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9.

Annie Warrens Zustand hatte sich wirklich von Tag zu Tage verschlimmert. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, krank zu sein, endlich mußte sie sich in ihr Schicksal ergeben. Qualvolle Stunden lagen hinter ihr, als sich Völker als Arzt bei ihr melden ließ. Voll Angst und Sorge blickte sie ihm entgegen, aber es lag in seinem Wesen etwas, das die geängstigte Frau ein wenig beruhigte. Froh, sich einmal gegen einen gebildeten, teilnehmenden Menschen aussprechen zu können, vertraute sie ihm ihr Schicksal an, und er wußte sie so eindringlich zu beruhigen, daß sich ihre Angst verlor.

Noch an demselben Tage kam der von Völker herbeigerufene Arzt. Er untersuchte Annie genau und teilte ihr dann mit, daß sie am nächsten Morgen in einem bequemen Wagen mit ihrem kleinen Mädchen abgeholt würde, damit sie in seiner Klinik besser gepflegt werden könne.

Annie fühlte sich so schwach, daß sie garnicht die Kraft gehabt hätte, sich gegen seine Anordnungen zu wehren.

Das Zimmermädchen Berta, die von Völker ein sehr reichliches Trinkgeld erhalten hatte mit der Weisung, Mrs. Warrens und die kleine Jonny nicht außer acht zu lassen, bis sie vom Arzt abgeholt würden, kam jede freie Minute zu der Kranken ins Zimmer. Das gute Geschöpf war betrübt, sich von Jonny trennen zu müssen, da sie sich bereits an das Kind gewöhnt hatte.

Die Uebersiedlung Annies vollzog sich ohne Schwierigkeiten. Dr. Brand hatte ihr in einem Gartenhäuschen, das zu seiner Klinik gehörte, zwei Zimmer eingeräumt. Dies Gartenhaus wurde nur benutzt, wenn die Klinik überfüllt war. Gegenwärtig waren alle fünf Zimmer, die sich darin befanden, leer. So bekam Annie ein freundliches Zimmer mit Ausblick nach einem hübschen Garten, das kleinere Zimmer daneben sollte als Schlafzimmer für Jonny dienen.

Annie erschrak und meinte: »Herr Doktor, das kann ich Ihnen ja garnicht bezahlen.« Aber der von Völker wohlvorbereitete Arzt lächelte beruhigend.

»Nur keine Sorge, Sie kleine ängstliche Frau,« sagte er väterlich, »das Gartenhaus steht jetzt leer und ich verspreche Ihnen, Sie sollen bei mir nicht teurer wohnen, als im Hotel. Jetzt lassen Sie sich von Schwester Magda, die sich auch Ihrer kleinen Jonny annehmen wird, zu Bette bringen. Und da liegen Sie ganz ruhig und sorglos und denken an garnichts, als daß Sie gesund werden wollen.«

Annie faßte seine Hand.

»Lieber, guter Herr Doktor, wie dankbar bin ich Ihnen für Ihre Güte. Ach – ich will nun ganz ruhig sein. Der liebe Gott hat mir so gute Menschen zu Hilfe geschickt.«

Dr. Brands Stirn rötete sich. Mrs. Warrens Dank beschämte ihn. Er wehrte ihn heftig ab, gab der Diakonissin einen Wink, ihres Amtes zu walten und streichelte freundlich über Jonnys goldiges Köpfchen. Dann ging er hinaus.

Während Schwester Magda Annie zu Bette brachte und ihr dann eine von Dr. Brand bereits besorgte Medizin reichte, kniete Jonny auf einen Stuhl am Fenster und jubelte über den schönen Garten. »Oh, Mammi, diese schönen, schönen Blumen. Er ist viel kleiner, als unserer zu Hause, und auch kein Wald und keine Wiese ist dabei, nur garstige, hohe Häuser. Aber viele schöne Blumen sind darin, ganz andere, als bei uns daheim. Auch in Großmamas und Großpapas Garten waren nicht solche Blumen.«

Annie verstand sie kaum. Die Uebersiedlung vom Hotel nach der Klinik hatte sie müde gemacht, als habe sie tagelang laufen müssen. – – –

Es war in der Dämmerung desselben Tages. Dr. Brand saß in seinem Studierzimmer. Um diese Zeit durfte ihn niemand stören. Aergerlich fuhr er empor, als sein Diener eintrat.

