Stefan Zweig
Drei Dichter ihres Lebens
Stefan Zweig

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Der künstliche Christ

Mein Gott, wie schwer ist es, zu leben nur vor Gott – zu leben, wie Menschen gelebt haben, die in einem Schacht verschüttet waren und die wußten, daß sie niemals herauskommen und niemand je erfahren würde, wie sie dort gelebt haben. Aber man muß, man muß so leben, weil nur solch ein Leben ein Leben ist. Hilf mir, Herr!
Tagebuch, November 1900

»Schenke mir einen Glauben, Herr«, schreit Tolstoi verzweifelt auf zu seinem bisher geleugneten Gott. Aber es scheint, dieser Gott gewährt sich jenen nicht, die allzu ungestüm nach ihm verlangen. Denn leidenschaftliche Ungeduld, sein Erzlaster, Tolstoi trägt es bis in den Glauben hinein. Nicht genug, einen Glauben zu verlangen, nein, sofort muß er ihn haben, über Nacht fertig und handlich wie eine Axt, um das ganze Dickicht seiner Zweifel auszuroden, denn der adelige Herr, gewohnt, flink umsprungen zu sein von seinen Dienern, verwöhnt auch von den hellsichtigen, hellhörigen Sinnen, die ihm jede Wissenschaft der Welt mit Lidschlagschnelligkeit vermitteln, er will nicht geduldig warten, der unbeherrschte, launische, eigenwillige Mann. Er will nicht warten, mönchisch versenkt in beharrliches Lauschen auf die allmähliche Durchfilterung des obern Lichts – nein, sofort soll es wieder tagklar sein in der verdunkelten Seele. Mit einem einzigen Sprung, mit einem Ruck will sein impetuoser, alle Hindernisse überjagender Geist zum »Sinn des Lebens« vorpreschen – »Gott wissen«, »Gott denken«, wie er beinahe frevlerisch zu sagen sich vermißt. Den Glauben, das Christlichwerden und Demütigsein, das In-Gott-Wohnen hofft er genauso flink und eilfertig erlernen zu können, wie er jetzt mit grauen Haaren Griechisch und Hebräisch lernt, plötzlicher Pädagoge, Theologe oder Soziologe innerhalb von sechs Monaten, bestenfalls eines raschen Jahres.

Aber wo findet man derart plötzlich einen Glauben, trägt man in sich selbst kein Samenkorn Gläubigkeit? Wie wird man über Nacht mitleidig, gütig, demütig, sanft franziskanisch, wenn man fünfzig Jahre nur mit dem schonungslosen Auge des Betrachters, als bewußter, urrussischer Nihilist die Welt gewertet und darin einzig sich selber als wichtig und wesentlich empfunden? Wie biegt man solchen steinharten Willen mit einem einzigen Handgriff in nachgiebige Menschenliebe um, wo lernt, wo erlernt man den Glauben, das Sichselbstverlieren an eine höhere und überweltliche Macht? Selbstverständlich bei jenen, die den Glauben schon haben oder zumindest vorgeben, ihn zu besitzen, sagt sich Tolstoi: bei der Mater orthodoxa, der Kirche. Sofort (denn er läßt sich keine Zeit, der ungeduldige Mann) wirft sich Leo Tolstoi ins Knie vor den Ikonen, fastet, pilgert in die Klöster, diskutiert mit Bischöfen und Popen und zerblättert das Evangelium. Drei Jahre müht er sich, strenggläubig zu sein: aber die Kirchenluft weht ihm leeren Weihrauch und Frost in die schon frierende Seele, bald schlägt er enttäuscht für immer die Tür zu zwischen sich und der rechtgläubigen Lehre; nein, die Kirche hat den rechten Glauben nicht, erkennt er, oder vielmehr: sie hat die Wasser des Lebens versickern lassen, vergeudet, verfälscht. So sucht er weiter: vielleicht wissen die Philosophen, die Denklehrer mehr von diesem unheimlichen »Sinn des Lebens«. Und sofort beginnt berserkerwütig und fieberhaft Tolstoi, kreuz und quer durcheinander alle Philosophen aller Zeiten zu lesen (viel zu rasch, sie zu verdauen, zu begreifen), Schopenhauer zuerst, den ewigen Beischläfer jeder Seelenverdüsterung, dann Sokrates und Plato, Mohammed, Konfuzius und Laotse, die Mystiker, die Stoiker, die Skeptiker und Nietzsche. Aber bald schlägt er die Bücher zu. Auch diese haben ja kein anderes Medium der Weltsicht als das seine, den überscharfen, schmerzhaft schauenden Verstand, auch sie nur Ungeduldige zu Gott hin und nicht Ruhende in Gott. Sie schaffen Systeme für den Geist, aber keinen Frieden einer beunruhigten Seele, sie geben Wissen, aber keinen Trost.

