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Die letzten Dinge

Welche Gewalt in die Menschen einbrach, dafür zeugt, daß die Gemeinde des Erschienenen akut den Anbruch der letzten Dinge erwartete. Und zwar nicht nur als ekstatische Protuberanz zeigte sich diese Enderwartung, wie die Propheten und Johannes der Täufer sie schon schwächer um sich entzündet hatten. So sehr riß das Begebnis die Gefühle an sich, daß der messianische Magnet die Anschauenden gleichsam vom Erdboden abhob. Sie fanden sich nimmer ganz darauf zurück, verloren die Eutropie, die Beheimatung. Auch die jüdische und heidnische (naturhaft duldsame) Umwelt empfand die neue Sekte fremdkörperlich, als etwas gefährlich Anderes und bot die Staatsmacht dagegen auf. Schon Petrus und Paulus wurden zu Märtyrern.

Die protestantische Theologie erörtert immer wieder den eschatologischen Charakter nicht nur des Urchristentums, sondern der Evangelien und meint, auch Christus sei in dem Wahn befangen gewesen, das »Reich« stehe leibhaftig bevor. Solche Auslegung dient der von ihren Auctoren gewiß ungewollten Wirkung, seine Gestalt zeitverhaftet und unwirksam zu machen. Die Täuschung ging damals im Kreis der Betroffenen vor sich. Wer so den Vorgang betrachtet, erhält einen schwachen Begriff vom Übermaß jener Gewalt.

Freilich war das »Reich« in die Welt gekommen und hatte das Entscheidende vollbracht: der Mensch war aus dem Bedingten unter das Unbedingte gestellt. Er war gleichsam versetzt in andere Planetenluft. Eine Umwertung seines Wesens, eine Aggregatänderung seiner Vorstellungsmasse geschah.

Die sichtbare Welt war in die unsichtbare übergehängt, abhängig darin eingehängt. Die transzendente Bestimmung wurde der Kompaß des immanenten Lebens. Dessen Selbstwert erlosch vergänglich im unvergänglichen Wert. (Wir warten auf spätere Ausführungen, inwieweit paradox damit doch auch eine neue Objektivierung des Weltwesens sich ergab.)

Es war nicht zeitliche, sondern dauernde Eschatologie, in deren Sicht das Dasein gerückt wurde. Ein esoterischer Zustand.

Aber die Einbildung, wie erschütternd die Urgemeinde von der Lehre befallen, gleichsam davon in sich aufgespalten wurde, wäre wohl einmal einer mitergriffenen, religiösen Dichtervision wert. Denn diese vermöchte vielleicht einen schwachen Abglanz von dem breiten Seelenbeben zu geben.

Die Zeit war unterbrochen.

Der Vorhang im Tempel zerriß.

Die stoffreligiöse heidnische Welt wurde abgelöst durch die geistesreligöse christliche.

*

Es war sinnbildlich eine heliozentrische Entdeckung, der geozentrische Kosmos wurde damals gesprengt. So erscheint es fast merkwürdig, daß des Kopernikus Tat nicht schon mit einherging, ja daß die christliche Kirche sich nach fünfzehnhundert Jahren später dagegen wehrte, dieweil doch darin ein Zeichen für ihr Weltbild stak. Das »Eppur si muove!« hätte zu einem Hymnus werden sollen: »Halleluja si muove!« Auch durch Dantes Querschnitt blickt uns noch unerkannte Ahnung von der verlagerten Spille an:

»Amor che muove il Sol e l'altre stelle«.

Das Christentum brachte die metaphysische Heliozentrik der physikalischen voraus.

*

Ein anderes Zeichenmal, wie elementar umgekehrt das neue Anschauungsgesetz war, zeigt sich aus dem Zerschnitt, welchen das Prinzip von dieser und jener Welt erfuhr: Bös und Gut, Fleisch und Geist, Sünde und Sühne, Verdammnis und Gnade. Die Abgründe der Vorstellung lagen aufgerissen. Tiefste Schrunde klaffte durch die Kämpfe der Apologeten mit Gnosis und Manichäern, von deren Lavaglut wir keine Ahnung mehr haben. Dem Wesen der christlichen Idee nach ist verständlich, daß sich ihr der orientalische Mythos von der absolut guten und der absolut bösen Welt zu versippen suchte, alles Geschöpf sei eines realen Widergottes Werk und Besitz, auch des Menschen Natur und Fleisch durch den Teufel gezeugt. Christi Wort vom »Reich« das nicht von dieser Welt, ließ einen Spalt offen für den Einschlich des monströsen Mißbegriffs. Und jene esoterische Enthebung der urchristlichen Zeitphantasie gab ihm aufgetrennten Raum.