»Was wollen Sie, Albert?«

»Herr Doktor verzeihen – eine Dame ist draußen, die Sie dringend zu sprechen wünscht. Ich wollte sie abweisen, aber sie bat so dringend, wenigstens ihre Karte Herrn Doktor zu überreichen.«

Albert verschwieg, daß ihn ein gutes Trinkgeld gefügig gemacht hatte.

»Geben Sie her,« sagte der Arzt unwillig.

Als er jedoch auf der Karte den Namen der Gräfin Theodora Wildenfels las, glättete sich sein Gesicht.

»Eintreten lassen,« sagte er kurz.

Als Gräfin Thea gleich darauf ins Zimmer trat, erhob er sich und grüßte artig. Er bat sie, in einem Sessel Platz zu nehmen.

»Ich komme, um mich bei Ihnen nach Mrs. Warrens zu erkundigen, Herr Doktor. Sie befindet sich doch hoffentlich bereits in Ihrem Hause?«

»Allerdings – seit heute mittag.«

»Oh bitte – sagen Sie mir, wie Sie die Dame gefunden haben. Ist ihr Zustand besorgniserregend?«

Dr. Brand spielte mit einem Briefbeschwerer.

»Verzeihung, gnädigste Frau Gräfin sind wohl verwandt mit Mrs. Warrens?«

Gräfin Thea schüttelte den Kopf.

»Nicht verwandt – aber die junge Frau ist mir sehr, sehr teuer. Niemand steht ihr näher als ich. Jedenfalls bin ich gewillt, sie wie eine eigene Tochter zu betrachten. Und ich bitte Sie sehr, mir meine Frage ganz offen zu beantworten.«

Dr. Brand verneigte sich.

»Es tut mir sehr leid, nicht viel Gutes berichten zu können. Mrs. Warrens ist schwer herzleidend. Ihr Zustand ist besorgniserregend. Ihr Leiden schließt von vornherein jede Besserung aus. Diese Erkenntnis ist für einen Arzt, wenn er eine Behandlung übernimmt, nicht erbaulich. Ich habe Mrs. Warrens auch aus diesem Grunde in einem abseits gelegenen Gartenhause untergebracht. Gnädigste Frau Gräfin verstehen – für alle Fälle.«

Die alte Dame wurde sehr bleich. »So besteht eine direkte Lebensgefahr?«

»Leider muß ich diese Frage bejahen.«

»Würde es den Zustand der Kranken verschlimmern, wenn ich sie nach Wildenfels brächte? Eine lange Eisenbahnfahrt wäre nötig.«

»Daran ist garnicht zu denken. Die Patientin ist schon durch die kurze Fahrt vom Hotel bis hierher mit ihrer Kraft vollständig zu Ende.«

»Würde sie auch, wenn sie sich einige Zeit erholt hätte, die Reise nicht machen können? Verstehen Sie mich recht, Herr Doktor, ich möchte die Kranke nicht allein lassen, möchte bei ihr bleiben und sie deshalb am liebsten mit mir nehmen, da ich nicht gern lange von Wildenfels fortbleiben möchte.«

Dr. Brand sah eine Weile mit düsterer Stirn vor sich hin. Dann hob er den Kopf.

»Ich habe die Patientin heute nachmittag noch einmal gründlich untersucht. Außer dem Herzleiden liegt noch eine schwere Erkältung vor. Das Fieber ist sehr hoch gestiegen und die Kranke ist, wohl durch viele Strapazen und Entbehrungen, völlig kraftlos. Aber vielleicht bringen wir sie noch einmal durch – viel Hoffnung kann ich freilich nicht geben. Bringen wir das Fieber herunter – dann könnte vielleicht unter Beobachtung großer Vorsicht an eine Reise gedacht werden.«

Gräfin Thea seufzte tief auf.