Und wie ein gequälter Kranker, an dem die Wissenschaft versagte, mit seinem Gebrest zu den Wurzelweibern und Dorfbadern, so geht Tolstoi, geht der geistigste Mensch Rußlands im fünfzigsten Jahre seines Lebens zu den Bauern, zum »Volk«, um von ihnen, den Unbelehrten, endlich den rechten Glauben zu lernen. Ja, sie, die Unbelehrten, die von der Schrift nicht Verwirrten, sie, die Armen und Gequälten, die ohne Klage roboten, die sich stumm wie Tiere in einen Winkel legen, wenn der Tod aus ihnen wächst, sie, die nicht zweifeln, weil sie nicht denken, sancta simplicitas, die heilige Einfalt, sie müssen doch irgendein Geheimnis haben, sonst könnten sie nicht derart ergeben und ohne Empörung den Nacken beugen. Sie müssen etwas wissen in ihrer Dumpfheit, was die Weisheit nicht weiß und der schneidende Geist, und dem zu Dank sie, die Zurückgebliebenen im Verstande, uns voraus sind mit der Seele. »Wie wir leben, ist es falsch, wie sie leben, ist es richtig« – darum tritt Gott aus ihrem geduldigen Dasein sichtbar empor, indes der Geist, der Wissensdrang mit seiner »müßigen, wollüstigen Gier«, von der wahren Lichtquelle des Herzens entfernt. Hätten sie nicht einen Trost, nicht innen ein magisches Heilkraut, sie könnten nicht so heiter eine derart erbärmliche Existenz ertragen: irgendeinen Glauben müssen sie verbergen, und eine Ungeduld überkommt den unbändigen Mann, dieses Arkanum ihnen abzulernen. Von ihnen, nur von ihnen, dem »Gottvolk«, beredet sich Tolstoi, kann man einzig das »richtige« Leben kennenlernen, das große Geduldigsein und Sichergeben in das harte Dasein und den noch härteren Tod.

Also heran an sie, ganz dicht hinein in ihr Leben, das Gottgeheimnis ihnen abzulauschen! Herunter mit dem Adelsrock und die Muschikbluse an, weg vom Tisch mit den leckeren Speisen und überflüssigen Büchern: nur die unschuldigen Kräuter und die sanfte Milch der Tiere soll von nun an den Leib nähren, nur die Demut, die Dumpfheit den faustisch wühlenden Geist. So stellt sich Leo Nikolajewitsch Tolstoi, Herr von Jasnaja Poljana und noch mehr: Herr im Geiste über Millionen, im fünfzigsten Jahre seines Lebens selbst an den Pflug, trägt auf breitem Bärenrücken die Wassertonne vom Brunnen und mäht in der Mitte seiner Bauern mit unermüdlichem Arbeitstrotz das Getreide. Die Hand, die »Anna Karenina« und »Krieg und Frieden« geschrieben, fädelt jetzt die Pechahle in selbstgeschnittene Schuhsohlen, fegt den Schmutz aus der Stube und näht sich selber das eigene Kleid. Nur nahe heran, nur rasch, nur eng heran zu den »Brüdern« – mit einem einzigen Willensruck hofft so Leo Tolstoi, »Volk« zu werden und damit »Gottes-Christ«. Er geht hinab in das Dorf zu den halb noch Leibeigenen (bei seiner Annäherung fassen sie verlegen an die Mützen), er ruft sie ins Haus, wo sie mit ihren plumpen Schuhen ungeschickt über die spiegelnden Parkette wie über Glas gehen und aufatmen, daß der »Barin«, der gnädige Herr, nicht Böses mit ihnen vorhat, nicht, wie sie fürchteten, abermals Zins und Pacht erhöht, sondern – sonderbar: sie schütteln verlegen ihre Köpfe – gerade mit ihnen über Gott sprechen will, immer über Gott. Sie erinnern sich, die guten Bauern von Jasnaja Poljana, so hat er's schon einmal gemacht, da hatte er's mit der Schule, der Herr Graf, und ein Jahr lang (dann langweilte es ihn) gab er den Kindern persönlich Unterricht. Aber was will er jetzt? Mißtrauisch hören sie ihm zu, denn tatsächlich wie ein Spion drängt der verkleidete Nihilist an das »Volk« heran, die für seinen Feldzug zu Gott notwendige Strategie auszukundschaften.

