Stefan Zweig
Drei Dichter ihres Lebens
Stefan Zweig

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Bildnis

Mein Gesicht war das eines gewöhnlichen Bauern.

Überwaldetes Antlitz: mehr Dickicht als Lichtung, jeden Eingang abwehrend zur inneren Schau. Breit und im Winde wehend, drängt der strömende Patriarchenbart bis hoch hinein in die Wangen, überflutet für Jahrzehnte die sinnliche Lippe und deckt die braunrissige Holzrinde der Haut. Vor die Stirn buschen sich fingerdick und wie Baumwurzeln verfilzt mächtige Augenbrauen, über dem Haupte schäumt, graue Meerflut, die unruhige Gischt der dicht zerrütteten Strähnen: überall wirrt und wuchert in tropischer Üppigkeit dies urweltliche Wachstum von panisch ergossenem Haar. Genau wie beim Moses des Michelangelo, dem Bildnis des männlichsten Mannes, wird vom Antlitz Tolstois zunächst nichts dem Zublick gewahr als die weißschäumige Welle riesigen Gottvaterbartes.

So wird man genötigt, um das Nackte und Wesenhafte so überkleideten Gesichts mit der Seele zu erkennen, dies Dickicht des Barts von seinen Zügen wegzuroden (und die Jugendbilder, die bartlosen, helfen sehr solcher plastischen Enthüllung). Man tut's und erschrickt. Denn unverkennbar, unleugbar: dieses adeligen Geistmenschen Gesicht ist im Grundriß grob gefügt und nicht anders denn das eines Bauern. Eine niedrige Hütte, rußig und verraucht, eine rechte russische Kibitka hat hier der Genius sich gewählt für Wohnsitz und Werkstatt; kein griechischer Demiurg, ein lässig ländlicher Schreiner hat dieser weiten Seele die Hausung gezimmert. Plump gehobelt, grobfaserig wie Spaltholz die niedrigen Querbalken der Stirne über winzigen Augenfenstern, die Haut nur Erde und Lehm, fettig und ohne Glanz. Mitten in dem dumpfen Geviert eine Nase mit weiten, offenen Tiernüstern, breit und breiig wie von einem Fausthieb hingeplättet, hinter struppigem Haar ungeformte lappige Ohren, zwischen einstürzenden Wangenhöhlen ein dicküppiger, mürrischer Mund: durchaus amusische Formen, grobe und fast gemeine Gewöhnlichkeit.

Schatten und Düsternis überall, Niederung und Schwere in diesem tragischen Werkmannsgesicht, nirgends ein aufstrebender Schwung, ein flutendes Licht, ein kühn geistiger Aufstieg wie jene Marmorkuppel von Dostojewskis Stirn. Nirgends bricht Licht ein, strahlt Glanz auf – wer es leugnet, der verschönert, der lügt: nein, unrettbar bleibt dies ein niedres, versperrtes Gesicht, kein Tempel, sondern ein Gefangenhaus der Gedanken, lichtlos und dumpfig, unheiter und häßlich, und früh weiß er schon selbst, der junge Tolstoi, um seine verlorene Physiognomie. Jede Anspielung auf sein Äußeres »ist ihm unangenehm«; er bezweifelt, daß es jemals »irdisches Glück für einen Menschen geben könnte, der eine so breite Nase, so dicke Lippen und kleine graue Augen hat«. Darum versteckt der Jüngling schon früh seine verhaßten Züge hinter dieser dichten Maske schwärzlichen Barts, den spät, sehr spät erst das Alter durchsilbert und ehrfürchtig macht. Nur das letzte Jahrzehnt lockert das düstere Gewölk, erst im Herbstabendlicht fällt ein vergütigter Strahl von Schönheit über diese tragische Landschaft.