»Herr Doktor – Sie sprachen davon, daß Sie Mrs. Warrens in einem Gartenhause untergebracht haben. Wäre es Ihnen nicht möglich, für meine Kammerfrau und mich Unterkunft zu schaffen? Wenn ich das ganze Gartenhaus mietete – ließe sich das machen? Auf den Preis kommt es mir nicht an. Ich möchte nur bei der Kranken bleiben bis zur Entscheidung.«

Dr. Brand war augenscheinlich nicht unangenehm berührt durch die Aussicht auf ein gutes Geschäft.

»Das ließe sich machen. Gnädigste Frau Gräfin müßten sich allerdings mit einfachen Zimmern begnügen.«

»Das ist mir ganz gleich. Meine Kammerfrau wartet draußen im Wagen mit meinem Gepäck. Darf ich gleich mit ihr hier bleiben?«

»Gewiß, wenn Sie es wünschen.«

»Ich bitte darum. Und nun noch eins. Darf ich zu der Patientin? Ich möchte sie vor allem über ihr und ihres Kindes Schicksal beruhigen. Ohne einige Aufregung wird das nicht abgehen, wir haben uns manches zu sagen.«

»Da es nur Gutes und Beruhigendes sein wird, und vor allen Dingen die Angst vor der ungewissen Zukunft, welche die Patientin sehr niederdrückt, von ihr genommen wird, habe ich nichts dagegen. Bitte – nehmen Sie einige Minuten im Nebenzimmer Platz, ich lasse die Kammerfrau hereinrufen und das Gepäck in das Gartenhaus schaffen. In kurzer Zeit wird alles bereit sein.«

»Ich danke Ihnen sehr, Herr Doktor.« –

Grill hatte wartend unten im Wagen gesessen. Gräfin Thea hatte ihr am Abend vorher erzählt, wie und wo Völker Annie gefunden hatte und welch trauriges Verhängnis auf der Aermsten lastete. Die gutmütige Grill hatte reichlich Tränen vergossen und war nun sehr gespannt, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden.

Als der Diener des Arztes sie ins Haus rief, folgte sie eilig die Treppe hinauf und stand dann wie ein lebendes Fragezeichen vor ihrer Herrin.

»Grill – wir bleiben vorläufig hier,« sagte diese. –

Eine Stunde später trat Schwester Magda an das Bett Annie Warrens. Die Kranke sah mit ihrem bangen Blicke zu ihr auf.

»Muß ich schon wieder Medizin nehmen, Schwester Magda?«

Diese schüttelte lächelnd den Kopf. Sie neigte das freundliche, stille Gesicht zu ihr nieder.

»Eine Dame wünscht Sie zu sprechen, Mrs. Warrens.«

Annie sah unruhig erstaunt auf. »Eine Dame? Mich? Das ist doch wohl ein Irrtum?«

»Nein, nein. Die Dame ist eine sehr alte Bekannte von Ihnen.«

Annie schüttelte den Kopf.

»Es muß ein Irrtum sein. Und ich kann doch hier im Bette keine Besuche empfangen.«

»Das macht ja nichts. Sie weiß, daß Sie nicht wohl sind und zu Bette liegen. Aber ihre Angelegenheit ist dringend – die Dame bringt Ihnen gute Nachrichten.«

Ein herzzerreißendes Lächeln umspielte Annies Mund.

»Gute Nachrichten? Ich – daran glaube ich nicht mehr. Doch bitte – lassen Sie die Dame eintreten.«

Schwester Magda richtete die Kranke mit den Kissen etwas höher.

»Wo ist Jonny?« fragte diese.

»Drüben bei mir, sie spielt mit ihrem Püppchen. Ich werde bei ihr bleiben, so lange Sie Besuch haben.«

»Es ist gut, Schwester Magda, ich danke Ihnen.«

Die Schwester öffnete die Tür und ließ Gräfin Thea eintreten, nachdem sie alle drei Flammen der elektrischen Lampe eingeschaltet hatte. Hinter der alten Dame verließ sie das Zimmer.

Gräfin Thea trat nahe an das Bett heran. Beim Anblick der rührenden Gestalt vermochte sie nicht gleich zu reden. Mit einem langen Blicke sahen sich die beiden Frauen an. Annies Gesicht verriet ungläubiges Staunen. Gräfin Thea faßte endlich ihre schmale Hand.