Aber nur der Kunst und dem Künstler werden diese gewaltsamen Erkundungen zum Nutzen – die schönsten seiner Legenden dankt Tolstoi ländlichen Dorferzählern, und seine Sprache versinnlicht und versaftigt sich herrlich am naiv bildnerischen Bauernwort –, doch das Geheimnis der Einfalt erlernt sich nicht. Hellseherisch hat Dostojewski noch vor der pathetischen Krise, schon beim Erscheinen der »Anna Karenina«, von Tolstois Spiegelbild Lewin gesagt: »Solche Menschen wie Lewin, mögen sie auch mit dem Volke leben, solange sie wollen, werden doch nie Volk werden: Eigendünkel und Willenskraft, mögen sie noch so launenhaft sein, genügen nicht, um den Wunsch, zum Volke herabzusteigen, zu erfassen und auszuführen.« Mit psychologischem Kernschuß trifft der geniale Visionär damit in das Zentrum der Tolstoischen Willensverwandlung, den Gewaltakt entlarvend, die nicht aus eingeborener, bluthafter Liebe, sondern aus Seelennot begonnene Brüderlichkeit Tolstois mit dem Volk. Denn, mag er noch so willenstätig dumpf und bäurisch tun, nie kann sich der Intellektualist Tolstoi eine enge Muschikseele statt seiner weiten und weltumfassenden Daseinsdeutung einpflanzen, nie ein solcher Wahrheitsgeist sich zu einer verworrenen Köhlergläubigkeit völlig hinabzwingen. Es genügt nicht, sich plötzlich hinzuwerfen in der Zelle wie Verlaine und zu beten: »Mon Dieu, donnez-moi de la simplicité«, und schon blüht das silberne Reis der Demut in der Brust. Man muß immer erst sein und werden, was man bekennt: weder die Bindung mit dem Volke durch das Mysterium des Mitleids noch die Befriedung des Gewissens durch vollgläubige Religiosität lassen sich ruckhaft aufschalten in einer Seele wie ein elektrischer Kontakt. Den Bauernrock zu nehmen, Kwaß zu trinken, Felder zu mähen, alle diese äußern Formen der Gleichsetzung mögen sich spielhaft leicht, spielhaft sogar im doppelten Sinne, erfüllen – nie aber läßt sich der Geist abdumpfen, die Wachheit eines Menschen willkürlich niederschrauben wie eine Gasflamme. Leuchtkraft und Wachsamkeit seines Geistes bleibt das eingeborene, unabänderliche Maß eines jeden Menschen; sie ist Macht über seinen Willen und darum jenseits unseres Willens, ja sie flammt nur noch ungestümer und unruhiger empor, je mehr sie sich bedroht fühlt in ihrer souveränen Pflicht wachsamer Helligkeit. Denn sowenig man durch spiritistische Spiele sich auch nur eine Stufe über sein eingeborenes Erkenntnismaß hinüberturnen kann zu höherem Wissen, sowenig vermag der Intellekt kraft eines plötzlichen Willensaktes auch nur eine einzige Stufe in die Einfalt zurückzutreten.

