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Viertes Kapitel

Er wurde von einer mageren alten Person in eine Bauernstube geführt. Sie fragte ihn mürrisch, wen sie melden sollte. Offenbar hielt sie ihn für einen Geschäftsreisenden, der sich bis ans Ende der Welt verirrt hatte, um ihrem Herrn Seife und Persil oder eine Lebensversicherung aufzuschwätzen.

Nach zwei Minuten kam sie wieder, es würde noch eine Weile dauern, der Herr wäre in seiner Dunkelkammer. Ehe sie aus der Stube ging, sagte sie zu dem Köter, den sie mitgebracht hatte: »Du bist brav, Brolly!« und ließ ihn bei dem Besucher zurück. Es hatte geklungen wie: »Paß mal gut auf, Brolly, ob das nicht ein ganz gemeiner Halunke ist.«

Das war die alte Paula, die frühere Kindermagd Tereses, nach Ladiz verpflanzt aus dem Hornbogenschen Gut in Holstein. Sie hatte zu Tereses Mitgift gehört wie das Silber und das Leinen. Obwohl sie sich kein anderes Leben vorstellen konnte wie das ihrer Herrin, behauptete sie stets, das ganze Karwendel wäre nichts weiter wie ein Zuchthaus. Terese konnte ihr nicht abgewöhnen, über die neue Heimat zu zetern und zu raunzen. Nur alle zwei Jahre, während ihres Urlaubs, wenn sie bei ihren nordischen Verwandten und Freundinnen saß, da galt das Karwendel ein paar Wochen lang als ein Paradies, ausgezeichnet mit einer Macht und Schönheit, von der man sich dort im Tiefland nichts träumen lassen konnte. Das hinderte sie aber nicht, gleich am Tag ihrer Rückkunft wieder zu jammern und Terese samt Lois und Barbi so lange mit ihrem Mitleid zu überschütten, bis es einen richtigen Krach gab. Denn diese drei wandelten im Karwendel tatsächlich wie in einem Garten Eden, die hatten noch nicht von dem Baum der Erkenntnis den Apfel: »Wo-du-nicht-bist-da-ist-das-wahre-Leben« gepflückt, die wollten nicht bejammert sein.

Es dauerte lange Zeit, bis jemand kam. Der Hund kroch auf seinen Winterplatz hinter den weiß gekachelten Ofen und kümmerte sich nicht um den Gast. Er hatte beim Beschnuppern offenbar nichts Verdächtiges an ihm gerochen, im Gegensatz zu der alten Paula. Von einem schlechten Gewissen wegen seiner Missetat an dem Clownchen der Frau Waag war ihm auch nichts anzumerken.

Als dann endlich etwas kam, war es noch immer nicht der Dunkelmann aus der Dunkelkammer, sondern ein vierjähriges Ding in blauen Leinenhosen. Das starrte, stoppend unter der offenen Tür, den fremden Mann erschrocken an. Dann machte es sofort wieder kehrt, um zu fliehn.

»Guten Tag«, sagte Glenn schnell und riß sich zu einer Verbeugung zusammen wie vor einer Dame.

Sie war schon wieder draußen. Aber sie klappte noch ein paarmal mit der Klinke hin und her und spitzte zu ihm hinein.

Er sagte »Kuckuck« und schien damit das Richtige getroffen zu haben. Denn beim siebenten Aufklappen der Tür und beim siebenten »Kuckuck« sagte sie auch »Kuckuck«.

Noch eine Reihe Kuckucksrufe hin und her, dann trat sie endlich in die Stube. Langsam schlängelte sie sich an den Tisch, wo die alte Paula ihn placiert hatte.

Er hielt ihr die Hand hin. »Wie heißen Sie, mein Fräulein?«

Sie war viel zu beschäftigt mit seinem Gesicht und seinem Bart, um die Hand zu sehn.

»Weißt du nicht, wie du heißt?« fragte er freundlich. »Oder hast du vielleicht gar keinen Namen?«

»Barbararagatsch« oder so ähnlich klang die Antwort.

»Wie alt bist du denn?«

»Dreißig.«

»Dunnerwetter, das hätte ich aber nicht gedacht! Wie alt glaubst du denn, daß ich bin?«

»Dreiundeinhalb.«

»Ach du lieber Gott, dann bin ich ja noch ein ganz kleines Baby?«

»Bist du auch.«

»So? Was machst du denn mit mir, wenn ich noch so ein kleines Kind bin? Dann bist du meine Mama vielleicht?«

Sie nickte.