»Annie – kennen Sie mich?«

Die großen, schönen Augen der Kranken weiteten sich.

»Das – nein – das ist doch nicht möglich – nicht möglich – und doch – Frau Gräfin – Frau Gräfin Wildenfels?«

Die alte Dame nickte.

»Ja, Annie – ich bin es. Aber bitte, liegen Sie ganz ruhig – nicht aufregen – ich bitte Sie herzlich darum.«

Annie schloß einen Moment die Augen. Ein qualvoller Zug lag um ihren Mund. Die Gräfin setzte sich auf den Stuhl neben das Bett. Ihre Knie zitterten vor Aufregung. »Sie kommen zu mir – zu der Tochter des Rendanten Horst – der unter dem schlimmen Verdachte aus Wildenfels entlassen wurde?« fragte Annie leise, ungläubig.

»Ja, Annie – liebe Annie – ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß wir jetzt wissen, wie schuldlos Ihr Vater war.«

Annie richtete sich halb empor. Ein heller Glanz lag auf ihrem Gesicht. »Das Halsband wurde gefunden, nicht wahr?«

»Ja – ich selbst hatte es irrtümlich an einen Ort gelegt, wo ich es erst viel später fand – zu spät – um an Ihrem armen Vater gut zu machen.«

»Und – und hat Graf Joachim noch erfahren, daß mein Vater unschuldig ist?« fragte Annie mit zitternder Stimme.

Gräfin Thea streichelte ihre Hand.

»Ja, mein liebes Kind – er hat nie – nie daran gezweifelt. Und er war sehr unglücklich, als er nach Hause kam und hörte, unter welchen Umständen Sie alle aus Wildenfels fortmußten. Aber erst in seiner Todesstunde hat er mir gebeichtet, daß er Ihnen nachforschen ließ, freilich, ohne Ihre Spur zu finden. Annie – Sie haben meinen Sohn geliebt, nicht wahr?«

Die Kranke richtete ihre Augen mit einem ergreifenden Ausdruck in die der alten Dame.

»Ja – ich habe ihn geliebt – mehr als Vater und Mutter, mehr als mein Leben.«

Die Gräfin küßte sie innig auf die Stirn.

»Mein Sohn hat es mir auf seinem letzten Lager gebeichtet. Er sagte mir: ›Ich habe Annie geliebt, wie ich nie vorher und nachher ein Weib geliebt habe.‹ Und er ist nur in jener Zeit wunschlos glücklich gewesen, da Sie ihm Ihre Liebe schenkten. Als Sie fort waren, mußte er auf meines Mannes Wunsch sich mit einer ebenbürtigen Dame vermählen. Er ist nicht glücklich geworden in dieser Ehe. Sein einziger Trost war sein Sohn. Er hat Sie nie vergessen, Annie, bis in seine Todesstunde nicht. Sie waren sein letzter Gedanke.«

Heiße Tränen rollten über Annies Wangen. »Hat er schwer leiden müssen?« fragte sie leise.

Gräfin Thea wischte sich über die Stirn.

»Sie haben von seinem Unglück gelesen?«

»Ja – den ersten Tag, als ich hier ankam.«

»Nun – so wissen Sie, daß er ein furchtbares Ende fand. Ich – ich mußte beten – um den Tod meines einzigen Kindes.«

Gräfin Thea erzählte in kurzen Worten, was seit jenen Tagen, da Annie Wildenfels verließ, dort geschehen war. Dann berichtete sie die Mär von dem Auffinden des Halsbandes und von ihrem Auftrag an Völker. Wie dieser ihn gelöst hatte, erklärte sie der atemlos Lauschenden ebenfalls.

»So bin ich nun hier, mein armes, liebes Kind. Daß ich an Ihren armen Eltern nicht gut machen kann, bedrückt mich sehr. So muß ich an Ihnen und Ihrer süßen Kleinen alles sühnen. Ich habe die kleine Jonny schon gesehen, drüben bei Schwester Magda. Ach, welch ein reizendes Geschöpf! Ich will es mit Liebe überschütten, Annie. Sie und Ihr Kind sollen mir sein wie eigene Kinder. Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie gesund sind – und dann nehme ich Sie beide mit nach Wildenfels, für immer.«

Annie atmete tief und schwer.