Der heilige Augustinus fügte mit seinem Gottesstaat und Weltstaat den Friedensvertrag des schweren Krieges in den Lehrbestand des Christentums. Es ging eine Gigantenschlacht in dem Kirchenvater vor sich. Das Ergebnis war ein Kompromiß. Übergenug blieb aus jenem radikalsten Dualismus.

Die Probleme wurden zu lastendem, immer irgendwie fremdartigem, argem Geheimnis der kirchlichen Erlösungslehre. In deren helles Angesicht kam der pessimistische Zug, der Satz der Prädestination setzte sich fest, ein schaurig dämonisiertes Kausalgesetz, die Erbsünde erschien als Aussatz auf der Menschenhaut, Askese flocht grimmige Geißel, der Inquisitor stieg vom Altar in die Folterkammer, das Hexengericht beugte den Scheiterhaufen.

Die Einbildung wurde ganz der Erde entrückt, in den Himmel gerissen oder in die Hölle gestoßen.

Alles geschah in ungeheurem, reinem, das Absolute suchendem Ernst. Als von großer Idee beauftragte Fanatiker waren am Werk. Auch bei der blutigen Verbreitung des Christentums und bei dem Streit der »beiden Schwerter«: Papsttum und Kaisertum. Die Scheidung in die zwei Welten war so trennend, daß die wunderbare platonische Idee des römisch-deutschen Reiches sich auch darin spalten mußte, schuldig-schuldlos, zur größten Tragödie der Kirche wie unserer Nation werdend. Der Riß brach schon damals auf für die Reformation.

Das naturgesetzliche doppelte Weltprinzip wirkte wieder. Die transzendent-immanente Spannung, geistig aufgehoben durch das Evangelium, mußte sich zeigen, da die Heilslehre institutionelle Verkörperung brauchte, das ist zur (wenn auch göttlich berufenen) menschlichen Einrichtung werden sollte in einer sichtbaren Kirche.

Das Ungenüge des Bedingten (Materie) mußte im Spiegel des Unbedingten polarer zur Erscheinung kommen. Jene Fülle des Überlichts, welche aus der Heilsbotschaft brach, vergrößerte die Augen auch für das Negativ, die Sünde. Diese wurde aufgedunsen, gewaltiges, feindseliges Eigenwesen, verewigter Schreck. Das Dämonium im Wechselschacht des Zwischenreiches, machte dem Eudämonium, den guten Geistern, die Bahn streitig, um die Menschenseele ging der Kampf, um die ruhelos hin- und hergezerrte. Der Tintenklex an der Wartburgwand ist dessen ein historisches Bleibsel. Jener Zustand der dauernden Eschatologie, des dem Augenblick drohenden Gerichtes, erzeugte die bis zur Widernatur verworrene Scheuelphantasie, den Vorstellungsinzest, worin die geistesreligiöse Botschaft absurd zurückkroch in den überwundenen naturreligiösen Gespensterspuk. Denn das volkstümlich gewordene Bild vom Bösen war durchaus wieder immanenten Wesens, stoffbegrifflich geworden. Von der metaphysischen (wirklich darin steckenden) Tragik der augustinischen Kämpfe war auf der unteren Seite der Erlösungslehre nur die Dialektik des Bußpredigers geblieben.

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Die große Kirchenspaltung hat hier ihren inneren Sitz, nicht in den äußeren Kriterien, worum sie scheinbar ging. Für Luther wurde des Kirchenvaters Erlebnis zum Schicksal.

*

Freilich hat das Übel in jener Polarisierung gegen das so hereingekommene Gut schärfere Kontur und Reagenz erfahren, es geriet in einen grundsätzlicheren chemischen Prozeß; und freilich geschah Gleiches an seinem metaphysischen Zwilling, der Sünde. Beide wuchsen im Gegensatz.

Den vom Licht der Lösung übergossenen Menschen umschattet auch die irdische Bedingnis tiefer. Er verstrickt sich in Wirrnis beim Versuch aus dem Schatten in das Licht zu treten. Die Fatalität der Bindung wächst in dem Blick, erscheint als Verhängnis, eben als das Gespenst der Prädestination. Der Strahl blendet. Das überhell getroffene Auge sieht schwarz. Der Mensch verzagt vor der Gnadenfülle, fühlt sich ohnmächtig und verworfen. Es ist der Kippunkt für das Gefäß der Entscheidung.

Auf anderer Seite bezieht die Sinnenwelt aus der Bescheinung durch die Geistwelt Lockkräfte, welche im naiveren Aspekt der Naturreligion nicht hervortreten. Sie wird geistige Wollust, erhält bedeutungsvolleres Spielfeld und birgt die Wonne des Frevels, die nun erst ganz gereifte »Frucht der Erkenntnis«. Schon die Griechen sahen als oberste der Sünden ὑβρις, die Überhebung, Auflehnung gegen das Noumenon. Der Geheimkern ihrer erschütternden tragischen Dichtkunst stak darin.

