Stefan Zweig
Drei Dichter ihres Lebens
Stefan Zweig

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Vitalität und ihr Widerspiel

Ich wünsche lange, sehr lange zu leben, und der Gedanke an den Tod erfüllt mich mit einer kindlichen poetischen Scheu.
Jugendbrief

Elementare Gesundheit. Der Körper gezimmert für ein Jahrhundert. Feste markdurchsättigte Knochen, knorrige Muskeln, wirkliche Bärenkraft: auf dem Boden liegend, kann der junge Tolstoi einen schweren Soldaten mit einer Hand in die Luft stemmen. Elastische Sehnen: ohne Anlauf überspringt er turnerisch leicht die höchste Schnur, er schwimmt wie ein Fisch, reitet wie ein Kosak, mäht wie ein Bauer – Müdigkeit kennt dieser eiserne Leib nur vom Geistigen her. Jeder Nerv straff bei äußerster Vibrationsfähigkeit, gleichzeitig biegsam und hart wie eine Toledaner Klinge, jeder Sinn helltönig und flink. Nirgendwo eine Bresche, eine Lücke, ein Riß, ein Manko, ein Defekt im Ringwall der Lebenskraft, und niemals gelingt darum ernstlicher Krankheit je Einbruch in den gequaderten Leib: Tolstois unglaubhafte Physis bleibt verbarrikadiert gegen jede Schwäche, vermauert gegen das Alter.

Vitalität ohne Beispiel: alle Künstler der Neuzeit erscheinen neben dieser bartrauschend biblischen, dieser bäurisch-barbarischen Männlichkeit wie Weiber oder Weichlinge. Selbst die ihm nahe kamen an Dauer des Schöpferischen bis in patriarchalische Zeit, selbst ihnen altert müde der Körper unter dem ausfahrenden jägerischen Geist. Goethe (ihm horoskopisch bruderhaft durch denselben Lebenstag, den 28. August, und durch schaffende Weltsicht bis ins gleichfalls dreiundachtzigste Jahr), Goethe, er sitzt mit sechzig, längst winterscheu und verfettet, bei ängstlich verschlossenem Fenster, Voltaire kritzelt, verknöchert und mehr schon ausgebälgter böser Vogel als Mensch, am Schreibpult Papier um Papier, Kant klappert steif und mühsam, eine mechanische Mumie, seine Königsberger Allee entlang, da jener, Tolstoi, der strotzende Greis, den rotgefrorenen Leib noch prustend ins Eiswasser taucht, im Garten robotet und beim Tennis flink hinter den Bällen flitzt. Den Siebenundsechzigjährigen verlockt noch die Neugier, Radfahren zu lernen, mit Siebzig saust er in Schlittschuhen über die spiegelnde Bahn, mit Achtzig spannt er tagtäglich die Muskeln in turnerischer Bemühung; und zweiundachtzigjährig, einen Zoll vor dem Tode, zuckt er seiner Stute noch sausend die Peitsche über, wenn sie nach zwanzig Werst scharfen Galopps anhält oder bockt. Nein, vergleichen wir nicht: das neunzehnte Jahrhundert weiß kein Widerspiel ähnlich urweltlicher Vitalität.