»Was machst du denn den ganzen Tag mit mir, Mama?«

»Recht verhauen.«

»So? Und sonst nichts?«

»Doch. Recht fest zupfen beim Kämmen.«

Er hielt die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.

Sie wurde munter. »Und recht viel Seife in die Augen 'reinbringen, wenn ich dich waschen tu, das beißt aber richtig.«

Er schluchzte herzerbrechend, als die Tür aufging und der Papa der kleinen Rabenmutter ins Zimmer trat. Der sagte freundlich: »Sie kommen von Herrn Fergus?«, schob das Madamchen zur Tür hinaus, gab dem Gast ein Kissen, damit er nicht zu hart hockte auf der Bank, die um den Tisch herumgebaut war, holte aus einem Wandschrank Enzianschnaps und Rauchzeug, ließ sich endlich, nachdem er serviert hatte, ihm gegenüber am Tisch nieder. Die Tischplatte zwischen ihnen war außergewöhnlich lang, so daß sie sich gegenübersaßen wie die zwei letzten Kumpane in einer Kneipe – und die Gäste, die zwischen ihnen gehockt waren, hatten alle längst das Lokal verlassen und waren nach Haus gegangen, diese zwei aber hatten ihre Plätze nicht mehr gewechselt und waren nicht mehr zusammengerückt, da doch bald Schluß sein mußte, nachdem die Mitternacht bereits vertan war.

»Sie kommen wegen der archäologischen Ausgrabungen des Herrn Fergus?« Xaver Ragaz blinzelte Philipp Glenn mit freundlichem Lächeln zu. Das Ganze schien nur ein Spaß für ihn zu sein. »Warum kommt denn Herr Fergus nicht selbst, um mir die Antwort auf mein Ultimatum von heute früh mitzuteilen?«

»Ultimatum?« Philipp Glenn blinzelte lächelnd zurück. »Von einem Ultimatum hat mir Herr Fergus nichts erzählt. Übrigens hat Herr Fergus mit diesen archäologischen Ausgrabungen gar nichts mehr zu tun.«

»So?«

»Nein. Das ist meine Sache.«

»So?«

»Jawohl. Die Idee stammt von mir, und die Ausführung liegt auch in meiner Hand. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Herrn Fergus bei unsrer Auseinandersetzung völlig aus dem Spiel lassen wollten, Herr Doktor.«

Xaver Ragaz sah ihn interessiert an. »Das versteh ich nicht. Hat denn Herr Fergus das Waldstück mit den Gruben an Sie weiterverkauft? Warum hat er mir das heute früh nicht gesagt?«

»Das Waldstück mit den Gruben gehört Herrn Fergus. Aber mit der Graberei nach den alten Bergwerksstollen hat er nichts zu tun. Ich weiß nicht, wie gut Sie Herrn Fergus kennen? Aber vielleicht sind Sie Menschenkenner genug, um schon nach einer flüchtigen Bekanntschaft zu wissen, daß er von sich aus niemals auf den Gedanken kommen könnte, nach dem Alten Mann zu buddeln.«

»Das stimmt«, sagte Xaver Ragaz langsam. »Wenn ich Sie recht verstehe, hat also Herr Fergus vor vier Wochen dieses Waldstück ohne jeden Hintergedanken von mir gekauft? Durch einen Zufall sind dann Sie dazu gekommen – ein Verwandter von Herrn Fergus?«

»Nein, ich bin nicht mit Herrn Fergus verwandt.«

»Oder ein Geschäftsfreund von Herrn Fergus?«

»Nein, ich mache keine Geschäfte, ich bin nur zu Gast im Pürschhaus.«

»Gut, einfach als privater Gast, und haben diese Entdeckung gemacht? Aha! So ist die Sache? Ja, da tu ich dem Herrn Fergus tatsächlich schwer Unrecht! Ich hab mir die Geschichte ganz anders vorgestellt.«

»Wie haben Sie sich denn die Geschichte vorgestellt?« fragte Glenn vorsichtig.