Unmöglich, daß Tolstoi, dieser wissende und weitsichtige Geist, nicht bald selber erkannt hat, daß ein Abdumpfen seiner geistigen Kompliziertheit zu einer Nitschewo-Einfalt selbst einem so ungeheuerlichen Willen wie dem seinen über Nacht nicht möglich war. Kein anderer als er selbst hat (allerdings später) das wunderbare Wort gesagt: »Gegen den Geist mit Gewalt vorzugehen, ist wie das Einfangen von Sonnenstrahlen; womit man sie auch zudecken will, immer kommen sie obenauf.« Auf die Dauer konnte er sich nicht täuschen darüber, wie wenig sein schroffer, streiterischer, rechthaberischer Herrenintellekt einer ständigen dumpfen Demut fähig war: nie haben jemals auch die Bauern ihn wirklich für einen der Ihren genommen, weil er ihr Kleid anzog und ihre Gewohnheiten äußerlich teilte, nie hat die Welt diesen Akt anders als eine Verkleidung verstanden. Gerade seine Allernächsten, seine Frau, seine Kinder, die Babuschka, seine wirklichen Freunde (nicht die professionellen Tolstoianer) beobachten von Anfang an mißtrauisch und unmutig dieses krampfige, gewalttätige Hinabwollen des »großen Dichters des Russenvolkes« (so ruft Turgenjew vom Sterbebett ihn zur Rückkehr in die Kunst auf) in eine ihm naturwidrige Sphäre der Ungeistigkeit. Die eigene Gattin, das tragische Opfer seiner Seelenkämpfe, sagt damals zu ihm das allerüberzeugendste Wort: »Früher sagtest du, du seist unruhig, weil du den Glauben nicht hättest. Warum bist du jetzt nicht glücklich, da du sagst, ihn zu haben?« – ein ganz einfaches und unwiderlegliches Argument. Denn nichts deutet bei Tolstoi nach seiner Konversion zum Volksgotte an, daß er in diesem seinem Glauben Seelengelassenheit gefunden habe; im Gegenteil, immer hat man das Gefühl, er rette, sobald er von seiner Lehre spricht, eine Unsicherheit der Überzeugung in eine schreiende Gewißheit hinein. Alle Akte und Worte Tolstois gerade in jener Zeit der Bekehrung haben einen unangenehmen Schreiton, etwas Ostentatives, Gewaltsames, Zänkisches, Zelotisches. Seine Christlichkeit posaunt wie eine Fanfare, seine Demut schlägt Pfauenrad, und wer feinere Ohren hat, spürt eben in der Übertreiblichkeit seiner Selbsterniedrigung etwas vom alten Tolstoi-Hochmut, nur umgewandelt jetzt in einen Verkehrtstolz auf die neue Demut. Man lese doch nur die berühmte Stelle seiner Beichte, in der er seine Bekehrung »beweisen« will, indem er sein eigenes früheres Leben bespeit und verunglimpft: »Ich habe im Kriege Menschen getötet, ich habe Duelle ausgefochten, ich vergeudete im Kartenspiel das den Bauern abgepreßte Vermögen und züchtigte sie grausam, ich hurte mit leichtsinnigen Weibern und betrog die Männer. Lüge, Raub, Ehebruch, alle Art Trunkenheit und Brutalität, jede Schandtat beging ich, nicht ein Verbrechen gab es, das ich unterließ.« Und damit niemand diese angeblichen Verbrechen ihm als dem Künstler entschuldige, fährt er fort in seiner lärmenden Gemeindebeichte: »Während dieser Zeit begann ich zu schriftstellern aus Eitelkeit, Gewinnsucht und Hochmut. Um den Ruhm und Reichtum zu erzwingen, war ich gezwungen, das Gute in mir zu unterdrücken und mich zur Sünde zu erniedrigen.«

Furchtbar bekennerische Worte dies, gewiß, und erschütternd in ihrem moralischen Pathos. Aber doch, Hand aufs Herz, hat es jemals irgend jemanden gegeben, der wirklich Leo Tolstoi, weil er im Krieg pflichtgemäß seine Batterie bediente oder als stark potenter Mann innerhalb seiner Junggesellenzeit sich geschlechtlich auslebte, auf Grund dieser Selbstanklagen »als einen niedrigen und sündigen Menschen« verachtet hat, als eine »Laus«, wie er sich selbst in fanatischer Erniedrigungslust bezeichnet? Drängt sich nicht eher der Verdacht auf, hier erfinde sich ein überreiztes Gewissen um jeden Preis Sünden aus einem Hochmut der Demut, hier wolle – ähnlich wie der Hausknecht im Raskolnikow jenen Mord sich zuerfindet – eine geständniswütige Seele gar nicht vorhandene Verbrechen als »das Kreuz auf sich nehmen«, um sich als Christ zu »beweisen«? Offenbart nicht gerade dieses Sichbeweisenwollen, dieses krampfige, pathetische, marktschreierische Sicherniedrigen Tolstois das Nichtvorhandensein oder Nochnichtvorhandensein einer gelassenen, ebenmäßig atmenden Demut in dieser erschütterten Seele und vielleicht sogar eine gefährlich verschobene Verkehrteitelkeit? Jedenfalls: demütig gebärdet sich diese Demut nicht, im Gegenteil, nichts Leidenschaftlicheres läßt sich denken als dieser Asketenkampf gegen die Leidenschaft: kaum erst einen kleinen, noch ungewissen Funken Glauben in der Seele, will der Ungeduldige sofort die ganze Menschheit damit entzünden, jenen germanischen Barbarenfürsten ähnlich, die, eben erst das Haupt vom Taufwasser genetzt, sofort die Axt nahmen, um ihre bislang heiligen Eichen zu fällen. Wenn Glauben ein Ruhen in Gott bedeutet, dann war dieser herrlich Ungeduldige niemals ein geduldig Gläubiger, dieser Glühende und Ungenügsame niemals ein Christ: nur wenn man grenzenlose Gier nach Religiosität schon Religion nennt, darf dieser Gottsucher, dieser ewig unberuhigte, unter den Gläubigen gelten.