Schon reichen die Wipfel in die Himmel der Patriarchenjahre, und noch ist keine Wurzel gelockert an dieser bis zur letzten Faser mit Saft durchströmten russischen Rieseneiche. Scharf das Auge bis zur Todesstunde: vom Pferd aus verfolgt der neugierige Blick den winzigsten Käfer, der aus den Borken kriecht, ohne Fernglas den Falken im Flug. Hellhörig das Ohr, lustsaugend die breiten, fast tierischen Nüstern: eine Art Trunkenheit überkommt den pilgernden Weißbart noch immer im Frühjahr, wenn plötzlich der scharfe Dung, vermengt mit dem Ruch auftauender Erde, ihn durchdringt, und achtzig einstige Frühlinge spürt er noch deutlich erinnernd, jeden mit seinem bestimmten Aufschwall, seinem ersten ausströmenden Wurf in diesem einen Duftandrang; so stark, so erschütternd spürt er's, daß die Lider ihm plötzlich überströmen. Quer und schwer durch den nassen Boden stapfen in pfundwuchtigen Bauernstiefeln die sehnigen Weidmannsbeine des Greises, nie entnervt sich die Hand im Zittern des Alters, die Schrift seines Abschiedsbriefes zeigt keine andern Lettern als die großen kindlichen der Knabenjahre. Und herrlich unerschüttert wie seine Sehnen und Nerven bewährt sich der Geist: noch überspielt sein Gespräch alle andern, ein unheimlich präzises Gedächtnis besinnt jedes verlorene Detail. Noch zuckt bei jedem Widerspruch dem Uralten Zorn in die Brauen, noch rundet Lachen ihm dröhnend die Lippe, noch formt sich bildnerisch die Sprache, noch strömt bedrängend das Blut. Als dem Siebzigjährigen bei einer Diskussion über die »Kreutzersonate« jemand vorwirft, in seinem Alter habe man es leicht, die Sinnlichkeit abzuschwören, da blitzt stolz und zornig das Auge des knorrigen Greises, dies sei nicht richtig, »das Fleisch ist noch mächtig, noch muß ich kämpfen und ringen«.

Nur eine so unerschütterliche Vitalität erklärt ein dermaßen unermüdbares Schöpfertum: kein einziges wirklich braches Jahr steht leer inmitten der sechzig seines Weltwerkes. Denn nie ruht sein bildnerischer Geist, nie schläft oder dämmert behaglich dieser herrlich wache und regsame Sinn. Wirkliches Kranksein kennt Tolstoi bis ins Alter nicht, Müdigkeit ficht den Zehnstundenarbeiter nie ernstlich an; niemals bedürfen die Sinne, die allzeit paraten, einer Steigerung. Nie benötigen sie einer Stimulierung durch Reizmittel, durch Wein oder Kaffee; nie heizt er sich ein durch Feuriges oder Fleischgenuß – im Gegenteil: so gesund, so prall gespannt, so randvoll strotzen diese zuchtvollen Sinne, daß ein allerleisestes Berühren sie schon ins Schwingen, ein Tropfen schon zum Überschwellen bringt. Bei all seiner massiven Gesundheit ist Tolstoi gleichzeitig ein »Dünnhäuter« – wie wäre er Künstler sonst ohne diese höchste Irritabilität! –, nur behutsam darf die Klaviatur seiner durchaus gesunden Nerven angetastet werden, denn gerade die Vehemenz ihres Rückschlags macht jede Emotion zur Gefahr. Darum fürchtet er (ganz wie Goethe, wie Plato) die Musik, denn sie erregt zu stark die geheimnisvoll tiefe Woge seines Gefühls. »Musik wirkt furchtbar auf mich«, bekennt er, und wirklich, indes seine Familie freundlich zuhörend um das Klavier sitzt, beginnt es unheimlich um seine Nüstern zu zucken; die Brauen ziehen sich abwehrend zusammen, er empfindet »einen sonderbaren Druck im Halse« – und plötzlich wendet er sich brüsk ab und geht zur Tür hinaus, denn die Tränen strömen ihm über. »Que me veut cette musique«, sagt er einmal, ganz erschrocken von seiner eigenen Überwältigung. Ja, er spürt, sie will etwas von ihm, sie droht etwas aus ihm herauszuholen, das er entschlossen ist nie herzugeben; etwas, was er versteckt hält ganz unten im Geheimschrank der Gefühle, und nun quillt das auf in mächtiger Gärung und droht die Dämme zu überschwellen. Irgendein Übergewaltiges, vor dessen Kraft und Übermaß er sich fürchtet, beginnt sich zu regen, widerwillig spürt er sich tief innen, ganz tief innen, von der Woge der Sinnlichkeit angefaßt und in abwegige Strömung gerissen. Er aber haßt (oder er fürchtet) um eines wahrscheinlich nur ihm bekannten Übermaßes willen die eigene Blutüberfüllung: darum verfolgt er ja auch »das« Weib mit einem für einen gesunden Menschen unnatürlichen, anachoretischen Haß. »Unschädlich« erscheint die Frau ihm nur, »solange sie von den Aufgaben der Mutterschaft erfüllt ist, im Stande der Sittsamkeit oder in der Vénérabilité des Alters« – also jenseits der Geschlechtlichkeit, die er »als eine schwere Schuld des Leibes sein ganzes Leben empfunden hat«. Das Weib wie die Musik bedeuten diesem Antigriechen, diesem künstlichen Christen, diesem Gewaltmönch das Böse schlechthin, weil beide durch Sinnlichkeit »von den uns angeborenen Eigenschaften des Mutes, der Entschlossenheit, der Vernunft, des Gerechtigkeitsgefühls« ablenken, weil sie uns, wie Pater Tolstoi später predigen wird, »zur Sünde der Fleischlichkeit« führen. Auch die Frauen »wollen etwas von ihm«, das er sich herzugeben weigert; auch sie rühren an etwas Gefährliches, das er aufzuwecken sich fürchtet – und was, dies zu erraten, gehört nicht viel Geist: an seine eigene ungeheuerliche Sinnlichkeit. Musik – da lockert sich das Band des Willens: schon reckt »das Tier« sich auf. Die Frauen – schon röhrt das blutgierige Geheul der Meute und rüttelt an den eisernen Gitterstäben. Nur an Tolstois rasender Mönchsangst, an seinem zelotischen Schauer selbst vor der gesundheiteren, nackt-natürlichen Sinnlichkeit kann man die verborgen panische Männischkeit, die Tiermenschenbrunst in ihm ahnen, die in der Jugend sich noch frei in wildesten Exzessen austobte – einen »unermüdlichen Hurer« nennt er sich Tschechow gegenüber –, um dann gewalttätig durch fünfzig Jahre in Kellergewölben vermauert zu bleiben, vermauert, aber nicht begraben; daß dieses Übergesunden Sinnlichkeit lebenslang ein Übermaß blieb, hat in seinem streng sittlichen Werk nur eines verraten: eben diese seine Angst, seine wüstenväterische, überchristliche, gewaltsam die Augen wegdrehende, polternde Angst vor »dem Weibe«, vor der Versucherin – in Wahrheit aber vor dem eigenen und anscheinend maßlosen Gelüst.