»Ich konnte mir nicht denken«, sagte der andere in liebenswürdigem Ton, »daß der Zufall in diesen vier Wochen eine so große Rolle gespielt hat. Ich dachte, Herr Fergus hat schon bei unserer Verbriefung ganz genau gewußt, was er mit diesen alten Gruben anfangen will. Aber bei dieser Verbriefung hatte ich doch eine lange Auseinandersetzung mit ihm, aus der ihm klar werden mußte, wie ich zu diesen Dingen stehe – ist Ihnen das bekannt?«

Glenn nickte ungeduldig.

»Das ist nämlich meine Heimat, dieses Ladiz«, fuhr der andere fort, »meine erste und meine zweite Heimat. Und Herr Fergus wußte ganz genau, daß ich dieses Waldstück mit den alten Gruben unter keinen Umständen als Spekulationsobjekt verkaufen will. Wir schrieben zwar in unserm Vertrag nur, daß der Weiterverkauf und der Anbau ausgeschlossen bleiben müßten, von einem alten Bergwerk oder sonstigem Zeug steht tatsächlich nichts drin, aber nach unserer Besprechung war das alles in unserer Klausel inbegriffen. Sie können verstehn, daß ich wütend war, als ich dann plötzlich hinter den Trick kam?«

»Nein«, sagte Glenn kurz.

»Nein? Wenn Herr Fergus schon beim Kauf diese Bergwerksidee gehabt hätte, vor vier Wochen, im Juni, dann hätte es sich doch um einen ganz gemeinen Reinfall meinerseits gehandelt? Verstehen Sie das nicht? Dann wäre ich gegen diese Übertölpelung vorgegangen, auch wenn die Sache juristisch nicht ohne weiteres klar gewesen wäre. Nicht mit einem Prozeß, sondern auf meine eigene Weise wäre ich gegen diese Blufferei vorgegangen, das können Sie mir glauben. Verstanden?«

Glenn antwortete nicht.

»Aber nach Ihrer Darstellung liegt die Sache anders? Herr Fergus hat das Waldstück ganz genau so naiv gekauft, wie ich es verkauft habe? Und dann erst kam durch Sie diese Idee mit der archäologischen Ausgraberei dazu! So ist die Geschichte? Ja, da wird nichts mehr zu machen sein? Darf ich Ihnen noch ein Glas Enzian eingießen?«

Glenn begann sich zu amüsieren. Er hörte ganz genau, was los war. Der Klotz da! Mit den strahlenden Enzianaugen und mit dem gastfreundlichen Enzianschnaps! Der wollte ihn zu einer recht plumpen Lüge verleiten, um dann seine verhaltene Wut hemmungslos ablaufen lassen zu können. »Besten Dank«, sagte er lachend, während sein Glas nachgefüllt wurde, wobei der andere sich über die Tischplatte hinüberlegte wie über einen Drahtverhau. »O nein, so war die Sache natürlich nicht, das wissen Sie selber ganz genau. Warum wollen Sie, daß ich Sie anschwindle? Herr Fergus hat selbstverständlich dieses Waldstück erst von Ihnen gekauft, nachdem ich ihm diesen archäologischen Floh ins Ohr gesetzt hatte.«

»Dann ist das Ganze eben eine Gaunerei«, sagte Ragaz ruhig.

Glenn, eingedenk der Fergusschen Friedensbereitschaft, gab keine Antwort.

»Wenn ich einem Menschen etwas abkaufe«, dozierte Ragaz, »und bespreche mich vor meinem Kauf mit diesem Menschen, und es wird bei dieser Besprechung jede Spekulation ausdrücklich ausgeschlossen, ich aber sehe bereits etwas ganz anderes hinter dem Kaufobjekt als mein Verkäufer und verheimliche ihm dies: dann begehe ich eben eine Gaunerei, da gibt es kein Wort darüber zu verlieren.«

»Lieber Doktor Ragaz, Sie können unsern guten alten Fergus keinen Gauner nennen.«

»Warum denn nicht?« Die Enzianaugen unter dem ungekämmten dunklen Schopf waren aufrichtig erstaunt.

Glenn lachte versöhnlich. »Das geht zu weit. Und es ist ja auch gar nicht gesagt, daß in diesen alten Löchern irgend etwas gefunden wird.«

»Aber darum handelt es sich doch gar nicht! Ob da prähistorische Millionenwerte drinstecken oder ein frischer Kuhmist, das ist mir ganz gleich, Herr Klemm –«

»Glenn, Philipp Glenn –«

»Vollkommen gleich, Herr Philipp Klemm –«

Der Klotz kannte seinen Namen nicht, der hatte nichts von seinem Ruhm als Maler gehört, von dem teuer erkauften Ruhm in Kadmium und Ockergelb.

