auf der Welt gibt, gleich muß er in ihren dreckigen Gruben drinstecken.« Die Augendeckel fielen ihm zu. »Laß sie nur graben! Messieurs, mesdames, tut's nur grab'n! Vielleicht finden sie ein versteinertes Scheckbuch aus der Steinzeit?«

Er wäre eingeschlafen, wenn Terese nicht angefangen hätte zu albern. Herr Fergus und seine Gäste waren das kleine Witzblatt des Ladizer Tals. Nach jeder Begegnung gab's ein riesiges Amüsement über ihre Toiletten, Ansichten, Unternehmungen. Man konnte in den alten Gruben natürlich noch eine Menge Versteinerungen finden, die zu den Fergusleuten paßten, versteinerte Armbänder für die Herren, versteinerte Hosenträger für die Damen. Sie kälberte sämtliche Versteinerungsmöglichkeiten durch, bis Xaver wieder wach wurde, ihr einen Klaps gab und einen Kuß und ging. Dann schlief sie auf der Stelle ein.

Sie träumte, daß einer gelaufen kam, ein Kerl in schmutzigen schwarzen Samthosen. Der rief ihr zu, daß ihr Mann verunglückt sei, da lag er und blutete und mußte Hilfe haben. Sofort lief sie los. Aber sie kam keinen Schritt vorwärts. Ihre Beine waren aus zähem zentnerschwerem Gummi. Eine wahnsinnige Schande, daß sie nicht zu Hilfe kam! Aber die zähen, bleichen, vorweltlichen Gummibeine versagten in dieser neuen Welt. Er schlief in seinem Zimmer überm Flur, ohne Traum. Jedoch mitten in der Nacht, als Tereses Traum schon längst vorbei war, als sie schon wieder mit schmollendem Kinderlächeln in etwas Sanftes, Warmes, Blaues hinübergeglitten war, fuhr er auf und war in einer Sekunde wach.

Nein, es war nichts passiert, er war nicht gestürzt, der Griff war nicht ausgebrochen. Wunderbar war das weiche Bett der Wiederkunft. Der Körper dehnte sich in restloser Befriedigung. Neue Säfte bildeten sich unter der frottierten und gekosten Haut. Drüben schliefen die Kinder, die Träger des neuen Sinns dieser Welt. Im Zimmer daneben die letzte Penelope dieser Welt, die mit den klaren Augensternen und den verschwiegenen weichen Säulen der Beine. Weiterschlafen!

Morgen mußten die Photos entwickelt und die Telegramme abgelassen werden. Für den Zeitungstrust, an dessen Sportsteil er engagiert war. Vielleicht fing er auch gleich mit dem Bericht an? In möglichst bescheidenem Stil natürlich, dazwischen die berühmten kleinen Schlaglichter, welche die große Wirkung ausmachten.

Die Einleitung mußte geistig sein, damit die Momente der körperlichen Gefahr um so stärkere Akzente bekamen. Bekanntlich leben wir in einer alexandrinischen Zeit, meine Herren, alexandrinisch im Sinne Alexandrias und seiner unübersichtlichen Bibliotheken. Auch der Alpinismus ist alexandrinisch geworden, ein aufgeblähtes Monstrum ohne Sinn, wie alles heutzutage, von der Wissenschaft bis zum Sport. Gestatten Sie aber, meine Damen und Herren, daß ich hier das Wort vom Alexandrinismus anders auffasse, anläßlich dieser neuen Nordwandroute, nämlich alexandrinisch im Sinne jenes Alexander des Großen, der den Gordischen Knoten durchschlug. Ich bin für einen neuen Gordismus, wenn ich so sagen darf, meine Damen und Herren, für das Durchschlagen des unentwirrbaren Knotens dieser Welt.