Immer fühlt man das und überall: vor nichts fürchtet sich Tolstoi mehr als vor sich selbst, vor seiner Bärenkraft. Dem manchmal trunkenen Glück über seine Übergesundheit schattet unaufhaltsam ein Grauen vor dem Tierisch-Hemmungslosen der Sinne nach. Gewiß hat er sie gebändigt wie kein zweiter, aber er weiß: man ist nicht ungestraft Russe, also Volksmensch des Übermaßes, Fanatiker der Exzesse, Knecht der Extreme. Darum müdet seine Willensklugheit den eigenen Körper nieder, darum beschäftigt er ständig die Sinne, läßt sie auslaufen, gibt ihnen ungefährliche Spiele, Luftfutter und Lustfutter. Er rackert die Muskeln ab durch berserkerische Anstrengung mit Sense und Pflug, macht sie matt durch gymnastische Spiele; um sie zu entgiften, sie unschädlich zu machen, drängt er seine Kraftgefahren aus dem privaten Leben hinaus in die Natur, und dort entströmt dann überschwenglich, was im Binnendasein der Wille energisch verhält. Seiner Leidenschaften Leidenschaft war darum die Jagd: da können alle Sinne sich ausschwelgen, die hellen wie die dunklen. Der vorapostolische Tolstoi berauscht sich am schweißigen Geruch der Pferde, an der Aufregung tollkühnen Reitens, des nervenspannenden Hetzens und Zielens, an der Angst sogar (unfaßbar dies für den späteren Mitleidsfanatiker), an der Qual des niedergerissenen, blutigen, mit brechenden Augen aufstarrenden Wilds. »Ich empfinde ein wahrhaftes Wonnegefühl bei dem Leiden des verendenden Tieres«, gesteht er, als er einem Wolf mit wuchtigem Stockhieb den Schädel einschmettert, und bei diesem triumphierenden Aufschrei der Blutlust ahnt man erst alle die brutalen Instinkte, die er ein Leben lang (außer in den tollwütigen Jahren der Jugend) in sich niedergehalten hat. Noch zur Zeit, da er aus moralischer Überzeugung der Jagd längst entsagt hat, zucken ihm immer unwillkürlich die Hände schußgierig auf, wenn er einen Hasen im Felde aufspringen sieht. Aber er zwingt diese wie jede andere Lust beharrlich entschlossen nieder; schließlich begnügt seine sinnliche Freude am Körperlichen sich mit dem bloßen Anschauen und Nachbilden des Lebendigen – aber welch eine vehemente und wissende Freude noch immer! Glückseliges Lachen schiebt ihm jedesmal breit die Lippen auseinander, wenn er an einem schönen Pferde vorbeikommt; beinahe wollüstig klopft und tätschelt er ihm den warmen seidigen Bug und läßt sich voll die pochende tierische Wärme in die Finger gleiten: alles rein Animalische begeistert ihn. Er kann stundenlang mit verzückten Augen den Tanz junger Mädchen nur um der Anmut der gelockerten Leiber willen betrachten; und wenn ihm ein schöner Mann, eine Frau begegnet, so bleibt er stehen, vergißt sich im Gespräch, nur um sie besser anzustaunen und begeistert auszurufen: »Wie wunderbar ist es doch, wenn der Mensch schön ist!« Denn er liebt den Körper als das Gefäß des lebendigen Lebens, als fühlende Fläche des Lichts, als Hülle des heiß strömenden Blutes, er liebt ihn in all seiner warm wogenden Fleischlichkeit als den Sinn und die Seele des Lebens.

