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32.

Jonny war in einem trostlosen, bejammernswerten Zustand mit Frau Brinkmann in Jena angekommen. Das freundliche Häuschen der redseligen Dame lag in einem hübschen großen Garten, der sich direkt bis an das Saaleufer erstreckte.

Das junge Mädchen bekam ein helles, geräumiges Zimmer mit niedlichen Cretonnemöbeln und Vorhängen. Die Fenster lagen nach der Saale hinaus. Frau Doktor blickte sie erwartungsvoll an. Dieses Zimmer war das größte und hübscheste im ganzen Hause. Jonny hatte es bekommen, weil für sie eine besonders hohe Pension bezahlt wurde.

Da Jonny kein Wort des Wohlgefallens laut werden ließ, fragte Frau Doktor etwas gekränkt:

»Nun, liebes Fräulein Warrens, gefällt Ihnen das Zimmer nicht?«

Jonny schrak aus ihren trübseligen Gedanken auf.

»Doch, es ist sehr hübsch. Verzeihen Sie mir, daß ich es nicht gleich sagte – aber ich bin so müde.«

»Ja, ja, die Fahrt ist etwas anstrengend und die Frühlingsluft macht müde. Und freilich – Sie sind in Schloß Wildenfels andere Zimmer gewöhnt. Aber hier in dem Hause ist es das beste. Sie werden sich schon darin behaglich fühlen. Und unten im Parterre, da ist das gemeinsame Speisezimmer, Arbeitszimmer und der Salon, in dem meine jungen Damen Besuche empfangen können. Es wird Ihnen schon bei uns gefallen. Alle meine jungen Damen sind sehr gern bei mir und möchten gar nicht wieder fort. Soll ich Ihnen die Damen vorstellen? Die gemeinsame Abendtafel ist ja schon vorüber, aber die jungen Damen sind noch wach, ich brauche sie nur in das Sprechzimmer zu bitten, dann können Sie sich gleich noch bekannt machen.«

Jonny hatte nur den einen Wunsch, daß man sie endlich allein ließe und daß sie das unaufhörliche Sprechen der unermüdlichen Frau Doktor nicht mehr zu hören brauchte.

»Ach, bitte – heute abend bin ich nicht mehr imstande, mit jemand zu sprechen. Ich habe Kopfweh und möchte sofort zu Bett gehen.«

»Aber einen Imbiß nehmen Sie doch noch.«

»Nein, ich danke, ich bin nicht hungrig.«

»Auch nicht eine Tasse Tee?«

Jonny schüttelte nur wortlos den Kopf. Sie fühlte sich am Ende ihrer Kraft und Selbstbeherrschung.

Frau Doktor Brinkmann merkte endlich, daß sie jetzt überflüssig war. Nach einem letzten Versuch, ihre Dienste beim Auspacken anzubieten, verließ sie das Zimmer zugleich mit dem Stubenmädchen, welches für Jonny noch frisches Trinkwasser hereingebracht hatte und neugierig die neue Hausgenossin musterte.

Jonny entkleidete sich schnell und ging zu Bett. Lange Zeit blieb sie, trotz aller Müdigkeit, wach und schluchzte herzbrechend in ihr Kissen. Aber endlich schlief sie doch, von Müdigkeit übermannt, ein.

Am nächsten Morgen, als sie erwachte, hörte sie fröhlich plaudernde Mädchenstimmen unter ihrem Fenster. Sie erhob sich und blickte, zwischen den Jalousiestäben hindurch, hinunter in den Garten.

Fünf junge Damen im Alter zwischen siebzehn und zweiundzwanzig Jahren saßen in zum Teil recht hübschen Morgentoiletten mit Frau Brinkmann zusammen um einen sauber gedeckten Frühstückstisch. Jonny hörte deutlich jedes Wort, das sie sprachen.

»Ist sie hübsch, Frau Doktor?« fragte eine kleine, zierliche Brünette mit einem etwas knabenhaften Gesicht und eckigen Bewegungen.