»Und ob das Recht der Juristen mich gegen diese Gaunerei schützt oder nicht«, fuhr er fort, »das ist mir ebenfalls gleichgültig. Ich will einfach nicht, daß im Ladiz solche Geschichten passieren. Hier ist nicht der Platz für solche Sensationen. Wenn die Herren im Pürschhaus sich langweilen, sollen sie wieder abreisen, aber nicht unsern Erdboden durchwühlen. Und für Spekulationen ist die Börse da. Vor allem aber bin ich nicht gewillt, mich von meinem lieben Nachbarn wie ein kleines Kind oder wie einen altersschwachen Bauern behandeln zu lassen. Oder sagen wir gleich, ich werde mich weder bluffen noch begaunern lassen.«

»Dixi, basta!« sagte Glenn im gleichen Herren-und-Wauwau-Ton; sie fingen plötzlich beide an zu lachen und schauten sich in die Augen wie Schulbuben, die eine gemeinsame Sache gegen den Lehrer herausgefunden haben.

Aber diese freudige Gemeinschaftlichkeit dauerte nicht länger als zwei Sekunden, dann wiederholte Xaver Ragaz: »Dixi, basta«, in einem Ton, der jeden Scherz von der Tischplatte herunterwischte.

»Gut«, sagte Glenn drohend, »hängen Sie Herrn Joseph Fergus aus Bremen einen Prozeß an.«

»Ich denke nicht daran«, erwiderte Ragaz. »Ich glaube zwar bestimmt, daß ich keine schlechten Aussichten hätte, diesen Prozeß selbst gegen Herrn Joseph Fergus aus Bremen zu gewinnen. Für einen guten Rechtsanwalt muß es eine Kleinigkeit sein, eine vorläufige Verfügung zu bewirken, oder wie das Zeug heißt, und den ganzen Kauf mit irgendwelchen Paragraphen anzufechten und rückgängig zu machen. Fällt mir aber gar nicht ein! Das Leben hier im Ladiz ist ein wenig anders, wie die Herren im Pürschhause zu glauben belieben, Herr Klemm.«

»Glenn ist mein Name.«

»Es soll aufgehört werden zu graben, Herr Klemm. Und Herr Fergus soll sich bei mir entschuldigen, weil er mich für einen Idioten gehalten und zu übertölpeln versucht hatte. Das ist die Sache, Herr Klemm.«

»Ich will es ihm sagen, Herr Klaraz.«

»Was?«

»Ich werde Herrn Fergus Ihre Wünsche mitteilen, Herr Klardaz.«

»Ich heiße Ragaz.«

»Verzeihung.« Er stand auf. »Herr Garaz.« Auch der andere erhob sich, »vielleicht erfüllt Herr Fergus Ihren Willen? Ja, ganz gewiß, ich glaube bestimmt, er wird sofort Ihre sämtlichen Wünsche erfüllen. Er ist ein sehr friedfertiger braver alter Herr und möchte unter allen Umständen gute Nachbarschaft mit seinem einzigen Nachbarn halten.«

»Gute Nachbarschaft, selbstverständlich«, sagte Ragaz, »mit gelegentlichen kleinen Gaunereien.«

Sie standen sich jetzt gegenüber und beguckten sich aus der Nähe. Glenn fühlte, wie schmächtig er neben dem durchtrainierten Lümmel wirkte. Daß die Verhandlungen in diesem Ton nicht weitergeführt werden konnten, war sicher. Man durfte den guten Fergus nicht andauernd als Gauner hinstellen lassen. Aber so, wie der andere es ansah, war's vielleicht wirklich unrecht gewesen, die Idee vom Alten Mann beim Kauf zu unterschlagen?

Ach was! Es war unter allen Umständen eine lächerliche Empfindlichkeit, wie der Lümmel die Graberei anfocht. Ein paar Hintergedanken waren bei jedem Kauf und Verkauf unvermeidlich. Wie käme es sonst zu dem bekannten Rollen des Dollars, das den Pulsschlag des modernen Lebens bildete?

