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Hat das Gesetz der Liebe versagt?

Das Prinzip auch eines religiösen Gesetzes ist etwas anderes als seine geschichtliche Anwendung und Wirkung, seine Verwirklichung. Die Immanation des Transzendenten bringt irdische Bedrängnis mit sich; schon die Verkündigung metaphysischer Botschaft braucht menschliches Ohr und weitertragend menschlichen Mund. Das Vollkommene spricht im Unvollkommenen. Das »Wort« wird auch in einem niedereren Sinn »Fleisch«. Vollends die Institution, die selbstverständliche notwendige Gebrauchsgestalt spiritualer Elemente muß sich in einem scharf polarisierte Widersprüche überspannenden Kompromiß darstellen. Eben Augustinus, der dem Christentum die kirchliche Form gab, es gleichsam zu einem geistigen Innenreich über dem zerfallenden altrömischen Außenreich erhob, zum Gottesstaat im Weltstaat, er hat in jenem großen tragischen Gesicht von solcher Auseinandersetzung und Schlichtung des himmlisch-irdischen Gefüges gezeugt.

Und die Geschichte des Christentums hat auf der menschlichen Schaubühne in noch tieferer Tragik den naturgesetzlich heillosen Zwiespalt erhellt, welcher auch durch dieses Werk des Heiles hindurchgehen muß. Die heroische Forderung des »reinen Evangeliums« lag in dauerndem Widerstreit gegen jenen doch notwendigen Kompromiß, welcher den guten Willen für Tat nimmt, eben mit der Schwäche des natürlichen Sünders, mit dem »Gesetz in den Gliedern« rechnend. Das »Wort« bestritt das »Fleisch«, das »Fleisch« das »Wort«. Darin ging das innerkirchliche Drama vor sich, daraus wuchs die mittelalterliche Kultur, welche, durch die metaphysische Einheit gebunden, ein geschlossenes und doch farbenreiches Gebilde wurde. Die Askese trieb daraus ihr Wesen, die Katastrophenprophetie der Bußprediger (Dies irae), die Mystik, das Ketzertum, alles ging nach Durchwühlung der angesetzten Kruste hindurch zur inneren Fülle. Auch die Reformation brach aus solchem Drang hervor. Und das äußere Tagwerk der Kirche war der Kampf um Durchsetzung und Behauptung, um die Glorifizierung des »Gottesstaates« im »Weltstaat«. Schwert und Blut sind dessen historische Zeichen gewesen. Es entstand jene dauernde steile Rivalität mit den Mächten der Welt und der grobe verderbliche Mißbrauch der verquickten Fremdkörper. Die Gottesverstaatlichung der Welt mißlang in dem großzügigsten Experiment der Geschichte. Ja selbst die werkbündige Gesellung der beiden Gewalten, anstelle der imperialen gleichsam die konsularische Welt-Kirchengemeinschaft zu setzen, blieb Fehlversuch. Die Kirche mußte sich auf ihr Selbstwesen zurückziehen, denn dieses ist das Gesetz ihrer Existenz und Funktion. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Von diesem Eigengrund geht ihre Wirkung in das »Säculum«.

Die breite Abkehr des abendländischen Geistes ins Lager des »Weltstaats«, die religiöse Verarmung der Zeit ist der letzte Erweis des falschen Unternehmens, das Innere auf das Äußere gründen zu wollen. Bibliotheken voll Bücher sind im Lauf der Jahrhunderte gedruckt worden, angefüllt mit Leidensdokumenten und Kriterien solchen Irrwegs. »Babylon« und »Jerusalem« sind zwei Städte.

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Doch aus dem Anblick erscheint großes Wunder: Das so geschichtlich belastete Gebilde des Christentums ist nicht zusammengebrochen, noch verdorben. Immer wieder brach magische Kraft hervor, geschah auch an ihm eine unbegreifliche creatio continua, deren Motiv nicht von dieser Welt sein kann.

Und tiefer sehend entdeckt das Auge: unter jener Schicht der Verquickung ist der Sinn, das Vermächtnis des Evangeliums immer dagewesen, wuchs, blühte, trug Früchte, lag saftig beschlossen wie ein Kern in umstachelter Schale. Charisma und Pneuma waren ungeschwunden. Im Gesetz der geist-stofflichen Reibung war das Gesetz der Liebe nicht zerrieben worden. Ein Himmel hat sich aus ihm mit Heiligen gefüllt; die Blume der christlichen Demut wuchs darin, das Gemach der Ehrfurcht baute sich und die Tiefe des reinen Seelengrundes. Das Menschenherz wurde ein Instrument stiller Fühlfähigkeiten, Menschengeist ein Spiegel des heiligen Sinnbildes. Der spendevolle Begriff des christlichen Opfers bildete sich unter dem immerwährenden Zeichen des Herrenopfers, welches die Gemeinschaft des Glaubens erhielt, auch über Spaltung und Zerklüftung hinüber.

Der Kanon der evangelischen Botschaft bestand den Wandel. Die Kirche, Christi Leib, blieb.