»Bildschön, Fräulein Helma, bildschön, Sie werden staunen,« antwortete Frau Doktor.

»Und sie hat keine Eltern und gar keine Verwandten mehr?« erkundigte sich eine üppige große Blondine mit sentimentalen Blauaugen.

»Nein Fräulein Lieschen, sie steht ganz allein in der Welt und wird bei uns bleiben, bis sie sich verheiratet.«

»Und Sie sagen, sie kommt aus einem feudalen alten Schlosse?« forschte ein hübsches, schlankes Mädchen mit zierlichem Stumpfnäschen und schönen großen braunen Augen.

Frau Doktor stieß einen unbestimmbaren Ton aus.

»So etwas haben Sie in Ihrem Leben noch nicht gesehen, Fräulein Trudi – ein herrliches altes Schloß in einem Parke, in dem halb Jena Platz hätte, zu dem eine breite Freitreppe emporführt. Und dann kommt man in eine mächtige Halle, in der die Wände aus kostbarem geschnitzten Holze sind. Und wunderbare Wandteppiche und Gobelins hängen darinnen – ah – eine Pracht. Aber die Zimmer erst – viel hab ich ja nicht gesehen, einen Salon, ein Speisezimmer und das Boudoir der Gräfin Wildenfels. Davon macht man sich nun gar keinen Begriff, wenn man es nicht gesehen hat. Diese kostbaren Möbel und Gemälde, die schwerseidenen Vorhänge und Portieren – nein – ich kann es nicht beschreiben – feudal – einfach feudal. Und Diener und Lakaien in Menge. Das Vornehmste aber war die Frau Gräfin selbst. Eine Schleppe – so lang – und alles aus Seide – und kostbare Ringe an den Händen und Brillanten im Ohr – so groß wie ein Glied von meinem kleinen Finger – und so ein Duft um sie her – unbeschreiblich – unbeschreiblich – in meinem besten Grauseidenen hätte ich nur wie ihre Kammerfrau ausgesehen.«

Frau Doktor mußte tief Atem holen, so sehr regte sie sich bei der Beschreibung auf. Es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, welch ein bevorzugtes Menschenkind sie war, daß sie diese Pracht hatte schauen dürfen.

»Nein – ich finde keine Worte, das zu beschreiben,« stöhnte sie noch einmal.

Die jungen Mädchen kicherten.

»Frau Doktor – Sie sind doch sonst so beredt!« rief eine schlanke, junge Dame, offenbar die Jüngste am Tisch, mit einem Schelmengrübchen in dem hübschen, frischwangigen Gesicht.

Frau Doktor lachte und drohte zu ihr hinüber.

»Sie sind ein Rackerchen, Fräulein Magda. Jeder Mensch hat seine kleine Schwäche. Na – und ich rede gern ein bißchen viel, daß weiß ich wohl. Aber um das Schloß Wildenfels zu beschreiben, dazu reicht nicht einmal mein Wortschatz aus.«

»Dann wird es Fräulein Warrens hier bei uns recht schlicht und einfach vorkommen, wenn sie eine solche Umgebung gewöhnt ist,« sagte ein ernst und ruhig blickendes Mädchen, das sicher das älteste war. In dem blassen, sympathischen Gesicht, das von reichem braunen Haar umrahmt wurde, fielen ein Paar große Augen auf, in denen eine stille Melancholie wohnte.

Frau Doktor zuckte die Achseln.

»Sie wird sich daran gewöhnen müssen, Fräulein Maria. Wir haben es doch hier ganz hübsch.«

Fräulein Trudi reckte ihr hübsches Stumpfnäschen in die Luft.

»Warum ist sie denn nicht in dem herrlichen Schlosse geblieben?«

»Weil die alte Gräfin Wildenfels, bei der sie so eine Art Gesellschafterin war, gestorben ist.«

»Ach – sie war nur Gesellschafterin?« fragte Fräulein Helma gedehnt.