Aber der andere wußte ja selber ganz genau, daß man ihn nur auf eine Weise, wie sie unter Geschäftsleuten üblich war, hereingelegt hatte. Im Grunde seiner Seele ärgerte er sich ja auch gar nicht über den Reinfall. Im Grunde seiner Seele ärgerte er sich nicht einmal über die Blamage, daß er die alten Stollen für natürliche Gruben gehalten hatte und jetzt von den zugereisten Städtern belehrt werden sollte. Nein, der war im Grunde seiner Seele nur froh, ein Objekt zum Krachmachen gefunden zu haben, das sah man den strahlenden Schnapsaugen deutlich an.

Gut, er sollte seinen Krach haben. Zu einer Rauferei würde es ja nicht gleich kommen? Dazu war wohl die Sympathie zu groß, mit der sie sich jetzt beguckten? Und geistig diesen Helden von Ladiz aus den Angeln zu heben, dürfte wohl nicht allzu schwer sein?

Er zündete sich eine von seinen eigenen Zigaretten an, während er sich zum Gehen wandte. Der andere war Nichtraucher und hatte ihm offenbar seine Briefträgerzigaretten angeboten, ein übles Kraut. »Sie haben bestimmt«, sagte er beim Anrauchen, »das reizendste kleine Mädchen, das auf der Welt herumläuft, Doktor Ragaz.«

»Nicht wahr? Das glaube ich auch.«

Er schien keine Sekunde lang zu bedenken, daß vielleicht irgendwo auf der Welt ein zweites reizendes Mädchen existieren könnte.

»Und das schönste Haus, das ich kenne«, fuhr Glenn fort.

»Es ist ganz und gar aus Lärchenholz gebaut.«

»Aber das ist ein Jammer«, sagte Glenn, »daß mein Freund Fergus jetzt ohne weiteres nachgeben wird. Nicht wahr? So wie ich Fergus kenne, hört er nämlich noch heute mit der Graberei auf, entschuldigt sich bei Ihnen und bietet Ihnen irgend etwas Liebenswürdiges an. Entweder daß der Kauf rückgängig gemacht wird, damit Sie selber weitergraben können. Oder daß die Skelette des Alten Mannes und seine bronzenen Waffen und Schmuckstücke mit Ihnen geteilt werden. Ich glaube nämlich nicht, daß wir irgendwelche Funde aus der Steinzeit zu erwarten haben, sondern nur Dinge aus der Bronzezeit. Obwohl mich die Dinge aus der Steinzeit viel mehr interessieren würden – Sie kennen doch die Ausgrabungen aus dem Drachenloch im Taminatal bei St. Gallen?«

»Nein!«

»Schade. Ich meine schade, daß es sich nicht um solche ganz alten Funde handeln wird, der Stollenanlage nach. Die Funde im Drachenloch rühren noch von der letzten Zwischeneiszeit her.«

»Sehr schade«, erwiderte Ragaz lachend. »Mein herzlichstes Beileid, wenn es nur ein Stollen aus der Bronzezeit ist, nur dreitausend Jahre alt. Ich hätte Ihnen von Herzen einen dreißigtausendjährigen Fund gegönnt, Herr Klempel.«

Glenn lachte vergnügt mit. »Aber das ist ja jetzt ganz egal. Fergus wird, wie gesagt, die ganze Buddelei sofort einstellen. Und Sie, lieber Doktor, Sie sind dann – mitsamt Ihrem reizendsten Töchterchen der Welt, mitsamt Ihrem ganz und gar aus Lärchenholz gebauten Haus, mitsamt Ihrem alpinen Ruhm, von welchem bereits gehört zu haben ich die Ehre habe –, Sie sind dann von oben bis unten ausgeschmiert.«

»Wieso?« sagte der andere und riß bei dem plötzlichen Angriff die Augen auf.

»Wieso? Ja, das weiß ich auch nicht. Aber ausgeschmiert sind Sie, wenn alles wieder in Ordnung sein wird, das wissen Sie selber am besten. Auf Wiedersehn! Ich muß Fergus gleich die traurige Botschaft bringen, damit die Arbeit noch heute eingestellt wird.«

»Warten Sie einmal noch einen Augenblick«, sagte der andere. »Was reden Sie da für Zeug daher? Glauben Sie vielleicht, ich protestiere zum Spaß gegen diesen Bluff des Herrn Fergus?«

»Natürlich, zum Spaß, das ist das richtige Wort. Nachdem Sie an sich selber keinen Spaß mehr finden, suchen Sie woanders Ihren Spaß.«

»Ah?« Der Klotz stierte in heller Neugier auf ihn.