Ja, er liebt als der leidenschaftlichste Animalist der Literatur seinen Körper wie der Künstler sein Instrument; er liebt den Leib als die naturhafteste Form des Menschen und sich selbst in seinem elementaren Körper mehr als in seiner brüchigen und doppelzüngigen Seele. Er liebt ihn in allen Formen und Zeiten von Anfang bis zu Ende, und der erste Bewußtseinsbericht dieser autoerotischen Leidenschaft reicht – kein Schreibfehler dies! – zurück bis in sein zweites Lebensjahr! In das zweite Lebensjahr – dies will betont sein, damit man begreift, wie kieselhell und linienscharf bei Tolstoi jede Erinnerung unter dem Geström der Zeit sichtbar bleibt. Während Goethe und Stendhal kaum bis zum siebenten oder achten Jahre sich deutlich zurückbesinnen, empfindet Tolstoi als Zweijähriger schon mit genauso konzentrisch gesammelter Vielfalt aller Sinne wie der spätere Künstler. Man lese diese Schilderung seines ersten Körperempfindens: »Ich sitze in einer Holzbadewanne, ganz eingehüllt in den mir neuen, aber nicht unangenehmen Geruch einer Flüssigkeit, mit der man meinen Körper reibt. Es wird wohl Kleienwasser gewesen sein, das ich höchstwahrscheinlich bekam; die Neuheit des Eindrucks wirkt auf mich, und ich bemerke zum erstenmal wohlgefällig meinen kleinen Körper mit den vorn an der Brust sichtbaren Rippen und die glatten dunklen Wangen, die aufgestreckten Ärmel meiner Pflegerin und auch das warme, dampfende Kleienwasser und seinen Geruch, am stärksten aber das Gefühl der Glätte, das die Wanne in mir hervorrief, sooft ich mit meiner kleinen Hand darüberfuhr.«