»Nun – nicht ganz – halb Gesellschafterin, halb Schützling. Deshalb hat ihr die jüngere Gräfin Wildenfels auch eine sehr ansehnliche Rente ausgesetzt. Und außerdem bekommt sie zwanzigtausend Mark für eine Aussteuer, wenn sie heiratet.«

»Das ist ja riesig nobel, die Leute müssen furchtbar reich sein. Aber man hätte sie doch dann schließlich auch in Wildenfels behalten können,« bemerkte Fräulein Lieschen.

Frau Doktor neigte sich vor und flüsterte, so daß es Jonny nicht verstehen konnte:

»Das ist eben der Haken, meine Damen. Die Frau Gräfin fürchtet eine Liebelei zwischen Fräulein Warrens und ihrem Sohne, der nächstens nach Hause zurückkehrt. Sie soll ihm aus den Augen.«

»O Gott – wie interessant,« seufzte das Stumpfnäschen. »Da kommt doch endlich ein bißchen Romantik in unser langweiliges Leben.«

»Aber Fräulein Trudi!« rief Frau Doktor mahnend und etwas pikiert.

Trudi kicherte verlegen.

»Ach, Frau Doktor – so schlimm war es nicht gemeint – aber jetzt ist es wirklich ein bißchen langweilig bei uns.«

»Weil die Studenten für die Pfingstferien verreist sind und Ihnen nicht alle Tage Fensterparade machen,« schalt Frau Doktor halb ärgerlich, halb lachend.

Die jungen Mädchen lachten mit und Stumpfnäschen bekam einen roten Kopf.

»Na – mir gelten diese Fensterparaden doch nicht,« wehrte sie sich.

Nun plauderten sie alle durcheinander. Jonny war schon früher vom Fenster zurückgetreten und hatte sich schnell angekleidet und frisiert.

Frau Doktor erhob sich unten am Frühstückstisch. »Ich muß aber nun mal nach Fräulein Warrens sehen, ich denke, sie kann ausgeschlafen haben,« sagte sie und ging ins Haus. Sie rief erst noch eine Bestellung in die Küche hinein, wo eine etwa vierzigjährige Person im weißen Häubchen und weißer Schürze Gemüse zuputzte. Dann ging sie hinauf und klopfte an Jonnys Tür.

»Liebes Fräulein Warrens, sind Sie wach?«

Jonny öffnete sofort die Tür.

»Ach – Sie sind ja schon fertig. Das ist hübsch, da können Sie gleich noch mit uns frühstücken. Meine jungen Damen warten schon sehnlichst darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Jonny seufzte verstohlen. Sie wäre lieber allein geblieben mit ihrem Leid. Aber sie neigte ergeben das Haupt, es half ja doch nichts – einmal mußte sie doch mit ihren Hausgenossen bekannt werden.

»Ich bin bereit, Frau Doktor.«

»Schön, Kindchen, schön. Nun kommen Sie. Und nicht wahr, Sie gestatten, daß ich Sie, wie meine anderen Pfleglinge, beim Vornamen nenne, ich soll Ihnen doch gewissermaßen die Mutter ersetzen.«

»Bitte sehr, Frau Doktor.«

»Also Fräulein Jonny. Ein hübscher Name – er ist bei uns ungebräuchlich.«

Jonny ging an ihrer Seite in den Garten hinaus. Aller Augen hefteten sich auf die schlanke, vornehme Mädchengestalt in dem zwar einfachen, aber elegant und tadellos sitzenden Trauerkleid. Stumpfnäschen wußte nicht, was sie mehr bewundern sollte, das süße, traurige Gesicht, das wundervolle, goldschimmernde Haar oder den aparten Kleiderschnitt.

»Wie schön sie ist,« sagte Maria Hagen leise und heftete ihre melancholischen grauen Augen bewundernd auf Jonny.

Die brünette Helma mit dem unschönen Knabengesicht blickte mit stillem Neid auf das schöne Mädchen und Lieschen strich sich mit einem sentimentalen Seufzer ein frisches Brödchen. Magda aber, die Jüngste, sprang auf und machte für Jonny Platz und bot ihr, nachdem die Vorstellung beendet war, den Stuhl neben sich an. So kam Jonny zwischen sie und Maria Hagen zu sitzen.