Glenn lachte. »Wie gesagt: ein Jammer, daß Sie bei dem guten alten Reeder aus Bremen dabei kein Glück haben werden. Der hat andre Sorgen. Der hat nicht den geringsten Sinn für derartige Späße. Der gibt ohne weiteres klein bei, und fertig.«

»Sie sind ja ein großartiger Kerl«, sagte Ragaz und wandte den Blick nicht mehr von ihm. Er schien ehrlich begeistert zu sein. »Wie ist das? Ich suche mir woanders Spaß, nachdem ich an mir selber keinen Spaß mehr finden kann? Wie kommen Sie denn darauf, daß ich an mir selber keinen Spaß mehr habe?«

»Das ist doch nicht schwer zu sehn? Darauf komme ich genau so einfach, wie ich auf die Idee mit den Stollen am Alten Mann gekommen bin.«

Er fühlte, daß er Oberwasser bekam, und sprach jetzt so leichthin und gelangweilt, wie er nur konnte. »Ich hab so im Vorübergehn mal hingeschaut und hab's gesehn.«

»Ach was?« Er äffte Glenns Stimme nach, die sehr hoch in der Tonlage war und zuweilen ein bißchen in die Fistel überschlug. »So im Vorübergehen mal hingeschaut und gleich alles gesehn?«

»Alles«, beteuerte Glenn. Er begann den Klotz, der sich von der körperlichen Überlegenheit aus über ihn lustig machte, ernsthaft zu hassen. »Ob ich mit meinem kurzen Blick auf die Gruben recht behalte, wird trotz Ihres sinnlosen Protestes die Zukunft lehren, lieber Doktor Ragaz. Wir denken natürlich nicht daran, mit der Graberei aufzuhören! Aber mein Blick auf Sie, lieber Doktor Ragaz, der hat mich sicher nicht getäuscht. Oder wollen Sie leugnen, daß es Sie graust vor dieser Vita Nuova hier?«

»Vor was?« fragte Ragaz. »Vor was graust mir?«

»Vor diesem Paradies, das Sie sich hier errichtet haben, während die arme Welt da drunten im Tiefland hübsch langsam an der Zivilisation, oder weiß der Teufel an was, verreckt.«

»Ah? Das nennen Sie Vita Nuova, mein Leben hier?«

»Nennen Sie es, wie Sie Lust haben! Auf das Wort kommt es mir nicht an, Arche Noah, Auf-den-Bergen-wohnt-die-Freiheit, Vita Nuova, das Wort spielt keine Rolle.«

»Nennen wir's Vita Nuova«, sagte Ragaz spöttisch. »Das gefällt Ihnen also nicht, diese Vita Nuova hier?«

»Mir? Mir gefällt es ausgezeichnet. Ich sage, daß es Ihnen nicht gefällt. Sie haben keinen Spaß mehr dran, behaupte ich, von mir ist hier gar nicht die Rede.«

»Nur so im Vorübergehn mal hingeschaut und gleich alles gesehn?« wiederholte Ragaz und begann herzhaft zu lachen. »Gar keinen Spaß mehr an meiner Arche Noah? Zum Kotzen das ganze Paradies hier, was?«

»Sehr richtig«, sagte Glenn und machte eine Verbeugung vor der Dame des Hauses, die bei den letzten Worten ins Zimmer getreten war.

Sie war über ihren Zeitungen und Magazinen eingeschlafen gewesen und hatte keine Ahnung gehabt, daß Besuch in der Stube war. Die alte Paula war natürlich wieder mit den Kindern fortgegangen, ohne ihr ein Wort zu sagen. Sie war im gleichen Kostüm wie ihre kleine Tochter, Leinenhose mit weißer Bluse.

»Darf ich dir Herrn Klempimski vorstellen«, sagte Xaver, »ein Freund von Herrn Fergus –«

»Von Herrn Fergelmeier«, verbesserte Glenn.