Nachdem man dies gelesen, zerlege und ordne man diese Kindheitserinnerungen nach ihren sensuellen Zonen, um die universelle Wachheit der Sinne richtig zu bestaunen, mit der Tolstoi schon in der winzigen Larve des Zweijährigen die Umwelt erfaßt: er sieht die Wärterin, er riecht die Kleie, er unterscheidet schon den neuartigen Eindruck, er fühlt die Wärme des Wassers, er hört das Geräusch, er tastet die Glätte der Holzwand, und all diese gleichzeitigen Wahrnehmungen der verschiedenen Nervenstränge münden in die einmütig »wohlgefällige« Selbstbetrachtung des Körpers als der einzig fühlsamen Fläche aller Lebensempfindungen. Dann begreift man, wie früh hier Saugnäpfe der Sinne sich schon an das Dasein anklammern, wie mächtig und wie präzise bewußt der vielfältige Eindrang der Welt bei dem Kinde Tolstoi sich bereits in deutliche Impressionen umsetzt, und mag nun ermessen, wie erst der Erwachsene jeden Eindruck subtilisieren und andererseits steigern wird. Da wird dies kleine spielhaft-kindische Wohlbehagen an dem winzigen Eigenleib in der engen Wanne sich notwendig ausweiten zu einer wilden und beinahe wütigen Daseinslust, die genau wie das Kind Außen und Innen, Welt und Ich, Natur und Leben vermengt in ein einziges hymnisches Rauschgefühl. Und tatsächlich, dieser Rausch der Identität mit dem All überkommt den Vollerwachsenen manchmal wie eine große Trunkenheit; man lese nur, wie der schwere Mann sich manchmal aufhebt und hinausgeht in den Wald, die Welt anzublicken, die ihn ausgewählt hat unter Millionen, sie mächtiger und wissender zu fühlen als alle andern, wie er plötzlich mit ekstatischer Gebärde die Brust spannt und die Arme aus sich schleudert, als könnte er in der anbrausenden Luft das Unendliche fassen, das ihn innen bewegt; oder wie er, nicht minder erschüttert vom Winzigsten ebenso wie von der kosmischen Fülle der Natur, sich niederbeugt, eine einzige zertretene Distel zärtlich geradezufalten oder das flirrende Spiel einer Libelle leidenschaftlich zu betrachten, und dann, von Freunden beobachtet, rasch sich seitlings wendet, um die Träne nicht zu verraten, die ihm die Augen überströmt. Kein Dichter der Gegenwart, auch Walt Whitman nicht, hat die physische Lust der irdischen, der fleischlichen Organe so stark empfunden, wie dieser russische Mensch mit seiner Sinnenbrünstigkeit Pans und der großen Allgegenwart eines antikischen Gottes. Und man begreift sein stolz-überschwengliches Wort: »Ich selbst bin Natur.«

Unerschütterlich, selbst ein Weltall im Weltall, wurzelt also dieser massige weitwipflige Mann in seiner moskowitischen Erde: nichts, meint man, könnte darum seine mächtige Weltlichkeit erschüttern. Aber die Erde, selbst sie bebt manchmal, vom Seismos berührt, und so taumelt manchmal, media in vita, mitten aus seiner Sicherheit Tolstoi empor. Mit einem Mal wird das Auge starr, die Sinne schwanken und greifen ins Leere. Denn irgend etwas ist in sein Blickfeld getreten, das er nicht fassen kann, etwas, was außen bleibt von der warmen Leibes- und Lebensfülle, etwas, was er nicht versteht, so sehr auch alle Nerven sich spannen – unfaßbar bleibend für ihn, den Sinnenmenschen, weil nicht Ding dieser Erde, ein Stoff, den er nicht ansaugen und amalgamieren kann, etwas, was verweigert, sich antasten, abwägen, einordnen zu lassen in das allzeit durstige Weltgefühl. Denn wie den Schreckgedanken fassen, der plötzlich den runden Raum der Erscheinung zerschneidet, wie sich's ausdenken, daß diese strömenden, atmenden Sinne einmal stumm sein könnten und taub, die entfleischte Hand ohne Gefühl, daß dieser nackte gute Leib, jetzt noch durchwärmt vom Geström des Blutes, Wurmfraß werden könnte und steinkaltes Skelett? Wie, wenn das auch in ihn einbräche, heute oder morgen, dieses Nichts, dieses Schwarze, dieses Dahintersein, dieses nicht Abzuwehrende, wenn es einbräche, das Unsinnlich-Gegenwärtige, in ihn, der eben noch strotzt von Säften und Mächten? Immer wenn Tolstoi der Gedanke an die Vergänglichkeit überfällt, stockt ihm das Blut. Die erste Begegnung geschieht dem Kinde: man führt ihn zur Leiche der Mutter, da liegt etwas kalt und starr, das gestern noch Leben war. Achtzig Jahre lang kann er den Anblick nicht vergessen, den er damals sich noch nicht in Gefühl und Gedanken zu erläutern vermag. Aber einen Schrei stößt das fünfjährige Kind aus, einen entsetzten, gellenden Schrei und flüchtet in toller Panik aus dem Zimmer, alle Erinnyen der Angst hinter sich her. Immer fällt so stoßhaft, so erdrosselnd der Todesgedanke über ihn her, wie sein Bruder stirbt, sein Vater, seine Tante: immer fährt sie ihm kalt über das Genick, diese eisige Hand, und reißt ihm die Nerven entzwei.