Die jungen Damen wetteiferten, ihr eine Gefälligkeit zu erweisen. Die eine füllte ihre Tasse, die andere reichte ihr den Frühstückskorb und eine dritte versorgte sie mit Zucker.

»Ja, ja, Fräulein Jonny – heute werden Sie verwöhnt,« sagte Frau Doktor lächelnd.

Von allen Seiten redete man auf sie ein. Nach zehn Minuten erklärte Stumpfnäschen begeistert, sie und Jonny müßten Freundschaft schließen und der Backfisch Magda behauptete, Jonny werde allen Jenenser Studenten den Kopf verdrehen, was ihr einen strafenden Blick von Frau Doktor eintrug.

Nur Maria Hagen sprach kein Wort. Als aber Fräulein Helma Jonny in ein schöngeistiges Gespräch über Literatur verwickeln wollte, um mit ihren geistigen Qualitäten zu brillieren, richtete sich Maria Hagen plötzlich aus ihrer versunkenen Stellung auf und sagte ruhig:

»Wollt Ihr Fräulein Jonny nicht erst einmal mit Ruhe frühstücken lassen? Sonst steht sie wieder hungrig auf.«

Vor Maria Hagen hatten die jungen Mädchen alle einen gewissen Respekt. Sie verstummten kichernd.

Jonny aber blickte Maria Hagen an. Ihre traurigen Augen begegneten einem Blicke, in dem viel ehrliche Teilnahme und warmes Verstehen lag. Dieses stille, leidvolle Gesicht war ihr sofort sympathisch, sie fühlte sich von Maria angezogen.

Die unruhigen Plaudertaschen zogen sich vom Frühstückstisch zurück, um mit Frau Doktor nach dem Fischkasten zu gehen, der am Ufer hing. Man wollte einen Hecht für die Mittagstafel herausholen. Nur Maria blieb neben Jonny sitzen.

Da sie nicht sprach, zwang sich Jonny zu einigen Worten. Da beugte sich aber Fräulein Maria mit einem warmen Ausdruck in den Augen zu ihr herüber.

»Sie müssen nicht sprechen, wenn es Ihnen nicht Bedürfnis ist. In meiner Gegenwart dürfen Sie sich ungestört ausschweigen,« sagte sie mit einem Lächeln, das Jonny sehr traurig erschien. Und nach einer Weile fragte Maria ruhig: »Wollen Sie mit mir einen Spaziergang machen? Wir dürfen immer nur zu Zweien das Haus verlassen, wenn Frau Doktor nicht mit uns geht. Und hier geht es meist so geräuschvoll zu, daß man sich nach Ruhe sehnt. Ich glaube, wir zwei werden uns nicht stören.«

Jonny erhob sich sofort.

»Ich gehe gern mit Ihnen, wenn Ihnen meine Begleitung nicht lästig ist.«

»Dann hätte ich Sie nicht aufgefordert.«

»Verzeihen Sie – meine Frage war töricht. Ich muß überhaupt um einige Nachsicht bitten. Alles hier ist mir so ungewohnt.«

Maria sah sie freundlich an.

»Das wird sich bald geben. Man lebt hier im ganzen, wie es einem gefällt. Frau Doktor führt zwar ein redseliges Regiment, aber ohne Tyrannei. Sie läßt jeden nach seiner Fasson selig werden, wenn man die nötigen Anstandsregeln erfüllt. Nun wollen wir unsere Hüte und Handschuhe holen. Mein Zimmer liegt neben dem Ihren.«

Sie gingen schweigend hinauf und kamen nach einer Weile zum Ausgehen fertig herunter. Frau Doktor kam gerade mit einem ansehnlichen Hecht zur Tür herein.