In niederem, dumpfem Gelaß hat der ewig wandernde Genius bei Tolstoi Herberge genommen, in einer russischen Jedermanns-Physiognomie, hinter der man alles vermuten möchte, nur den Geistmenschen, den Dichter, den Gestaltenden nicht. Als Knabe, als Jüngling, als Mann, selbst als Greis, immer wirkt Tolstoi bloß wie irgendeiner von vielen. Er paßt in jeden Rock, unter jede Mütze: mit solch einem anonymen allrussischen Antlitz kann man ebenso einem Ministertisch präsidieren wie betrunken in einer Vagabundenkneipe spielen, Weißbrot auf dem Markt kaufen oder im seidenen Meßkleid des Metropoliten das Kreuz über die kniende Menge erheben: nirgends, in keinem Berufe, in keinem Gewande, an keinem russischen Orte fiele dies Antlitz als ein unverkennbares auf. Als Student sieht er aus wie zwölf auf ein Dutzend, als Offizier wie irgendein Säbelträger, als Landedelmann wie irgendein Krautjunker. Fährt er im Wagen neben dem weißbärtigen Diener, so muß man schon sehr gründlich die Photographie abfragen, welcher der beiden Alten am Kutschbock eigentlich der Graf ist und welcher der Kutscher; zeigt ihn ein Bild im Gespräch mit den Bauern, und wüßte man's nicht, keiner würde erraten, daß dieser Lew inmitten des Dorfklüngels ein Graf ist und sonst noch millionenmal mehr als all die Grigors und Iwans und Iljas und Pjotrs um ihn herum. Als wäre dieser eine alle zugleich, als hätte diesmal der Genius nicht die Maske eines besonderen Menschen genommen, sondern sich verkleidet als Volk, so gänzlich anonym, so allrussisch wirkt sein Gesicht. Gerade, weil er ganz Rußland enthält, trägt Tolstoi kein eigenes, sondern nur das russische Antlitz.

Darum enttäuscht zunächst sein Anblick fast alle, die ihn erstmalig sehen. Meilenweit sind sie mit der Bahn und von Tula dann im Wagen herübergekommen, nun harren sie im Empfangsraum ehrfürchtig des Meisters; jeder erwartet innerlich überwältigende Gegenwart, und die Seele formt ihn voraus als mächtigen, majestätischen Mann mit flutendem Gottvaterbart, hochragend und stolz, Gigant und Genie in einer Gestalt. Schon drückt Schauer der Erwartung jedem die Schultern herab, schon duckt sich der Blick unwillkürlich vor der Riesengestalt des Patriarchen, zu der er im nächsten Augenblick aufschauen soll. Da öffnet sich endlich die Türe, und siehe: ein kleines untersetztes Männchen tritt so behende, daß der Bart weht, mit fast laufenden Schritten herein, hält inne und steht freundlich lächelnd vor dem überraschten Gast. Munter, mit schneller Stimme plaudert er ihn an, aus leichtem Gelenk bietet er jedem die Hand. Und sie nehmen die Hand, im tiefsten Herzen erschreckt: Wie? dieses freundlich-gemütliche Männchen, dieses »flinke Väterchen im Schnee«, dies wäre wirklich Leo Nikolajewitsch Tolstoi? Der Vorschauer von Majestät verfliegt; ein wenig ermutigt wagt sich die Neugier empor an sein Gesicht.

Aber plötzlich stockt den Aufschauenden das Blut. Wie ein Panther ist hinter den buschigen Dschungeln der Brauen ein grauer Blick auf sie losgesprungen, jener unerhörte Blick Tolstois, den kein gemaltes Bild verrät und von dem einzig doch jeder spricht, der jemals dem Gewaltigen ins Antlitz gesehen. Ein Messerstoß, stahlhart und funkelnd, nagelt dieser Blick jeden Menschen fest. Unmöglich, sich noch zu rühren, sich ihm zu entwinden, ein jeder muß hypnotisch gefesselt dulden, daß dieser Blick ihn bis ganz tiefinnen durchdringt. Gegen Tolstois ersten Blickstoß gibt es keine Gegenwehr: wie ein Schuß durchschlägt er alle Panzer der Verstellung, wie Diamant zerschneidet er alle Spiegel. Niemand – Turgenjew, Gorki und hundert andere haben es bezeugt – kann lügen vor diesem penetrant durchbohrenden Blicke Tolstois.