1869, noch vor der Krise, aber nur knapp ihr voraus, schildert er das weiße Entsetzen, la blanche terreur, eines solchen Überfalls. »Ich versuchte mich niederzulegen, aber kaum hingestreckt, reißt mich ein Entsetzen wieder empor. Es ist eine Angst, eine Angst wie vor dem Erbrechen, irgend etwas zerreißt mein Dasein in Stücke, ohne es aber ganz zu zerreißen. Ich versuche, noch einmal zu schlafen, aber der Schrecken war da, rot, weiß, irgend etwas zerreißt in mir und hält mich dennoch zusammen.« Das Furchtbare ist geschehen: ehe der Tod auch nur einen Finger in Tolstois Leibe hat, vierzig Jahre vor seinem wirklichen Tode, ist sein Vorgefühl schon in die Seele des Lebendigen gedrungen, nie mehr ganz zu verjagen. Große Angst sitzt nachts an seinem Bette, sie frißt an der Leber seiner Lebensfreude, sie hockt zwischen den Blättern seiner Bücher und zernagt die angefaulten schwarzen Gedanken.

Man sieht: übermenschlich wie seine Vitalität ist Tolstois Todesangst. Zaghaft wäre es, sie noch Nervenfurcht zu nennen, vergleichbar etwa der neurasthenischen eines Novalis, der melancholischen Überschattung Lenaus, der Phobie Edgar Allan Poes, dem mystischen Wollustgrauen – nein, hier bricht ein ganz tierisch-nackter, ein barbarischer Terror heraus, ein krasses Entsetzen, ein Angstorkan, eine Panik des aufgeschmetterten Lebenssinns. Nicht wie ein mannhaft-heroischer Geist erschrickt Tolstoi vor dem Tode, sondern gleichsam von rotglühendem Eisen gebrandmarkt und nun lebenslänglich Sklave dieses Grauens zuckt er auf, gell schreiend, unbeherrscht: seine Angst entlädt sich als durchaus bestialische Schreckexplosion, als Schock – die menschgewordene Urangst aller Kreatur. Er will sich nicht anfassen lassen von diesem Gedanken, er will nicht, er weigert sich und spreizt wie ein Gewürgter abwehrend die Gelenke; denn, vergessen wir nicht, Tolstoi wird vollkommen unvermutet inmitten einer maßlosen Sicherheit überfallen. Diesem moskowitischen Bären fehlt ja zwischen Tod und Leben jede Überleitung – der Tod ist für einen so elementar Gesunden absoluter Fremdstoff, indes für den mittleren Menschen sonst gewöhnlich sich zwischen Tod und Leben eine oft begangene Brücke spannt: die Krankheit. Die andern, die Durchschnittsfünfzigjährigen, haben alle oder die meisten schon ein Stück Tod in sich latent, sein Nahsein ist ihnen kein vollkommenes Außen, keine Überraschung mehr: darum schauern sie nicht so unbeherrscht vor seinem ersten energischen Griff. Ein Dostojewski etwa, der mit verbundenen Augen, der Salve gewärtig, am Pfahl gestanden und in epileptischen Krämpfen jede Woche hinschlägt, sieht als Leidgewöhnter dem Todesgedanken gefaßter ins Auge als der völlig Ahnungslose, der strotzend Gesunde; so fällt ihm auch der Schlagschatten jener vollkommen aufgelösten, beinahe schimpflichen Angst nicht so eisig ins Blut wie Tolstoi, der bei dem ersten Nahegefühl des Gedankens Tod schon zu schlottern beginnt. Ihm, der nur in der Überfülle sein Ich, in dem »Trunkensein von Leben« das Leben einzig vollwertig empfindet, bedeutet die leiseste Verminderung der Vitalität eine Art Krankheit (mit sechsunddreißig Jahren nennt er sich einen »alten Mann«). Eben zufolge dieser Empfindlichkeit trifft ihn der Todesgedanke durch und durch wie ein Schuß. Nur wer so vital das Dasein empfindet, kann absolut komplementär das Nichtsein mit solcher Intensität fürchten; gerade weil sich hier eine wahrhaft dämonische Lebenskraft gegen eine ebenso dämonische Todesangst aufreckt, entsteht bei Tolstoi eine solche Gigantomachie zwischen Sein und Nichtsein, die größte vielleicht der Weltliteratur. Denn nur Riesennaturen leisten riesigen Widerstand: ein Herrenmensch, ein Willensathlet wie Tolstoi kapituliert nicht ohne weiteres vor dem Nichts – sofort nach dem ersten Schock rafft er sich auf, reißt die Muskeln zusammen, um den plötzlich aufgesprungenen Feind zu besiegen: nein, eine prallvolle Vitalität wie die seine gibt sich nicht kampflos besiegt. Kaum erholt von dem ersten Schrecken, verschanzt er sich in Philosophie, zieht die Brücken hoch und überschüttet den unsichtbaren Feind mit Katapulten aus dem Arsenal seiner Logik, um ihn wegzutreiben. Verachtung ist seine erste Gegenwehr: »Ich kann mich für den Tod nicht interessieren, hauptsächlich aus dem Grunde, weil er, solange ich lebe, nicht existiert.« Er nennt ihn »unglaubwürdig«, behauptet hochfahrend, daß er »nicht den Tod fürchte, sondern nur die Todesfurcht«, er versichert unablässig (durch dreißig Jahre!), daß er ihn nicht fürchte, nicht angstvoll an ihn denke. Aber er täuscht niemanden, nicht einmal sich selbst. Kein Zweifel: der Wall der seelisch-sinnlichen Sicherheit ist beim ersten Ansturm jener Angstneurose schon durchbrochen, und Tolstoi kämpft vom fünfzigsten Jahr nur noch auf Trümmern seines einstigen vitalen Selbstvertrauens. Er muß, Schritt um Schritt zurückweichend, zugeben, daß der Tod nicht bloß »ein Gespenst« sei, »eine Vogelscheuche«, sondern ein höchst respektabler Gegner, den man nicht mit bloßen Worten einschüchtern könne. Und so versucht Tolstoi, ob es nicht möglich wäre, auch innerhalb der unvermeidlichen Vergängnis noch weiter zu existieren, und da man gegen den Tod kämpfend nicht zu leben vermag, mit ihm zu leben.