»Ah – Sie wollen ausgehen, Fräulein Jonny? Wenn Sie es mir gesagt hätten, wäre ich mitgegangen.«

»Fräulein Maria war so freundlich, mir ihre Begleitung anzubieten,« erwiderte Jonny rasch. Sie fürchtete Frau Doktors Zungenfertigkeit.

»So, so – nun das ist ja auch sehr gut. Fräulein Maria kennt sich hier genug aus, um Ihnen die Gegend zu erklären. Aber was ich noch sagen wollte – allein gehen Sie bitte niemals aus, nicht wahr? Ich habe es nicht gern, es schickt sich nicht. Wenn Sie keine der jungen Damen begleiten will, gehe ich natürlich mit.«

Jonny neigte den Kopf.

»Es ist gut, Frau Doktor, ich werde mich ganz nach den Vorschriften richten.«

»Ach, Kindchen, Vorschriften – das klingt ja so streng, sagen wir Hausregeln, nicht wahr? Nun gehen Sie nur. Unser Saaleufer ist sehr schön und viel Vergnügen, meine junge Damen.«

Jonny seufzte verstohlen auf, als sie draußen waren.

»Sie sind solche geräuschvolle Fürsorge nicht gewöhnt, Fräulein Jonny,« sagte Maria halblaut.

Jonny blickte errötend in ihr Gesicht.

»Ich glaube, Sie lesen mir meine Gedanken vom Gesicht ab.«

Maria lächelte.

»Das ist nicht eben schwer – Sie haben sehr sprechende Züge.«

Die beiden jungen Mädchen wanderten langsam durch den herrlichen Frühlingsmorgen. Es duftete nach dem Flieder, der überall in den Gärten stand. Die Partie am Saaleufer erinnerte Jonny an Wildenfels. Dort waren am See auch ähnliche Bäume und Sträucher. Still und menschenleer war es um diese Zeit ringsum. Jonny vergaß sogar ihre stille Begleiterin und plötzlich stürzten ihr die Tränen aus den Augen. Sie vermochte sie nicht mehr zurückzuhalten. Wie traurig hatte sich ihr Leben verändert, seit ihre gütige Beschützerin gestorben war.

Maria Hagen sah mitleidig und teilnahmsvoll in ihr zuckendes Gesicht und führte sie stumm nach einer Bank, wo sie durch ein Gebüsch zufällig Vorübergehenden verborgen waren.

Jonny weinte und weinte, als wollte sie alles Leid aus ihrer Seele fortspülen. Maria saß still neben ihr und hielt ihre Hand fest in der ihren. Auch in ihren Augen schimmerten Tränen. Endlich faßte sich Jonny und sah beklommen in Marias Gesicht.

»Was müssen Sie von mir denken!« sagte sie leise.

Maria streichelte ihre Hand.

»Zum Vergnügen weint man nicht so trostlos und herzzerbrechend. Was soll ich anders denken, als daß ein Leid Ihre Seele bedrückt. Für solche Seelenstimmungen habe ich volles Verständnis. Ich kenne sie aus eigener Erfahrung.«

Jonny trocknete sich ihre Augen.

»Sie sehen aus, als hätten Sie ein großes Leid zu tragen, – und doch sind Sie gewiß nie so fassungslos gewesen, als ich.«

Maria lächelte wehmütig.

»Meinen Sie? Nun, ich habe es in zwei Jahren gelernt, meine Fassung wiederzuerlangen. Verloren hatte ich sie ganz – und mit einem Schlage. Ich war früher ein glückliches, übermütiges Geschöpf – bis mir das Schicksal an einem Tage alles nahm. Ich war glückliche Braut – mein Vater und mein Verlobter machten auf einer Schweizer Reise eine Gletscherpartie. Ich blieb bei meiner Mutter im Hotel zurück, sie war herzleidend und mußte sich schonen. Und da kam das Furchtbare – mein Vater war abgestürzt – mein Verlobter wollte ihn retten und verlor dabei selbst sein Leben. Als man uns die beiden Toten brachte, erlag meine Mutter einem Herzschlag – und ich blieb ganz allein. – So bin ich denn zu Frau Doktor Brinkmann gekommen. Sie sehen – ich weiß, was Tränen sind. Und – verzeihen Sie – ich habe gewußt, daß auch Sie einen Kummer tragen – ich habe Sie weinen hören diese Nacht. Und ehe ich Sie gesehen hatte, waren Sie mir vertraut.«

Sie hatte das alles ganz einfach gesagt, hob kaum einmal die Stimme dabei und sah starr geradeaus. Aber trotzdem lag ein erschütternder Ausdruck in ihren Worten.