Eben durch dieses nur halbe Gelingen und ungewisse Erreichen einer Überzeugung aber wächst die Krise Tolstois symbolisch über das Individualerlebnis hinaus, ewig denkwürdiges Beispiel, daß es auch dem willenskräftigsten Menschen nicht gegeben ist, die Urform seiner Natur ruckhaft zu verändern, das ihm eigentümliche Wesen durch einen Energieakt ins Gegenteil umzustülpen. Die zugewiesene Form unseres Lebens duldet Verbesserungen, Abschleifungen, Zuspitzungen, und wohl vermag ethische Leidenschaft das Sittliche, Moralische in uns dank bewußter und zäher Arbeit zu steigern, nie aber die Grundlinien unserer Charakterzeichnung einfach wegzuradieren und unser Fleisch und unsern Geist nach einer andern architektonischen Ordnung aufzubauen. Wenn Tolstoi meint, man könne sich »den Egoismus abgewöhnen wie das Rauchen«, oder man vermöchte die Liebe sich »zu erobern«, den Glauben zu »erzwingen«, so widerspricht bei ihm selbst ein durchaus bescheidenes Resultat einer ungeheuerlichen und fast manischen Anstrengung. Denn nichts bezeugt, daß Tolstoi, der Zornmensch, »dessen Augen blitzen, sobald man ihm nur leise widerspricht«, zufolge seiner Gewaltkonversion damals sofort ein gütiger, sanfter, liebevoller, sozialer Christ, ein »Diener Gottes«, ein »Bruder« seiner Brüder geworden sei. Seine »Wandlung« hat wohl seine Ansichten, seine Meinungen, seine Worte verändert, nicht aber seine innerste Natur – »nach dem Gesetz, wonach du angetreten, so mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen« (Goethe) –; die gleiche Unheiterkeit und Qualsucht überschattet seine Unruhseele vor und nach dem »Erwachen«: Tolstoi war nicht geboren zum Zufriedensein. Gerade um seiner Ungeduld willen hat Gott ihm den Glauben nicht sofort »geschenkt«, er muß noch dreißig Jahre, bis in die letzte Lebensstunde unablässig ringen. Sein Damaskus vollendet sich nicht an einem Tag, nicht in einem einzigen Jahr: bis zum erlöschenden Atemzuge wird Tolstoi an keiner Antwort Genüge finden, an keinem Glauben sich befrieden und das Leben bis zum letzten Augenblick als großartig-grauenhaftes Geheimnis empfinden.

So wird Tolstoi auf seine Frage nach dem Sinn »des Lebens« keine Antwort, sein Ansprung gegen Gott, der gierig gewaltsame, ist mißlungen. Aber dem Künstler ist ja allezeit eine Rettung gegeben, wenn er eines Zwiespalts nicht Meister wird – er kann seine Not aus sich in die Menschheit werfen und seine Seelenfrage in eine Weltfrage verwandeln, und so steigert auch Tolstoi den egoistischen Schreckensschrei seiner Krise »Was wird aus mir?« in den gewaltigeren »Was wird aus uns?« Da er seinen eigenen eigenwilligen Geist nicht überzeugen kann, will er die andern überreden. Da er sich selbst nicht zu ändern vermag, versucht er die Menschheit zu ändern. Alle Religionen aller Zeiten sind so entstanden, alle Weltverbesserungen haben sich (Nietzsche, der Durchschauendste, weiß es) aus der »Selbstflucht« eines einzigen in seiner Seele bedrohten Menschen geformt, der, um die verhängnisvolle Frage von der eigenen Brust abzuwälzen, sie zurück gegen alle wirft, Wesensunruhe in Weltunruhe verwandelnd. Er ist kein frommer und franziskanischer Christ geworden, niemals, dieser großartig leidenschaftliche Mann mit den unbelügbaren Augen, mit dem harten und heißen Herzen des Zweifels, aber er hat eben aus dem Wissen um die Qual des Unglaubens den fanatischesten Versuch unserer Neuzeit unternommen, die Welt aus nihilistischer Not zu erretten, sie gläubiger zu machen, als er jemals selber war. »Die einzige Rettung aus der Verzweiflung des Lebens ist das Hinaustragen seines Ichs in die Welt«, und dieses gequälte wahrheitsgierige Ich Tolstois wirft darum, was ihn als furchtbare Frage überfiel, der ganzen Menschheit als Warnruf und Lehre entgegen.


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