Erst dank dieser Nachgiebigkeit beginnt eine zweite und nun fruchtbare Phase Tolstois in seinem Verhältnis zum Tode. Er »sträubt sich nicht mehr« gegen sein Vorhandensein, er gibt sich nicht mehr dem Wahn hin, ihn mit Sophismen wegzuhalten – so versucht er, ihn in sein Dasein einzuordnen, seinem Lebensgefühl zu amalgamieren, sich abzuhärten gegen das Unvermeidliche, sich an ihn zu »gewöhnen«. Der Tod ist unbesiegbar, das muß der Lebensriese zugeben, nicht aber die Angst vor dem Tode: so wendet er alle Kraft nun bloß gegen jene Furcht. Wie die spanischen Trappisten allnächtlich in Särgen schlafen, um jede Schrecknis in sich abzutöten, so übt Tolstoi in hartnäckigen täglichen Exerzitien des Willens sich autosuggestiv ein unablässiges Memento mori ein; er zwingt sich, beständig und »mit aller Kraft seiner Seele« an den Tod zu denken, ohne vor ihm zu erschrecken. Jede Tagebuchnotiz beginnt er fortab mit den mystischen drei Buchstaben W. i. l. (»Wenn ich lebe«), jeder Monat verzeichnet durch Jahre die Selbsterinnerung: »Ich nähere mich dem Tode.« Er gewöhnt sich, ihm ins Auge zu sehn. Gewöhnung aber erledigt die Fremdheit, besiegt die Furcht – so wird in dreißig Jahren Widerstreit mit dem Tode aus dem Außensein ein Innensein, aus dem Feinde eine Art Freund. Er zieht ihn an sich heran, in sich herein, macht den Tod zum seelischen Bestandteil seines Lebens und damit die ursprüngliche Angst »gleich Null« – »man braucht nicht über ihn nachzudenken, man muß ihn aber immer vor sich sehen. Das ganze Leben wird dann festlicher, wichtiger und wahrhaft fruchtbarer und freudiger«. Aus der Not ist eine Tugend geworden – Tolstoi hat (ewige Rettung des Künstlers!) seine Angst überwunden, indem er sie objektiviert; er hat den Tod und die Todesangst von sich weg entfernt, indem er sie in andere, in seine Geschöpfe hineingestaltet. So wird, was anfangs vernichtend schien, nur Vertiefung des Lebens und höchst unerwarteterweise die großartigste Steigerung seiner Kunst: dank seiner angstvollen Durchforschung, des tausendmaligen Voraussterbens in der Phantasie, wird gerade dieser leidenschaftlichste Vitalist zum wissendsten Darsteller des Sterbens, zum Meister aller, die jemals den Tod gebildet. Angst, immer ist sie, die der Wirklichkeit vorauseilende, sie, die phantasiebeflügelte, immer ist sie ja schöpferischer als das stumpfe und dumpfe Gesundsein – wie aber erst eine so schauernde, panische, jahrzehntelang wache Urangst, der heilige Horror und Stupor eines Gewaltigen! Ihr zum Dank kennt Tolstoi alle Symptome des leiblichen Verlöschens, jeden Zug, jedes Zeichen, den der Grabstichel des Thanatos einzeichnet in das vergehende Fleisch, jeden Schauer und Schreck der versinkenden Seele: mächtig fühlt der Künstler sich angerufen von dem eigenen Wissen. Das Sterben des Iwan Iljitsch mit seinem gräßlich heulenden »Ich will nicht«, »Ich will nicht«, das erbärmliche Verlöschen von Lewins Bruder, die vielfältigen Lebensloslösungen in den Romanen, die »Drei Tode« – all dieses hinabgebeugte Lauschen über den äußersten Rand des Bewußtseins, Tolstois größte psychologische Leistungen, undenkbar wären sie ohne jenes katastrophale Erschüttertsein, diese Durch-und-durch-Aufgewühltheit selbsterlittenen Grausens; um diese hundert Tode zu schildern, mußte Tolstoi seinen eigenen Tod bis in die feinsten Faserungen des Gedankens hundertmal in der zerrütteten Seele vorgelebt, nachgelebt, mitgelebt haben: nur die vorahnende Angst hat seine Kunst vom Flächigen, vom bloßen Anschauen und Abmalen der Realität, in die Tiefe des Wissens getrieben; nur sie hat ihn nach rubens-sinnlicher Wirklichkeitsfülle auch dies von innen vorbrechende, gleichsam metaphysische Rembrandt-Licht inmitten der tragischen Verschattung gelehrt. Einzig, weil Tolstoi den Tod vehementer als alle inmitten des Lebens vorausgelebt, hat er ihn wie kein zweiter für uns alle lebendig gemacht.