Jonny drückte ihre Hand zwischen ihren beiden.

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Wie furchtbar müssen Sie gelitten haben! Und so tapfer tragen Sie Ihr Leid. Ich will mir ein Beispiel daran nehmen.«

Maria seufzte.

»Mit meiner Tapferkeit ist es auch jetzt noch nicht weit her. Ich bin oft mutlos und verzagt und nicht fähig, mein Leben wieder fest in meine Hände zu nehmen. Sonst säße ich wohl nicht so nutzlos und untätig bei Frau Doktor Brinkmann. Aber besser ist es schon. Erst war alles in mir wie erstorben. Jetzt habe ich doch zuweilen Stunden des Vergessens. Unsere lustigen Hausgenossinnen sind manchmal eine gute Medizin gegen Trübsinn. Freilich – immer kann man sie nicht ertragen. Aber ich werde ja auch einmal wieder stärker werden und dann suche ich mir draußen im Leben einen Wirkungskreis – hier halte ich es auf die Dauer nicht aus.«

Jonny dachte, daß es ihr ebenso gehen werde, aber sie sprach es nicht aus. Sie vermochte überhaupt noch nicht über sich selbst zu sprechen und sagte das Maria Hagen.

Diese nickte.

»Das kann ich Ihnen nachfühlen, Ihr Leid ist noch jung. Da schließt man es fest in die Brust. Auch ich spreche heute das erste Mal darüber, und daß ich es kann, ist Ihr Verdienst. Am Leid der anderen erstarkt man am ehesten. Und ich glaube, ich werde später Diakonissin werden, das ist der rechte Beruf für mich.«

Sie saßen noch eine Weile und sahen schweigend in das vorüberfließende Wasser.

Dann erhoben sie sich und gingen Arm in Arm weiter. Diese eine Stunde hatte sie so nahe gebracht, als wenn sie sich seit Jahren kannten. – – –

Trotz ihres Kummers lebte sich Jonny schnell ein in ihrer neuen Umgebung. Wenn sie sich auch an keine der jungen Damen so anschloß, wie an Maria Hagen, lenkte sie doch das übermütige Treiben etwas ab. Am liebsten war sie aber doch mit Maria Hagen allein. Da durfte sie ihren Gedanken nachhängen und mußte sich nicht zu etwas zwingen, was ihr widerstand.

Ihre Gedanken weilten unablässig in Wildenfels, an Lothar konnte sie nicht denken, ohne daß ihr Herz sich im heißen Schmerze zusammenkrampfte. Sie fragte sich täglich, ob Lothar wohl nun nach Hause zurückgekehrt sei, ob er nun wisse, daß sie verbannt war aus Wildenfels und ob er es billige. Da sie keine Zeile von ihm erhielt, mußte sie wohl annehmen, daß auch er sich von ihr abgewandt hatte. Vielleicht war er gar schon verlobt. –

Wenn sie daran dachte, dann hätte sie vor namenlosem Weh aufschreien mögen und ruhelos lief sie dann in ihrem Zimmer umher, wie auf der Flucht vor sich selbst, bis dann meist Maria Hagen eintrat und sie zu einem Spaziergange aufforderte. Sie wartete dann Jonnys Zustimmung gar nicht ab, setzte ihr den Hut auf den Kopf und gab ihr die Handschuhe.