Ein edler jüdischer Denker sagte etwa, seit den Kreuzzügen sei aus der christlichen Theologie eine Durchsüßung des Weltwesens ausgegangen und (für Deutschland) ein nicht unterbrochener Strom nationalen Denkens.

Dies ist festzustellen: Das Christentum hat der Menschheit das Grundgefühl ihrer inneren Einheit geschenkt, das geistige, soziale Element.

Es vererbte, geschichtlich gesehen, auch der scheinbaren Restauration antiken Persönlichkeitsideals, dem Humanismus das, was wir noch als dessen inneres Spezifikum empfinden: Im bewußthaft gebildeten Menschen das Fluid einer gemeinsamen Wesenheit. Und der durch Lautvariante bezeichnete, aber nicht identische Begriff der Humanität, der reinen Menschlichkeit, der Gefühlsgehalt des »Seid umschlungen Millionen!«, des »Brüder reicht die Hand zum Bunde!« erweist sich als ein ideell verblaßtes Kind der Agape. Ja der revolutionäre Schrei nach der »Gleichheit und Brüderlichkeit« ist nur das durch die Aufklärung des religiösen Pneumas beraubte Wort der johanneischen Bruderschaft. Und zuletzt: Sozialismus wie Kommunismus hätten im Abendland nicht so breiten und bereiten Boden finden können, hätte das Christentum diesen nicht mit seinem transzendental vertieften Liebesgedanken durchfermentiert.

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Scheinbar aus einer Antithese gewachsen, zieht die kommunistische Idee ihre Grundkraft unbewußt aus verleugnetem Muttergrund. Wenn deren Verfechter gleich redlich glauben, aus materialistisch-mechanistischer Selbstkraft ihre Fiktion verwirklichen zu können, dann wird die Geschichte jetzt oder später eine grundsätzliche Enttäuschung feststellen. Wie schon heute die gegenchristliche, gewalttätig eingeführte Staatskommune Rußlands vielmal mehr Blut vergossen hat als die Religionskriege aller Zeiten zusammen.

Auch in der furchtbar aufgebrochenen Frage nach der neuen Gesellschaft muß das religiöse Motiv wieder wirken, der kosmische, dynamische Lebensbegriff, das   x. An sich und weil auch die Gegenmacht des kapitalistischen Mammons ungeistigen Wesens ist, Stoffmacht gegen Stoffmacht nie zuständlich siegen kann.

In einem Sozialistenblatt steht gedruckt:

»Es läßt sich nicht verhehlen, daß irgend etwas in uns zerbrochen ist, und es steht uns schlecht an, überheblich von der ›verlorenen‹ Kirche zu reden. Wer unsere Situation erkannt hat, muß bekennen, daß ein lebendiges Ringen um neue Innerlichkeit unter uns wirkt, daß es sich nicht mehr um die Eroberung des Wissens, nicht um das rein verstandesmäßige Erfassen des Wesens der Dinge handelt, sondern um das Erlebnis, um den neuen Menschen.«

Vom Gesetz der Liebe aus läßt sich der neue Mensch, sein Erlebnis und seine neue Ordnung finden. Die Freiheit dieses Gesetzes (es ist das einzige, welches den Widerspruch in sich löst), keine Diktatur der Stoffteilung vermag sie zu schaffen. Freilich auch nicht allein, denn die Ordnung wird Institution, also Menschenwerk, Symbiose der Unvollkommenen, der natürlichen Sünder sein, welche der harten Notwendigkeit der auctoritativen Macht nicht entbehren können, der Mitbestimmung des Stoffes.

Das Christentum hat das gerechte Gesellschaftsprinzip selbst auf eine höhere Parallelebene gehoben, zu einer metaphysischen Forderung gemacht, zu einem A priori, einem kategorischen Gemeinwillen. Die »Menschenrechte« sind sein Geschenk an die Zeit, auch wenn diese es aus ganz anderem Gesichtskreis als ihr eigenes Gemächte sieht.

Das neue Heidentum allein gelassen wird die Gabe mitsamt der Zeit verderben.

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Peter Rosegger sagt, an Weihnacht denkend:

»Der heilige Abend und der Christtag! Zwei Tage haben wir im Jahre, an welchem die Liebe herrscht, die vor nahezu zweitausend Jahren der Heiland geoffenbaret hat. Wenn jedes neue Jahrtausend auch nur einen Tag der selbstlosen Liebe in das Jahr dazu legte, so brauchten wir nur mehr dreihundertdreiundsechzigtausend Jahre, bis die Erde – vorausgesetzt, daß sie solange das Leben hat – ein Himmelreich ist.«

Vielleicht auch steht der Stern von Bethlehem höher im Zenit über uns, als unser Auge sieht.

So wir guten Willens sind …

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Wiederum das Elixier? Wenn die 760 Millionen Christen des Namens Christen des Wesens würden! Das Gesetz der Liebe wäre gegeben. Es wäre die Weltmacht.


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