»Nach Wildenfels – ach – das wäre zu schön – zu schön, um wahr zu sein.«

»Es soll wahr sein, Annie. Mein Sohn hat mir ein heiliges Vermächtnis hinterlassen. Ich mußte ihm schwören, für Sie wie für eine Tochter zu sorgen. Und mir selbst wird es eine Wohltat sein, diesen Schwur zu erfüllen. Nur damit kann ich alle Schuld sühnen.«

»Oh – sprechen Sie nicht von Schuld. Mein Vater wußte, eines Tages würde seine Unschuld erwiesen werden. Nie hat er Graf Wildenfels gezürnt, daß er ihn entließ. ›Er konnte nicht anders handeln‹, sagte er oft zu uns.«

»Und Sie, Annie – haben Sie Joachim nie gezürnt, daß er Sie so ziehen ließ?«

Annie lächelte wehmütig.

»Gezürnt – oh nein. Ich hatte ja nie daran gedacht, daß unsere Liebe etwas anderes sein dürfte als ein holder Frühlingstraum. Wohl hoffte ich, bis unser Schiff abging, er würde kommen und mich zurückzuholen versuchen. Ich wäre ja nicht mit ihm gegangen, aber glücklich hätte es mich in all meinem Kummer gemacht. Aber trotz allem – geliebt habe ich ihn unentwegt. Auch ich habe meinen guten Mann nicht so lieben können, wie er es verdiente. Er allein wußte, daß ich mein Herz in der Heimat verloren hatte. Und er hat mein Gefühl geehrt und nicht mehr von mir verlangt, als ich geben konnte. Wie sehr ich Joachim noch liebte, sah ich, als ich so unerwartet seine Todesnachricht las – das traf mich härter als alles andere.«

»Mein armes, liebes Kind. Aber nun mußt du Ruhe haben, mein Töchterchen und darfst kein Wort mehr sprechen. Ich gehe jetzt hinüber zu Jonny – muß mich doch mit ihr auf einen vertrauten Fuß stellen. Wenn du dich ein wenig beruhigt hast, komme ich mit ihr zu dir.«

»Frau Gräfin – Ihre Güte –«

»Nichts da – ich bin deine Mutter, mein Kind. Nun versuche zu ruhen.«

Sie küßte Annie auf die Stirn und ging hinaus.

Drüben saß Grill und hatte die kleine Jonny auf dem Schoße. Gräfin Thea trat herzu.

»Hast du schon Freundschaft mit Jonny geschlossen, Grill?«

»Ja, Frau Gräfin glauben nicht, wie lieb das Kind ist, und wie klug. Mir ist, als sähe ich ihre Mutter wieder vor mir. Die war auch so ein reizendes Kind, als ich nach Wildenfels kam.«

Gräfin Thea beugte sich zu Jonny hernieder und küßte sie mit Tränen in den Augen. Leise flüsterte sie der Dienerin zu:

»Grill – wenn du sie jetzt siehst, das Herz tut dir weh.«

»So elend haben Frau Gräfin die Arme gefunden?«

»Krank – und müde vom Leben. Und doch so schön und lieblich, wie sie immer gewesen ist. Du sollst sie nachher sehen. Jetzt gehe und packe unsere Sachen aus. Komm, kleine Jonny – jetzt bleibst du bei mir.«

Jonny rutschte behend von Grills Schoß herab und legte ihr Aermchen zutraulich auf den Schoß der Gräfin. Sie plauderten eine Weile miteinander und Jonny gewann mit jedem Worte und jedem Blicke mehr Besitz im Herzen der alten Dame.

Schwester Magda hatte inzwischen nach ihrer Patientin gesehen und kam eben aus dem Zimmer.

»Hat sich Mrs. Warrens beruhigt, Schwester Magda?«

»Ja – erst hat sie geweint – vor Freude, sagte sie mir – und nun möchte sie, daß Frau Gräfin mit Jonny zu ihr kämen.«

»Willst du mit mir zu Mami gehen, Jonny?«

Die Kleine nickte und faßte ihre Hand.