Jede Krise ist ein Geschenk des Schicksals an den schaffenden Menschen: so entsteht, genau wie in Tolstois Kunst, auch in seiner weltgeistigen Haltung schließlich ein neues und höheres Gleichmaß. Die Gegensätze durchdringen einander, der furchtbare Streit der Lebenslust mit ihrem tragischen Widerpart weicht einer weisen und harmonischen Verständigung. Ganz im Sinne Spinozas ruht das endlich beruhigte Gefühl in reiner Schwebe zwischen Furcht und Hoffnung der letzten Stunde: »Es ist nicht gut, sich vor dem Tode zu fürchten; es ist nicht gut, ihn zu wünschen. Man muß den Waagbalken so stellen, daß der Zeiger gerade steht und keine Schale überwiegt: das sind die besten Bedingungen des Lebens.«

Die tragische Dissonanz ist endlich harmonisiert. Der Greis Tolstoi hat keinen Haß mehr wider den Tod und keine Ungeduld ihm entgegen; er flieht ihn nicht mehr, er bekämpft ihn nicht mehr: er träumt ihn bloß in linden Meditationen, wie ein Künstler ahnend plant an unsichtbar schon gegenwärtigem Werke. Und gerade die letzte, die lang gefürchtete Stunde schenkt ihm darum vollendete Gnade: ein Sterben, groß wie sein Leben, das Werk seiner Werke.


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