Wie ein Kind folgte ihr Jonny in solchen Stunden und auf ihren meist stummen Wanderwegen durch die herrliche Natur fand sie dann langsam ihre Ruhe wieder. Aber ihre Augen blickten nach solchen Seelenkämpfen matt und erloschen und um den feinen Mund lag ein Leidenszug, der dem jungen, weichen Gesicht ein seltsames Gepräge gab.

Als Gräfin Susanne ihr den Brief an Grill mit dem Bemerken zurückschickte, daß sie ihr den Briefwechsel mit Schloßbewohnern untersage, da warf sie sich fassungslos aufs Sofa.

»Was habe ich nur getan, daß sie mich so kränkt und demütigt?« flüsterte sie vor sich hin. Und als sie an diesem Tag aus ihrem Zimmer kam, lag ein bittrer Zug um ihren Mund.

Daß man ihr nicht einmal den Trost gönnte, durch Grill von Wildenfels zu hören, schien ihr eine unerhörte Grausamkeit. Was sollte nun ihre liebe, alte Grill von ihr denken, daß sie ihr nicht schrieb? Diese treue Seele würde sich ganz gewiß große Sorgen um sie machen. Maria Hagen hörte wieder sehr oft nachts das bittre Weinen und Schluchzen ihrer Zimmernachbarin.

Vergeblich suchte sich Jonny zu erklären, weshalb die Gräfin jede Verbindung zwischen ihr und Wildenfels abschneiden wollte. Es konnte doch nicht nur nutzlose Grausamkeit sein. Freilich, sie hatte die Gräfin erzürnt, daß sie damals ihrem Befehl nicht nachgekommen war, sondern Lothar gehorcht hatte. Aber dafür war sie doch wahrlich genug bestraft durch ihre Verbannung. Gräfin Susanne hatte ihr Benehmen Lothar gegenüber schamlos und aufdringlich bezeichnet und sie hatte verlangt, daß sie abreise, ehe Lothar heimkehrte. Warum? Fürchtete sie, Lothar könne sich ihrem Willen widersetzen?

Ach, sie wußte nicht, was sie denken sollte, wußte nur, daß sie nicht mehr froh und glücklich werden konnte, weil die Sehnsucht nach Lothar in ihrem Herzen brannte. Mit Freuden wäre sie auf der Stelle gestorben, wenn sie ihn noch einmal hätte wiedersehen können, wenn er sie noch einmal in seine Arme genommen und ihr gesagt hätte: »Liebe, kleine Jonny.«

War es nur möglich, daß sie nun ausgelöscht war aus seinem Leben, als habe er sie nie in liebevoller Weise beschützt und behütet, sie nie mit zärtlicher Fürsorge über kleine Leiden und Schmerzen getröstet? Konnte das nur sein, durfte das sein – mußte sie sich nicht dagegen wehren, bis er selbst ihr sagte: »Ich will dich nicht mehr sehen?«

Nein – das würde er nie zu ihr sagen – er nicht – so grausam konnte er nicht sein. Diese Gewißheit kam mit überwältigender Macht über sie. Und sie fühlte – sie konnte nicht so aus Lothars Leben scheiden, ihn nicht auslöschen aus dem ihren. Einmal mußte sie ihn noch sehen. Wer wollte es hindern, wenn sie sich aufmachte nach Wildenfels und vor ihn hintrat, um ihn zu fragen – – – ja – was wollte – was konnte sie ihn denn fragen? Sie setzte sich steif empor und starrte mit brennenden Augen vor sich hin. Und dann stieg dunkle Röte in ihr Gesicht.

Nein – sie durfte ihn nicht wiedersehen. Ihre Augen würden ihm den Jammer ihrer Seele enthüllen, er würde erkennen, von welcher Art ihre Liebe für ihn sei. Nein – oh nein – sie durfte ihn nicht wiedersehen.

Sie sprang auf. Das Zimmer wurde ihr zu eng. Sie setzte hastig ihren Hut auf und lief wie verfolgt die Treppe hinab.

Als sie durch den Hausflur ging, kam Frau Doktor mit erhitztem Gesichte aus der Küche.