»Komm, gute Dame.«

Annie lag halbaufgerichtet mit glänzenden Augen im Bette. Jonny sprang schnell auf sie zu und Mutter und Kind umarmten sich zärtlich.

»Jonny, mein liebes, liebes Kind!«

»Liebe Mama – hast du deine Medizin genommen? Bist du nun bald wieder gesund?«

»Bald, sehr bald. Sieh, Jonny – diese liebe, gütige Dame, die will uns helfen und hat mir schon so wohl getan. Habe sie recht lieb dafür.«

Jonny nickte mit schelmischem Lächeln zur Gräfin hin.

»Ja, ich weiß. Sie ist sehr gut – sie hat so liebe, gute Augen wie Großmama. Und auch solch schönes graues Haar. Gelt – du bist auch eine Großmama?«

Die letzte Frage galt der Gräfin.

Diese nickte und zog das Kind an sich.

»Ja, Großmama eines großen Jungen.«

»Ach – wo hast du ihn? Hast du ihn nicht mitgebracht?«

»Nein, er ist zu Hause geblieben in Schloß Wildenfels.«

»Schloß Wildenfels? – Oh – das kenne ich schon. Großpapa hatte ein Bild über seinem Bette hängen, darauf war Schloß Wildenfels zu sehen. Und Großpapa und Großmama – auch Mami – die sagten immer: ›Unsere Heimat,‹ wenn sie das Bild ansahen.«

Annies Augen füllten sich mit Tränen. Jonny eilte zu ihr.

»Nicht weinen, Mami – bitte, nicht weinen,« bat sie zärtlich. Und sich zur Gräfin wendend, fuhr sie fort: »Mami weint immerzu, wenn ich von Papa und den Großeltern rede, weil sie von uns fortgegangen sind. Aber ich weine nicht. Sie sind ja im Himmel, und Großmama sagte, da wäre es noch schöner wie in der Heimat. Nicht wahr, da sollen wir uns doch lieber freuen, wir kommen ja später auch in den Himmel, wenn wir artig sind.«

Gräfin Thea küßte gerührt die gläubigen Kinderaugen.

»Ganz gewiß, Jonny – wunderschön ist es da.«

Jonny nickte ihrer Mutter zu.

»Siehst du wohl, Mami.«

Annie versuchte zu lächeln.

»Mein Goldkind, ich weiß es ja. Achte nur nicht auf meine Tränen.«

»Mama hat Kopfweh, kleine Jonny. Ich rufe jetzt Grill – die spielt noch ein Weilchen mit dir, bis du zu Bette gehst.«

Als Grill dann eintrat, sah ihr Annie mit großen Augen ins Gesicht und streckte ihr die Hand entgegen.

»Liebe Frau Grill – ich erinnere mich Ihrer so genau. Sie haben sich fast garnicht verändert – nur das Haar ist grau geworden inzwischen.«

»Ja, ja – auch ich erinnere mich Ihrer noch sehr gut.«

»Und Sie wollen sich meiner Kleinen ein wenig annehmen?«

»Gern – mit Freuden – sie ist ein so liebes Ding.«

Gräfin Thea sah besorgt den fieberhaften Glanz in Annies Augen.

»Nun geh' mit Jonny, Grill. – Ich bleibe hier.«

»Gibst du auch gut acht auf Mami, Frau Gräfin?«

»Ganz gewiß, Jonny.«

Jonny warf ihr im Hinausgehen eine Kußhand zu.

»Welch ein süßes, liebes Kind! Man muß ihm gut sein,« sagte Gräfin Thea entzückt.