Es gibt Gesetze, welche man übertreten kann. Keiner Kreatur sonst ist solche Wahl freigegeben: »Und werdet Gott gleich sein.« Eine ungeheure Macht! Aber das übertretene Gesetz muß seinen Ausgleich suchen in der Strafe, im Fluch.

Luzifer …

Das Dämonium der menschlichen Auserwählung ist herrlich und schrecklich.

*

Im Evangelium wurde es entscheidend durchteilt. Das Eudämonium, die Engel traten aus des Reiches Saum, aus dem Lichtschacht des Zwischenreiches und verkündeten das Heil.

Höher reckte sich der Schatten auf, maß sich noch einmal und mißt sich immer wieder. Aber das Licht hat ihn überwachsen.

Ja hier darf in verwegenem mysteriösen Schluß darauf gedeutet werden, wie Böses und Sünde ja die Voraussetzung des christlichen Wunders sind. Die Erlösung verzehrt die Antinomie unseres Erdendaseins nicht, noch deren Hemmungen, sondern lockert nur beide auf nach der Seite der Erhellung, der Verkündung.

Es ist auch nur ein scheinbar unfrommes Wort des frommen Novalis: Die Sünde sei der große Reiz für die Liebe der Gottheit. Je sündiger man sich fühle, desto christlicher sei man. Vereinigung mit der Gottheit sei Zweck der Sünde und Liebe.

So stehen wir unter dem übernatürlichen Vergleichsgesetz des Naturgesetzes, welche den Zerfallstoff zum Stoff des Wiederaufbaus nimmt.

Im erlangten »Reich« ist die Sünde überwunden.

*

Die Astronomie bemißt Sternnebel als 700 000 Lichtjahre (je 9 467 282 000 000 Kilometer) entfernt. Und da kam auf die kleine Erde zu den Menschen der Sohn des Schöpfers dieser Welten, ward ihrer Einer und starb für sie als Geringster ihresgleichen!

Wer getraut sich noch, solche Inversion für möglich zu halten? Wer zerbricht nicht im Gefühl der Anmaßung, das zu glauben? Was ist der Glaube dieser Erlösung für ein kühnes Unternehmen, ist er nicht jene ὑβρις, jener Frevel, jene Sünde?

Allein was ist hinwider Raum und was ist Geist? In Chestertons Orthodoxy steht eine Auseinandersetzung mit den (menschlichen) Gesetzgebern der Makrokosmie:

»Herbert Spencer verbreitete die verächtliche Vorstellung, daß die Größe des Sonnensystems das geistige Dogma vom Menschen überwältigen sollte. Aber warum entgegen sollte ein Mensch seine Würde eher zugunsten des Sonnensystems aufgeben als zugunsten eines Walfischs? Wenn bloße räumliche Größe beweist, daß der Mensch kein Ebenbild Gottes ist, dann mag der Walfisch das Ebenbild Gottes sein. Es ist ein ganz albernes Geschwätz, daß der Mensch klein sei im Vergleich zum Weltall. Denn der Mensch war immer klein gegenüber dem nächsten Baum. Aber Herbert Spencer bestand darauf, daß wir gewissermaßen besiegt und annektiert seien durch das astronomische All.«

Dann heißt es wieder:

»Der Materialist sitzt im Kosmos wie in einem Gefängnis. Das einzig Erbauliche ist ihm, dieses Gefängnis sei sehr groß. Indes die Raumgröße dieses wissenschaftlichen Weltalls gibt uns nichts Neues, bringt keinen Trost. Es ging immer seinen Gang, auch sein ungeheuer höchstes Sternbild kann uns (aus der stoffräumlichen Sicht) nicht das geringste Bedeutungsvolle sagen, nichts das zu Herzen ginge wie etwa Vergebung oder freier Wille. Der Größe und Unendlichkeit dieser Geheimnisse fügt jene Größe nichts hinzu. Es ist, wie wenn man einem Gefangenen im Zuchthaus von Reading sagen würde, er solle sich freuen zu hören, daß jetzt das Zuchthaus die halbe Grafschaft einnehmen werde. So hatten auch die Ausbreiter des Weltalls nichts zu zeigen, als mehr und mehr endlose Gänge des Raumes, erhellt von gespenstischen Namen und bar alles Göttlichen.«

*

In der Stunde der Offenbarung kam das, was hinter all den Räumen waltend steht, zum Menschen, ihm zu sagen, daß er durch all das hindurch, über all das hinweg mit dem Urgrund der Sonnen und Sterne verbunden sei, daß aller endliche Raum nur ein Weg der unendlichen Liebe sei. Dieser Liebe Licht braucht keine Zentillionen Kilometer und nicht einmal einen Augenblick.

Welch hochgemute Demut muß uns ergreifen! Und wir begreifen, warum das Christentum das Abendland erobert hat, warum es (wer das nicht erwartet, ist kein Christ) die ganze Menschheit erobern wird.


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