»Sie wollen ausgehen, Fräulein Jonny? Aber doch nicht allein?«

»Ich habe Kopfweh, Frau Doktor, und muß ins Freie.«

»Kann Fräulein Maria nicht mit Ihnen gehen? Ich habe im Augenblick keine Zeit.«

Jonny sah mit gequältem Gesichtsausdrucke an ihr vorbei.

»Ich bleibe nicht lange aus.«

»Trotzdem, Kindchen – allein können Sie hier nicht gehen. In so einem kleinen Orte spricht man darüber. Warten Sie nur einen Augenblick, ich lasse Fräulein Maria gleich herunterholen.«

Jonny fügte sich seufzend und ließ sich auf die weißlackierte Bank im Hausflur nieder. Frau Doktor wich nicht von ihrer Seite, bis Maria kam, bereitwillig wie immer, Jonny zu begleiten.

Frau Doktor sah den beiden Mädchen nach.

»Ich muß jetzt doppelt auf sie achten. Die Frau Gräfin ist imstande, sie fortzunehmen, wenn ich sie nicht streng bewache. Nun – Briefe scheint sie nicht mehr zu schreiben. Ich habe die Tinte aus ihrem Zimmer entfernt. Wenn sie schreiben will, muß sie es unten tun im Arbeitszimmer. Frau Gräfin scheint eine riesengroße Angst zu haben, daß der junge Graf doch noch ihren Aufenthaltsort entdeckt. Hm – verdenken kann man es ihm nicht – ist ja ein süßes, liebes Ding – und wenn man nicht so sehr auf eine gute Einnahme angewiesen wäre – wer weiß, ob man da so streng aufpassen würde. Aber die Gräfin zahlt die doppelte Pension – und – lieber Gott, jeder ist sich selbst der Nächste.«

So dachte Frau Doktor als sie den beiden jungen Damen nachsah. Und dann ging sie aufseufzend in die Küche zurück und rührte den Pudding für den Nachtisch selbst, um ein paar Eier zu sparen. Sie war auf den Ertrag ihrer Pension angewiesen. – – –

Jonny und Maria waren stumm nebeneinander hergegangen. Wie immer schritten sie am Saaleufer entlang.

Maria sah Jonny prüfend von der Seite an.

»Wenn Sie lieber allein sein wollen, Jonny, dann sagen Sie es mir. Ich ging nur mit, um Sie vor Frau Doktors Gesellschaft zu behüten. Da Sie allein ausgehen wollten, kann ich mir denken, daß Ihnen auch meine Gesellschaft nicht angenehm ist. Wir können uns trennen und treffen dann hier wieder zusammen.«

Jonny faßte ihre Hand.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht aufforderte, mich zu begleiten, Maria.«

»Da gibt es nichts zu verzeihen. Es gibt Stimmungen, wo man keinen Menschen vertragen kann, wenn er einem auch sonst sehr sympathisch ist.«

»Sie haben recht – in solch einer Stimmung war ich vorhin – ich war sogar auf der Flucht vor mir selbst. Aber Frau Doktor hat mich energisch aufgehalten – und nun bin ich doch froh, daß ich Sie habe. Sie sind so gut und so verständnisvoll – und zürnen mir nicht, daß ich Ihr Vertrauen nicht erwidert habe und Ihnen meine Geschichte erzählte. Aber ich kann nicht, Maria – noch nicht – vielleicht später einmal.«

Maria lächelte. »Ich bin nicht neugierig. Sie brauchen sich nicht anzuklagen. Was ich von Ihnen weiß, genügt mir, um Ihnen meine Teilnahme entgegenzubringen.«

»Sie Liebe, Gute – ich danke Ihnen herzlich – hätte ich Sie nicht gehabt in diesen Wochen – ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre.«

»Danken Sie mir nicht. Ich habe Ihnen mindestens ebensoviel zu danken, als Sie mir, denn durch Sie ist mir die Ueberzeugung gekommen, daß es auch noch einen Lebenszweck gibt.«

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