Annies Augen strahlten fieberhaft. »Wenn ich Jonny nicht gehabt hätte – ich hätte mich gleich den Eltern und meinem Manne niederschießen lassen. Aber die Angst um das Kind trieb mich zur Selbsterhaltung. Gottlob hat Jonny nicht viel gemerkt von all dem Greuel. Als wir entflohen, schlief sie und da wir in der Nacht durch den Wald wanderten, blieb ihr der Schrecken verborgen. Nur um des Kindes willen habe ich mich von den toten Eltern zu trennen vermocht, nachdem ich ihnen mit einem treuen Diener eine schlichte Ruhestätte im Walde bereitet hatte. Dort liegen sie nun mit meinem Gatten – fern von der Heimat – ruchlos niedergeschossen – ach – furchtbare – schreckensvolle Stunden –«

Gräfin Thea beugte sich liebevoll zu ihr nieder.

»Nicht daran denken jetzt, mein armes, liebes Kind. Du mußt gesund werden. Richte deine Gedanken auf freundlichere Bilder. Ich will dir von Wildenfels erzählen, vom Parke und dem See. Sobald du kräftiger geworden bist, bringe ich dich heim – und dann sollst du wieder gesund und froh werden.«

Sie nahm Annies Hand in die ihre, und während sie dieselbe sanft streichelte, erzählte sie mit halber Stimme allerlei von Wildenfels, was in Annie eine lichtvollere Stimmung erwecken konnte.

Annie lag still mit halbgeschlossenen Augen. Als Schwester Magda eintrat, um ihr die Medizin zu reichen, blickte sie auf, wie eben aus einem schönen Traum erwachend. – – –

Am nächsten Tage schrieb Gräfin Thea einen kurzen Brief an Susanne, in welchem sie meldete, daß sie noch einige Zeit in Hamburg zu bleiben gedenke, wo sie eine alte Bekannte besuche, die in der Klinik des Dr. Brand in ärztlicher Behandlung sei. Susanne möge sich in keiner Weise beunruhigen, Grill sei bei ihr. Und wenn sie nach Hause käme, würde sie alles Nähere berichten. Sie schloß mit herzlichen Grüßen an Lothar und seine Mutter.

Alle übrige Zeit brachte Gräfin Thea entweder am Krankenbette Annies zu oder sie ging mit der kleinen Jonny hinaus in den Garten, damit das Kind genügend frische Luft bekäme.

Sie verstand es, eine gewisse Ruhe, einen stillen Seelenfrieden für die Patientin zu schaffen. Annie sah nicht mehr mit so angstvollen Augen auf das Kind. Sie wußte, es war geborgen, auch wenn sie kränker wurde oder gar sterben mußte.

Einmal sprach sie zu Gräfin Thea von der Möglichkeit, daß sie vielleicht nicht wieder gesund würde.

»Was wird aus meinem Kinde?« hatte sie gefragt.

Gräfin Thea hatte ihre Wange gestreichelt.

»Was würde ich in diesem Falle mit dem Kinde meiner Tochter tun, Annie? Ich würde es wie mein eigenes ans Herz nehmen und nie mehr von mir lassen. Aber mit so trüben Gedanken sollst du dich nicht befassen, hörst du?«

Annie hatte schnell ihre Hand an die Lippen gezogen.

»Liebe, Gute – du nimmst mir alle Last von der Seele – mir ist so leicht und frei zumute, daß ich fliegen könnte.«

Es war seltsam mit Annies Zustand. Jetzt, da sie ihrer Sorgen um die Zukunft ledig war, brach die letzte Lebensenergie nieder. Sie verfiel mehr und mehr in einen apathischen Zustand, aus dem sie nur öfter und öfter qualvolle Atemnot emporschreckte. Das Fieber bildete keine regelmäßige Kurve, einmal war es hoch, dann fiel es rapid, um am andern Tage wieder zu steigen. Der Körper der Kranken zehrte mehr und mehr ab. Sie konnte fast gar keine Nahrung zu sich nehmen.

Gräfin Thea hatte jeden Tag mit dem Arzt eine Unterredung und er konnte ihr keine Hoffnung mehr geben.

»Es ist, als ob sich die Patientin nach dem Tode sehnte – sie hat jedenfalls keinen Willen zum Leben mehr, nichts, was ihre erloschene Energie wecken könnte,« sagte er ihr am Morgen des sechsten Tages nach ihrer Ankunft.