»Richtig, Fergelmeier«, verbesserte sich Ragaz strahlend. »Schau ihn dir nur gut an, mein Kind, das ist der wahnsinnigste Menschenkenner, den man zur Zeit sehen kann. Er schaut im Vorübergehn nur so hin und weiß alles, dem kannst du nicht so viel vorschwindeln wie mir, meine Liebe. Bitte, mach uns einen Tee, die Aufnahmen sind wundervoll geworden – Sie trinken doch eine Tasse Tee mit uns?«

»Nein, besten Dank, ich muß zu Herrn Fergelmeier, ich muß ihm sofort Bescheid bringen, die Arbeit muß sofort eingestellt werden, jeder weitere Spatenstich wäre ein Verbrechen gegen die Vita Nuova von Ladiz.«

Dieses Hin-und-Her mit der Graberei – vorher hatte er gesagt, es würde unter allen Umständen weitergegraben werden – konnte nichts anderes wie eine Anödung sein. Das hörte man auch am Ton. Um so erstaunlicher war Xavers Antwort. »Bleiben Sie doch zu einer Tasse Tee, Herr Philipp Glenn«, sagte er in verbindlichem Ton. »Wir haben nicht oft Gelegenheit, mit einem so großen Maler unsern Tee zu trinken. Sie sind doch der Maler Glenn? Ich habe Sie nach Ihrem Selbstporträt, von dem ich einmal eine Reproduktion gesehen habe, sofort erkannt.«

Glenn machte eine kleine erstaunte Verbeugung.

»Bleiben Sie«, sagte die Frau, »der Tee wird gleich fertig sein.«

»Besten Dank«, sagte Glenn und nahm an.

Er fühlte sich trotz seiner Wut auf den Klotz in der langen niedrigen Stube sehr geborgen. Während Terese aufdeckte und den elektrischen Kocher ansteckte, setzten sich die Männer wieder an den Tisch. Ragaz erzählte seiner Frau von den Photos aus der Ladizer Wand und ließ für den Gast kleine Erläuterungen einfließen:

»Die Aufnahmen von meiner letzten Tour – Nordwand in der Gipfellinie – Schlosserei nennt man im Alpinismus eine grifflose Stelle, wo man sich mit Mauerhaken behelfen muß – Seilmanöver«, und lauter solches Zeug, von dem Glenn nichts wußte. Aber es wurde ohne fachmännischen Hochmut vorgebracht.

Terese fragte Glenn nach einigen seiner Bilder, die sie kannte, Glenn wußte selber nicht, wo diese Bilder jetzt steckten, verkauft waren sie. Er sprach von seiner Kunst genau so leichthin wie der andere von seinen Felsen. Von den Gruben und Herrn Fergus, von der Vita Nuova und dem angezweifelten Paradies wurde kein Wort gesprochen, solang die Frau da war. Das war wie eine stille Verabredung.

Aber gleich, nachdem Terese die Stube verlassen hatte, um nach den Kindern zu sehn, fing Ragaz wieder an. »Sie sind also wirklich der Meinung, daß ich gegen die Gaunerei des Herrn Fergus nur deswegen angehe, weil mir diese Vita Nuova hier keinen Spaß mehr macht?«

»Aber lassen wir das doch«, sagte Glenn ärgerlich.

»Nein, ich will Antwort haben«, sagte Ragaz drohend. Die familiäre Milde, die während der Teestunde dagewesen war, war wie weggeblasen. Es war schlimmer als zuvor.

»Weswegen sonst?« antwortete Glenn. »Doch nicht aus Gerechtigkeitsfanatismus? Daß solche spekulativen Gedanken bei jedem Kauf und Verkauf mitspielen, dürfte Ihnen wohl bekannt sein? Außerdem läßt auch Herr Fergus mit sich reden, wenn wirklich wertvolle Dinge an den Tag kommen. Er bietet Ihnen ganz gewiß irgendeine Entschädigung an, wenn Sie manierlich mit ihm verhandeln. Wozu also diese Geschichten? Um die Einsamkeit von Ladiz zu bewahren? Dann müssen Sie erst mal das Pürschhaus anzünden und alle Sommertouristen, die hier vorüberkommen, abknallen. Machen Sie sich doch nichts vor! Mit dem Paradies hier ist nichts los, ob in diesen alten Gruben gegraben wird oder nicht. Und weil mit dem Paradies hier nichts los ist, fangen Sie Krawall an.«

»Ah? Und Sie und Herr Fergus, ihr seid mit eurem Paradies ganz zufrieden, mit eurer Vita Nuova im Pürschhaus?«

»Herr Fergus geht mich nicht das geringste an«, erwiderte Glenn, »Herr Fergus mag tun und lassen, was er will. Ich selbst habe mir kein Paradies aus Lärchenholz und keine Vita Nuova aus Marzipan und Einsamkeit aufgebaut, also habe ich auch keinen Grund, damit unzufrieden zu sein.«

»Was haben dann Sie aufgebaut, wenn ich fragen darf?«

»Nichts.«

»Ihre Malerei?« Es lag kein Spott in dieser Frage. Es klang nach ehrlichem Interesse.