Aber nur eine Sekunde stößt dieses Auge so hart und prüfend zu. Dann taut die Iris wieder auf, glänzt grau, flirrt von verhaltenem Lächeln oder gütigt sich zu weichem, wohltuendem Glanz. Wie Wolkenschatten über Wasser spielen alle Verwandlungen des Gefühls über diese magischen und ruhelosen Pupillen ständig dahin. Zorn kann sie aufsprühen lassen in einem einzigen kalten Blitz, Unmut sie frosten zu eisklarem Kristall, Güte sie warm übersonnen, Leidenschaft sie entbrennen. Sie können lächeln von innerem Licht, diese geheimnisvollen Sterne, ohne daß der harte Mund sich rührte, und sie können, wenn Musik sie schmelzend macht, »strömend weinen« wie die eines Bauernweibes. Sie können Helligkeit aus sich holen von geistiger Genugtuung und plötzlich trüb abdunkeln, überschattet von Melancholie, und sich entziehen und undurchdringlich sein. Sie können beobachten, kalt und unbarmherzig, können schneiden wie ein chirurgisches Messer und durchleuchten wie Röntgenfeuer und sofort dann wieder überrieselt sein vom flirrenden Reflex spielender Neugier – alle Sprachen des Gefühls sprechen sie, diese »beredtesten Augen«, die je aus einer Menschenstirn geleuchtet. Und wie immer findet ihnen Gorki das schillerndste Wort: »In seinen Augen besaß Tolstoi hundert Augen.«

In diesen Augen, und einzig dank ihnen, hat Tolstois Antlitz Genie. Alle Lichtkraft dieses Blickmenschen erscheint in ihrer Tausendfalt restlos gesammelt wie Dostojewskis, des Denkmenschen, Schönheit in der marmornen Wölbung seiner Stirn. Alles andere in Tolstois Gesicht, Bart und Busch, das ist nichts als Umhüllung, Schutzraum und Schale für die eingesenkte Kostbarkeit dieser magisch-magnetischen Lichtsteine, die Welt in sich ziehen und Welt aus sich strahlen, das präziseste Spektrum des Universums, das unser Jahrhundert gekannt. Nichts wuchert so winzig, daß diese Linsen es nicht noch versichtlichen könnten: pfeilhaft wie der Habicht können sie niederstoßen auf jede Einzelheit und vermögen doch zugleich alle Weiten des Weltalls panoramisch zu umrunden. Sie können aufbrennen in die Höhe des Geistigen und ebenso im Dunkel der Seele hellsichtig schweifen wie im oberen Reich. Sie haben Glut und Reinheit genug, diese Funkkristalle, um in Ekstase zu Gott emporzublicken, und haben den Mut, selbst dem Nichts, dem medusischen, prüfend in das versteinernde Antlitz zu sehen. Nichts wird diesem Auge unmöglich, nur eines vielleicht: tatlos zu sein, zu dösen, zu dämmern, die reine ruhende Freude, das Glück und die Gnade des Traums. Denn zwanghaft muß, kaum daß das Lid sich auftut, dieses Auge auf Beute gehen, unbarmherzig wach, unerbittlich illusionslos. Es wird jeden Wahn durchstoßen, jede Lüge entlarven, jeden Glauben zertrümmern: vor diesem Wahrauge wird alles nackt. Furchtbar darum immer, wenn er diesen stahlgrauen Dolch gegen sich selber zückt: dann stößt seine Schneide mörderisch hart bis ins innerste Herz.

Wer ein solches Auge hat, der sieht wahr, dem gehört die Welt und alles Wissen. Aber man wird nicht glücklich mit solchen ewig wahren, ewig wachen Augen.


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