Mensch, schlaf ein. Nach dieser Tour und diesen zwei Biwaks hast du wohl das Recht, müde zu sein und zu schlafen? Jetzt stand die Ladizer Wand da hinten leer. Wie die graue Wand eines Mondbergs rollte sie dahin. Bei dem Ausstieg aus dem schiefen Riß war's auf der Kippe gestanden. Hinunter wäre er nicht mehr gekommen. Das Hinübergleiten zu dem winzigen gelben Griff war Bluff gewesen. Manchmal mußte das Leben eben jenseits der Physik gelebt werden, jenseits der blöden Lehre von der Schwerkraft, hihihi.

Mensch, schlaf ein. Bist du zu müde, um einzuschlafen? Eine Müdigkeit jenseits der körperlichen Müdigkeit? »Wenn du müde bist, such einen Freund!« Wer hatte das gesagt? Christus? Alexander in Gordium? Der kleine Mann von Ladiz?

Wenn du müde bist, tief drinnen müde, so daß du selbst nach der Ladizer Nordwand nicht Schlaf finden kannst, dann ist's die tiefe Männermüdigkeit; wenn die Sintflut steigt, dann such einen Freund. Kein Weib mit den schönen verschwiegenen Schenkeln und den sanften Augensternen, sondern einen Mann, einen Freund. Aber keinen halben und keinen dreiviertel Mann, sondern einen Mann. Wo? Wo?

Schlaf ein, Mensch, alles Unsinn. Es gibt weder Freunde noch Männer mehr, sondern nur noch jenen Alexandrinismus im Sinne der alexandrinischen Bibliotheken, meine Damen und Herren, keine gordischen Knoten mehr, bitte sehr. Und morgen war man matt, wenn man nicht mindestens zehn Stunden Schlaf auf diese Affentour setzte.

Morgen mußte einmal nach den Gruben geschaut werden. Diese Gesellschaft! Man konnte ihnen rechtlich nichts anhaben. Sie durften nach dem Gesetz graben, soviel sie wollten. Nur der Weiterverkauf und der Hausbau war nach der Vertragsklausel untersagt, nicht diese kindische Buddelei nach den Spuren vom Alten Mann. Aber es war nicht fair, daß Herr Fergus seine großartigen prähistorischen Ideen verschwiegen hatte, als sie nach der Verbriefung am Notariat ein Glas Wein zusammen getrunken hatten.

Und wenn wirklich Funde vom Alten Mann zutage kamen? War er dann nicht auch in seiner wissenschaftlichen Ehre als Geolog gekränkt? Er hatte – ebenso wie die bäuerischen Ansassen von Ladiz – diese Gruben für natürliche Gruben gehalten. Aber dazu waren sie tatsächlich zu rund, zu regelmäßig, zu dicht hintereinander gelegen. Wie?

Paßt mal auf, ihr Hunde, wenn es wirklich Pingen sind, alte Stolleneingänge! Rechtlich ist nichts mehr zu machen, aber Xaver-Ragazerisch ist dann der Teufel los! Dann geht die Physik von Ladiz los, die Physik ohne die blöde Schwerkraft, auf die ihr euer Laffenleben aufgebaut habt! Wir pfeifen auf alles Recht. Hier wird nicht weitergegraben. Wenn wirklich der Alte Mann dort drunten verschüttet liegt, dann soll er drunten bleiben. Es muß nicht alles in euer freches Tageslicht heraufbefördert und befingert werden. Wir brauchen die verborgenen Kräfte dort drunten, basta. Und wenn es keinen Freund gab auf der Welt, dann gab's hier vielleicht einen Feind? Das wäre immerhin schon besser als dieses schamlose Nichts, das einen nicht schlafen ließ?

Ach, der kleine dumme Fergus war kein Feind, der alte Hosenkackermillionär. Kein Feind, kein Freund, so weit man sah. Es war eine graue Welt.

Erst gegen Morgen kam der Schlaf, ein grauer Schlaf. Die Ladizer Wand war auf dem Mond, Frau und Kinder waren tot und begraben, der Adler hatte nie gelebt, nie über etwas Purpurnem gekreist.


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