»Keine Rede«, erwiderte Glenn in ebenso ehrlichem Ton, »ich habe meine Malerei aufgesteckt.«

»Tatsächlich? Was ist denn dann Ihr Ideal von einer Vita Nuova, oder wie Sie das nennen wollen?«

»Nichts.«

»Sind Sie Nihilist?«

»Genau das gleiche hat mich heute schon jemand gefragt, eine arme kleine Puppe aus der großen Welt.«

»Und was haben Sie ihr geantwortet?«

»Geben Sie sich mit einer Weiberantwort zufrieden?«

Ragaz sah ihn schweigend an. Sie hatten jetzt in vollem Ernst miteinander gesprochen, zum erstenmal ohne die armselige Larve aus Ironie, mit welcher die Männer jener Epoche ihre Männerverzweiflung verhüllen mußten. Eine tiefe Trauer ging von dem eleganten schmalbrüstigen Maler aus, kein Zweifel.

Glenn fühlte, daß der andere seine Verzweiflung entdeckt hatte. Nein, er hatte nichts aufgebaut, keine Vita Nuova, keine Arche Noah, kein Lärchenholzparadies, kein unsterbliches Werk, nichts. Und doch war er Herr über den andern. Besser keinen Kompaß als einen falschen Kompaß.

»Kennen Sie das Lied von Jack the sailor, Doktor Ragaz?« fragte er.

»Nein.«

» Jack is very inch a sailor, nein?«

»Nein.«

»Jack kauft sich für seinen Segelkasten einen Kompaß, weil alle andern Seeleute auch mit einem Kompaß fahren. Er erwischt aber ein altes Blech von einem Kompaß und fährt damit ganz woanders hin, als er wollte. Im nächsten Hafen kauft er einen neuen Kompaß, da passiert ihm der gleiche Zimt. Und so weiter. Zum Schluß merkt er, daß mit den Kompassen nichts mehr los ist auf der Welt, da fährt er wieder ohne Kompaß, da ist er wieder Jack, der alte Jack, every inch a sailor, auf seine eigene Weise. Oder wie es im Sprichwort heißt, lieber keinen Kompaß als einen falschen. Ist Jack deswegen ein Nihilist, weil er die Kompasse als Schwindel befunden hat und lieber seine eigene Route fährt? Ich denke, man solle eher die Leute mit den falschen Kompassen Nihilisten nennen, wie?«

Ragaz schwieg.

»Vor allem«, sagte Glenn, »wenn diese andern Leute ganz genau wissen, daß ihre Kompasse nichts mehr taugen und doch noch die Segel danach stellen. Das ist ja eine gefährliche Fahrerei, ui, ui!« Er griff nach seinem Hut, der bei dem Köter auf der Ofenbank lag.

»Auf Wiedersehn, Herr Noah.«

»Auf Wiedersehn, Jack«, sagte Ragaz und brachte ihn vors Haus.

Als Glenn am unteren Gatter sich umdrehte, stand der andere noch an der Haustür und sah ihm nach.

Glenn hielt die Hände vor den Mund und rief zurück: »Also wir graben weiter nach dem Alten Mann, das haben Sie doch verstanden?« Es scherte ihn nicht im geringsten, daß seine Stimme auf die weite Entfernung hin wieder in die Fistel umschlagen mußte.

»Nur zu!« rief der andere mit seinem festen Tenor zurück. »Das bißchen Dreck, was ihr da aushebt, hab ich ja gleich wieder zugeschüttet. Paß nur gut drauf auf, Bubi!«

»Wir haben keine Angst, Herr Vita Nuova.«

»Zum Schluß gibt's eben Prügel«, rief Ragaz und schämte sich im gleichen Augenblick, daß es ihm entfahren war.

»Und ganz zum Schluß zünden wir dann die Arche Noah an, die lärchene Arche Noah mit dem falschen Kompaß«, rief der Kleine mit der Fistel, wandte sich und schlenkerte talwärts.


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