Gräfin Thea war in den letzten Tagen kaum noch von Annies Bette gewichen, sie fühlte, lange Zeit blieb ihr nicht, um an Annie selbst gutzumachen. Alle Liebe strömte sie auf die Kranke aus. Das war das Weib, welches ihrem Sohne lieber und teuerer gewesen war, als jedes andere – und Annie hatte ihrem Sohne im Herzen die Treue gewahrt bis zu dieser Stunde. Das machte sie ihr lieb wie ein eigenes Kind. Schmerzlich fühlte sie, wie ganz anders sich ihres Sohnes Leben gestaltet haben würde mit einem so edlen, warmherzigen und feinfühligen Geschöpf an der Seite. Susannes kaltes, hochmütiges Gesicht stand ihr vor Augen und sie fror innerlich dabei.

Wenn sie still am Bette saß und in Annies Leidenszüge blickte, dann gelobte sie bei sich selbst, was sie an ihr nicht gutmachen konnte, das wollte sie an Jonny vergelten.

Am siebenten Tage schlief Annie still und friedlich in der Dämmerung ein, um nicht mehr aufzuwachen. Gräfin Thea hielt die erkaltende Hand in der ihren und merkte erst, daß es die einer Toten war, als Schwester Magda eintrat und das Licht einschaltete.

Klein Jonny war mit Grill ausgegangen. Grill sollte ihr ein neues Püppchen kaufen, weil das alte am Morgen den Kopf verloren hatte. Sie kam freudestrahlend zurück und ahnte nicht, daß der herbste Verlust sie soeben betroffen hatte.

Gräfin Thea nahm sie in ihre Arme und küßte sie. Tränen rannen ihr über die Wangen.

»Weshalb weinst du, Großmama Gräfin?« fragte Jonny betreten und trocknete ihre Tränen mit den ungeschickten Händchen.

»Meine liebe, kleine Jonny – nun ist auch Mami noch zu den lieben Großeltern und Papa in den Himmel gegangen.«

Jonnys Gesichtchen wurde blaß, sie zitterte, als käme ihr ein Verstehen der Größe ihres Verlustes. Mit einem ungestümen Laute warf sie sich an die Brust der alten Dame.

»Großmama – sehe ich meine liebe Mami nie wieder – erst wenn ich in den Himmel komme?«

»Ja, mein Kind – erst dann.«

»Ach – dann will ich lieber gleich dahin gehen.«

»Das kann nicht sein, meine Jonny, wir müssen alle warten, bis uns der liebe Gott zu sich ruft.«

Aber Jonny konnte das nicht verstehen – verstehen es doch auch große Leute nicht. Sie weinte und wußte nicht warum, und Gräfin Thea mußte sie trösten, bis sie vor Müdigkeit einschlief. – – – –

Bis Annie zur letzten Ruhe bestattet war, blieb Gräfin Thea mit Grill in dem Gartenhäuschen des Dr. Brand. Dann rief sie Grill zu sich.

»Wir fahren morgen früh nach Hause, Grill – du kannst packen.«

Grill sah ihre Herrin unsicher und beklommen an.

»Und das Kind? Was gedenken Frau Gräfin mit Jonny zu tun?«

»Sie geht mit uns nach Wildenfels, dort soll sie für immer eine Heimat finden, ich habe es ihrem armen Mütterchen versprochen.«

Grill strahlte über das ganze Gesicht. »O, du lieber Gott – was bin ich froh. Frau Gräfin glauben nicht, wie ich mich um das Kind gesorgt habe. Man muß es lieb haben, ob man will oder nicht.«

»Ja, Grill – du hast recht. Und ich denke, wir können in Wildenfels so ein Sonnenscheinchen brauchen. Meinst du nicht auch?«

»Freilich, Frau Gräfin haben recht. Na – und Graf Lothar – der wird ja wohl eine große Freude haben. Er hat sich früher immerzu eine kleine Schwester gewünscht, wenn er niemand zum Spielen hatte.«

Gräfin Thea lächelte.

»Er kann so ein junges Blut jetzt doppelt gut gebrauchen. Wir sind ja alle zu alt, um seiner Elastizität standzuhalten. Nun geh', Grill – mache alles fertig. Ich werde unsere Ankunft nach Hause melden, damit der Wagen an der Bahn ist.«

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